Zweierlei Chaos (Seite 2)

Wollen wir das Ganze noch mit einem aktuellen Artikel von Zeit-Feuilleton-Chef Jens Jessen kontrastieren. Für diesen nämlich wären die von Peters geschilderten Zustände wohl ein aufregender Fortschritt gegenüber den langweiligen, verklemmten deutschen Hecken von vor noch 20 Jahren. Wir erinnern uns alle noch an Jessens aparte, vor einem Lenin-Bildchen vorgetragene Verteidigung der Münchener U-Bahn-Schläger gegenüber „deutschen Spießern“, mithin also daran, daß es sich hierbei um eine der widerwärtigsten Gestalten unter den zeitgenössischen Meinungsmachern handelt.

Jessen liebt die schneidige, „unbürgerliche“ Pose, diese typische Kompensationskrankheit linksliberaler Intellektueller, so auch in seinem Artikel „Die Metropole als Feind“. Darin verpaßt er den Berliner Grünen eine aufs Dach, weil sie an biedermeierliche, regressive, provinzkuschelige Sehnsüchte appellieren würden, statt so wie er das „prächtige Chaos und die nervöse Härte des Urbanen“ abzufeiern.

Das krautige Durcheinander, das in jeder Großstadt von selbst entsteht, das Kioske wachsen und sterben, deutsche Arbeiterkieze in orientalische Basare verwandeln, bürgerliche Viertel versteppen, von intellektuellen Neusiedlern einnehmen und schließlich von Investoren wiederaufforsten lässt, das Getöse der Touristen und die schrille Farbigkeit der Einwanderermilieus – es ist offenbar zu viel für die schwachen deutschen Nerven.

Was für ein Bild von Gesellschaft herrscht, wenn es auf keinen Fall das Bild sein darf, das sich in den Disharmonien, den Ungereimtheiten, den Parallelwelten einer ständig neu besiedelten und umgenutzten Großstadt abbildet? Darf nicht einmal ein Zipfelchen dessen, was überall auf der Welt, in London wie in São Paulo, in New York wie in Mexiko-Stadt, zur Selbstverständlichkeit einer Metropole gehört, sich auch in Deutschland zeigen? Kann man nicht damit leben, dass jenseits der Gesetze des Staates in allem Übrigen die Gesetze der Submilieus und Substrukturen leben?

São Paulo, New York, Mexico City. Spätestens hier entpuppt sich diese ganze herablassende Anti-Spießbürger-Prosa als peinlicher Kitsch auf höherer Ebene, geschrieben von einem Mann, der zu den Besserverdienenden in diesem Land gehört, und der es sich garantiert leisten kann, seine Kinder, sofern er denn welche hat, vor all den Berliner Schulen voll „nervöser Härte“ zu bewahren. Aus der Ferne hat er gewiß auch leicht reden, die Hölle der Favelas von Rio, die Banlieues von Paris und die Vorstädte von Neapel oder die Slums und Verbrechensraten von Mexico City ungeheuer kitzlig und spannend zu finden und von deren „prächtigem Chaos“ zu schwärmen. Noch schöner wäre es allerdings, wenn er auch dorthin ziehen würde, damit er all diese unserem Land wärmstens empfohlene Pracht ausgiebig genießen kann.

Hier inszeniert sich einer aus seinem hochdotierten Sessel heraus als unbequem, kantig, vitalistisch, geistig überlegen, hartgesotten, als unruhiger, kühner Geist, der es diesen zwanghaft sicherheitssüchtigen Zimperliesenklemmikartoffeln mal so richtig zeigt, während er offenbar wie die meisten Linken ein im Grunde ausgesprochen harmloses und einfältiges Bild von der Wirklichkeit und dem „Chaos“ hat, das er so sexy findet.

Der Rest von uns kann inzwischen Gott dankbar sein, daß Berlin trotz allem noch weit entfernt davon ist, wie London oder Paris sein, von südamerikanischen Metropolen ganz zu schweigen. Wenn wir schon dabei sind, könnte Gott uns bitte auch gleich vor Schreibtischverbrechern wie Jessen bewahren, die fahrlässig fatalen Experimenten das Wort reden, die andere dann ausbaden dürfen.

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