Archive for the Hubert Brune Category

Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

End-Denker

Die Enddenker sind den Urdenkern wieder insofern ähnlich, als daß sie aus dem Prozeß der rein selbstischen, fast schon monadischen Denkgeschichte eines bestimmten Kulturkreises ganz und gar herausfallen und entweder noch nicht (Urdenker) oder nicht mehr (Enddenker) kultiviert sind. Enddenker sind wie die Urdenker „nur“ Menschen, was auch immer das heißen mag.

Der Enddenker ist eindeutig der letzte Denker.
Wenn er nämlich über das Denken nachdenkt,
dann nur mit letzter zivilisierter Konsequenz.
Er ähnelt dem Urdenker insofern wieder,
als daß er zivilisiert über das enddenkt,
was der Urdenker kultuviert urdenkt.
(*)

Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

Nach-Denker

– Nachdenker sind Denker „vergreister“ Art –
Die Nachdenker sind den Vordenkern wieder insofern ähnlich, als daß sie aus dem Prozeß der rein selbstischen, fast schon monadischen Denkgeschichte eines bestimmten Kulturkreises mehr oder weniger herausfallen und entweder noch nicht (Vordenker) oder nicht mehr (Nachdenker) so richtig kultiviert sind. Sie denken aber trotzdem schon (vordenkend) bzw. noch (nachdenkend) in der Form, im Stil, ja im Sinne und gemäß der Logik ihres Kulturkreises.

Der Nachdenker ist letzter Denker eines Kulturkreises.
Wenn er kulturspezifisch über das Denken nachdenkt,
dann eindeutig nur mit letzter zivilisierter Konsequenz.
Er ähnelt dem Vordenker insofern sehr,
als daß er zivilisiert über das nachdenkt,
was der Vordenker kultuviert vordenkt.
(*)

Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

Spät-Denker

– Spätdenker sind Denker „erwachsener“ Art –
Wenn nach dem „Denkhebel“ verlangt wird, weil man mit ihm das „Denkspiel“ ideenreich noch einmal herumreißen will, dann ist die Zeit der Spätdenker gekommen. Sie beginnt als Frühmodernistik z.B. mit dem Deutschen Idealismus, der Romantik, dem Frühhistorimus und dem Frühnihilismus, erreicht als Hochmodernistik ihren Höhepunkt (Tiefpunkt) z.B. mit dem Totalnihilismus und dem Hochhistorismus, hat als Spätmodernistik ihre Spät- bzw. Endphase z.B. mit dem Spätnihilismus, dem Späthistorismus und dem vernetzenden Globalismus, der sowohl eine Vollendung als auch eine vielversprechende, „adventische Geistesgeburt“ darstellt. Erwachsen und zivilisiert geworden, schaffen die Frühmodernisten ein die Endgültigkeit visionär vorwegnehmendes Philosophiesystem, das die Hochmodernisten auf den Kopf stellen oder neostilistisch ausbauen und die Spätmodernisten noch einmal zusammenfassen, weil sie es allen, jedem und keinem recht machen wollen. Sie alle sind Spätdenker, denn die „Wissensräume“ sind eng geworden, seitdem sich die Systeme und Disziplinen als Wissenschaften von der Philosophie getrennt haben. (). Aus der mehr Wissen vermittelnden rationalen Philosophie der Hochdenker, durch die tatsächlich die Trennung von Philosophie und Wissenschaft vollzogen wurde, kann nur noch eine systematisierende, mit dem Leben und dem Tod der Wissenden, mit deren Geistesgeburt sich beschäftigende Philosophie werden. Doch nur diese Neu-Theologie kann die Spätdenker in die Lage versetzen, die Vordenker der Vordenker zu werden. Sie würden dann die Neu-Urdenker, d.h. die wirklich zum Nachdenken gekommenen wahren Denker. Das ist, als wolle man das Unmögliche möglich machen. Spätdenker müssen es schaffen, Retrospektive und Prospektive so in Übereinstimmung zu bringen, daß sogar das „Denken im Uterus“ vorstellbar, weil vordenkbar, wird. Sie müssen „das Spiel lesen“ können. Die Spätdenker können Philosophie nur noch betreiben, indem sie, vom letzten Stand der Hochdenker-Dinge – der Neu-Theologie – ausgehend, eine Neu-Religion schaffen. So wie die „Fußballgötzen“ in der demokratischen Alltäglichkeit, wie die „Mediengötzen“ in der plutokratischen Wirklichkeit, so haben die „Denkgötzen“ nur noch im religiösen Glauben eine Chance, sich zu behaupten. Der Modernismus ist die eine (kirchliche), die Modernistik die andere (weltliche) Seite einer Neu-Theologie bzw. Spätphilosophie. Der Idealismus kann nur durch seine streng realistische Antithese, sofern ihn der Nihilismus nicht doch noch untergehen läßt, auf ein erhöhtes Niveau gebracht werden, und in der Phase der Befruchtung muß die sich daraus ergebende Synthese die These in erhöhter Form in sich aufbewahren (= aufheben, ganz im Sinne Hegels). Mit Platon und Aristoteles ist der Antike diese denkerische Leistung gelungen. Und dem Abendland?
Zum Vorverständnis: Was in der Antike zwischen 370-350 begann, das begann im Abendland 1780-1800. Ja geistig, aber auch seelisch, ja vor allem körperlich und also auch demographisch gesehen, denn für eine jede Kultur bedeutet das, daß die zu ihr gehörenden erwachsenen Menschen anfangen, immer weniger Kinder zu bekommen – zuerst Geburtenrückgang, dann Geburtendefizit, zuletzt Tod des Volkes -, während die Kultur selbst Nachkommen erwartet, nämlich aus Angst davor, selbst unterzugehen und in Zukunft einer neuen Kultur Platz machen zu müssen. Da nicht vorhersehbar ist, ob und, wenn ja, wann das wirklich eintreten wird, kommte es immer häufiger zum „Aufschub“.
Schon Ende des 18. Jahrhunderts zeigten sich die ersten Anzeichen des abendländischen Geburtenrückgangs in Frankreich. Die große Revolution von 1789, die hier den Übergang zur Zivilisation vermittelte, bedeutet gewissermaßen auch den Wendepunkt von der Fruchtbarkeit zur Unfruchtbarkeit des französischen Volkes.
Geburtenrückgang in Frankreich
1783 / 1789 1801 / 1810 1811 / 1820 1821 / 1830 1831 / 1840 1841 / 1850 1851 / 1860 1861 / 1870 1871 / 1880 1881 / 1890 1891 / 1900 1901 / 1910 1911 / 1913

38,4 32,2 31,6 30,8 29,0 27,4 26,3 26,3 25,4 23,9 22,1 20,7 18,8

Geburtenrückgang in Frankreich
1921 1924 1925 2003 * Prozentualer Geburtenrückgang 1783/1789 – 1871/1880 1871/1880 – 1925 1925 – 2003 *

20,7 19,2 19,6 13,0 * 1783/1789 – 2003: 66% * 34% 23% 34% *
Quellen: Richard Korherr, Geburtenrückgang, a.a.O., 1927, S. 164; * Fischer Weltalmanach, 2006, S. 504.

