Ernst Jünger – Leben und Werk
Am 29. März wird Ernst Jünger als Sohn
eines Chemikers in Heidelberg geboren.
Von seinen Geschwistern fühlt er sich besonders Friedrich Georg verbunden. Kindheit und Jugend verbringt er in verschiedenen Städten, vor allem in Niedersachsen
(Hannover, Braunschweig, Wunstorf, Hameln), unterbrochen durch ständige Umzüge und Schulwechsel, die auch durch
Jüngers schlechte Noten erzwungen werden.
Sezession 22 · Februar 2008
1895
Wenn wir uns der Zeit erinnern, in der wir Kinder
waren, des Schweifens durch Wald und Feld, wo
das Geheimnis hinter jedem Baum und jeder Hecke
verborgen war, der wilden, tobenden Spiele in den
dämmrigen Winkeln der kleinen Stadt, der Glut
der Freundschaft und der Ehrfurcht vor unseren
Idealen, so sehen wir, um wieviel blasser die Welt
geworden ist.
(Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung)
Jünger schließt sich der Ortsgruppe Wunstorf des Wandervogels an.
1911 1913
Jünger geht über die Grenze nach Frankreich und tritt in die Fremdenlegion ein,
setzt nach Algerien über, wird aber vom
Vater unter Vermittlung deutscher Stellen
freigekauft.
Jeder Genuß lebt durch den Geist. Und jedes
Abenteuer durch die Nähe des Todes, den es
umkreist. Ich entsinne mich eines Bildes, das ich
gesehen habe, als ich kaum lesen gelernt hatte, und
das „Der Abenteurer“ hieß: ein Seefahrer, ein einsamer Konquistador, der den Fuß auf den Strand
einer unbekannten Insel setzt. Vor ihm ein Furcht
erweckendes Gebirge, sein Schiff im Hintergrund.
Er ist allein …Von jenem „Abenteurer“ haben sich
mir nur Einzelheiten schärfer in der Erinnerung
erhalten: der Strand war mit Knochen besät, mit
Schädeln und Gebeinen der beim gleichen Wagnis
Gescheiterten. Das begriff ich und zog auch den
Schluß, den der Maler beabsichtigt hatte: daß da
hinaufzusteigen zwar verlockend, doch gefährlich
sei. Das sind die Knochen der Vorgänger, der Vä-
ter und endlich auch die eigenen. Der Strand der
Zeit ist von ihnen bedeckt. Wenn ihre Wellen uns
an ihn herantrugen, wenn wir landen, schreiten
wir über sie hinweg. Das Abenteuer ist das Konzentrat des Lebens: wir atmen schneller, der Tod
rückt näher heran.
(Annäherungen. Drogen und Rausch)
© DLA MorbachZeittafel Ernst Jünger
1919 1918 1917 1916 1915 1914
Unmittelbar nach Kriegsausbruch meldet
sich Jünger als Kriegsfreiwilliger.
Nach kurzer Ausbildung kommt er mit seinem Regiment an die Westfront. Am 24.
April wird Jünger zum ersten Mal verwundet. Im Sommer nimmt er an einem Offizierslehrgang teil, kehrt als Fähnrich an die
Front zurück und wird kurz darauf zum
Leutnant befördert.
Zweite Verwundung im August; während
Jünger im Lazarett liegt, wird sein ganzer
Zug bei Guillemont vernichtet. Dritte Verwundung im November, am 16. Dezember erhält Jünger das Eiserne Kreuz erster
Klasse.
Wir hatten Hörsäle,
Schulbänke und Werktische verlassen und
waren in den kurzen
Ausbildungswochen
zu einem großen, be-
geisterten Körper zu-
sammengeschmolzen.
Aufgewachsen in einem
Zeitalter der Sicherheit,
fühlten wir alle die
Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der
großen Gefahr. Da hatte
uns der Krieg gepackt
wie ein Rausch.
(In Stahlgewittern)
Die glühenden Gefilde, die uns erwarten, hat noch
kein Dichter in seinen Träumen geschaut. Da sind
eisige Kraterfelder, Wüsten mit feurigen Palmeninseln, rollende Wände aus Feuer und Stahl und ausgestorbenen Ebenen, über die rote Gewitter ziehen.
Da schwärmen Rudel von stählernen Vögeln durch
die Luft, und gepanzerte Maschinen fauchen über
das Feld. Und alles, was es an Gefühlen gibt, vom
gräßlichsten körperlichen Schmerz bis zum höchsten Jubel des Sieges, wird dort zu einer brausenden
Einheit, zu einem blitzartigen Sinnbild des Lebens
zusammengeballt.
