9/11, die USA und Carepaket-Syndrom (Seite 1)

Am 11. September 1944 wurde Darmstadt durch einen Luftangriff der Royal Air Force unter dem Kommando von Sir Arthur „Bomber“ Harris zu drei Vierteln in Schutt und Asche gelegt. Die Altstadt wurde beinah vollständig zerstört, bis zu 12,000 Menschen verloren ihr Leben, 66.000 wurden obdachlos. Der Angriff war ein rein terroristischer Akt, genannt „moral bombing“, ein gezielter Vernichtungsakt gegen die Zivilbevölkerung. Heute erinnert sich kein Mensch mehr an diesen „9/11″, der um vieles furchtbarer war als der Angriff auf das World Trade Center vor zehn Jahren.
Warum auch? Es gibt keine nachhaltigen Bilder von der Bombardierung Darmstadts, die indessen im Rahmen des alliierten Luftkriegs nichts Ungewöhnliches war, sondern gängige Massenvernichtungsroutine. „9/11″ in New York, das ist jedoch der ultimative Katastrophenfilm, der alles in den Schatten stellt, was Roland Emmerich oder James Cameron je gedreht haben. Wenn zum Wesen des modernen Terrorismus im Medienzeitalter das symbolische Fanal zählt, dann war der Anschlag sein beispielloses und bisher unüberbotenes Meisterwerk.

Günther Zehm alias „Pankraz“ schrieb damals in der JF:

Selten ist Pankraz die stets mögliche Differenz zwischen moralischer und ästhetischer Bewertung einer Sache so deutlich geworden wie bei dem Anschlag auf das World Trade Center in New York. Es war eine ruchlose Tat, die zum Himmel schreit, aber für den gebannten Fernsehzuschauer hatte das Geschehen dennoch ästhetische Qualitäten, und zwar ganz außerordentliche. Selbst wer sich mit Händen und Füßen gegen solche Einsicht wehrte, mußte ihr am Ende Tribut zollen.

Schon die immer wieder ikonenhaft vorgeführte Sequenz mit dem Flugzeug, das in den Südturm des WTC hineinrast, um auf der anderen Seite als riesiger Feuerball wieder herauszukommen, entfaltete eine unheimliche Faszination. Der Himmel war blau, der Turm erstrahlte in makellosem Weiß, die Kurve, die das Flugzeug unmittelbar vor dem Aufprall beschrieb, war elegant und von spielerischer Grazie. Kein noch so raffinierter Kunstfilm hätte es besser machen können.

Aber auch die Logistik des Anschlags, wie sie im Laufe der Übertragungen offenbar wurde, war – ästhetisch-mathematisch betrachtet – ein Meisterwerk. Hier war mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Wirkung erzielt worden, nicht zuletzt an symbolischer. Die Endformel der Operation war von äußerster Knappheit, genau wie es die mathematische Ästhetik vorschreibt. „Williams Rasiermesser“, benannt nach dem Nominalisten William von Occam: Der einfachste und kürzeste Weg zum Ziel ist immer der schönste.

Wie gesagt, kein moralisches Entsetzen, kein mitleidender Gedanke an die Qualen der Opfer konnte den widerwillig anerkennenden ästhetischen Subtext aus der Welt schaffen. Sind das Gute und das Schöne vielleicht doch zwei völlig verschiedene Welten, Platon und der klassischen Theorie zum Trotz, denen zufolge die beiden aufs engste zusammengehören, zwei Seiten ein und derselben Medaille?

Zehm schrieb diese Zeilen erst zwei Wochen nach dem Attentat: seine komplette Ikonographie war also bereits zu diesem Zeitpunkt ausformuliert und in alle Köpfe übergegangen.

Vor zehn Jahren, als der Anschlag stattfand, war ich äußerst anti-amerikanisch eingestellt. Die USA erschienen mir als die Hauptbetreiber eines zerstörerischen Globalismus, einer allumfassenden und vor nichts halt machenden Rationalisierung und Ökonomisierung der Welt, die nach John Berger „keinen Blick auf ein Anderswo oder Anderswie zuläßt.“ Wie Peter Scholl-Latour war ich der Meinung, daß die Ursache der Anschläge in der „globalen Amerikanisierung“ zu suchen seien – denn nichts anderes ist im Endeffekt die amerikanische Globalisierung, die sich ihren Weg mit imperialistischen Kriegen gebahnt hat, deren Auswirkungen die Tat des „9/11″ weit in den Schatten stellen.

