3. Fastensonntag (Oculi) 1985
Meine lieben Brüder und Schwestern,

besessen nennt man diejenigen, die körperlich vom Dämon oder mehreren Dämonen beherrscht werden, so daß sie ihrer Organe nicht mächtig sind. Die Organe werden vom Bösen verwendet und mißbraucht. Aber im eigentlichen Sinne besessen ist der, dessen ICH, dessen Geistseele vom Dämon durchherrscht wird, und das ist bei sehr vielen der Fall! Und einige merken es irgendwann, bekommen Ekel vor ihrer eigenen Verfallenheit, Beflecktheit, Selbsterniedrigung und Würdelosigkeit, und sie wollen sich reinigen. Sie gehen hin, bereuen die Sünde und empfangen die Lossprechung. Mit großer Freude ziehen sie von dannen: Ich bin rein! Und wenn es bei dieser Freude bleibt, dann geschieht es in der Tat, daß der Böse zurückkommt, stärker, gefährlicher, verderblicher als zuvor, denn das Bewußtsein der Reinheit ist auf die Dauer langweilig für den, der die Süßigkeit und gleißende Lust der Verführung gekostet hat. Nach einer Weile kommt die Versuchung wieder, und noch strahlender im Scheinglanz der Verführung stellt sich das Böse dar. Und hoffnungsloser ist die Lage des Rückfälligen.

Um es weiter auszudehnen, wie ich es auch im Sonntagsbrief schreibe: Diejenigen, die immer nur nach Sünde oder Nicht-Sünde fragen und sich damit beruhigen, daß sie wenig, relativ wenig, sündigen im Gegensatz zu anderen, daß sie doch ein anständiges Leben führen, pflichttreu regelmäßig das Ihre besorgen und deshalb ein reines Gewissen haben können, bleiben meistens schon wegen ihres Mangels an roten Blutkörperchen in normalen Zeiten von stärkeren Versuchungen verschont. Aber wenn die Stunde der Entscheidung kommt, dann sind sie es, die vielen, die meisten, die versagen, wenn sie vor der Frage stehen: „Bist Du bereit um des Gottmenschen willen, Sicherheit, materielle Sicherheit, Familie, Beruf, Wohnung in Frage zu stellen, Christus zu wählen, oder geht Dir Deine bürgerliche Sicherheit vor?“ Dann beteuern sie: „Ja ich muß doch für meine Familie sorgen.“ Und sie üben Verrat und fallen ab.

Wir haben das in Hülle und Fülle erlebt zu gewissen Zeiten. Diejenigen, die nur dieses pflichttreue, rechtschaffene, brave Leben wollen, sich damit zufrieden geben und ständig beteuern „Ich tue nichts Unrechtes“, deren Unrecht besteht darin, daß sie ein so erbärmliches Armensüppchen kochen mit Hinblick auf ihren Lebensanspruch und mit Hinblick auf ihre Vorstellung von der Würde des Menschen.

Der Zugang zu Christus kommt aus einer ganz anderen Richtung: eines unersättlichen Anspruches an das Leben, eines unendlichen Verlangens nach Unendlichkeit, nach Überschreitung jeder Grenze! Das ist der legitime Ausgangspunkt wahrer Religion! Der Mensch mit höchstem Anspruch, mit äußerstem Lebenswillen, in dem mindestens die Flamme nicht ganz erloschen ist dieses Anspruches und dieses Begehrens, der erkennt Christus spontan als den, nach dem er immer verlangt hat. Darum steht am Anfang nicht das Gefühl irgendeiner Reinheit, irgendeiner Sündenlosigkeit, eines braven, gemäßigten, wohltemperierten, anständigen, bürgerlichen Lebens, das auf Klein-Klein läuft, sondern das, was zählt, ist dieser unbedingte Wille – der Wille, wenn er von Gott nicht beantwortet wird, ins Innerweltliche sich ergießt und Schaden anrichtet! Darum sagt Dostojewski mit Recht, daß unter denen, die im Zuchthaus sind, unter den Verbrechern die bedeutendsten und stärksten Persönlichkeiten zu finden sind, weil sie sich nicht einzwängen, eingrenzen, einzäunen lassen wollen im allzu Bescheidenen, im allzu Kleinen. Sie wollen sich ausdehnen. Ihr ganzes Sinnen und Trachten ist auf Expansion gerichtet. Und darum hat Christus bei solchen, eben bei den Asozialen, logischerweise die größte und fruchtbarste Ausbeute, denn dort findet er diesen unbedingten Lebenswillen.