Frühes Spätdenken
Idealismus als Frühmodernistik oder Frühnihilismus als Frühmodernistik?
Idealismus als eine philosophische Phase jeder Kulturgeschichte scheint auf Langfristigkeit, wenn nicht sogar auf Endgültiglkeit abzielen zu wollen. Bereits im frühen Herbst beginnt auch jede denkende Kultur „instinktiv“ für den späteren Winter so viel (Geistes-) Nahrung wie möglich anzulegen. Bekanntlich muß für ein Lebewesen bis zum Ende des Winters zumindest noch ein kleiner Teil der Nahrung vorhanden sein, der ihm das Überleben trotz der vielen anderen Todesgefahren sichern kann. Auch eine angesammelte Geistesnahrung bedeutet nicht gesichertes Überleben, aber immerhin trägt sie erheblich dazu bei. Was die abendländische Kultur erst zukünftig beweisen kann, ist der antiken Kultur zumindest nahrungstechnisch gelungen. Obwohl die Antike noch im kulturellen Winter verstarb, sollten nämlich zwei ihrer Philosophie-Schulen ihn überdauern und in der neuen Kultur des christlichen Abendlandes auf Linie gebracht werden: Platon (427-347) und Aristoteles (383-322) waren deren Begründer. Sie verhalten sich zueinander wie z.B. Kant (1724-1804) und Hegel (1770-1831). Aber man muß zwei zeitlich gegeneinander austauschen, um auch die inhaltliche Übereinstimmung zu bekommen. Der Grund dafür liegt in der Tiefe der beiden Kulturseelen, in zwei gegensätzlichen Seelenbildern und Ursymbolen.Wer einzelkörperlich und punktuell denkt, der bringt auch die großen politischen Visionen in eine entsprechende Körperordnung (Platon) und erst danach bezüglich der Einzelheiten in eine Epistemologie (Aristoteles). Wer aber vom unendlichen Raum ausgeht, agnostizierend und indem er jedem wahrnehmungslosen, bloß spekulativ-konstruktiven Denken die Fähigkeit zu irgendeiner Wirklichkeitserkenntnis abspricht (Kant), der läßt das Göttliche als Transzendenz außen vor und konzentriert sich zunächst auf das Wesentliche und die Erfahrungen, die ihm eine faustische Kultur bereits als Grundlage liefert; erst danach widmet sich der Nachfolger den Ideen und dem All-Einen, abendländisch ausgedrückt: der Phänomenologie des Geistes und dem Panlogismus (Hegel). Deshalb folgten in der Antike die Einzelwissenschaften den Ideen und im Abendland die Ideen den Einzelwissenschaften. Hierdurch wird der Gegensatz Antike-Abendland deutlich erkennbar: die Antike ging in ihrer Kindheit und Jugend durch die familiäre und schulische Lehre der Kosmos-Idee und verpaßte die eigene experimentelle Erfahrungswissenschaft, das Abendland ging in seiner Kindheit und Jugend durch die familiäre und schulische Lehre der experimentellen Erfahrungswissenschaft und verpaßte die eigene Kosmos-Idee. Jetzt versuchten beide deshalb über den zweiten Bildungsweg das nachzuholen, was sie zuvor verpaßt hatten. Das Schicksal hatte ihnen zuvor via Seelenbild und Ursymbol andere Wege vorgezeichnet. Man kann sich das auch klar machen, wenn man sich die Begriffe Kosmos und Universum auf der Zunge zergehen läßt: in der Antike bedeutete Kosmos Ordnung, während wir unter Universum eher Chaos als Ordnung verstehen, jedenfalls assoziativ. (Vgl. Kosmos). Den Kosmos experimentell- wissenschaftlich zu untersuchen, kam den antiken Menschen gar nicht in den Sinn, und wenn doch, dann nur über eben diesen zweiten Bildungsweg. Der fällt aber, wie erwähnt, in den meisten Fällen so aus, daß er das Seelenbild einer Kultur eher bestätigt als verändert. Der faustische Abendländer weiß schon aus Erfahrung der klösterlichen und wissenschaftlichen Vergangenheit heraus, was ihm zu tun übrig bleibt. Die Dinge, die wahrnehmbar sind, werden verändert, und erst in Reaktion darauf wird über den Rest der Dinge spekuliert. Wenn also die Antike wie das Abendland gewesen wäre, dann wäre aus Platon ein Kant und aus Aristoteles ein Hegel geworden. Weil sie aber kulturell sozialisiert waren – die Enkulturation und primäre Sozialisation (6-12) lagen längst hinter ihnen -, verliefen die Dinge auf umgekehrte Weise. Ein Antike-Abendland-Tausch sähe dann Kant, der platonisch erschienen wäre, und Hegel, der aristotelisch um die Säulen gewandert wäre. Analog gesehen kommt Platon natürlich eher Hegel und Aristoteles eher Kant gleich. Elterliches Erbgut sowie primäre und sekundäre Sozialisation sind also nicht nur für sogenannte Individuen das alles Entscheidende, sondern auch für Kulturen.
Platon (eigtl. Aristokles, 427-347) Sohn des Ariston und der Periktione, stammte mütterlicherseits aus reicher und vornehmer Familie Athens. Nach dem Tod des Sokrates (399), dessen Schüler Platon 8 Jahre lang war und dessen Prozeß er erlebte, hielt er sich eine Zeitlang bei dem Eleaten Eukleides von Megara auf, der ebenfalls ehemaliger Schüler des Sokrates war. Eukleides‘ megarische Schule war eine der an Sokrates orientierten Philosophenschulen, die eine Synthese zwischen dem sokratischen Begriff des Guten und dem unbeweglichen, unveränderlichen Sein der eleatischen Philosophie zum Ziel hatte. Auf Reisen nach Unteritalien und Sizilien lernte Platon auch die Denkweise der Pythagoräer kennen. Platon war zu Beginn seiner Karriere Dichter, wandte sich von der Dichtung jedoch ab, weil sie seit 387 v. Chr. laut Gesetz ziemlich grausame Theaterstücke aufführen durfte und deshalb u.a. zu einer Götter-Blasphemie herabsank. Platon gründete wahrscheinlich deshalb 385 v. Chr. eine Schule, die (dem altattischen Heros) Akademos gewidmet war; und diese Akademie sollte sich bis 529 n. Chr. halten. Die Ältere Akademie war stark pythagoräisch beeinflußt: das Problem von „Idee“ und „Zahl“ spielte erkenntnistheoretisch eine große Rolle. Später sollten noch die Mittlere Akademie, seit 270 v. Chr., und die Neuere Akademie, seit 160 v. Chr., folgen: vgl. die Akademien im Altplatonismus, den Mittleren Platonismus, die Auswirkungen auf die Gnosis, den Neuplatonismus, die Patristik. Platon setzte sich mit der Ideenlehre von Sokrates ab, obwohl er sie in den (mittleren und späteren) Dialogen seinem Dialoghelden Sokrates in den Mund legte. Für ihn waren die unveränderlichen Ideen die Urbilder der veränderlichen Dinge, ihr Programm, ihr Ziel und Zweck. Er nahm bei seiner Ideenlehre die Mathematik (Geometrie) zum Vorbild aller anderen Wirklichkeit, wie schon vor ihm Pythagoras (580-500) und seine Schüler. (). Platon schrieb Dialoge, tatsächliche und fiktive Gespräche mit Sokrates (470-399), seinem Lehrer. Platon lehrte, daß die Sinnenwelt scheinhaft sei und von archetypischen Urbildern oder Ideen abstamme. Ein nicht sinnlich erfahrbares geometrisches Gebilde, z.B. ein gleichseitiges Dreieck, wird hinter dem sinnlich erfahrbaren Dreieck, dessen Darstellung es ist, „gedacht“ oder in nicht sinnlicher, formaler Anschauung vorgestellt. Die gerade Linie, der Punkt, eine Fläche: das sind alles mathematische Gegenstände. Es gibt sie nicht in Wirklichkeit. Aber die Wirklichkeit ist durch sie erkennbar, rekonstruierbar. Über dem Eingang der Akademie Platons soll deshalb der Satz gestanden haben:

„KEIN DER GEOMETRIE UNKUNDIGER SOLL DIESEN ORT BETRETEN“

Das platonische Denken entwickelte sich vor dem Horizont einer doppelten Krisensituation: zunehmender Zerfall des Gemeinwesens und Verlust der Verbindlichkeit mythischer Weltbilder. Der Mythos bot keine lebendige Orientierung mehr. Er war zum formelhaften Ritual erstarrt und zum Spielball inhaltloser und nur noch auf Überredung angelegter Rhetorik (der Sophisten) geworden. Das Schlimmste daran war für Platon, daß kein Bewußtsein darüber vorhanden war. Hier, bei der Bewußtseinsbildung, wollte Platon eingreifen. Die Methode seines Helden Sokrates besteht darin, zunächst einmal ein Bewußtsein für das Gute bzw. für das Schlechte bei seinen Gesprächsteilnehmern zu wecken, indem er ihnen z.B. zeigt, daß sie nicht wissen, wovon sie reden, wenn sie Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit u.s.w. im Munde führen. Die Verbindlichkeit ihrer Rede zerfällt in dem Maße, in dem Sokrates als ihren Grund private Interessen und Willkür erweist. Ihrer schützenden ideologischen Haut entledigt, muß die Gewalt letztlich ihr wahres Gesicht zeigen: sie muß den Sokrates vernichten. Insofern gehörte der Tod des Sokrates (399) mit zu seiner Beweisführung. Sein Tod war geradezu der letzte Beweis dafür, daß er Recht hatte.
Platon bestimmte die Philosophie als Einüben ins Sterben. Für ihn war Philosophie die Erkenntnis des Seienden oder des Ewigen und Unvergänglichen. Er definierte: Philosophen sind die, welche mit dem, was sich für ewig als dasselbe unwandelbar verhält, in Berührung kommen wollen. Es gelingt ihnen durchs Denken, d.h. durch die Begriffe. (Vgl. Ideenlehre und Meta-Sprache) – (). Wir sind gewiß weiter als Hippokrates (460-370), der griechische Arzt; wir dürfen kaum sagen, daß wir weiter seien als Platon (427-347). Nur im Material wissenschaftlicher Erkenntnisse, die er benutzt, sind wir weiter. Im Philosophieren selbst sind wir vielleicht noch kaum wieder bei ihm angelangt.
Aber auch Mythos und Religion standen Pate bei Platons Ideenlehre. Die Idee, so Platon, im „Timaios“, ist gewissermaßen der Vater oder das Original eines Dings, das, wie das Kind, mit dem Namen des Vaters benannt wird. Die Mutter ist der abstrakte Raum, in dem die Zeugung der Dinge, d.h. der Kinder des Vaters, stattfindet und in dem sich die Dinge dann auch bewegen. Jede Art oder Rasse besitzt nur eine Form oder Idee. Im „Staat“ (Politeia) heißt es: „Gott hat also nur jenes eine wesentliche Bett hergestellt. Zwei dieser Art oder noch mehr wurden weder von Gott erschaffen, noch werden sie je von ihm erzeugt werden; auch wenn er zwei einzelne schüfe und nicht mehr, dann würde doch ein weiteres zutage treten, nämlich die eine gemeinsame Form, die sich in beiden darstellt. Sie, und nicht jene beiden, wäre dann das wesentliche Bett“. Die Ähnlichkeit der Dinge ist ihrer Idee verdankt, ihrem Ursprung, wie die Ähnlichkeit der Kinder ihrem Vater. Harte Dinge haben an der Idee der Härte teil, weiße an der Idee des Weißen. Sie haben an jenen Ideen teil im gleichen Sinne, in dem die Kinder an den Besitztümern und Gaben der Väter Anteil haben. Platons Ideenlehre ermöglicht Wissen, das sich auf die veränderlichen Dinge anwenden läßt, von denen sich, weil sie sich ständig verändern, eigentlich nichts Bestimmtes aussagen läßt. Platon nahm an, daß es innere Kräfte, unwandelbare Wesenheiten der wahrnehmbaren Dinge gibt, und von denen ist wahres Wissen möglich. (Vgl. dagegen: Kant). Die Ideenlehre ermöglicht eine Theorie der Veränderung und des Verfalls. Die Ideen sind Urbilder, die selbst durch Verfall (Degeneration) der höchsten Idee entstehen. Entsprechend ist die historische Tendenz der Gesellschaft die des Zerfalls und der Degeneration. Außerdem bietet die Ideenlehre den Weg zu einer Sozialtechnik, zur Herstellung des besten, idealen Staates, der sich nicht verändert und nicht zugrunde gehen kann, und zwar durch Anhalten der politischen Veränderung und Rückkehr zum idealeren Anfang, der alten Stammesfrom des sozialen Lebens (Stammesaristokratien). Platons Philosophie, die er selbst auch Weltverabschiedung und Einübung ins Sterben nannte, lehrt die Notwendigkeit einer „zweiten Geburt“, insbesondere seine Lehre von der Umkehr durch Ausstieg aus der Höhle („Höhlengleichnis“). Durch die natürliche, die physische Geburt gelangen wir aus einer Höhle (der Uterus-Höhle der Mutter) ans Licht der (sichtbaren) Welt. Aber diese Welt ist nach Platons Meinung nur Schein, nur vituell. Wir bedürfen einer zweiten metaphysischen Geburt, um aus der Scheimwelt in die wirkliche (unsichtbare) Welt der Ideen zu gelangen. Für diese „zweite Geburt“ ist der Philosoph der „Geburtshelfer“. Platons Schriftwerke:

„Protagoras“
Kritik der Sophistik bezüglich der Einheit und Lehrbarkeit der Tugend.

„Apologie“
Verteidigungsrede des Sokrates vor Gericht.

„Euthyphron“
Über die Frömmigkeit.

„Gorgias“
Gegen die Sophistik, für das absolute sittliche Gute, über die Seele im Jenseits.

„Kratylos“
Über die Sprache.

„Menon“
Erkenntnis als Wiedererinnerung.

„Phaidon“
Über die Unsterblichkeit der Seele und die Philosophie als Einüben ins Sterben.