Die USA erschienen mir als die Verkörperung eines totalitären Kapitalismus, der Nationalstaaten und Kulturen vernichtet und nivelliert, der bestrebt ist, alle traditionellen Zügel und Bindungen zu zerstören, die sich seinem hemmungslosen, krebsartigen Ausbreiten in den Weg stellen könnten. Von links las ich die „Freibeuterschriften“ des unorthodoxen Marxisten Pier Paolo Pasolini, der bereits in den Sechziger Jahren einen von der Konsumgesellschaft verschuldeten „anthropologischen Genozid“ am italienischen Volk und seiner kulturellen Vielfalt und Besonderheit konstatierte. Von rechts las ich Schriften wie Alain de Benoists „Die entscheidenden Jahre“ (1982), der zu einem sehr ähnlichen Ergebnis wie Pasolini kam. Der Liberalismus war (und ist) für Benoist eine weitaus größere Gefahr für die Kulturen und Völker der Welt (nicht nur Europas) als der Sozialismus und der Kommunismus. Pasolini wie Benoist waren sich einig, daß dieser verheerende Konsumismus vorrangig amerikanischen Ursprungs war, und sie fanden für seine Ausbreitung drastische, apokalyptische Bilder von „Kataklysmen“, „Genozid“ und „Untergang“.

Hans-Dietrich Sander nannte diesen Ausbreitungsprozeß „die Auflösung aller Dinge“. In Heft 9-10/2001 der „Staatsbriefe“ schrieb er:

Am 11. September stürzten in New York die babylonischen Türme des Globalismus ein. (…) Die Todesflüge der Boeings führten die Anschläge mit musterhafter Präzision vor. Die letzten Schleifen offenbarten artefaktische Vollendung und eine traumwandlerische Gelassenheit der Piloten, die von metaphysischer Inbrunst erfüllt schienen. In der Brust der Zuschauer rang die Tragödie, die Tausende in den Tod schickte, mit den Ursachen und der politischen Bedeutung der Terrorakte.

In den Medien ergoß sich ein untertäniges Geschnatter und Betroffenheitsgesabbel, als wolle es jede Reflexion ausschalten. „Die Rituale des Fernsehens machen Gefühle zu Phrasen“, schrieb am 17. 9. sogar die Welt, selbst an der Spitze der Stimmungsmache, welche die Meinung installieren sollte, hier sei die ganze zivilisierte Welt von Barbaren in Gestalt fanatischer Muslime überfallen worden. So wie John F. Kennedy nach dem Mauerbau sagte: „Ich bin ein Berliner!“, müßten wir jetzt alle sagen: „Wir sind Amerikaner!“ forderten Kanzler Schröder, der Bundestag und die Medien.

Sander dagegen sah in dem Anschlag ein gewaltiges Menetekel, ein an die USA gerichtetes „dixit Dominus“, den 11. September als tausendfach verdienter „dies irae“ , der den Untergang des Imperiums einläute.

Und so habe ich das damals auch gesehen. Nicht nur das gewaltige visuelle Spektakel der Tat an sich ließ geradezu numinose Schauer aufkommen, auch die Symbolik des Anschlagzieles: nicht das Weiße Haus, sondern die „babylonischen Türme“ des Kapitalismus, die zu hoch in den Himmel gebauten Tempel einer frevelhaften Hybris, die nun den Blitz und das Gericht Gottes herabgerufen hatten. Wäre ich Moslem, so dachte ich, ich würde nicht mehr an der Macht Allahs zweifeln, und an der bergeversetzenden über- und unmenschlichen Kraft, die er seinen Gläubigen zu verleihen imstande ist.

Nach dem ersten Schock kam in mir ein seltsam elektrisiertes, angesichts der Entsetzlichkeit der Tat zwiespältiges Gefühl hoch: es ist möglich. Es ist machbar. Der Leviathan ist verwundbar. Das allmächtige, allgegenwärtige System kann und wird stürzen. Babylon wird fallen. Nichts habe ich mehr gewünscht als das.

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