(Das Wäldchen 125)
Was soll ich eure Nerven schonen? Lagen
wir nicht selbst einmal
vier Tage lang in einem
Hohlweg zwischen Leichen? Waren wir da
nicht alle tote und
Lebendige, mit einem
dichten Teppich großer,
blauschwarzer Fliegen
bedeckt? Gibt es noch
eine Steigerung? Ja: es
lag dort mancher, mit
dem wir manche Nachtwache, manche Flasche
Wein und manches
Stück Brot geteilt hatten. Wer darf vom Kriege reden, der nicht in
unserem Ringe stand?
(Der Kampf als
inneres Erlebnis)
Jünger rückt zum Kompanieführer auf; bei
neuerlichen Kämpfen auf dem Schlachtfeld
von Langemarck rettet er seinem Bruder
Friedrich Georg das Leben.
Nach vierzehn Verwundungen und tollkühnen Aktionen als Stoßtruppführer erhält Jünger am 22. September 1918 den
Pour le Mérite als höchste Tapferkeitsauszeichnung.
Vielleicht spürt man nirgends schärfer als hier im
Graben, wie der Geist einer Zeit als brüchiges
Gewand in Stücken herunterfällt. Die Art, in der
Gedanken, die man noch vor kurzem für bare
Münze nahm, sich entleeren und gleichgültig werden, hat etwas Unheimliches; es ist, als ob man
inmitten gewaltiger Schuttfelder den Geistern verstorbener Bekannter begegnete, mit denen man
eine schattenhafte Unterhaltung führt.
(Das Wäldchen 125)
Der hochdekorierte Leutnant wird in das
kleine 100 000-Mann-Heer übernommen
und erarbeitet Infanterievorschriften. Sein
Tagebuch arbeitet Jünger zu einem Buch
um: In Stahlgewittern erscheint 1920 im
Selbstverlag und wird zum Bestseller. 1922
folgt der Deutungsversuch Der Kampf als
inneres Erlebnis.
„In Stahlgewittern“. Der Abschied des Kriegers
von den homerischen Helden mit ihrem Kampfspiel, ihrem Ruhm. Noch glaubt er, dem Titanismus standhalten zu können; er sieht nur die neuen
Mittel, nicht die Weltmacht, die dahintersteht.
Er tauscht die bunte Uniform gegen das graue
Arbeitskleid. Der Soldat ist als Lebender unsichtbar
geworden, als Toter unbekannt. Noch möchte er die
Feuerwelt dem überlieferten Ethos anpassen. Doch
herrschen andere Gesetze dort. Mit den Flugzeugen erscheint der Vogel Phönix in neuem Gewand.
(Siebzig verweht)
Jünger scheidet aus der Reichswehr aus
und nimmt in Leipzig das Studium der
Zoologie auf. 1925 heiratet er Gretha von
Jeinsen, bricht das Studium ab und wird
freier Schriftsteller. Als weitere Kriegstagebücher erscheinen: Das Wäldchen 125
und Feuer und Blut.
1923
Jede Gemeinschaft, die durch aufeinander angewiesene Männer gebildet wird, entwickelt sich
nach den Gesetzen der organischen Natur. Sie wird
aus der Verschmelzung verschiedener Keime erzeugt
und wächst heran wie ein Baum, der seine Eigenart
einer Reihe von Umständen verdankt. Die erste Begegnung ist eine im Grunde feindliche, man schleicht
maskiert umeinander herum, jeder gibt sich, wie er
scheinen möchte, und späht die schwachen Stellen
des anderen aus. Allmählich beginnen Sympathien
zu spielen, gemeinschaftliche Abneigungen und
Leidenschaften werden entdeckt.
(Sturm) Zeittafel Ernst Jünger
Sohn Ernst wird geboren. Jünger ist als Publizist und Herausgeber an zahlreichen nationalrevolutionären Blättern beteiligt.
Was diese Wärme ergreifen und umfassen möchte,
ist noch sehr verschiedenartiger Natur: aber das,
wovon sie sich abwendet, ist immer und überall
dasselbe: Die eisige Kälte, die noch die alten Formen beherrscht. Ob wir diese Kälte in der Politik
als Liberalismus, in der Wissenschaft als mechanistischen Betrieb, in der Kunst als Artistik, in der
Religion als Unglauben, oder im Reiche der Liebe
als Egoismus bezeichnen, – es ist überall derselbe
Mangel an Anteilnahme, Begeisterung und Opferwilligkeit, der uns abschreckt und entsetzt. Es
ist nicht eigentlich Feindschaft, was wir demgegenüber empfinden, denn Feindschaft kann auch
dem Edlen gelten, und unter unseren Gegnern von
heute verbirgt sich so mancher zukünftige Freund.
