Zeit zwischen 1945 und heute vollständig gewährleistet,
phasenweise völlig unmöglich. Erst die von den Alliierten vorgenommene
Edition der Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik stellte wenigstens
deutsches Archivmaterial in veröffentlichter Form bereit – wenn man als
Historiker bereit war, Auswahl und Echtheit der Edition zu akzeptieren.
Zuvor mußte auf die bis dahin vorliegenden Erinnerungsbände, das Anklagematerial aus dem Nürnberger Prozeß und auf die von deutscher Seite
bis 1945 veröffentlichten Akten und Dokumente zurückgegriffen werden,
wozu jedoch offenbar in Deutschland wenig Neigung bestand.
Der Schweizer Historiker Walther Hofer nahm sich dagegen ein Jahr
nach Fritz Hesse dem Thema Kriegsausbruch an. Es ging ihm um die »Verteilung von Schuld und Verantwortung«, und er verteilte eindeutig: Schuld
war Deutschland. Hitler habe den Weltkrieg »entfesselt«, wie die brillante
Titelwahl lautete. Hesses Aussagen über das deutsche Rückzugsangebot aus
Polen berücksichtigte Hofer überhaupt nicht. Nirgends zu finden war bei
ihm auch die wohlbekannte Äußerung des polnischen Botschafters Lipski
am letzten Friedenstag, er müsse sich nicht um deutsche Verhandlungsangebote kümmern, gleich welcher Art sie seien. Polnische Truppen würden
bald siegreich auf Berlin marschieren. Hofers Darstellung unterschlug sogar
den gesamten Besuch des englischen Diplomaten Forbes und des schwedischen Vermittlers Dahlerus in der polnischen Botschaft, bei dem diese Äu-
ßerung fiel. Bei dieser Gelegenheit wurden noch einmal die schriftlich ausformulierten deutschen Verhandlungsvorschläge übergeben, von denen es
später von polnischer Seite und auch bei Hofer hieß, sie seien der polnischen
Regierung nicht bekannt gewesen. Lipski legte das Papier mit den Vorschlä-
gen nur zur Seite und sagte, er könne nicht lesen, was dort stehe.
Trotz solcher Schwächen ist die Studie des Schweizer Historikers ein
klassisches Vehikel der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung geworden und geblieben. Die Schuldigen waren schnell aufgezählt. Im Zentrum standen ein Deutschland, dessen Sicherheitsbedürfnisse und machtpolitische Ziele von vornherein illegitim waren und eine Sowjetunion, die
sich zwar opportunistisch an der Entfesselung des Krieges beteiligte, dabei aber vorwiegend auf die eigene Sicherheit bedacht war. Die Politik der
Republik Polen blieb für Hofer nur eine Funktion der Westmächte, die
Westmächte selbst galten ihm als friedlich.
Zu Beginn der 1960er Jahre kam es dann zu den bekannten Kontroversen über den Kriegsausbruch des Jahres 1939. Sie verbinden sich vorwiegend mit den Namen A. J. P. Taylor, David Hoggan und erneut Walther Hofer. David Hoggan legte gleich mehrere schwergewichtige Untersuchungen
über die Vorgeschichte des Jahres 1939 vor, in denen er die Verantwortung
anders als Hofer verteilte und den Zweiten Weltkrieg als Krieg Englands
und Polens gegen Deutschland darstellte. Dies führte ebenso wie Taylors
Durchleuchtung der Jahre 1938/39 zu öffentlichen Auseinandersetzungen
auch in den großen deutschen Printmedien wie dem Spiegel. Sie können
als bisheriger Höhepunkt der Debatte über den Kriegausbruch gelten, soweit sie vor großem Publikum in Deutschland ausgetragen wurde. Danach
wandte sich die Öffentlichkeit zu Beginn der 1960er Jahre auch als Folge
der Eichmann- und Auschwitzprozesse von diplomatiegeschichtlichen Betrachtungen ab und sah den Weltkrieg aus anderer Perspektive. Ganz in
den Hintergrund trat dabei die aktive antinationalsozialistische Politik, die
1938/39 von Politikern und gesellschaftlichen Gruppen in England und den
Vereinigten Staaten betrieben worden war, einem Gemisch aus liberalen,
christlichen, konservativen wie jüdischen Initiativen. Diese Entwicklung
wurde in Deutschland von der Etablierung eines neuen geschichtswissenschaftlichen Establishments begleitet, das damals in den Personen HansAdolf Jacobsen und Andreas Hillgruber seine herausragenden Repräsentanten hatte. Beide waren führend an dem Projekt beteiligt, in der zeitgeschichtlichen Forschung die erstaunliche Behauptung durchzusetzen, Hitler habe einen »Stufenplan« zur Welteroberung besessen, als dessen Etappe
der Polenkrieg von 1939 zu deuten sei. Erstaunlich ist diese Behauptung zu
nennen, da sich bei genauem Hinsehen recht schnell herausstellt, daß die
Redewendung eines Stufenplans zur Eroberung der UdSSR, eines Hitlerschen »Programms« zur Eroberung von Lebensraum oder gar eines »Weltblitzkriegs« auf bloßen Mutmaßungen basieren. Es gibt keinen »quellenmäßigen Beleg« für die von ihm angenommenen »Stufenpläne« Hitlers zur
Erreichung der Weltherrschaft, schrieb sogar Andreas Hillgruber selbst.
Scheil – Der Stand der Dinge
A.J.P. Taylor: The Origins
of the Second World War,
zuletzt London 1991.
