Verhaltensforschung
und Politik
Wer in den siebziger Jahren ein westdeutsches Gymnasium besuchte,
erinnert sich noch an die Schärfe der politischen Diskussionen im Unterricht. Ob Deutsch oder Gemeinschaftskunde, Religion oder Geschichte,
es ging immer ums Prinzipielle: die Überlegenheit oder Unterlegenheit
der DDR im »Systemvergleich«, Recht oder Unrecht des RAF-Terrors, der
»Berufsverbote« für Kommunisten, der militärischen Verteidigung, des
Kapitalismus oder des Leistungssports. Man lebte in ideologisch geladener Atmosphäre, und die Auseinandersetzungen wurden mit Vehemenz
geführt, weil die Beteiligten überzeugt waren, daß es sich um Existenzfragen handele, eigentlich um die Entscheidung zwischen Gut und Böse. Ein
Grund für die Intensität der Meinungskämpfe war auch die Stärke der
gegnerischen Lager, der Linken einerseits, die in Folge von 68 Auftrieb
erhalten hatte, der Bürgerlichen andererseits, die aus immer noch gefestigten Positionen fochten. Keine der beiden Parteien verließ sich nur auf
die Mannstärke, es ging immer auch um argumentative Zurüstung, und
damals – im Gegensatz zu heute – glaubten die Bürgerlichen an die Bedeutung von Weltanschauung und daran, einen Vorsprung auf diesem Feld
zu haben. Der »Sukkurs aus der Wissenschaft« (Armin Mohler) spielte
eine wichtige Rolle, die ätzende Kritik von Soziologen wie Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, Helmut Schoeck oder Ernst Topitsch und Staatsrechtlern wie Ernst Forsthoff an den utopischen Erwartungen der Linken
etwa, die kaum etwas übrigließ von der Hoffnung auf allgemeine Emanzipation, Selbstbestimmung, freie Liebe und humanitären Sozialismus,
samt Landkommunen und selbstverwalteten Industriebetrieben.
Zu den Vorgaben dieses »neokonservativen« Denkens gehörte eine
skeptische Anthropologie, die aus der Tradition hinreichend zu begrünvon Karlheinz Weißmann
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den war, aber – im Falle Gehlens etwa – auch auf neue Erkenntnisse der
Naturwissenschaften zurückgriff. Die boten vor allem im Hinblick auf
die Intelligenz- und die Verhaltensforschung Argumente, die die Linke,
die sich soviel auf ihre Rationalität und ihre Aufgeklärtheit zugute hielt,
in Bedrängnis bringen mußten. In Deutschland hat man zwar die Forschungen des Amerikaners Arthur Jensen zu Leistungs- und IQ-Unterschieden schwarzer und weißer Schulkinder nur zurückhaltend aufgenommen, aber das Buch von Hans J. Eysenck mit dem programmatischen Titel
Die Ungleichheit der Menschen entwickelte sich zum Bestseller, obwohl
oder gerade weil man hier eine radikale Antithese zum neuen Egalitarismus fand. Ähnliches galt für die Arbeiten des Außenseiters Robert Ardrey, der mit seinen allgemeinverständlichen Darstellungen zu den natürlichen Ursachen von Territorialität, Kollektivität und Aggressivität des
Menschen ganz entscheidend zur Popularisierung verhaltensbiologischer
Erkenntnisse beigetragen hat.
Die Vorstellung, daß die Menschen wesentlich ungleich sind und
wesentlich durch das Unverfügbare – ihr biologisches Erbe – bestimmt
werden, mußte einer »rechten« Position nützen. Die Richtung der Rezeption war allerdings nicht von vornherein festgelegt. Als Der Spiegel im
Dezember 1965 eine Titelausgabe »Verhaltensforschung: Der Mensch
und seine Instinkte« brachte, hatte das jedenfalls eher mit dem Geist des
Positivismus und der Modernität zu tun, mit dem Bemühen, religiöse
Vorbehalte gegenüber dem Tierischen im Menschen abzuschleifen oder
der Lächerlichkeit preiszugeben. Im Kern ging es um die Behauptung,
daß homo sapiens nachhaltig durch instinktive oder instinktartige Verhaltensweisen determiniert sei, daß es insofern keinen qualitativen Unterschied zum Tier gebe und die Vorstellung von einem »Geistwesen«, das
sich mit Hilfe seines »freien Willens« von allen naturhaften Bindungen
emanzipieren könne, obwohl in der abendländischen Tradition so tief
verankert, als abwegig betrachtet werden müsse. Man wies auch auf das
Streben der Verhaltensforschung nach einer Synthese hin, die ein neues
Menschenbild schaffen und dem Politiker umfassende Systemsteuerung
ermöglichen sollte, so daß er »… mit seinen gegnerischen Berufskollegen
in gleichsam stillschweigender Übereinkunft diese agile, schwelende und
explosive Masse Mensch planmäßig lenkt; der hier ableitet, dort befriedigt, vielleicht sogar kleine Kriege und Revolutionen in Gang setzt oder
duldet, um große zu verhindern« (Erich von Holst).