Es wirkt vielmehr die große Leere und Unfruchtbarkeit, die kalte Arbeit von Gehirnen, die kein
Schlag des Herzens mehr erwärmt, wie ein mattes
unpersönliches und verhaßtes Medium, das durch
Feuerluft gereinigt werden muß.
(Geleitwort zum Vormarsch)
Jünger wendet sich von tagespolitischen
Fragen ab und den metapolitischen, geschichtsphilosophischen zu. Umzug nach
Berlin. Freundschaft mit Carl Schmitt.
Politische Gestaltung ist nicht der erste, sondern
der letzte Schritt des Nationalismus; sie ist der
Abschluß einer Erscheinung, die nicht gemacht
werden kann, sondern die auf Wachstum angewiesen ist. Der Anfang des Nationalismus wird nicht
bezeichnet durch die Gründung einer Partei, eines
programmatischen Gehäuses, in dem die alten
Dinge neu gemischt werden. Dieser Anfang gleicht
vielmehr dem Keime, in dem sich die zarte Kraft
des Lebens verkörpert.
(Revolution um Karl Marx)
Jünger veröffentlicht die erste Fassung von
Das abenteuerliche Herz, ein Jahr später
den Sammelband Krieg und Krieger, in
dem sein Aufsatz Die totale Mobilmachung
enthalten ist; fast zeitgleich erscheint in der
von Franz Schauwecker herausgegebenen
Novellensammlung Mondstein Jüngers Sizilianischer Brief an den Mann im Mond.
Man kann sich heute nicht in Gesellschaft um
Deutschland bemühen; man muß es einsam tun
wie ein Mensch, der mit seinem Buschmesser im
Urwald Bresche schlägt und den nur die Hoffnung
erhält, daß irgendwo im Dickicht andere an der
gleichen Arbeit sind.
(Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung)
Die Hanseatische Verlagsanstalt bringt
Jüngers Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Zahlreiche Reisen nach Dalmatien,
Italien, Spanien, Frankreich.
Mein neues Buch beschäftigt sich mit der Herrschaft und Gestalt des Arbeiters. Das erste Gefühl, das mich veranlaßte, mich diesem Thema
zuzuwenden, war das einer gewissen Neugierde.
Unterstellt, lautete die Fragestellung ungefähr,
der Arbeiter vollendet seinen Weg zur Macht, auf dem
er in vielen Staaten und unter mannigfaltigen Formulierungen bereits weit vorgedrungen ist, so bezeichnet
dieser Punkt für ihn keinen Abschluß, sondern erst
den Beginn seiner Existenz. In dem gleichen Augenblick, in dem die Herrschaft gewährleistet ist, wächst
auch der Umkreis der Verantwortung. Man kann
dies auch so formulieren, daß in dem gleichen Augenblick, in dem die Herrschaft zur Tatsache wird,
die Ansprüche von Schichten, die sich wirtschaftlich oder sozial benachteiligt fühlen, nicht mehr
genügen, sondern daß eine umfassende, sich auf
die Totalität des Lebens beziehende Befehlssprache
erwartet werden muß, wie sie zu allen Zeiten das
Kennzeichen einer neuen Aristokratie gewesen ist.
(Rundfunkansprache zum Erscheinen des Arbeiters)
Jünger geht zu den Nationalsozialisten auf
Distanz. Im Dezember zieht er von Berlin
nach Goslar. 1934 wird Sohn Alexander
geboren, Blätter und Steine. 1936 Umzug
nach Überlingen, Afrikanische Spiele. 1938
Das abenteuerliche Herz (zweite Fassung).
Die schlechte Rasse wird daran erkannt, daß sie sich
durch den Vergleich mit anderen zu erhöhen, andere
durch den Vergleich mit sich zu erniedrigen sucht.
(Blätter und Steine)
Umzug nach Kirchhorst bei Hannover. Jünger wird reaktiviert und rückt im September
zur Truppe ein, im Oktober erscheint Auf
den Marmorklippen. Als Hauptmann Führer einer Infanteriekompanie im Westen, ab
1941 im Stab des Militärbefehlshabers in
Paris. 1942 Inspektionsreise in den Kaukasus, Gärten und Straßen erscheint.
1929 1927 1926 1932 1933 1939
Die Führung des Tagebuches, das heißt, die Ordnung des Anfalls von Fakten und Gedanken, zählt
zum Kursus, zur Aufgabe, die sich der Autor stellt.
Darin liegt eine einsame Tröstung, deren er bedarf.
In einem Zustand, in dem der Techniker den Staat
verwaltet und nach seinen Ideen umformt, sind
nicht nur die musischen und die metaphysischen
Exkurse, sondern ist auch die reine Lebensfreude
von Konfiskation bedroht.
