Der feldgraue Psychagoge.
Jünger-Rezeption in der Subkultur
Der Ausdruck „cultural icon“ bezeichnet im englischen Sprachraum ein Objekt oder eine Person, die repräsentativ für eine bestimmte populäre Kultur
oder Subkultur ist. Das ist in der Regel Film- oder Popstars vorbehalten. Zuweilen erlangt auch ein Schriftsteller diesen „ikonischen“ Status. Dabei ist
weniger wichtig, wie sehr er tatsächlich gelesen wird; entscheidend ist, wie
stark ein bestimmtes Gefühls- und Wertesystem durch ihn vermittelt wird.
Das liegt in der Natur der Sache. Millionen Menschen tragen Che Guevara-T-Shirts als Symbol ihrer „rebellischen“ Attitüde, ohne eine Ahnung zu
haben, wer Che Guevara war oder für was er gekämpft hat. „Ikonen“ sind
Parolen und Chiffren, mit denen sich Gleichgesinnte emotionale und geistige Signale senden, magische Namen und Bilder, die Milieus markieren und
beleben. Sie repräsentieren eine ganze Welt selbst für die, die nicht zu den
Büchern greifen.
Unter den Belletristen, die zu Ikonen wurden, gibt es einige wenige,
deren Einflußkraft weit in andere Zonen der populären Kultur hineinstrahlt.
Das wahrscheinlich beste Beispiel ist William S. Burroughs, der von Patti
Smith und Laurie Anderson bis zu Nirvana und Ministry zum Idol und Paten zahlloser Projekte der US-Independent-Musikszene wurde. Die Kultur
der populären Musik ist meistens eine Kultur der Jugend, und ein Schriftsteller, der hier ikonischen Status erlangen will, muß gewisse Kriterien erfüllen,
um zur Projektionsfläche jugendlicher Sehnsüchte tauglich zu sein. Nationalzeigefinger Onkel Grass eignet sich dafür schlecht (daran wird auch das
müde Waffen-SS-„Outing“ nichts ändern), Hermann Hesse schon eher.
Und Ernst Jünger? Der Begriff „Stahlgewitter“ ist Allgemeingut geworden und wird auch von Bands wie Rammstein benutzt, während Harald
Schmidt es sich leisten kann, die Burgunderszene aus den Strahlungen mit
von Martin Lichtmesz
Grundlagen Sezession 22 · Februar 200823
Playmobilfiguren nachzuspielen
und dabei auf das Verständnis
der Zuschauer zu hoffen. Das
ist natürlich nicht viel.
Abseits der großen Heerstraße sieht es schon besser aus.
1998 beschrieben Manuel Ochsenreiter und Jürgen Hatzenbichler, beide in ihren Zwanzigern, in der Jungen Freiheit
den eben im methusalemischen
Alter verstorbenen Dichter als
den „ersten deutschen Raver“,
als exemplarische antibürgerliche Figur und Antithese „zum
heutigen konservativen Breitcord- und Jankerträger“. Darin
folgten sie einer damals gängigen Interpretation der Technokultur als Revolte „gegen eine durchrationalisierte Welt ohne Zauber und Emotionen“. Die stunden-, ja tagelangen
Raves wurden zu psychischen und physischen Grenzerfahrungen, zu modernen „Stahlgewittern“, die grenzüberschreitende Erfahrung des Ravers
zum Pendant des „Kampfes als inneres Erlebnis“. Obwohl der Bezug zum
„technophilen“ Jünger des Arbeiters naheliegt, blieb diese Deutung jedoch
eher eine Fußnote der Technokultur, deren formale Leere Platz für beliebige Botschaften läßt.
Anders verhält es sich mit jener Subkultur, auf die Jünger tatsächlich
einen großen Einfluß hatte: Die sogenannte „Neofolk“-Szene, die europaweit Anhänger hat, konstituiert sich nicht allein durch ihre Musik, sondern
durch einen gewissen Mehrwert an literarischen, okkultistischen, cineastischen und philosophischen Referenzen, die ein kodiertes, aber offenes System bilden, das von außen schwer zu durchschauen ist. Die Verwirrung
beginnt schon damit, daß ein großer Teil der Musik wenig bis gar nichts
mit „Folk“ zu tun hat; im Szenekontext ist vom Lagerfeuergeklampfe über
klassische Instrumente bis zur Lärmorgie alles möglich. Die Vorliebe für
martialische Ästhetik und die enthusiastische Rezeption „rechter“ Leitfiguren wie Leni Riefenstahl oder Julius Evola, bei gleichzeitiger Abhorreszenz
explizit politischer Aktivität hat die Neofolkszene zu einem Lieblingsfeindbild „antifaschistischer“ Aufklärer gemacht. In einem Interview mit eigentümlich frei versuchte Dominik Tischleder, der zeitweilige Herausgeber
des Szenemagazins Zinnober (jetzt: Zwielicht), den Neofolk als „Musik
zwischen Stirner, Jünger und Rand“ zu definieren. Nota bene sind hier
also eher literarisch-ideelle als musikalische Quellen ins Feld geführt. Die
Erwähnung von Max Stirner und Ayn Rand ist allerdings wohl mehr ein
aus dem Erklärungsnotstand erwachsenes Zugeständnis an die „libertäre“
Leserschaft von eigentümlich frei. Jünger dagegen hat seit Mitte der neunziger Jahre einen bedeutenden Status innerhalb der Szene erlangt.