Derartige Gedankenspiele entsprachen dem kybernetischen Zeitgeist
der sechziger Jahre und hatten kaum mit konkreter Parteinahme zu tun.
Die Politisierung der Verhaltensforschung kam auch nicht auf direktem,
sondern auf indirektem Weg zustande, als eine Art Reaktion auf den
Wandel der gesellschaftlichen Leitideen. Der Vorgang ist an den Stellungnahmen des Gründervaters der Ethologie, Konrad Lorenz, besonders
deutlich ablesbar. Lorenz hatte sich zwar niemals nur an die Fachwelt
gewandt, sondern mit Büchern wie Er redete mit dem Vieh, den Vögeln
und den Fischen (1949) und So kam der Mensch auf den Hund (1950)
und schließlich Das sogenannte Böse (1963) ein breites Publikum angesprochen. Aber die meisten seiner Aussagen waren unverfänglich. Das
änderte sich drastisch nach Erscheinen seines »Hauptwerks«, das 1973
mit dem Titel Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte
des menschlichen Erkennens herauskam, und der Veröffentlichung einer
scharfen Polemik, die Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit
behandelte.
Lorenz Rede von der »Domestikation« des Menschen wirkte ebenso
aufreizend wie seine These, daß die moderne Industriegesellschaft eine
»Involution« durchlaufe, das heißt nicht dem Gesetz des »Fortschritts«,
sondern dem des »Verfalls«, auch und gerade des genetischen Verfalls,
unterliege, da der Mensch ein zivilisatorisches Niveau erreicht habe, das
den Druck der Selektion vollständig ausschalte. Als eigentliche Gefahr
betrachtete die linke Intelligenz aber die Schaffung eines theoretischen
Ansatzes, der als wissenschaftliche Basis der Gegenrevolution dienen
konnte. Denn wenn die Grundannahmen der Ethologie zutrafen und
akzeptiert wurden, standen alle Paradigmen, die man gerade durchgesetzt
hatte, in Frage: die Idee, daß der Mensch als »weißes Blatt« auf die Welt
komme, weshalb alle Menschen gleich seien, jedenfalls keine natürliche
Verschiedenheit nach Geschlechtern oder Rassen bestehe, die Annahme
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Robert Ardrey: Der Gesellschaftsvertrag. Das Naturgesetz von der Ungleichheit
der Menschen, zuletzt
München 1974.&%
einer durchgängigen Vernunftbegabung und allmächtigen Sozialisierung,
die im besten Fall zur Schaffung eines »neuen Menschen« in einer neuen,
sozialistischen Gesellschaft führen werde, und die These, daß die eigene,
die »zweite Aufklärung« einen Monopolanspruch auf Rationalität erheben konnte.