(Gärten und Straßen)
Antaios’ Kraft ist stets
erneut, doch stets dieselbe – das ist einer
der Widersprüche von
Mannigfaltigkeit und
Einheit, auf denen
die Dauer in der Zeit
beruht. Antaios berührt
den gemeinsamen
Grund, aus dem die
Völker in ihrer Vielzahl
als Brüder erwachsen
sind.
(Geleitwort zur ersten
Ausgabe von Antaios)
Zeittafel Ernst Jünger
Die Schrift Der Friede kursiert in Abschriften. Im September Entlassung aus dem Heer,
wegen des Verdachts der Beteiligung an der
Verschwörung gegen das NS-Regime; der
Sohn Ernst fällt im November in Italien.
Daneben wird niemand
übersehen, daß in der
Welt der Tatsachen der
Nihilismus sich den
letzten Zielen annähert.
Nur war beim Eintritt
in seine Zone der Kopf
bereits gefährdet, der
Leib dagegen noch in
Sicherheit. Nun ist es
umgekehrt. Das Haupt
ist jenseits der Linie.
(Über die Linie)
Zum 60. Geburtstag erscheint die Festschrift Freundschaftliche Begegnungen. Seit
1957 ist Jünger vertraglich an den Verlag
Klett gebunden. Von 1959 bis 1971 gibt
Jünger gemeinsam mit Eliade die Zeitschrift
Antaios heraus. An der Zeitmauer (1959).
Gretha Jünger stirbt im November. Um die
erste, zehnbändige Werkausgabe Werke, die
zwischen 1960 und 1965 erscheint, entbrennt ein Streit zwischen Jünger und Mohler, weil Jünger sein Frühwerk darin nur in
überarbeiteter Form veröffentlicht. 1962
heiratet er Liselotte Lohrer, seine Lektorin.
Seit seinem 70. Geburtstag führt Jünger
wieder regelmäßig Tagebuch, später als
Siebzig verweht I–V (1980–1997) publiziert. Annäherungen. Drogen und Rausch
(1970), Die Zwille (1973).
Die zweite Werkausgabe Sämtliche Werke
erscheint bis 1983 in 18 Bänden. Die Verleihung des Goethepreises 1982 rückt Jünger wieder in das Licht der Öffentlichkeit,
es kommt zu politischen Anfeindungen.
Zahlreiche Reisen, Preise und Publikationen. Eine gefährliche Begegnung (1985),
Die Schere (1990). 1993 nimmt sich Sohn
Alexander das Leben.
JÜNGER: Ich bin ja nie mit Staatsformen zurechtgekommen, sondern schon als Unterprimaner in
die Fremdenlegion ausgerissen, offenbar, weil mir
die bürgerlichen Umstände nicht zusagten, und das
ist eben mein Elend bis heute. Aber im Zusammenhang mit dem Goethepreis habe ich zahllose Briefe
bekommen, und da heißt es immer wieder, mit dem
Preis gerade an mich deutet sich eine „Tendenzwende“ an. Daher wohl auch die Aufregung. Ich
wünsche aber gar keine Tendenzwende. Ich bin ja
froh, wenn dieser wackelige Wagen, solange ich lebe,
noch halbwegs weiterläuft.
SPIEGEL: Dürfen wir die Frage zuspitzen? Trifft
es zu, daß Sie im modernen Staat auch den Leviathan, daß Sie in ihm eine Pseudodemokratie sehen?
JÜNGER: Da sehen Sie die Sache schon etwas nä-
her. Was darf man denn heute? Die Sachen, die
man darf, sind doch, sagen wir mal, dem Barock
gegenüber, gewaltig reduziert.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
JÜNGER: Zum Beispiel dürfen Sie heute nicht
sagen: „Ich bin ein Faschist.“ Dann sind Sie schon
gleich der Unterste. Oder: Sie dürfen nicht auf der
linken Seite fahren mit Ihrem Automobil. Das greift
tief in das Individuum ein. Noch meine Väter, meine
Großväter, haben viel freier gelebt als heute.
(Interview aus Anlaß der Verleihung
Der 100. Geburtstag! Jünger erreicht das des Goethe-Preises)
unwahrscheinliche Alter im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte. 1996
erfolgt die Konversion zum Katholizismus
in aller Stille. Siebzig verweht V (1997).
Ernst Jünger stirbt am 17. Februar kurz vor
seinem 103. Geburtstag. Zahlreiche Briefwechsel Jüngers, etwa mit Carl Schmitt
und Gerhard Nebel, werden in den folgenden Jahren ediert. 2001 erscheint Jüngers
Politische Publizistik (1919–1933), 2003
liegt der vierte und letzte SupplementBand der Sämtlichen Werke vor.
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