Religiös ist in Wahrheit nicht der, der eine Kompensation sucht für seine schwache Vitalität. Religion ist nicht eigentlich der Besitz der Zu-Kurz-Geratenen, die sich irgendwie mit ihrer moralischen Bravheit und ihrem Gleichheitsanspruch an anderen rächen wollen, sondern Religion ist das Glück derer, in denen das lebendig geblieben ist, was wesenhaft den Geist kennzeichnet, eben dieses Verlangen, diese Sehnsucht, die auf Grenzüberschreitung hindrängt!

Und dann steht, wie gesagt, nicht am Anfang diese Bescheidung, dieses Kreisen um Sünde oder Nicht-Sünde, um das anständigere oder weniger anständige Leben, die Spießerbehäbigkeit, sich mit anderen zu eigenen Gunsten zu vergleichen, sondern da steht am Anfang der Anblick des Christus, Seines Antlitzes, das aufstrahlt und die lang ersehnte, große Liebe beweist: die bedingungslose, fraglose, unvoreingenommene, vorurteilslose Liebe, mit der Er Sich Dir zuwendet, Dir, wenn Du weißt, daß Du Ihn brauchst, daß dieses Leben ringsum – das Wahrnehmbare – mit seinen Angeboten nur enttäuscht. „Wo ist der, der sich meiner annimmt, grenzenlos? Wo ist das tiefe Begreifen, das eindringt in die Senkrechte, in den Abgrund meiner Existenz? Wo ist dieses grenzenlose Interesse, das für mich flammt, das Herz und Nieren durchforscht, von mir mehr weiß, als ich weiß? Wo ist der Gebärer unendlicher Macht, unendlicher Wonne? Wo ist der, der sich mit mir vereinigt, der sich mir zuwendet?“

Diese geheimnisvolle, oft unbewußte Frage der stärksten Menschen: sie wird beantwortet durch Christus. Er kommt. Auf einmal ist Er da. Man hört Seinen Namen und spürt: irgendetwas muß da besonders sein. Es wird etwas in Bewegung gebracht. Man hört von Ihm. Es wird dem Zachäus, er weiß nicht wie. Etwas Ahnungsvolles, Unaussprechliches geht durch seine Seele. Er kümmert sich nicht um die Verachtung, die ihm von der Masse entgegenschlägt. Er wartet auf Ihn – und siehe, Er kommt! Er hält Einzug. Er bringt das große Glück. Er hält keine Moralpredigt, keinen erhobenen Zeigefinger. Er mahnt nicht zur Lebensbesserung. Er erwartet von Zachäus gar nichts. Er will ihn! Er schließt mit ihm Freundschaft. Zu welchem Zweck? – Um mit ihm Freundschaft zu schließen! Das Freundschaft-Schließen ist der Zweck in sich, der Selbstzweck, kein Mittel zum Zweck. Er kommt zu Zachäus, um zu ihm zu kommen. Er begegnet Maria Magdalena, um ihr zu begegnen, Sich ihr zu zeigen, damit sie sich bei Ihm, dem tief Vertrauten, Wissensten, ausweinen kann. Er begegnet der Frau aus Sychar am Jakobsbrunnen, dem Levi, den Er beruft. Es folgen Ihm die großen Sehnsüchtigen, die tief Verlangenden. Und Er strahlt vor ihnen auf, denn Gott ist Mensch geworden. Der Unendliche in seiner Unendlichkeit tut Sich kund im Raum und in der Zeit. In der Gestalt des Endlichen bietet sich das Grenzenlose dar – der Grenzenlose! In der Gestalt des scheinbar Vorübergehenden kündet sich an das Endgültige, das Unwiderrufliche, Unabänderliche, Ausweglose, beglückend Ausweglose. Da hinein „JA“ zu sagen, sich entscheiden zu können: das ist die Stunde des Gottmenschen, die Stunde der katholischen Kirche!

„Selig die Augen, die sehen, was ihr seht. Selig die Ohren, die hören, was ihr hört.“ Und die gierigen Augen, die nach Licht dürsten, die offenen Ohren, die sich nicht satt hören können, werden nun überflutet mit Licht, mit Wahrheit, mit überwältigenden Inhalten, mit endlosem Glück, mit tiefer Zusage, mit Macht und Vertrautheit, mit imponierender Souveränität und tiefster Zärtlichkeit zugleich. Und Ihn einsaugen, Ihn, den Einzigen einatmen, das bewahrt vor der Sünde und gibt eine Kraft der Einweihung, die dem Eingeweihten Macht gibt, viel mehr zu tun, als in den Buchstaben der zehn Gebote gesagt ist!