Zuvor spielte Jünger bereits in den siebziger Jahren eine gewisse Rolle
im Umfeld einer Subkultur, die in mancher Hinsicht ein Vorläufer des Neofolk ist. Die rechtsgerichtete, aber relativ undogmatische „Musica Alternativa“ (auch „Identitätsrock“) entwickelte sich Ende der sechziger Jahre
vor allem in Italien und Frankreich als Antwort auf die zahlreichen linken
Liedermacher und Agitpropgruppen. Die Musik weist Folk-, Progressive
Rock-, und Pop-Elemente auf, in Italien war sie natürlich stets auch stark
von Schwarzhemdenromantik geprägt. 1978 nahm die Pionier-Band Nuovo Canto Popolare einen Song mit dem Titel „Sulle scogliere di marmo“
(„Auf den Marmorklippen“) auf, wahrscheinlich das früheste Beispiel für
eine Adaption Jüngers in der populären Musik. Das Lied wurde zu einem
kleinen Klassiker und später von Antica Tradizione, einer weiteren zentralen Band des Genres gecovert. Seither ist der Jünger-Bezug ein zwar nicht
häufiger, aber beständiger Fixpunkt der Musica Alternativa, speziell die
Wendung „Sulle scogliere di marmo“ ist zur Chiffre geworden.
Im Gegensatz zur Musica Alternativa ist der Neofolk nicht explizit
politisch geprägt. Der Zugang zu Jünger erfolgte analog der Techno-„Vereinnahmung“ nicht durch den „politischen“, sondern durch den „ekstatischen“ Aspekt seines Werks. Verantwortlich dafür ist in erster Linie der
Lichtmesz – Der feldgraue Psychagoge
Manuel Ochsenreiter,
Jürgen Hatzenbichler:
Der erste deutsche Raver,
in: Junge Freiheit 10/1998.
Dominik Tischleder (Interview): Musik zwischen Jünger, Stirner und Rand, in:
eigentümlich frei 41/2004.
(siehe auch: http://www.ef-magazin.de/Inhalt_41_Musikrevolution/tischleder.pdf)
Zeitschrift der konservativen Avantgarde; Umschlag
von Ahnstern.24
oberösterreichische Musiker Gerhard Petak, der früher unter dem Künstlernamen „Kadmon“ (heute: „Gerhard Hallstatt“) publizierte. Petak
ist der Kopf des Projektes Allerseelen, dessen Stil von Album zu Album
wechselt und den man als eine eigenwillige, zum Teil anmutig verschrobene Mischung aus folkloristischen, experimentellen und elektronischen
Elementen bezeichnen kann. 1995 erschien ein Text aus seiner Feder, der
programmatisch wurde für die Jünger-Rezeption der Neofolk/Post-Industrial-Szene. Jünger betrat deren Pantheon also relativ spät, als andere „faschistisch“ angehauchte poetes maudits wie Yukio Mishima, Jean Genet
oder Aleister Crowley durch Gruppen wie Death in June und Current 93
längst etabliert waren. „Feuertaufe“ war ein Heft im Rahmen einer von
Petak quasi eigenhändig am Fotokopierer produzierten Heftchen-Serie
namens „Aorta“ (später: „Ahnstern“), die sich mit dillettantisch-unseri-
öser Inbrunst auf obskure Thematiken mit meistens okkultistischem Hintergrund stürzte. Es gab Hefte über die „Münchener Kosmiker“ Klages
und Schuler, den US-Filmemacher Kenneth Anger, den Maler Fidus, über
ein Anubis-Ritual von Joseph Beuys, den „Wiener Aktionisten“ Schwarzkogler, die NS-Esoteriker Rahn und Wiligut, die „Trommeln von Calanda“ und Riefenstahls „Das blaue Licht“. Schwarmgeistige, hymnische
Exzesse, die sich mit einer provozierend „kritiklosen“ Unbekümmertheit
und dem Willen, sich in den Bann schlagen zu lassen, ihren Themen hingaben. Wenn es einen „roten Faden“ gab, dann die leidenschaftliche Gier
nach dem „Zauber“, der nach Stefan George „das Leben wach“ hält.