Umgekehrt hoffte die intellektuelle Rechte, daß die »Einsicht in die
Invarianten und in die konstitutiven Depravationsgefahren der menschlichen Natur, von der Lorenz’ Kultur- und Gesellschaftskritik ausgeht, …
die Chance« eröffnete, »ein realistisch-anthropologisches Entfremdungstheorem zu formulieren: Zwischen der Scylla der Sanktionierung eines
jeden, beliebigen, politischen, sozialen, kulturellen Status quo unter Berufung auf vorgebliche ›Naturkonstanten‹ … und der Charybdis einer empirisch nicht ausgewiesenen utopistisch-essentialistischen ›Entfremdungs‹-
Theorie hindurch, kann aus den anthropologisch-ethologischen Befunden eine Konzeption erarbeitet werden, die sich an historisch realisierten
und ontogenetisch realisierbaren optimalen Möglichkeiten der menschlichen Natur orientiert und deren Verlust, Verschüttung, Verfehlung in
der Gegenwart als Entfremdung zu erfassen und darzustellen vermag.«
(Heinrich Meier)
Angesichts dieser Lage war es kein Zufall, daß die Verstrickung von
Lorenz in den Nationalsozialismus erst nachträglich gegen ihn und die
Verhaltensforschung ins Feld geführt wurde. In erster Linie ging es um
die politische Bedeutung der Ethologie, deren »große Popularität« man
als das entscheidende Problem betrachtete, die »Wissenschaftsgläubigkeit« der unkritischen Masse im allgemeinen und die Methode des »Tiervergleichs« (Wolfgang Schmidbauer) im besonderen. Diese Frontstellung
ergab sich zwangsläufig, weil die herrschenden intellektuellen Moden –
der Marxismus, die Psychoanalyse, der Strukturalismus – in dem Punkt
zusammenliefen, daß sie die naturhafte Seite des Menschen, eigentlich
die Möglichkeit einer Anthropologie überhaupt, bestritten, sofern diese
von Invarianten ausgeht. Denn wenn »Anthropologie … daran festhält,
gewissermaßen ›ontologisch‹ zu verfahren, nämlich nur das Wiederkehrende, das Immergleiche, das Zugrundeliegende an Mensch und Menschenwerk zum Gegenstand zu machen, wird sie unkritisch und führt
am Ende gar zu einer Dogmatik mit politischen Konsequenzen« (Jürgen
Habermas), will sagen: politischen Konsequenzen, die der Linken nicht
recht sein konnten.
Die Linke hat sich letztlich – trotz der dürftigen und fehlerhaften
Begründung ihrer Position – durchgesetzt, was ein kluger Beobachter der
Entwicklung, Dieter E. Zimmer, schlicht auf die Attraktivität ihres »soziopsycho-kulturpolitischen Gemeinverständnisses« zurückführte. Die Einschätzung war umso bemerkenswerter, als sich Zimmer ursprünglich
selbst der Linken zurechnete, bevor er als Wissenschaftsjournalist über
die »erste Natur« des Menschen zu arbeiten begann. Dabei wurde ihm
klar, daß die Vorwürfe gegen die »Biologisten« oder »Nativisten« nicht
nur fehlende Sachkenntnis prägte, sondern auch ein kalkuliertes Miß-
verstehen dahinterstand. Zimmer schrieb zwischen 1978 und 1982 eine
Reihe großer »Dossiers« für die Zeit, in denen er mit allen Lieblingsvorstellungen der linken Intelligenz abrechnete: der Idee prinzipieller Gleichheit der Geschlechter, der Milieutheorie, der Möglichkeit die Menschheit
zu pazifizieren oder sie in einem sozialistischen Weltstaat zusammenzuführen, der Tragfähigkeit der Psychoanalyse oder den Verheißungen antiautoritärer Pädagogik.
Bedenkt man den Erscheinungsort der »Dossiers«, kann man sich
des Eindrucks nicht erwehren, daß die Zeit Zimmer als eine Art Hofnarren betrachtete, der ungestraft Wahrheiten aussprechen durfte, die man
ansonsten verbarg oder leugnete. Als er zu Beginn der achtziger Jahre
zunehmend unter politischen Druck geriet und der Faschismus-Vorwurf
schärfer formuliert wurde, versuchte er noch für eine Weile an der Vorstellung festzuhalten, daß man den Gegner einfach besser informieren
müsse. Sollte sich die Linke, so Zimmer in Verteidigung eigener Sache,
den neuen Erkenntnissen über die Biologie des Menschen verschließen,
werde sie letztlich »ins Abseits geraten. Sie wird einfach nicht mehr realitätsfähig sein.« Daß diese Erwartung trog, hatte mit Zimmers gutem
Glauben zu tun, daß die Linke guten Glaubens sei. Es spricht aber mehr
für die gegenteilige Annahme oder doch dafür, daß die Linke ihr Selbst-
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Heinrich Meier: Konrad
Lorenz, in: Caspar von
Schrenck-Notzing (Hrsg.):
Konservative Köpfe, München 1978, S. 141-156.
Jürgen Habermas: Art.
»Anthropologie«, in:
Fischer Lexikon Philosophie, Frankfurt a. M. 1958,
S. 18-35.
Dieter E. Zimmer: Unsere
erste Natur. Die biologischen Ursprünge menschlichen Verhaltens, zuletzt
Frankfurt a. M. 1982.