Der Erleuchtete versteht auf einmal die Geheimnisse der Bergpredigt. Er ist auf Seiten der Interessen des Gesetzgebers. Er ist hineingenommen in den Gesetzgeber und wird auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Sein Blick ist zu Ihm gewendet – das ist die Reue! Denn viele kommen allzu eng und kleinkariert in ihrer Vorstellung und mahnen immer daran: „Ja, Christus ist doch zu ihm gekommen oder zu ihr gekommen, weil dieser Mensch Reue gezeigt hat“ – ein schwaches Wort. Viel mehr als Reue ist die Sehnsucht und die Reue ist in ihr enthalten! Und der wahre Gegenstand, die Zielrichtung der Reue ist der Geliebte. Reue wendet sich ab, hin zu Ihm. Reue hat offene Augen, begierige Sinne des Geistes, um Ihn ganz hineinzunehmen; und von Ihm angefüllt ist dann Er die große Freude. Er ist die große Liebe. Das gute Gewissen ist weg. Es gibt kein gutes Gewissen! Es gibt keine Selbstgerechtigkeit! Der Liebende tut sich selbst immer viel zu wenig, obwohl er unsagbar mehr tut, als die meisten, als die Rechtschaffenen, als die sogenannten „neunundneunzig Gerechten“. Er liebt, und darum kennt er kein GENUG, darum ist er nicht zufrieden, darum ruht er sich nicht aus, darum kennt er keine Selbstgefälligkeit. Er ist immer ein Gedrängter, ein beglückend Unruhiger, ein selig Unzufriedener.

Das ist das, was im heutigen Evangelium gesagt wird: Jeder einzelne, dem Christus begegnet, soll sich bewußt werden über seine innerste Leidenschaft, die eingesät ist – notwendigerweise – in den Geist, der seinem ganzen Wesen nach auf Unendlichkeit aus ist. Sie wird ihm verheißen und jetzt schon geheimnisvoll zuteil. Unendliches wird Dir gegeben. Der Einstrom der Grenzenlosigkeit ist in der Taufe, mit der Firmung, gesteigert dann im Empfang der hl. Kommunion, im Gebet, im Einatmen Seiner Worte, in der ständigen Verbindung mit Ihm: dieser Einstrom der Unendlichkeit wird Dir zuteil!

Und da Dir der unendliche Gott, der Menschgewordene mit Seiner Opfertat, mit Seiner Heimholung und Seinen Worten ganz und ungeteilt gehört, gehört Dir auch ganz und ungeteilt – die Welt! Alles gehört Dir, alles, ungeteilt alles! Du bist König! Du bist zum König gesalbt, berufen, gekrönt, geheimnisvoll, da Du Dich mit Christus im Ernst aus der Tiefe Deiner Seele und Deiner Leidenschaft eingelassen hast. Das bewahrt vor dem Rückfall in den Irrtum! Das gibt jenes freudige Selbstbewußtsein, das siriusweit, unendlich weit entfernt ist von Selbstgerechtigkeit, jenes beglückt beglückende Selbstbewußtsein. Wenn ich jemandem begegne, einem solchen Selbstbewußten, einer wahren Persönlichkeit, wenn ich einem Gesicht begegne – selten genug! – das widerstrahlt das Bestrahltsein vom Erbarmen, von Ihm, vom Ewigen DU: da wird mir selber der Rücken gestrafft!

Sein neues ICH ist Christus. Er hat sich selber übersprungen, ist überhöht in dem, der ihm das neue Leben gibt, das höhere Leben, das umsonst Gegebene, das unverdiente, große, neue Leben. Darum ist der, der Christus verstanden hat, von stärkerer Vitalität, von höherer Lebendigkeit. Und aus seiner Souveränität und Unangreifbarkeit heraus kann er verzeihen, kann er, den nichts bedrohen kann, gut sein und ein weites Herz haben, in dem jeder geborgen ist, zu dem jeder sich hindrängt, weil er spürt: Hier ist gut sein. Hier laßt uns Hütten bauen.

Wenn ich sage „Dir gehört die Welt“, dann gehört da noch eine andere Betrachtung dazu: „Was ist die katholische Kirche?“ Meistens wird geantwortet: „Sie ist eine Gemeinschaft.“ Doch die Gemeinschaft ist eine Folge der Kirche! Die Kirche selbst ist Christus, erkennbar, wahrnehmbar, im Fleische sich darstellend und vergegenwärtigend; in klaren Aussagen, klaren Worten fixierbar, deutbar, räumlich und zeitlich feststellbar. Hier gleichzeitig ist Er gegenwärtig. Das ist die Kirche: die Gegenwart des Gottmenschen, die Fortsetzung des Fleischgewordenen in Seiner Epiphanie.

