Kritik der Kritik der Islamkritik (2)
Die zweite Argumentationsfigur, die Weißmann aufs Korn nimmt, lautet:
2. Es besteht kein Unterschied zwischen Islam und Islamismus
Er präzisiert diese These – die in dieser Grobschlächtigkeit in der Tat von kaum jemandem vertreten wird – dahingehend, daß Islamkritiker auf die starke Anfälligkeit selbst äußerlich gut integrierter Muslime für islamistische Indoktrination bis hin zur Gewaltbereitschaft hinweisen. Er fährt fort,
Deren Erfolg kann man [nach Meinung der Islamkritiker] nur erklären, wenn man davon ausgeht, daß Islamisten im Prinzip nichts anderes tun, als den Islam selbst ernst zu nehmen.
und wendet dagegen ein:
Selbst eine ihrem Gegenstand so kritisch gegenüber stehende Islamwissenschaftlerin wie Christine Schirrmacher beharrt darauf, den Islamismus als eine in erster Linie politische, nicht religiöse, Konzeption zu definieren.
Wenn das Wort „kritisch“ in diesem Zusammenhang nur bedeuten soll, daß Christine Schirrmacher zur offiziösen Schönfärberei Distanz hält, bin ich einverstanden. Freilich wird damit nur etwas umschrieben, was sich für Wissenschaftler von selbst verstehen sollte; eine Gewähr für die Richtigkeit ihrer Thesen oder auch nur für die Fruchtbarkeit und Erkenntnisträchtigkeit ihres Begriffssystems liegt darin noch lange nicht. Tatsächlich folgt Weißmann Schirrmacher in eine begriffliche Falle, nämlich die unreflektierte Anwendung westlicher Begriffssysteme auf nichtwestliche Gesellschaften:
„Die Schwierigkeiten, den Islam auf den soziologischen Begriff zu bringen, haben weniger mit der Vielschichtigkeit des zu beschreibenden Phänomens, also des Islam zu tun, als vielmehr mit der Unzulänglichkeit der ihn beschreibenden Begriffe. Wir sind es gewöhnt, ‚Religion‘, ‚Politik‘, ‚Kultur‘ und ‚Recht‘ als Bezeichnungen voneinander getrennter und gegeneinander autonomer Lebensbereiche aufzufassen. Diese Begriffe sind aber nicht in einem historischen und gesellschaftlichen Vakuum entstanden, und ob sie universell anwendbar sind, ist durchaus fraglich.
Sie sind dazu entwickelt worden, eine ganz bestimmte Gesellschaft zu beschreiben – unsere eigene, funktional differenzierte westliche Gesellschaft –, weswegen sie deren Angehörigen, also uns, auch ohne weiteres einleuchten. Es gibt aber a priori keinen Grund zu der Annahme, dass dieses Begriffsystem zwangsläufig ebenso gute Dienste bei der Analyse nichtwestlicher Gesellschaften leisten müsse; es gibt sogar erstklassige Argumente dagegen:
Die Unterscheidung von Religion und Politik etwa, die uns so selbstverständlich erscheint, dass wir nicht mehr darüber nachdenken, spiegelt sich beim Reden über den Islam in dem antithetischen Gebrauch der Begriffe ‚Islam‘ und ‚Islamismus‘: das eine eine Religion, das andere etwas (nach unserem Verständnis) vollkommen anderes, nämlich eine politische Ideologie, die den Islam bloß ‚missbraucht‘, und zwar als Arsenal, aus dem sie sich mit Propagandaslogans versorgt. Dass der Islamismus zum Islam in derselben Weise gehören könnte wie der Rüssel zu besagtem Elefanten, ist für viele Menschen buchstäblich un-denkbar, weil es in ihrem Begriffssystem nicht vorgesehen ist.