„Ein eigentümlicher, zauberischer, unwiderstehlicher Reiz ging von diesen
Kriegsaufzeichnungen aus“, schrieb „Kadmon“ über Jüngers Frühwerk.
„In Stahlgewittern, Feuer und Blut, Sturm und Das Wäldchen 125 waren
Niederschriften des Unbeschreiblichen. (…) Wo allen anderen die Worte fehlten, wo es ihnen längst die Sprache verschlagen hatte, fand er die
Worte, um das rauchende, finsterlohe Niemandsland des Krieges (…) für
immer festzuhalten, zu verewigen.“ In der Folge stand das Rauschhafte,
„Horrortrippige“, (Alp-)Traumhafte, die „traumatische Schönheit“ von
Jüngers Welt im Mittelpunkt, der Dichter selbst erschien als Psychagoge in
Feldgrau: „… der Krieg als apokalyptische, psychedelische Nachtfahrt.(…)
Der Kriegsschauplatz erschien als eine Anderswelt, eine Unterwelt, ein
Niemandsland, eine Grauzone, in der die Grenze zwischen Traum und
Wirklichkeit, Jenseits und Diesseits fließend war.“ Bezeichnenderweise
fanden sich in der Bibliographie des Heftchens mehrere Titel von und über
Gustav Meyrink.
Musik weckt Emotionen. „Die Basis jeder Selbststimulation ist der
Sound“ (QRT). Nicht anders zielten die Traktate Kadmons darauf ab,
den Leser mit der Begeisterung und Faszination des Autors anzustecken,
das „abenteuerliche Herz“ anzufachen. Die billig produzierten Heftchen
hatten weder eine hohe Auflage noch eine weite Verbreitung, dennoch
war ihr untergründiger, befreiender Einfluß auf die sich entwickelnde
Neofolk-Szene enorm. Sie gaben Wegweiser in ein Gebüsch voller ungehobener, vom Mainstream unterschlagener Schätze. In einem Interview
mit Michael Moynihan, dem Kopf von Blood Axis, stellte Petak die Frage: „Glaubst Du, daß es eine Verbindung gibt zwischen rechten Vorstellungen und der rechten, intuitiven, mythischen Gehirnhälfte und linken
Vorstellungen und der linken Gehirnhälfte, die für rationale, analytische
Vorgänge verantwortlich ist?“ Antwort: „Die Linke interessiert sich nur
für die politische Ebene – in meinen Augen die niedrigste Ebene von allen.
(…) Sie hat eine rein materialistische Anschauung, das Emotionelle wird
vollkommen geleugnet.(…) Anstatt Zusammenhänge zu sehen, halten sie
Spiritualität und Mytholgie für völlig unwichtig.“ Diese Sätze sind symptomatisch für die Herangehensweise der enfant terribles des Neofolk,
und enthalten im Kern alles, was zu den Attacken der „Antifaschisten“
(mit oder ohne Doktortitel), die folgen sollten, zu sagen ist. Noch Jahre
später betonte Petak in einem Interview: „Jünger mit all seinen Facetten,
seinem Wissen und seiner Weisheit über Kunst, Drogen, Literatur, Natur und viele andere Themen, kann man nicht einfach ‚faschistisch‘ oder
‚rechts‘ nennen. Wer das tut, zeigt deutlich, daß er keine Ahnung von
diesem bedeutenden deutschen Schriftsteller hat.“ Jünger tauchte seither
mehrfach als Referenz bei Allerseelen auf, 1997 erschien das Stück „In
Stahlgewittern“, 1998 das „Käferlied“, 2002 das Album „Das abenteuerliche Herz“, das weniger als „Vertonung“ denn als Hommage zu versteLichtmesz – Der feldgraue Psychagoge
Andreas Speit u.a. (Hrsg.):
Ästhetische Mobilmachung: Rechtsextreme
Tendenzen in der Dark
Wave- und Neofolkszene,
Münster 2002.25
hen ist. Im Szene-Organ „Zinnober“ (V/2003) interviewte Petak schließ-
lich den Jünger-Forscher und -Aficionado Tobias Wimbauer. Inzwischen
hatte sich der Jünger-Einfluß auch anderweitig bemerkbar gemacht.