Andreas Hillgruber: Hitlers
Strategie, Bonn 1993.17
Dies hinderte ihn nicht, das Phantom dieser nicht nachweisbaren Stufenpläne zum Leitmotiv seiner Habilitationsschrift zu machen, dies zusammen unter anderem mit Jacobsen als Forschungsstandard durchzusetzen.
In den letzten Jahren ist diese einseitig auf Deutschland und Hitler
fixierte Deutung der Dinge in vieler Hinsicht wieder in Frage gestellt geworden. In einem vielgelesenen Buch blickte Gerd Schultze-Rhonhof auf
den »Krieg, der viele Väter« hatte. Andere nahmen die Sowjetunion ins
Blickfeld, wo der Krieg bereits vor Hitlers Machtergreifung von 1933 geplant und konkret vorbereitet worden war. Wie kommunistische Veteranen schon in den vierziger Jahren im Westen ausgesagt hatten, sollte von
Moskau aus mit Hilfe der Gegensätze zwischen den europäischen Nationalstaaten ein europäischer Krieg erzeugt werden, in den die Sowjets siegreich einzugreifen gedachten. Mit Blick auf Deutschland folgte daraus die
Strategie, dort die Machtergreifung einer möglichst radikalen Fraktion
von Nationalisten zu fördern, schließlich auch die Machtergreifung der
Nationalsozialisten. Neben den wissenschaftlich nicht sauber erarbeiteten
Veröffentlichungen Viktor Suworows, der allerdings in der Beschreibung
dieser Dinge durchaus richtig lag, konnte insbesondere Bogdan Musial in
jüngerer Zeit Quellenmaterial erschließen, aus dem sowjetische Angriffsabsichten auf Europa seit 1932 zweifelsfrei hervorgehen. Seine Studie zum
»Kampfplatz Deutschland« blieb allerdings dennoch in wichtigen Fragen unbefriedigend. So legte Musial einerseits dar, daß alles weitgehend
der Wirklichkeit entsprach, was die Nationalsozialisten seit den zwanziger Jahren immer über die sowjetischen Pläne gedacht und ausgesprochen
hatten, daß sie aber davon angeblich nichts Konkretes wußten. Die internationale Politik wurde hier zur Farce erklärt.
Zu einer eben solchen Farce zählt genauso das oft beschworene Bild
eines unprovozierten deutschen Angriffs auf Polen am 1. September 1939.
Auch die polnische Regierung dachte sich etwas, als sie auf Konfrontationskurs zu Deutschland ging, ein Offensivbündnis mit den Westmächten
schloß und offen mit Krieg drohte. Der Autor dieser Zeilen hat wiederholt darauf hingewiesen, daß dies der in Warschau gehegten Überzeugung
entsprach, angebliches historisches Unrecht durch Eroberung weiter Teile
Ostdeutschlands korrigieren zu müssen.
Wenn sich im September 2009 der Beginn des deutsch-polnischen
Krieges zum siebzigsten Mal jährt, wird auch über Grenzzwischenfälle gesprochen werden, etwa über den von Gleiwitz. An der deutsch-polnischen
Grenze wurde Ende August dieses Jahres tatsächlich täglich geschossen –
von beiden Seiten. Der Autor konnte im Bundesarchiv entsprechende Dokumente ermitteln. Ein deutscher Armeebefehl gab das Feuer bereits am
21. August frei, für den Fall polnischer Grenzverletzungen »in offensichtlich kriegerischer Absicht«. Ein anderer Befehl wies zugleich darauf hin,
daß aus polnischen Grenzverletzungen durch reguläre Truppen oder irreguläre Verbände keine ausgedehnten Kampfhandlungen entstehen dürften. Es ging für beide Seiten darum, die Verantwortung für einen hei-
ßen Krieg möglichst auf den Gegner abzuladen. Diesen Nervenkrieg habe
Deutschland verloren, meldete ein polnischer Sender Ende August.
Es gab jedenfalls Anlaß, mit polnischen Übergriffen zu rechnen. Die
polnische »Besetzung von Gleiwitz« werde auf der polnischen Seite der
Grenze lebhaft begrüßt, diese Nachricht brachte Anfang September ein Verbindungsmann aus Myslowitz. Man erwarte in der Bevölkerung dort mehr
in dieser Hinsicht. Ähnliches enthielten die Nachrichten aus der polnischen
Armee. Polnische Offziere unterrichteten die Einheiten mündlich über das
»Vorrücken der polnischen Armee nach Berlin«, hieß es am sechsten September 1939. Es werde den Mannschaften erklärt, daß die polnischen Truppen bereits Danzig, halb Ostpreußen und Gleiwitz besetzt hätten.
Bis es so weit kommen konnte, mußte in vielen Staaten viel geschehen.
Wer deutsche Mitverantwortung sucht, wird sie nicht in Welteroberungsplänen und Überfällen finden, sondern in den antijüdischen, antichristlichen, antikapitalistischen und antikommunistischen Spitzen der nationalsozialistischen Diktatur, die zwangsläufig eine große Zahl an Gegnern auf
sich ziehen mußten. Für 1939 ist eher Hitlers Versprechen vom Mai kennzeichnend, nicht der »Idiot zu sein, der wegen Polen in einen Krieg schliddert«. Das ändert am Gesamturteil nichts: Die »Entfesselung« des europä-
ischen Krieges, der später zum Zweiten Weltkrieg wurde, ist eine »vereinte
Entfesselung« gewesen. Sobald sich das herumgesprochen hat, wird dieser
Krieg vielleicht auch endlich Vergangenheit sein.
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