Staat Europa?
von Werner Mäder
Grundlagen Sezession 26 · Oktober 2008
Immer dann, wenn EU-Verträge im Zuge der fortschreitenden Integration ge-
ändert werden, steht die Frage im Raum, ob und inwieweit dies zum Verlust
der Souveränität der Nationalstaaten führt. Die deutsche Regierung hat anfangs die Frage regelmäßig verneint, mit dem Vertrag von Lissabon 2007 ist
sie dann gar nicht mehr darauf eingegangen. Die Frage ist auch müßig: Die
Bundesrepublik befindet sich seit Kriegsende in einer verwirrten Zwischenlage und ist unentrinnbar in einem Netz gegenläufiger, sich widersprechender Regelungen verfangen.
Die Bundesrepublik ist kein souveräner Staat. Es fehlen alle wesentlichen
Elemente von Souveränität: uneingeschränkte Militärmacht, Finanzmacht, Territorialgewalt und Rechtsgewalt.
Deutschland wird von der UNO trotz Mitgliedschaft als Feindstaat gemäß Art. 53 und 107 der UNO-Charta betrachtet; die Alliierten dürfen ohne
Ermächtigung des Sicherheitsrates Maßnahmen jeder Art gegen den Feindstaat
des Zweiten Weltkrieges ergreifen. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 ist kein Friedensvertrag. Es gilt immer noch Besatzungsrecht. Tatsache ist, daß auch nach 1990 fremde Truppen der drei westlichen Siegermächte auf deutschem Boden stationiert sind. Das hindert jedoch die deutsche Regierung – fest eingezwängt in das westliche „Verteidigungsbündnis“ – nicht,
auf Geheiß des Siegers USA sich an Kriegseinsätzen „all over the world“ beteiligen zu müssen. Derjenige ist nicht souverän, dem ein Element aus den Souveränitätsrechten fehlt, weil „das Behalten aller übrigen wirkungslos für die
Bewahrung von Frieden und Gerechtigkeit ist, den Zweck, zu dem alle Gemeinwesen gegründet werden“ (Hobbes).
Nach innen konzentriert sich die Regierung darauf, hohe Steuern, Abgaben und Gebühren zu erheben, das Volksvermögen aufzubrauchen, die Bürger
mit Polizei und Justiz in Schach zu halten. Dies sind Phänomene eines „NachtHans-Peter Tietz: Souveräner Staat oder noch
immerBesatzungsrecht?,
Marburg a. d. L. 2001.
Werner Mäder: Vom Wesen
der Souveränität, Berlin
2007.17
wächter-“ beziehungsweise des Rudimentes eines „Not-
und Verstandes-Staates“ im Hegelschen Sinne. Die Politische Klasse will der staatspolitischen Misere entfliehen. Josef Isensee schreibt treffend: „Das Kainsmerkmal von Auschwitz würde verschwinden, würden die
Deutschen in einer größeren Einheit, etwa der europä-
ischen, aufgehen. Die Selbstantipathie der Deutschen
erklärt es, daß sie versuchen, ihrer zu entfliehen. Sie
beschwören die multikulturelle Gesellschaft, die europäische Bürgergesellschaft, die Weltzivilisation, zugunsten derer der Nationalstaat abdanken sollte. Die
Selbstantipathie erklärt die forcierte Bereitschaft zur
europäischen Integration, die auch anhält, nachdem
sie die ursprüngliche Faszination längst verloren hat.
…“
Mit dem Vertrag von Maastricht 1992 wurde die
Finanzmacht (Währungshoheit) auf die EU verlagert.
Die Rechtsgewalt hat sich der Europäische Gerichtshof – mit Duldung des Bundesverfassungsgerichts –
selbst verschafft. Die „forcierte Bereitschaft“ findet ihren vorläufigen Höhepunkt im ‚Vertrag von Lissabon‘
2007, für den Bundeskanzlerin Merkel sich vehement
eingesetzt hat. Es ist keine Aporie zu sagen, daß hier
die Bundesrepublik Deutschland Souveränitäts- und
Hoheitsrechte übertragen will, die sie ja in rechtlicher
Hinsicht gar nicht hat.
Auf der anderen Seite können in der Frage nach
der „europäischen Staatswerdung“ (Siegfried Broß)
aus dem Integrationsprozeß seit 1992 drei Phasen herausgenommen werden.