Und, wie gesagt, es ist ein deutbarer Ort. Umgrenzt gibt sich das Unendliche im Raum, das Ewige in der Zeit. In der Gestalt von Raum und Zeit umgibt sich das Grenzenlose, der Grenzenlose. Das muß sein. Christus – die katholische Kirche – muß sich abgrenzen, abheben in ihrer Konkurrenzlosigkeit, Unvergleichlichkeit, Unerreichbarkeit, Unwiderlegbarkeit. Sie gehört nicht zur Welt! Sie kann nicht verglichen werden, gemessen werden mit irdischen Maßen! Von ihr aus wird alles beurteilt, aber sie selbst kann nicht beurteilt werden! Von diesem sicheren Standort aus ist jeder, in dem Christus Sich verwirklicht und in dem Maße, wie Er Sich in ihm verwirklicht, in der Lage, die große Überschau zu halten, alles zu beurteilen, allem den Namen zu geben, alles zu deuten – der Dinge Wesen –, den Zusammenhang zu begreifen. Kirche bist Du, soweit Du dem Angebot des Sich darstellenden Christus folgst und so einsteigst in das Jawort der Ganzerlösten – Maria! So wird in Dir Kirche wach, und so wirst Du zum Ausgangspunkt in und mit der Kirche des Hl. Geistes.

Und der Hl. Geist, der nur von der katholischen Kirche ausgeht, weht aber über die feststellbaren Grenzen der gottmenschlichen Gegenwart hinaus, über die Grenzen des wahrnehmbaren, des notwendig wahrnehmbaren Ausgangspunktes hinaus. Der Hl. Geist weht, wo Er will, und Er weckt Sich in jedem, wo Er wirken will! Im Atheisten, im Gottlosen, im Sünder, im öffentlichen Sünder, im Irrlehrer, im Irrenden erweckt Er große Werke und große Taten. Das ist notwendig zu sagen, denn gerade in dem Maße, wie ich des Katholischen inne bin, bin ich in der Lage, alles zu deuten, und die großen Werke, die die Weltgeschichte, die Kunst aufzuweisen hat, besser zu deuten als die Urheber, die Meister, die Autoren selber zu deuten vermochten. Wer des Katholischen inne ist – es sind leider wenige, die sich des Katholischen im Ernst annehmen –: diese Seltenen sind in der Lage, alles für sich in Anspruch zu nehmen – nach den Worten des hl. Paulus im vierten Kapitel des Philipperbriefes –, „was immer gut, edel, schön, erhaben ist, was den Anspruch des Menschen erweckt, seinen Drang nach Vollkommenheit bestätigt, seine Sehnsucht nach Schönheit stillt, allüberall.“

Es muß also widersprochen werden dem geradezu atemberaubenden Schwachsinn, daß einige meinen, nur katholische Christen seien imstande, Gültiges hervorzubringen an Werken der Literatur, der Kunst und was es auch immer sein mag, staatenbildend, große bedeutende politische Konstellationen schaffend, die Wissenschaft vorantreibend, Bauwerke erstellend, Dichtungen gestaltend, große Musik komponierend – als sei ein Katholik verpflichtet, sich nur von seiten katholischer Christen solcher zu bedienen, die den Namen „katholisch“ tragen. Das ist eine armselige Verachtung dessen, was in Wahrheit katholisch ist.

Nein: Alles ist Dein, alles ist unser! Gerade weil wir katholisch sind, haben wir das Recht, alles für uns in Anspruch zu nehmen. Und je weiter unser Blick gedeiht und unsere Sinne sich weiten für alles, was schön und groß ist auf dieser Welt, umso stärker genießen wir die Spur Gottes, Seiner unendlichen, unvorstellbaren Schönheit. Und beim Genuß des Vorstellbaren wächst unsere Liebe und unser Drang zum Unvorstellbaren, zum Unsichtbaren, damit wir aufsteigen von mal zu mal mit unserer ganzen flammenden Liebe ins Unendliche. Da es sich zu uns geneigt hat, will es uns durch alle Lichter, wo sie auch vom Hl. Geist entzündet werden, mitreißen zur Höhe.

Das ist das katholische Gesetz, das gerade in diesem Evangelium aufleuchtet: Fragt nicht in die Waagerechte hinein! Vergleicht nicht die Lücken! Heftet Euren Blick nicht auf die Möglichkeiten des Nichts, sondern füllt Euch an aus der Senkrechten heraus, um in die Senkrechte emporgehoben zu werden und vom Berge Sion her das Licht zu trinken und überzugehen in Schauen und in Freude! Das ist des Gottmenschen Werk und Gesetz. AMEN.

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