Konstruktivismus für Reaktionäre (Teil1)

Der „blinde Fleck“ des Auges markiert bekanntlich einen anatomisch bedingten Ausfall in unserem Gesichtsfeld – verursacht durch die Stelle, an der der Sehnerv in die Netzhaut mündet. Dort gibt es keine Lichtrezeptoren, so daß wir genau hier mit lokaler Blindheit geschlagen sind, die wir allerdings nicht, wie zu erwarten wäre, als schwarzes Loch wahrnehmen:

Wir ergänzen das fehlende Fragment konstruierend; unser Gehirn überrechnet es und verdeckt diese Lücke. Das Bild bleibt vollständig. Scheinbar.

Für den radikalen Konstruktivisten Heinz von Foerster ist das von entscheidender Bedeutung, insofern der „blinde Fleck“ eben nicht Blindheit bedeutet, sondern die Unmöglichkeit der Einsicht in genau diese Blindheit. Norbert Bolz kommentierte dies in seinem letzten Buch: „Daß man nicht sieht, ist kein Problem. Das Problem ist, daß man nicht sieht, daß man nicht sieht. Die Blindheit wird nicht wahrgenommen. Und das zeigt sich in der Unfähigkeit, das Problem zu sehen. Die Theorie des blinden Flecks markiert die Grenzen der Aufklärung.“

Und das eben nicht nur optisch, sondern generell. Irgendwo befindet sich bei jeder Betrachtung die „Null-Stelle“. Sie bleibt zwangsläufig bestehen, man kann sie verschieben, wird sie aber nicht los. Bei der Betrachtung des Betrachters setzt sich die Lücke fort. Niklas Luhmann fragt sich erkenntnistheoretisch, wer die Unterscheidung gegenüber einem System oktroyiert, Carl Schmitt in verwandter Weise rechtsphilosophisch „Quis iudicabit?“ – Wer wird urteilen? Von welcher Stelle aus? Wie gewinnt und rechtfertigt er seine Position?

Eine politische Übertragung: Unsere zunehmend vulgärmaterialistisch basierte „Wachstumsgesellschaft“ versucht sich im Überbau kompensatorisch immer noch aus der Perspektive der idealistisch aufgeladenen Aufklärung wahrzunehmen. Je weiter sie sich aus wirtschaftsmathematischen Gründen sozial und kulturell herunterkühlt, um so eifriger dekretiert sie vermeintlich „humanitäre Werte“ und tritt gouvernantenhaft didaktisch auf: Prinzipiell folgen Rauchverbote und Gesundheitspropaganda der gleichen Intention wie die Zwangsverpflichtung der Bildung zur „Inklusion“, die Zwangsvereinnahmung in „Ganztagsschulen“ und die Zwangsbeglückung durch Freiheitsreden des Bundespräsidenten.

Unbewußt angstbesetzt gegenüber der für unvermeidlich gehaltenen „Exklusion“ von immer mehr Armen und Abgehängten, läßt die „politische Klasse“ andere Sichten als die als grundvereinbart geltenden der „Mitte“ gar nicht mehr zu, sondern spaltet sie als „rechts“ und somit bösartig ab. Obwohl sie beispielsweise die Freund-Feind-Unterscheidung von Carl Schmitt als „Begriff des Politischen“ verwerflich findet, verfährt sie handelnd mehr denn je genau nach diesem Muster.

Um den „blinden Fleck“ der Political Correctness von links bis zur „Mitte“ auszumachen, sehe man sich die inhaltlich einheitlich gestalteten Sozialkundelehrbücher oder die mehr oder weniger zu gleichen Aussagen konvergierenden Parteiprogramme an – beides eine anstrengende Pflichtlektüre, deren Langweiligkeit aber offenbart, von welcher Stelle aus das Establishment nichts sehen kann, weil ihm das eigene Paradigma das Spektrum des Bildes verkürzt, so daß es konstruierend mit Welterklärung ergänzt wird.

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