(…)
Kein erstzunehmender Islamexperte (und noch weniger die Muslime selbst) würde bestreiten, dass der Islam sich selbst als umfassende Lebensordnung versteht – also nicht etwa als Religion, wie wir sie uns vorstellen, die man auch im stillen Kämmerlein praktizieren könnte, deren Befolgung Privatsache wäre, und die sich vor allem auf die Gottesbeziehung des Einzelnen auswirkt. Der Islam durchdringt – seinem eigenen Anspruch nach – auch Recht, Politik, Kultur, Wissenschaft und überhaupt jeden Lebensbereich. Es gibt im Islam keinen Vorbehalt nach Art des neutestamentlichen ‚So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.‘ (Mt 22,21) Es gibt keine islamfreie Zone, zumindest soll es keine geben.
Dies, wie gesagt, wird auch zugestanden, und dass der Islam keine Säkularisierung erlebt hat, gehört mittlerweile fast schon zur Allgemeinbildung. Bisher fühlte sich aber kaum einer berufen, die soziologischen Konsequenzen dieses unbestrittenen Sachverhaltes zu analysieren. Es scheint auch niemandem aufzufallen, wie inkonsequent es ist, das Fehlen der Säkularisierung islamischer Gesellschaften festzustellen, diese Gesellschaften aber in Begriffen zu beschreiben, die eine solche Säkularisierung gerade voraussetzen.“
(a.a.O., S. 10 f., 13)
Eine Gesellschaft, deren leitendes Normen- und Wertesystem die religiöse Verankerung auch von Politik und Recht fordert, bringt mit Notwendigkeit regelmäßig Kräfte hervor, die damit Ernst machen – in einem modernen Kontext also Islamisten –, und zwar typischerweise dann, wenn der Islam als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung noch nicht etabliert ist, oder wenn er in dieser Hinsicht angefochten wird. Dies ist nicht nur ein deduktiv gewonnener theoretischer, sondern auch ein empirischer Befund: Die Intoleranz gegenüber Nichtmuslimen und „schlechten“, d.h. nonkonformen Muslimen, und die Rigidität, mit der die islamischen Normen durchgesetzt werden, ist regelmäßig dann am größten,
wenn die gesellschaftliche Ordnung zusammengebrochen ist und rekonstituiert werden muss, wie heute in den gescheiterten Staaten Afghanistan und Somalia, oder
wenn Muslime noch in der Minderheit, aber bereits mächtig genug sind, die Islamisierung nichtmuslimischer Gesellschaften zu erzwingen, wie es in den frühen Phasen sowohl der arabischen als auch der türkischen Expansion der Fall war (ein Aspekt, der uns zu denken geben sollte, zumal wenn wir sehen, daß der Islam in Teilen der muslimischen Parallelgesellschaften in Europa um einiges rigider interpretiert wird als in den meisten Herkunftsländern der Migranten), oder
wenn die islamischen Gesellschaften von außen durch nichtmuslimische Mächte bedroht werden, militärisch etwa während der Kreuzzüge, wirtschaftlich, kulturell und militärisch durch die westliche Expansion seit dem 19.Jahrhundert.
Vom Standpunkt einer ganz bestimmten Ideologie kann Islamismus freilich nichts mit dem Islam und der mit ihm zusammenhängenden soziologischen Eigengesetzlichkeit muslimischer Gesellschaften zu tun haben, weil sie mißliebige gesellschaftliche Erscheinungen, eben auch den Islamismus, bereits aus ideologischem Prinzip auf „Unterdrückung, Armut und Not“ zurückführt. Weißmann faßt Schirrmachers Ausführungen zu den Ursachen des Islamismus so zusammen:
Er [der Islamismus] sei eine „totalitäre Ideologie“ mit einem im Kern „utopischen Weltbild“, die auf die Unterdrückung, die Armut und die Not in den Gebieten des Nahen Ostens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Angebot eines „ganzheitlichen Islam“ reagierte.