„Symposion“
Über den homoerotischen Eros und seine Sublimierung in der Philosophie.

„Politeia“
Über den Idealstat und die Seele.

„Phaidros“
Über die Seele und die Ideen.

„Theaitetos“
Über das Wissen.

„Parmenides“
Über die Einheit und Vielheit, Sein und Nichtsein.

„Sophistes“
Über das Wesen des Sophisten.

„Nomoi“
Über den Staat und die Erziehung der Bürger.

„Timaios“
Naturphilosophie.

Das „Höhlengleichnis“ ist laut Platons „Staat“ (7.Buch) ein Vergleich des menschlichen Daseins mit dem Aufenthalt in einer unterirdischen Behausung. Gefesselt, mit dem Rücken gegen den Höhleneingang, erblickt der Mensch nur die Schatten der Dinge, die er für die alleinige Wirklichkeit hält. Löste man seine Fesseln und führte ihn aus der Höhle in die lichte Welt mit ihren wirklichen Dingen, so würden ihm zuerst die Augen wehtun, und er würde seine Schattenwelt für wahr, die wahre Welt für unwirklich halten. Erst allmählich, Schritt für Schritt, würde er sich an die Wahrheit gewöhnen. Kehrte er aber in die Höhle zurück, um die anderen Menschen aus ihrer Haft zu befreien und von ihrem Wahn zu erlösen, so würden sie ihm nicht glauben, ihm heftig zürnen und ihn vielleicht sogar töten.
In seinem „Liniengleichnis“ unterschied Platon den Bereich des Sichtbaren von dem des Unsichtbaren. Er veranschaulichte das durch die Teilung der Strecke im Verhältnis a:b. Er wiederholte diese Teilung in den beiden Bereichen a und b und veranschaulichte damit die vier Wissensbereiche bzw. Wissensarten: Gerücht (eikasia), Meinung (doxa), Wissenschaft und Philosophie. Im Sonnengleichnis sah Platon die Analogie zwischen der Sonne und der Idee (des Guten) einerseits und zwischen Auge und Seele andererseits: So wie die Sonne durch ihr Licht dem Auge ermöglicht, etwas zu sehen und den Gegenständen ihre Sichtbarkeit verleiht, so ermöglicht die Idee des Guten durch das Licht der Ideen der Seele die Erkenntnis und den Dingen ihre Erkennbarkeit und Wahrheit. Dabei ist die Sonne selbst „Sprößling des Guten“.
Der Mensch gehört beiden Welten an: der Welt der Ideen und der Welt der wandelbaren Dinge, deren Vorbilder die Ideen sind. Er gehört der Ideenwelt an durch seine Seele mit ihrer Vernunft. Der Körperwelt gehört er an durch den Leib. Mit dem Tode trennt sich die Seele vom Leib. Entscheidend ist, in welchem Zustand sie dann ist. Philosophie hat ihr Motiv in der Sorge um die Seele oder im Tod. Die Sorge um den Staat ist darin eingeschlossen. Der ideale Staat ist nämlich beschaffen wie die Seele, dreiteilig. Lehrstand, Wehrstand und Nährstand im Staate entsprechen den drei Seelenteilen: dem vernünftigen, dem mutigen und dem begehrenden Teil. Hier wie da kommt es auf die Harmonie der drei Teile an – durch Hierarchie. Die Vernunft soll herrschen in der Seele, so wie im idealen Staate die Philosophen die Könige sein sollten. Sinn des Staates ist, die Seelen der Bürger zu retten, ihre Heimführung bzw. Rückführung ins Ideenreich zwecks Reinkarnation zu ermöglichen.

Durch Platon wurde die antike Philosophie erwachsen.
Platon bildete den geistigen Übergang von jugendlicher zu erwachsener Kultur.
Dieser Denkarchitekt baute die Brücke zwischen Hochdenkern und Spätdenkern.
Der jüngere Platon war ein Hochdenker, der ältere Platon war ein Spätdenker.
Nach ihm wurde die Philosophie zu einer Denkgeschichte der Fußnoten zu ihm.

Aristoteles (383-322), in Stageira als Sohn des Leibarztes am Makedonischen Hof geboren, studierte seit seinem 19. Lebensjahr bei Platon, ohne eigentlich so richtig dessen Schüler zu werden. Aristoteles war der Erzieher Alexander d. Gr. (356-323), gründete 335 v. Chr. die sogenannte „Peripatetische Schule“, wurde nach Alexanders Tod der Gottlosigkeit angeklagt und floh nach Chalkis. Aristoteles begründete die wissenschaftliche Philosophie und die philosophiedurchleuchteten (Einzel-) Wissenschaften. Neben Platon war er der wirkungsmächtigste antike Philosoph. Sein philosophisch-wissenschaftliches Disziplinensystem wurde wohl nur teilweise ausgearbeitet – so ist es jedenfalls überliefert. Er machte die Logik und die Metaphysik zu seinen Grundlagen und wurde zum Schöpfer der Logik im Sinne einer „Analytik“, wie er sie nannte: eine Lehre von den logischen Grundgesetzen, von Begriff, Urteil, Schluß, von Definition, Beweis sowie setzender bzw. widerlegender Methode. Die Kategorienlehre (Substanz, Beziehung, Raum, Zeit, Qualität, Quantität, Tun, Leiden, Haltung, Lage) steht auf der Grenze zwischen Logik und Metaphysik. In dieser unterschied Aristoteles Stoff (Materie) und Form (Kraft, Denken). Oberste Wirklichkeit ist Gott: Denken des Denkers, reine Form, unbewegter Beweger. Die inhaltlichen Disziplinen der Philosophie teilte Aristoteles ein in die theoretischen („1. Philosophie“, später Metaphysik genannt; Mathematik, Physik einschließlich Psychologie), die praktischen (Ethik, Politik, Ökonomik) und die poiëtischen (Technik, Ästhetik, Rhetorik). Die Physik bzw. Naturphilosophie war für Aristoteles zunächst die Lehre von der endlichen, ewig unbewegt inmitten des Fixsternhimmels schwebenden Erde, von den vier Elementen (): Feuer, Erde, Luft, Wasser, von den vier Qualitäten bzw. Kräften: Kalt-Warm, Trocken-Feucht, von den sechs Arten der Bewegung: Entstehen-Vergehen, Wachsen-Sichrückbilden, Qualitäts- und Orständerung, von den zwei Arten der Kräfte: anorganische Energie und organische Entelechie (Ziel in sich selbst Habendes; die Form, die sich im Stoff verwirklicht), von den drei „Ursach“-Arten: Substanz, Kausalität, Finalität. Besonders die Naturphilosophie des Organischen war bei Aristoteles weit entfaltet: im Menschen ist das Denken, die Vernunft das eigentlich Menschliche; er hat an den Grundfunktionen des Tieres, z.B. Reizbarkeit (Empfindung) und willkürlichen Ortswechsel durch Leibesbewegung, Anteil, diese schließlich an denen der Pflanze: Ernährung und Fortpflanzung. Die Seele des Menschen reicht in seine pflanzenhaften und seine tierhaften Grundlagen hinein als „erste Entelechie des Leibes“, von ihnen frei ist der Intellekt, der passiv ist als Behältnis der Ideen, aktiv und zugleich unsterblich als forschendes Denken. Diese „theoretische Leben“ ist zugleich auch, wie Aristoteles‘ Ethik lehrt, der Sitz des höchsten, der theoretischen (dianoeëtischen) Tugenden und der wahren Glückseligkeit. Die praktischen Tugenden sind dagegen der Herrschaft der Vernunft unterworfen; hier gilt deshalb die Regel: vermeide die Extreme und halte Mitte ein. Für die Entwicklung der abendländischen philosophischen Ethik blieb Aristoteles, der für seinen Sohn Nikomachos die „Nikomachische Ethik“ geschrieben hatte, richtungsweisend bis Kant (!). Aristoteles ging in seiner Politik vom Menschen als „Zoon politikon“ aus, der in den Lebenskreisen Familie, Gemeinde, Staat lebt. Den Staat (ebenso die Wirtschaft) faßte Aristoteles bürgerlich und sehr realistisch auf: der Staatsmann darf nie ideale politische Verhältnisse erwarten, sondern soll mit der bestmöglichen Verfassung die Menschen, wie sie einmal sind, auf bestmögliche Weise regieren, vor allem die Jugend leiblich und sittlich ertüchtigen. Gute Staatsformen sind: Monarchie, Aristokratie, gemäßigte Demokratie, schlechte deren Kehrseiten: Tyrannis, Oligarchie, Ochlokratie (Pöbelherrschaft).