1. Staatenverbund
Das Bundesverfassungsgericht hat zwar das Gesetz vom 28. Dezember 1992
zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union passieren lassen. Mit Verfassungsbeschwerden war gerügt worden, daß der Maastricht-Vertrag das Grundgesetz völlig sinnentleert. Im Urteil vom 12.10.1993 meinten
die Verfassungsrichter zweimal, das sei „noch nicht“ der Fall. Es hat eine Reihe von Grenzpfählen gesetzt, die noch nicht verletzt worden seien:
– Der Unions-Vertrag begründet einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas, keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat.
– Die Bundesrepublik ist Mitglied einer zu eigenem Handeln befähigten Staatengemeinschaft. Voraussetzung der Mitgliedschaft in einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft ist, daß eine vom Volk ausgehende Legitimation und Ein-
flußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert ist. Nimmt ein Verbund demokratischer Staaten hoheitliche Aufgaben wahr, sind es zuvörderst
die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente
zu legitimieren haben.
– Der Unions-Vertrag räumt grundsätzlich nur begrenzte Hoheitsbefugnisse
ein (begrenzte Einzelermächtigung). Der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften sind vom demokratischen Prinzip
her Grenzen gesetzt. Die Wahrnehmung von Hoheitsgewalt durch die EU gründet sich auf Ermächtigungen souverän bleibender Staaten. Eine Generalermächtigung sei unzulässig. Der Vertrag begründe für die Union keine KompetenzKompetenz. Dies würde das gesamte Vertragssystem überflüssig machen. Die
Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer Aufgabenfelder, auf denen sich das
jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es –
relativ homogen – geistig sozial und politisch verbindet, rechtlichen Ausdruck
zu geben.
– Der Vertrag ermächtigt die Union nicht, sich aus eigener Macht die Finanzmittel oder sonstige Handlungsmittel zu verschaffen, die sie für die Erfüllung
ihrer Zwecke für erforderlich hält.
– Die Bundesrepublik unterwirft sich mit der Ratifikation des Vertrages nicht
einem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren „Automatismus“ zu einer Währungsunion. Diese sei vom Zustimmungsgesetz gedeckt.
Rudolf Hrbek (Hrsg.): Der
Vertrag von Maastricht
in der wissenschaftlichen
Kontroverse, Baden-Baden
1993.
Mäder – Staat Europa?
Königin Europa, Holzschnitt aus Sebastian
Münsters Cosmographia,
1544.18 Mäder – Staat Europa?
– Deutschland ist einer der „Herren der Verträge“, die ihre Gebundenheit an
den „auf unbegrenzte Zeit“ geschlossenen Unionsvertrag begründet haben,
diese Zugehörigkeit aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder
aufheben könnten.
Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts ist eindeutig, die EU ist ein
„Staatenverbund“, kein Staat. Die Unterscheidung ist juristisch greifbar, auch
wenn die Zusammensetzungen ‚Bundesstaat‘ und ‚Staatenbund‘ im Laufe der
Zeit immer wieder definitionsbedürftig wurden, ohne daß es jemals zu einer
einhelligen Meinung gekommen wäre. Hinter den juristischen Positionen zeichnen sich nämlich politische Kräfte ab, die die Verfassungstermini – ähnlich ‚Demokratie‘ oder ‚Monarchie‘ – politischen Kampfbegriffen angenähert haben.
Dies ist hier nicht der Fall. Europa-Eschatologen mögen dies anders sehen. Das
Deutsche Reich (1871) war kein Bund der Länder, sondern der Bund des gesamten deutschen Volkes. Das galt für die Weimarer Reichsverfassung und gilt
auch für das Bonner Grundgesetz.
2. Staatswerdung
Materiell ist die Verbindung der Vertragsstaaten seitdem schon viel weiter vorangeschritten, als dies von den politisch Verantwortlichen eingestanden ist. Die
EU verfügt über die Finanzmacht und Rechtsgewalt, das heißt Elemente der
Souveränität. Souveränität bedeutet in erster Linie tatsächliche Macht, der insoweit das Recht folgt, sich notfalls über das Recht hinwegsetzt.