Wie sie mit diesem Modell den Erfolg von Islamisten in Europa erklären will, wo Muslime weitaus mehr Rechte und mehr Wohlstand genießen als in den meisten ihrer Herkunftsländer, wird wohl Schirrmachers – und, da er sie zustimmend zitiert, auch Weißmanns – Geheimnis bleiben. Ich gestehe, daß ich die Bedenkenlosigkeit und Naivität einigermaßen befremdlich finde, mit der Weißmann, ein profilierter Konservativer, anscheinend im Vertrauen auf „die Wissenschaft“, ein Erklärungsmuster übernimmt, das erkennbar in den Prämissen linker Ideologie verwurzelt ist.
Weißmann zufolge, der ihr auch hier folgt, weist Schirrmacher die Argumentation der Islamkritiker, wonach der Islamismus nur konsequent praktiziere, was der Islam schon immer gefordert habe, (nämlich die Einheit von Religion und Politik unter dem Gesetz der Scharia) und deshalb notwendig aus ihm hervorgehe, mit dem Argument zurück,
daß die Mehrzahl der Moslems … von diesem Konzept weit entfernt sind.
Das islamistische Potenzial sei mit circa 10 Prozent der Heranwachsenden zwar erheblich, aber dennoch nur minoritär.
Abgesehen davon, daß schlechterdings nicht zu erkennen ist, inwiefern Feststellungen dieser Art die These widerlegen sollen, der Islam bringe den Islamismus als solchen mit Notwendigkeit hervor, ist der zentrale Denkfehler dieses Arguments die Gleichsetzung von Quantität und Qualität – so, als hinge die Durchschlagskraft radikaler ideologischer Positionen vom Bevölkerungsanteil ihrer Anhänger ab; nebenbei gesagt ein Denkfehler, der einem nur vom typisch liberalen Standpunkt eines individualisierenden Denkens unterlaufen kann, das die Dynamik sozialer Beziehungen ausblendet (und deshalb aus Weißmanns Feder merkwürdig inkonsistent wirkt):
Allein ihre eigene nicht abreißende Kette von Niederlagen in den letzten fünfzig Jahren sollte deutsche Konservative hinreichend darüber belehrt haben, daß kleine radikale Minderheiten sehr wohl in der Lage sind, ihre Vorstellungen auch gegen eine widerstrebende Mehrheit durchzusetzen, wenn diese Mehrheit nicht aktiv gegensteuert, weil und sofern sie, die Minderheit, dabei einen bestehenden ideologischen Konsens zu ihren Gunsten umdeutet und ausnutzt. Ein solcher Grundkonsens, und zwar über die Geltung islamischer Normen, besteht in den muslimischen Parallelgesellschaften aber sehr wohl; diese Gemeinschaften bilden den Resonanzboden, ohne den die Islamisten in der Tat nicht erfolgversprechend agieren könnten; und fatalerweise liegt zudem die Definitionsmacht, was „die Muslime“ wollen und „der Islam“ fordert, in den Händen von Organisationen, die meist selbst islamistisch sind (und selbst die, die das nicht sind, weil sie zum Beispiel ethnisch definierte Interessen vertreten, lassen sich mühelos vor den Karren der Islamisten spannen).
Des weiteren hängt die Durchsetzungsfähigkeit gerade von Islamisten nicht zuletzt von ihrer Gewaltbereitschaft ab, die als hemmender und einschüchternder Faktor ins Kalkül nichtmuslimischer Akteure – etwa von Polizeibeamten oder Politikern, aber auch von einfachen Bürgern – einfließt.
Und schließlich werden islamische Standards – etwa, Muslime nicht zu „provozieren“, als Frau oder Mädchen islamischen Vorstellungen von „Sittlichkeit“ zu entsprechen, Muslimen Tribute zu entrichten, gewaltsame Machtdemonstrationen von Muslimen zu dulden – durchaus nicht nur und nicht einmal überwiegend von Islamisten durchgesetzt, sondern vor allem von Kriminellen, denen dabei aber jedes Unrechtsbewußtsein fehlt, weil ihr Verhalten ja „nur“ gegen das Recht der „Ungläubigen“ verstößt und daher in ihrer muslimischen Umgebung aufgrund von deren sozialisatorischer Prägung keine energische soziale Mißbilligung erfährt.
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