Aristoteles wirkte über seine Älteren und Jüngeren Aristoteliker (Peripatetiker) sowie über die Aristotelische Stoa über die Antike hinaus. Dieser antike Universalgelehrte bestimmte mit seinen Klassifikationen und Begriffsprägungen die gesamte nachfolgende Philosophie, dominierte später insbesondere die Scholastik. Die sich auf Aristoteles stützende Art des Philosophierens, der Aristotelismus, wurde danach auch von den Arabern (z.B. Averroes, 1126-1198) und Juden (z.B. Maimonides, 1135-1204) gepflegt und beherrschte insbesondere seit dem 13. Jh. das philosophische Denken des Abendlandes, vermittelt vor allem durch Albert dem Deutschen (den Großen, 1193-1280) und Thomas von Aquino (1225-1274), allerdings mit wesentlichen, durch das Christentum bedingten Änderungen. Dieser oft auch „Thomismus“ genannte Aristotelismus wurde (als Neuthomismus) die Grundlage der katholischen Neuscholastik (bis heute!). In der Zeit der Renaissance wurde der Aristotelismus in unscholastisch-humanistischer Art von nach Italien gelangten byzantinischen Gelehrten neu belebt: in Deutschland fußten also sowohl die protestantische Neuscholastik (z.B. durch Melanchthon, 1497-1560) als auch die katholische Neuscholastik (z.B. durch Suárez, 1548-1617) auf dem Aristotelismus.
Der Name Aristoteles steht in besonderer Weise für Logik bzw. logisches Denken, denn die von ihm begründete Disziplin „Logik“ erfuhr bis ins 19. Jahrhundert kaum Veränderungen. Hier herrschte Aristoteles am längsten mit seiner auf vier Formen allgemeiner Urteile (alle sind, keiner ist, einige sind, einige sind nicht) beschränkten Prädikatenlogik. Die Logik, wie sie von Aristoteles entwickelt und in der Scholastik noch etwa ausgebaut wurde, handelt von den Bedingungen der Gültigkeit von Argumenten. Diese Bedingungen sind nach Aristoteles richtige Begriffe, Urteile, Schlüsse, Beweise bzw. Widerlegungen. Die Lehre von den Begriffen formulierte Aristoteles in der Kategorienschrift. Kategorien sind Hinblicke für die begriffliche Bestimmung von etwas. Bestimmt werden kann z.B. das, was etwas ist (Substanz), seine Menge (Qualität), die Beziehung (Relation), zudem Ort und Zeitpunkt. Erst Kant deduzierte eine „vollständige“ Tafel der Kategorien des Aristoteles – von den Urteilsformen her.
Nach Aristoteles‘ Lehre vom Satz sind die Urteilsformen zu unterscheiden in bejahende (p wird von S ausgesagt, oder: S ist p) und verneinende, allgemeine (alle S sind p) und besondere, und in solche, die Mögliches, Wirkliches und Notwendiges (als Sein) aussagen. In der Lehre vom Schluß (Syllogistik, in der 1. Analytik) steht ein axiomatisches System aller gültigen Schlüsse, d.h. der Möglichkeiten der Begründung eines Urteils durch zwei Prämissen. Eine brillante Leistung! Denn dieses Stück hält, anders als die Lehre vom Begriff oder Beweis, der Prüfung durch die moderne Logik im Wesentlichen stand. Aber die aristotelische Syllogistik ist theoretisch wegen ihrer Beschränktheit auf nur vier Formen allgemeiner Urteile eine Sackgasse. Und praktisch ist sie bedeutungslos.
Erst mit der Begriffsschrift (1879) des Philosophen und Mathematikers G. Frege (1848-1925), d.h. seiner Einführung einer formalisierten Sprache mit symbolischer Wiedergabe von Sprachausdrücken, konnten die Probleme gelöst werden, die eine Weiterentwicklung der formalen, nicht symbolischen Logik des Aristoteles hin zu einer Logik aller allgemeinen Urteile verhindert hatten. Beispielsweise konnte ein gültiges Argument wie „Alle Gelehrte sind Menschen => Alle Gelehrtenköpfe sind Menschenköpfe“ bis dahin nicht abgehandelt werden, weil die hier vorkommenden Prädikate nicht als Beziehungsprädikate begriffen werden konnten. Das ging erst mit der Einführung von Existenzquantor (es gibt mindestens ein x, für das gilt …) und Allquantor (für jedes x gilt) durch Frege. (Vgl. Logistik). Aristoteles‘ Schriften
(Auswahl):

1.) Logik
Kategorien
Lehre vom Satz
1. und 2. Analytik
Topik
Sophistische Widerlegungen

2.) Naturwissenschaft
Physik
Die Seele
Bau der Tiere
Astronomie

3.) Metaphysik
Bücher 1-14

4.) Ethik
Nikomachische Ethik
Eudemische Ethik
Magna Moralia
Politik
Staat der Athener

5.) Rhetorik
Rhetorik 1-8

6.) Poetik

Kants Tafel der
12 Kategorien ():

1.) Quantität
Einheit
Vielheit
Allheit

2.) Qualität
Realität
Negation
Limitation

3.) Relation
Substanzialität
Kausalität
Wechselwirkung

4.) Modalität
Möglichkeit
Wirklichkeit
Notwendigkeit

Durch Platon wurde die antike Philosophie erwachsen.
Durch Aristoteles wurde diese zivil-moderne Reife eine Spätlese: 1. Herbsternte.