Irenäus Eibl-Eibesfeldt:
Krieg und Frieden aus der
Sicht der Verhaltensforschung, zuletzt München
1997.&&
verständnis als »Menschenformer« (Otto Koenig) nicht beschä-
digen wollte durch die Annahme biologischer Prädispositionen und sich dabei der Unterstützung all jener sicher war, die
aus anderen Motiven auf die modernen Sozialtechnologien
zur Steuerung der Gesellschaft setzten.
Das erklärt, warum das »Anthropologieverbot« (Odo
Marquard) im Laufe der achtziger Jahre etabliert und mit
immer neuen Sanktionsdrohungen versehen werden konnte,
die bis heute wirken und jede sachgerechte Auseinandersetzung um die Natur des Menschen verhindern. Das erklärt
auch, warum der Versuch eines Horst Stern, die ÖkologieDebatte um Argumente aus der Verhaltensforschung zu
ergänzen, ohne Resonanz blieb, und warum Eibl-Eibesfeldt
im Zusammenhang mit der Diskussion um die »multikulturelle Gesellschaft« noch einmal gehört, aber dann konsequent ignoriert wurde, gerade weil der Hinweis auf die
Natürlichkeit von Xenophobie oder die Probleme der »Pferchungsdichte« jede Duldung von Masseneinwanderung als
unentschuldbaren Leichtsinn entlarvte. Und das erklärt
weiter, warum es in Deutschland keine ernstzunehmende
Beschäftigung mit der bell curve gegeben hat (die das Ende
der Debatte über Erbe oder Umwelteinfluß bei der Intelligenz
hätte bedeuten können) und schließlich, warum die Bücher
eines Frank Salter (der politische Schlüsselfragen aus ethologischer Sicht analysiert) hier keinen Verlag finden.
Dem widerspricht auf den ersten Blick, daß ein gewisser Naturalismus längst Platz gegriffen hat: Wir haben uns
an die Idee gewöhnt, daß unser Erbgut Gesundheit, Lebensdauer und Todesart bestimmt und daß man die Gefahr
»genetischer Diskriminierung« im Blick behalten muß,
oder daß jede Frau ihre persönliche Biopolitik treiben darf,
wenn es um die Abtreibung ihres ungeborenen Kindes geht.
Bezugspunkt hat aber stets die Menschheit in toto oder
der einzelne zu sein, soweit es um die biologische Dimension unserer sozialen Existenz geht, ist ein wirksames Tabu
errichtet. Daher auch die Entspanntheit, mit der man hierzulande auf die Soziobiologie reagiert hat, die ohne Zweifel
wesentlich naturalistischer argumentiert als die Verhaltensforschung, aber wegen ihrer Fixierung auf die Individuen
(»das egoistische Gen«) einerseits und die Spezies andererseits, unter Ausschaltung der Zwischengrößen (»Arterhaltung«) und wegen ihrer neodarwinistischen Tendenz ungefährlich erschien, bestenfalls geeignet, den Kapitalismus zu
rechtfertigen, aber ohne problematische, weil konservative
Tendenz der Argumentation.
Die ist der Verhaltensforschung inhärent. In einem Interview, das er 1974 Alain de Benoist gegeben hat, nahm Lorenz
ausdrücklich und positiv auf die »Weltoffenheit« und notwendige Orientierung des Menschen an der Kultur Bezug.
Er konstatierte nicht nur ausdrücklich die Übereinstimmung mit Gehlen (der oft fälschlich als sein Antipode
genannt wird), sondern betonte auch die Fragilität der Kultur, die unter dem Druck von Selektionsprozessen wesentlich schlechter standhalte als die naturhaften Größen. Da
aber nur die Kultur die »Unsterblichkeit des Geistes« verbürge, müsse man die Gegenwart pessimistisch betrachten, weil die »Neophilie« – die Sucht nach dem Neuen –
alles beherrsche: »Damit das genetische Erbe weitergegeben
wird, bedarf es einer gewissen Rigidität des Genoms. Gibt es in einer
Art zu viele Mutationen, führt das zur Entstehung von Monstren. Gibt
es nicht genügend Mutationen, erhält man lebende Fossilien, wie etwa …
das Iguanodon. Das ist dasselbe im Fall der Kultur. Wie auf dem Gebiet
der Genetik gibt es eine Wechselwirkung zwischen den erhaltenden Faktoren, der Unveränderbarkeit, und den verändernden Faktoren. In jeder
Kultur hängt die Lebensfähigkeit vom Gleichgewicht zwischen diesen
beiden Arten von Faktoren ab …«
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