Der Staat wird mitunter mit einer bestimmten Staats- beziehungsweise Regierungsform identifiziert, sein Begriff mit spezifischer (demokratie-inkompatibler) Verfassungssubstanz aufgeladen. Das verstellt den Blick dafür, daß die
Spezies Staats- beziehungsweise Regierungsform nicht mit dem Genus Staat
kollidiert. In das Passepartout des Staatsbegriffs paßt sowohl die Demokratie
als auch die Aristokratie sowie die Monokratie oder Diktatur (totale Herrschaft). Die EU selbst leidet an einem unheilbaren Demokratiedefizit. Das hindert jedoch nicht daran, daß sie ein Staat werden kann.
Das Bundesverfassungsgericht weist zwar darauf hin, daß es kein europä-
isches Staatsvolk gibt, allerdings nur in dem Zusammenhang, daß sich deshalb
aus dieser Quelle die EU keine demokratische Legitimation verschaffen kann.
Zwar gehört nach reiner Völkerrechtslehre zum Staat ein Staatsvolk. Das
schließt jedoch nicht aus, daß ein Staat mit vielen Völkern (Vielvölkerstaat) ein
Staat ist und als solcher anerkannt wird. Maßgebend ist Faktizität der Herrschaft. Demgemäß steht einer Staatswerdung der EU nicht entgegen, daß sie
weder Demokratie ist noch über ein europäisches Volk verfügt.
Es sind nicht Einzelmeinungen kompetenter Staatsrechtslehrer, die – anders als das Bundesverfassungsgericht – meinen, daß die EU als ein Herrschaftsgebilde eigener Art in der Praxis staatsähnliche Kompetenzen in einer derartigen Fülle hat, daß sie durchaus einem unitarischen Bundesstaat gleichkommen.
3. Vom ‚Staatenverbund‘ zum unitarischen Bundesstaat?
An die Stelle der gescheiterten ‚Verfassung für Europa‘ 2004 ist der ‚Vertrag
von Lissabon‘ 2007 getreten, mit dem unter anderer Bezeichnung daßelbe erreicht werden soll. Der Bundespräsident hat bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Unterzeichnung des Zustimmungsgesetzes und die Ratifizierung des Vertrages zurückstellen müssen. Tritt der Vertrag in Kraft, bedeutet dies Revolution im wesentlichen mit folgenden Wirkungen. Die vom
Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil von 1993 aufgestellten Hürden werden beiseite geschafft.
– Der Vertrag schafft die Volkssouveränität ab. Das Grundgesetz wird wirkungslos. Es bedeutet Absolutismus im Stile Ludwigs XIV. im Gewand einer
EU-Rätediktatur.
– Er beraubt Deutschland der Grundlagen seiner ohnehin nur bedingten Selbständigkeit und existentiellen Staatlichkeit. Das Land wird – fernab vom Rechts-
und Sozialstaat – Teil einer Region globaler Rechtlosigkeit.
– Mit dem vereinfachten Änderungsverfahren durch den Europäischen Rat erlangt dieser die Verfassungshoheit, ohne dazu legitimiert zu sein. Er verfügt
über weitreichende bundesstaatstypische Kompetenz-Kompetenzen, wird ermächtigt, Unionssteuern zu erheben. Er kann so gut wie das gesamte Vertragswerk oder Teile dessen (außer der Außen- und Sicherheitspolitik) ohne Beteiligung der nationalen Parlamente ändern.
– Die Rechtsetzung der Union ist durchgehend exekutiv, nicht parlamentarisch.
Werner Mäder: Kritik der
Verfassung Deutschlands,
Berlin 2002.Mäder – Staat Europa? 19
Die Brüsseler Exekutive ist nicht abwählbar.
– Bisher hatten die Mitgliedstaaten ihre Hoheitsrechte nur – rückrufbar – übertragen, nicht verloren. Der Vertrag sieht eine ausschließliche Zuständigkeit in
vielen Bereichen vor. Sie verlieren ihre Hoheit in diesen Bereichen endgültig.
Sie verlieren in der Substanz ihre existentielle Staatlichkeit und werden materiell zu bloßen regionalen Selbstverwaltungskörperschaften, als die sie der Vertrag definiert.
Die Union wird durch den Vertrag ein ‚echter‘ (unitarischer) Bundesstaat,
weil sie auf Vertrag beruht, als Bund der Mitgliedsländer, nicht ein ‚unechter‘
Bundesstaat wie Deutschland, der durch Verfassungsgesetz – theoretisch – als
Bund des Deutschen Volkes begründet ist.