Für Platon war Wissen Wiedererinnerung und deshalb eigentlich nichts Neues möglich. Für Aristoteles aber war neues Wissen möglich, allerdings hatte auch er eine Vollendung des Wissens im Sinn: die Erkenntnis des Göttlichen oder das göttliche Wissen selbst. Doch diese Gotteserkenntnis ist mit der Welterkenntnis verbunden, geht von ihr aus. So konnte man in der Christenwelt auf Aristoteles zurückgreifen, sich mit ihm der Welt öffnen; man nannte ihn „Wegbereiter Christi im Felde des Natürlichen“. Im Abendland (besonders im angelsächsischen Raum) gab man Aristoteles wegen seiner realistischeren Einstellung meist den Vorrang vor Platon. Bis an die Schwelle der Neuzeit galt Aristoteles‘ Lehre in allen Stücken, wie sonst nur bei der Bibel, als „unfehlbar“. Aristoteles war der Lehrer des (jungen) Abendlandes. Er begann seine Metaphysik mit der Bemerkung, daß alle Menschen natürlicherweise nach Wissen streben, das beweise die Freude an der Sinneswahrnehmung. Bei Platon war das anders. Bei ihm mußten die Menschen durch bereits eingeweihte Philosophen zur Wissenserlangung gezwungen werden, d.h. von ihren bereits in die Haut eingewachsenen Ketten befreit und aus der Höhle heraus in die blendende Helle geführt werden. Dies, obwohl sie auch Freude an der Sinneswahrnehmung hatten. Denn bei Platon galt es, sich von dieser abzuwenden. Doch für Aristoteles führte der Weg vom Sinnlichen ausgehend hin zum an sich Wahren. Es galt, den Erscheinungen folgsam zu sein. Daß die Welt existiert und kein Schein ist, war für ihn Tatsache. Das Streben nach Wissen selbst verlor durch Aristoteles seine transzendente Verankerung, es wurde rein immanent erklärt aus einer lebensdienlichen Funktion. Aber auch Aristoteles suchte, wie Platon, nach dem Wesen von allem, was ist, nach dem Wesen des Einzelseienden. Für Aristoteles konnte das nichts anderes als das Einzelne selbst sein, also nichts abgehobenes Allgemeines wie Platons Ideen. Es mußte etwas mit dem Einzelseienden Verbundenes sein. Denn das Einzelne sollte ja, wie schon bei Platon, durch es seine Existenz haben. Das Wesen konnte für Aristoteles nur als Wesen des Einzelnen, d.h in diesem selbst und durch es hindurch erscheinen.
Nach Platons Gründung der Akademie (385 v. Chr.) und Aristoteles‘ Peripatetiker-Schule (335 v. Chr.) entstanden Pyrrhons Skeptiker-Schule (312 v. Chr.), Zenons Stoiker-Schule (um 300 v. Chr.), Epikurs Schule (um 300 v. Chr.) und die bereits erwähnten 13-bändigen Elemente des Mathematikers Euklid (um 312/300), dessen Parallelenaxiom genau einen Weltmonat lang Gültigkeit haben sollte, bis Gauß (um 1800) die erste nicht-euklidische Geometrie entwickelte. (). Ebenfalls einen Weltmonat nach den antiken sehen wir neue abendländische Denkschulen, wobei man hier immer wieder auf den apollinisch-austischen Gegensatz zurückkommen muß, um zu verstehen, weshalb Form und Inhalt dieser Schulen Oppositionen darstellen, in der Genetik einer Kultur aber immer wieder analoge Kriterien der Evolution am Werk sind. Im Vergleich zu Platon, der seinen Idealismus auch politisch zu verwirklichen suchte (im Reich des Tyrannen Dionysios I. in Sizilien), blieb Kant praktisch ziemlich apolitisch und entwickelte statt dessen seinen kategorischen Imperativ. Auch Aristoteles kann in praktischer Hinsicht als apolitisch gelten, auch und gerade wegen der Tatsache, daß er Alexander den Großen erzogen hatte, denn seine Beweggründe waren nicht das, was man ihm nach Alexanders Tod zu unterstellen versucht hat: Gottlosigkeit. Für Hegel und (sein eigentliches Analogon) Platon bedeutete erkennen sich erinnern und begreifen rekonstruieren; diese beiden großen Idealisten hatten auch ähnliche Staatsideen. Hegel sah im Staat den erscheinenden Gott, weil die Einheit rechtlichen Verhaltens und moderner Gesinnung das Entscheidende und im Staat höchste Form Erreichende sei – das Ideal schlechthin, weil es allgemeiner Natur sei. Diese allgemeine Form sollte Inhalt werden. Ob sie es dann wurde, war eine andere Frage. Man hatte die Idee, und das war entscheidend. In einer antiken körperlichen Polis war die Idee anderer Natur. Man ertrug hier keinen Inhalt, weil er nur Chaos zu bedeuten schien, und ging gleich zur Form über. Die Antike war stets populär, was wir populistisch nennen würden, weil wir die Antike nicht wirklich verstehen können und wollen. Das Abendland war stets unpopulär, was die Antike unfertig oder nicht vorhanden genannt hätte, weil sie uns nicht wirklich hätte verstehen können und wollen. Das liegt an der antiken arch.
Der Unterschied zwischen Form und Inhalt zeigt ebenfalls den Gegensatz zwischen apollinischer und faustischer Kultur an. Für derartige Gegenpole gilt, daß hier Inhalt ist, wenn dort Form war und daß hier Form ist, wenn dort Inhalt war. Wahrscheinlich ist diese Polarität der Grund dafür, daß wir uns jede antike Form zum Inhalt und jeden antiken Inhalt zur Form machen. Da aber in der Antike auch der Inhalt förmlich gedacht wurde, als Substanz oder Urstoff (arch), so kann man zu der Vermutung gelangen, daß es im Abendland eigentlich kein Formdenken geben könne. Und in der Tat wird hier jede Form so lange analysiert oder ins Grenzenlose idealisiert, bis man auf jene mathematischen Formen trifft, die Gauß (1777-1855) geometrisch begründet hat und später in der Physik auf andere Weise durch Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation wieder auftauchen sollten. (20-22). Über lange wissenschaftliche Wege ist man also zu einem Gedanken gelangt, den Platon auf ähnliche Weise schon vertreten hatte, ohne naturwissenschaftlich zu experimentieren. Er experimentierte nur mit seinen Gedanken und denen seiner Akademieschüler. Als Platon seine Akademie betrieb, d.h. sich und seine Schüler aus der athenischen Grausamkeit nahm, sollte eine Philosophieschule in Gang gesetzt werden, die die Antike bis dahin nicht gekannt hatte. Als Kant im fernen Königsberg, das er nie verließ, wirkte, geschah durch die idealistisch-romantischen Bewegungen Ähnliches auf abendländische Weise.