Im selben Heft wurde eine Aufführung der Oper Auf den Marmorklippen von Giorgio Battistelli in Mannheim besprochen (die auch
auf CD erschienen ist). Der Roman wurde im Szenekontext bisher zweimal atmosphärisch vertont, von His Divine Grace („Die Schlangenkönigin“, 2003, als Grundlage wurde zum Teil das Hörbuch mit Christian
Brückner benutzt) und Sagittarius („Die große Marina“, ebenfalls 2003,
frei zum Herunterladen auf http://www.sagittarius.de). Auszüge aus der englischen Übersetzung von Stuart Hood fanden sich auf dem Titel „The
Storm Before the Calm“ (1994) von Blood Axis, der den Text mit der
Stimme von Corneliu Codreanu und einem Klaviermotiv von Nietzsche
vermischte. Von Richard Leviathan (Strength Through Joy, Ostara), dem
wohl intellektuellsten und zugleich popkompatibelsten Vertreter des Genres (er arbeitete auch mit Waltari zusammen), stammt der Text „On The
Marble Cliffs“, der bisher in drei verschiedenen Versionen auf Alben von
Kapo! (= Death in June), Ostara und Foresta di Ferro zu hören war. 1997
veröffentlichten Turbund Sturmwerk die Single „Der letzte Sieger ist der
Tod“. Auf der A-Seite war die treibend-technoide Vertonung eines frü-
hen expressionistischen Gedichts („Traum, hirndurchglüht, wird Vision,
Krystall/ Urfrage Sein zu Wahnsinn, Katarakt“) von Jünger zu hören, das
der Dichter auf Bitte der Gruppe selbst einsprach. Dem Jüngerschen „Optimismus des Willens“ stellte die B-Seite den „Pessimismus des Geistes“
in Form von Heiner Müller gegenüber. 2001 erschien der Sampler „Der
Waldgänger“, auf dem sich etwa zwei Drittel der Lieder direkt auf Jünger
bezogen. Unter den rund zwei Dutzend internationalen Gruppen fanden
sich „Von Thronstahl“, „Leger des Heils“, „Linija Mass“, „Werkraum“
und die britischen „Lady Morphia“, deren Titel „Retreat into the Forest“
(mit einem Jünger-Sprach-Sample) auch auf ihrem Album „Recitals to
Renewal“ (2000) erschien, das dem Andenken Jüngers gewidmet war.
Diese intensive Rezeption spiegelt sich auch in der Präsenz Jüngers
in dem 2006 erschienenen Standardwerk zu dem Thema Looking for Europe. Neofolk und Hintergründe. Darin findet sich etwa im Anhang ein
30seitiger Essay mit dem Titel „Abenteuerliche Herzen – Das Individuum
bei Nietzsche, Evola und Jünger“, der sich etwa zur Hälfte mit Jünger auseinandersetzt. Der – zugegeben eher miserable – Text von Patrick Achermann hebt die Wichtigkeit des Individualismus für die Neofolk-Musiker
und ihre Fans hervor, und unterstreicht zu Recht, daß die Figuren des
„Anarchen“ und des „Waldgängers“, die eine subversive Widerstandstätigkeit implizieren, zentrale Modelle für deren Selbstverständnis sind.
Die „individualismusbetonte“ Deutung geht einher mit der Entpolitisierung des Zugangs: „Jünger zu lesen ist also zunächst ein Eintauchen in
eine Flut aus Farben, Formen und Gestalten.“ Dergleichen hat den Neofolk-Hardliner Josef Klumb („Von Thronstahl“) zu einem Spottlied bewegt: „Sie wollen nicht Anstoß erregen, man macht es sich bequem (…).
Sie beugen sich jeder Kontrolle und üben Selbstzensur. Sie haben nichts
zu vertreten, sie musizieren ja nur.(…) Eine Prise Ernst Jünger, ein wenig
konservativ, / bequeme Bleichgesichter, die ich im Leben nie rief.“)
Ist nun Jünger, zumindest für eine Minderheit, zur „cultural icon“
geworden? Für die Neofolk-Szene ist er die ideale Ikone, ein Dichter
in Uniform, der sich auch völlig unpolitisch aufnehmen läßt, von einer
schneidigen, „verbotenen“ Aura umgeben – aber eben kein Nazi –, mit
Zugangstoren zur Schwarzen Romantik, zum Surrealen, Magischen und
Mythischen. Er ist tatsächlich eine „Verständigungs-Ikone“, ein Idol geworden, das ein ganzes Lebensgefühl kodiert. Die Szene erstreckt sich von
Rußland bis Portugal, von Skandinavien bis Israel und die USA, ist mithin eine äußerst vitale Subkultur, die weite Felder im „metapolitischen“
Raum besetzt hat. Es gibt in der Tat wenige Dichter, die eine solche Reverenz einer Jugend- und Musikkultur erwiesen bekommen haben wie Jünger, und der Einfluß seines Werkes ist ständig am Wachsen. Ochsenreiter
und Hatzenbichler mögen recht gehabt haben, als sie in ihrem Nachruf
schrieben: „Jünger ist ein Autor für die Menschen, die tatsächlich im
Hier und Jetzt leben“, wobei zu ergänzen wäre: die sich aber gleichzeitig
der mythenlosen „Totalherrschaft der Gegenwart“ (Botho Strauß) nicht
unterordnen wollen.
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