Die Union ist jedoch noch kein ‚perfekter‘ Staat, ihre Souveränität ist
(noch) nicht absolut. So geht zum Beispiel zwar die Verteidigungspolitik auf
die EU über, die jedoch wiederum an die NATO und damit USA gebunden ist.
Der Vertrag räumt ein Austrittsrecht ein. Hingegen gibt es ein Recht auf Abspaltung einzelner Landesteile im Völkerrecht nicht. Sollte bei der rein theoretisch bleibenden Frage die Bundesrepublik tatsächlich austreten wollen, könnten seine „Siegerfreunde“ dies politisch zur Sezession erklären und Maßnahmen ergreifen. Ohnehin wäre die Union ein Machtgebilde, in dem das positive Gesetz Recht verdrängen kann.
Tatsächlich illustriert das Vorgehen bei der „Vertiefung“ und Erweiterung
der EU ein Interview, das der Luxemburger Jean-Claude Juncker, früherer Ratspräsident, dem Spiegel gegeben hat: „Wir beschließen etwas, stellen das dann
in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein gro-
ßes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen,
was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es
kein ,Zurück mehr gibt‘.“
Erlaubt sind folgende Betrachtungen.
a) Läßt das Bundesverfassungsgericht den Vertrag durchgehen, bleibt die gewiß nicht tröstliche Feststellung, aber die Erfahrung aus der Geschichte, daß
sich keine Herrschaft auf Dauer halten kann, die von der Mehrheit der Bürger
zurückgewiesen wird. „Alle politischen Institutionen sind Manifestationen von
Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht
mehr hinter ihnen steht und sie stützt.“ Hannah Arendt gibt erstaunlich realphilosophischen Trost, wenn sie darauf verweist, daß Freiheit identisch ist mit
(Neu-)Anfangen und Spontaneität menschlichen Handelns und wir deshalb
das Recht haben, menschliche Wunder zu erwarten.
b) Scheitert der Lissabonner Vertrag, bildet das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts bis zu einer Änderung seiner Rechtsprechung Orientierung.
Politisch gesehen wird für die Eurokraten der Kompaß vorübergehend in „Unordnung“ geraten. Hier sei an Mark Twains Worte erinnert: „Als sie die Richtung verloren hatten, verdoppelten sie ihre Geschwindigkeit.“ Dann jedoch
bleibt das Streben der EU-Organe auf „immer mehr“.
Solange es noch einen oder mehrere mächtige außereuropäische Staaten
gibt, muß der Jurist ohne Europa-Eschatologie an den klassischen Begriffen
festhalten, ist Bodins ‚Souveränität‘ nicht aus der Welt. Man kann im derzeitigen Verhältnis der Mitgliedstaaten und der EU von einer „Pendenz der Souveränität“ sprechen. Ohnehin ist und bleibt, wirtschaftlich gesehen, die EU eine
gehobene Freihandelszone, eine offene „Region des globalen Kapitalismus“
(Karl Albrecht Schachtschneider).
Für den Nicht-Juristen ist es schwer, sich eine eigene Position zu verschaffen. Arnold Gehlen bezeichnete den Übergang, in dem wir leben, als „objektive Unbestimmtheit“. Er meinte, daß gerade repräsentative Erscheinungen oszillieren können, sie quer durch gewachsene, geschichtlich gewordene und legitimierte, tief im Herzen verwurzelte Gebilde ragen. Das Resultat sei dann ein
gegenstandsundeutliches Gebilde von objektiver Unbestimmtheit. „Haben wir
Krieg oder Frieden? Haben wir ein Vaterland oder nicht? Leben wir im Zeitalter des Sozialismus oder des Kapitalismus? Diese Fragen kann man nach Belieben beantworten, nicht weil die Antwort ,Ansichtssache‘ wäre, sondern weil
sachlich jede gleich richtig ist. …“
Mit dem sicherlich nachvollziehbaren Befund der Sozialpsychologie darf
sich der Jurist, will er nicht seinen Beruf verfehlen, allerdings nicht zufriedengeben. Von ihm muß ein bestimmendes Urteil erwartet werden. Der Bildungsbürger, sich Aufklärung verschaffend und aufgeklärt, kann sich zumindest subjektiv eine bestimmte Meinung verschaffen. Den Iren ist es offenbar, sei es mit
welchen Gründen auch, gelungen.
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