Immanuel Kant (1724-1804; ) stammte aus einer Handwerkerfamilie mit 12 Kindern, studierte in Königsberg Mathematik und Naturwissenschaften, Philosophie bei dem Wolff-Schüler Martin Knutzen. Kant verbrachte sein ganzes Leben in Königsberg, wirkte ab 1756 als Privatdozent, ab 1770 als ordentlicher Professor der Logik und Metaphysik mit großem Lehrerfolg, und er lehrte auch Naturwissenschaften, insbesondere Geographie. 1794 wurde der Begründer des Kritizismus bzw. der Transzendentalphilosophie durch eine königliche Kabinettorder verwarnt: wegen Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums. Kant hat den Begriff der Metaphysik geändert, den der Erkenntnistheorie neu geschaffen, beides in der Kritik der reinen Vernunft (1781). Er sah in der Metaphysik nicht mehr die Wissenschaft vom Absoluten, wie noch die dogmatischen Philosophen, besonders die Wolff-Schule, sondern die Grenzen der menschlichen Vernunft. Die Erkenntnistheorie sollte die Grenzpolizei gegen alle Anmaßungen und Grenzüberschreitungen über das Erfahrbare hinaus sein. Erkenntnisse beruhen nach Kant einzig und allein auf Erfahrung, auf Sinneswahrnehmung. Die Sinne allein geben Kunde von einer realen Außenwelt. Kant begründet das in etwa so: Erkenntnis entspringt nicht vollständig aus der Erfahrung, vielmehr wird sie geformt durch die apriori bereitliegenden Anschauungsformen des Raumes und der Zeit und die Denk- bzw. Verstandesformen der Kategorien. Die Kategorien sind einerseits die allgemeinsten Wirklichkeits-, Aussage- und Begriffsformen, also die Stammbegriffe, von denen die übrigen Begriffe ableitbar sind (Erkenntniskategorien), andererseits die Ur- und Grundformen des Seins der Erkenntnisgegenstände (Seins- oder Realkategorien). Die Erforschung der Kategorien nannte Kant transzendental. Die Erkenntnistheorie als spezialisierte Untersuchung der Erkenntnis gliedert sich in Erkenntniskritik, die von einem vorher bestehenden Erkenntnistypus ausgeht, an dem sie die vorhandenen Kenntnisse kritisch mißt, so Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781), und die Erkenntnismetaphysik, die das Wesen der Erkenntnis erforscht. Kant erschütterte aber eine Art von Metaphysik, die wahrnehmungslos und bloß spekulativ-konstruktiv vorgeht, indem er ihr die Fähigkeit zu irgendeiner Wirklichkeitserkenntnis absprach. Freilich räumte er ein, daß auch die durch Erfahrung gegründete Erkenntnis nicht auf die Dinge an sich, sondern nur auf deren Erscheinungen (Phänomene) zurückgeht. Reine Gedankenkonstruktionen hinsichtlich der Dinge an sich aber sind nach Kant erst recht keine Erkenntnisse. Dies versuchte er zu beweisen an der psychologischen, kosmologischen und theologischen Idee der bisherigen scholastischen, ontologischen, rationalistischen, damit als dogmatische Scheinwissenschaft entlarvten Metaphysik und natürlichen Theologie: der Unsterblichkeit der Seele, der Entstehung der Welt, der Existenz Gottes.
Kritizismus heißt nach Kant das Verfahren, Möglichkeit, Ursprung, Gültigkeit, Gesetzmäßigkeit und Grenzen des menschlichen Erkennens festzustellen. Kant parallelisierte geistig das „Kindesalter“ mit dem „Dogmatismus“, das „Jünglingsalter“ mit dem „Skeptizismus“, das „reife Mannesalter“ mit dem „Kritizismus“. Systematisch hält der Kritizismus die Mitte zwischen Rationalismus und Sensualismus. Kants Kritizismus wendet sich

1.) gegen die Mißachtung der Wahrnehmung beim Erkennen,
2.) gegen die Behauptung, man könne aus bloßen Begriffen (Kategorien)
ohne Grundlegung durch wahrnehmung Erkenntnisse bilden,
3.) gegen die Behauptung, Gott, Seele, Welt seien erkennbare Gegenstände,
während sie in Wirklichkeit (systembildende) Ideen sind.
Der Hauptsatz des Kritizismus:
Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen leer.

Der transzendentale Idealismus Kants besagt, daß nicht die Dinge an sich, sondern die Dinge nur als Erscheinungen erfaßbar sind. Transzendent bedeutet demzufolge, daß Erfahrungen bzw. Erkenntnisse überstiegen werden, wenn sie jenseits des Bewußtseins liegen, dieses also überschreiten. Transzendental dagegen bedeutet nicht etwas, was über alle Erfahrung hinübersteigt (= transzendent), sondern was vor ihr (a priori) zwar hervorgeht, aber doch zu nichts weiterem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen. Der Begriff des Transzendentalen bezeichnet somit offenbar das Problem der Erkenntnislehre, aber auch die Erkenntnislehre selbst und ihrer Methoden. Die transzendentale Idee ist nach Kant ein Vernunftbegriff, ein Begriff, der nur in der Sehnsucht des Verstandes, das ihm Gegebene zu überschreiten, seinen Ursprung hat und die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, aber für die formale Anordnung der Begriffe und Erkenntnisse in einer vollständigen Wissenschaft unentbehrlich ist. Die 3 Ideen der Metaphysik sind nach Kant: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Platons Begriff der Ideen ist dagegen ein urtypischer (vorgeburtlicher), weil er methodisch in genau die andere Richtung zeigt: Ideen sind aufgrund vorgeburtlicher Erinnerung erfaßbare, Realität besitzende Urbilder der Dinge. Nach Platon sind sie nicht sinnlich, sondern nur geistig erfaßbar, und zwar mit eben jener Anamnese: der vorgeburtlichen Erinnerung. Anamnese sei, so Platon, eine Wiedererinnerung als Erkenntnis, weil jede Erkenntnis ein Sicherinnern der Seele an die Ideen sei, in deren Nähe sie vor ihrer Verbindung mit dem Körper weilte. Ideen sind nach Platon ewige und unveränderliche Urbilder. Das Ding bilde die Ideen ab und hat an der Idee teil. Somit ist die Idee in ihm gegenwärtig und demzufolge das Eigentlich-Seiende. Das Abendland hatte sich mit der platonischen Ideenlehre seit ihrem Bekanntwerden immer schon auseinandergesetzt, und mit Fichte, Schelling und Hegel erhielt sie jetzt erneut Bedeutung, aber an die eigentliche platonisch-antike Bedeutung kamen selbst diese 3 Hauptvertreter des Deutschen Idealismus und auch Goethes Urphänomene nicht heran. Keinem Menschen ist es möglich, kulturell gegensätzliche Seelenbilder und Ursymbole zu überwinden. Auch eine Synthese muß aufheben, wenn auch auf erhöhter Ebene. (Vgl. Aufheben und Dialektik).
Antinomie nennt man den Widerstreit zwischen mehreren Sätzen, deren jeder für sich Gültigkeit hat. Kant stellte 1781 in seiner Kritik der reinen Vernunft eine besondere Antinomienlehre auf, in der er 4 Antinomien – 2 mathematische und 2 dynamische – unterschied, die jeweils aus Thesis (Behauptung) und Antithesis (Gegenbehauptung) bestehen. Kant erblickte die Hauptleistung des Verstandes in der „Synthesis der transzendentalen Apperzeption“, wodurch empirische Anschauungen zur Einheit einer Erkenntnis werden.
Rationalismus und Empirismus zusammengebracht zu haben, ist das Verdienst der Kritik der reinen Vernunft (1781): Kants Buch wurde damit zum Buch der Bücher der neueren Philosophie (Spätdenker). Kant definierte einerseits, was die Vernunft von sich her an Erkenntnis mitbringt (was a priori ist) – im Rationalismus schien das nahezu alles zu sein -, und andererseits, was die Vernunft sich durch die sinnliche Erfahrung geben lassen muß (was später als die Vernunft ist, oder a posteriori) – das schien dem Empirismus fast alles zu sein. Objektive Erkenntnis sei nämlich immer ein Zusammengesetztes aus beiden. Damit geht es allerdings der Metaphysik an den Kragen, denn ihre Gegenstände gehen ja nicht selten über alle sinnliche Erfahrung hinaus. Wenn es stimmt, daß von der Metaphysik seit Kant nichts anderes übrig geblieben ist als die theoretische Basis sicherer Naturwissenschaft und das Gewissen, dann hätten ja die metaphysischen Ideen – z.B. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit – nichts Antinomisches, Widersprüchliches, die Vernunft Zerbrechendes mehr an sich. (). Hier findet man Kants zündende Idee, die stark an Platon erinnert: er unterscheidet nämlich die Welt, wie sie unabhängig von unserer Anschauung und unserem Verstand ist (die Dinge an sich), von der Welt, die uns als räumlich-zeitlicher Geschehenszusammenhang erscheint (die Dinge als Erscheinungen). Dann ist jedes Ding zweierlei:
1) Gedankending oder Ding an sich selbst (noumenon)
2) Erscheinung oder Ding als Gegenstand der Erfahrung (phainomenon)
Kant konnte, anders als der skeptische Hume, der Naturwissenschaft Sicherheit verschaffen: die Realität ist Meßbares, Empfindbares, kausal Erfolgendes in Raum und Zeit, aber das Ganze, diese Realität, ist nur Erscheinungswelt, Vorstellungswelt des Ich. Sie richtet sich in ihrer Erkennbarkeit nach dem Ich. Das nennt man die kopernikanische Wende in der Philosophie durch Kant. Die Dinge an sich, die Welt ohne das vorstellende Ich mit seinen Kategorien (Quantität, Qualität und Kausalität) und Anschauungsformen (Raum und Zeit), sind unerkennbar, aber eben denkbar. Und nun kommt das Entscheidende: zu dieser Welt der Dinge an sich gehört auch das Ich, sofern es sich selbst nicht sinnlicher oder „intelligibler Gegenstand“ sein kann. Und das geschieht, wenn der Mensch spürt, daß er soll. Sollen kommt in der ganzen Welt nicht vor, so Kant, nur im Menschen. Hier also, in der Freiheit, im Sollen, in der Moral, ist der Punkt, wo sich das Ich hinein ins Jenseits rettet, in eine intelligible Welt. Unsterblichkeit ist Verdienst der sittlichen Anstrengung:

„Wir sind und jetzt durch die Vernunft schon als in einem intelligiblen Reiche befindlich bewußt,
nach dem Tode werden wir das anschauen und erkennen und dann sind wir in einer ganz anderen Welt,
die aber nur der Form nach verändert ist, wo wir nämlich die Dinge erkennen, wie sie an sich selbst sind.“
Kant, 1781
Kant äußerte sich also auch (pflichtgemäß) zum Sollen, zur Moral, kurzum: zur Ethik, deren Erörterung schon in der letzten Hochdenker-Phase zur Höchstform aufgelaufen war (antik wie abendländisch). Pflicht ist die verbindliche Pflege, für etwas zu sorgen. Diese als inneres Erlebnis auftretende Nötigung muß er vor Augen gehabt haben, um den von ethischen Werten ausgehenden Forderungen entsprechen und das eigene Dasein diesen Forderungen gemäß gestalten zu können. Kant kam in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) zu einer autonomen Pflicht-Ethik, die als eine bedeutende philosophische Leistung gelten kann. Kants Gedankengang ist in etwa folgender: Der Vernunft ist es zwar unmöglich, Gegenstände rein apriori, d.h. ohne Erfahrung theoretisch zu erkennen, wohl aber den Willen des Menschen und sein praktisches Verhalten zu bestimmen. Seinem empirischen Charakter nach, d.h. als Person, steht der Mensch unter dem Naturgesetz, folgt er den Einflüssen der Außenwelt, ist er unfrei. Seinem intelligiblen Charakter gemäß, d.h. als Persönlichkeit, ist er frei und nur nach seiner (praktischen) Vernunft ausgerichtet. Das Sittengesetz, dem er dabei folgt, ist ein „Kategorischer Imperativ“. Nicht auf äußere Güter gerichtetes Streben nach Glück, nicht Liebe oder Neigung machen ein Tun moralisch, sondern allein die Achtung vor dem Sittengesetz und die Befolgung der Pflicht. Getragen ist diese Ethik der Pflicht von der nicht theoretischen, sondern praktischen Überzeugung von der Freiheit des sittlichen Tuns, von der Unsterblichkeit des sittlich Handelnden, da dieser in diesem Leben den Lohn seiner Sittlichkeit zu ernten nicht befugt ist, von Gott als dem Bürgen der Sittlichkeit und ihres Lohnes. Diese 3 Überzeugungen sind nach Kant die praktischen Postulate von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Von religiöser Heteronomie – Fremdbestimmung u.s.w. – ist nach Kant die Sittlichkeit frei, weil sie autonom ist. In diesem Zusammenhang sah Kant seine Auffassungen über Recht, Staat, Politik und Geschichte, deren Wirklichkeit er sehr skeptisch gegenüberstand, besonders der des von ihm als ethisch-politisches Ideal anerkannten Ewigen Friedens.
Mit der Kritik der Urteilskraft (1790) schloß Kant seine Darlegungen zu seinem System des Kritizismus ab. Nach Kant ist Urteilskraft
1) das Vermögen, unter Regeln zu subsummieren, d.h. zu unterscheiden, ob etwas
unter einer gegebenen Regel stehe oder nicht (subsummierende Urteile).
2) das Vermögen (die Fähigkeit), das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen
(Regel, Prinzip, Gesetz) zu denken (reflektierende Urteile).
Synthetisch heißt nach Kant ein Urteil, dessen Prädikats-Inhalt noch nicht im Subjekt-Inhalt enthalten ist, vielmehr durch den Urteilsvollzug erst neu hinzukommt. Synthetische Urteile, von Kant in synthetische Urteile a posteriori und synthetische Urteile a priori (z.B. mathematisch) eingeteilt, bringen also zu dem Begriff des Subjekts ein Prädiakt hinzu, welches in jenem noch gar nicht gedacht war (alle Körper sind schwer). Kant machte sie zu seinem sachlichen Ausgangspunkt für seine kritische Untersuchung der Erkenntnis. Daß sie möglich sind, ja vorhanden sind, wird dabei vorausgesetzt. Analytische Urteile dagegen sind nach Kant solche Urteile, deren Prädikat im Subjekt bereits enthalten ist (alle Körper sind augedehnt).
Kants Philosophie, in Fachkreisen seine theoretische, in weiteren Kreisen, z.B. bei Goethe und Schiller, seine praktische, rief schon zu seinen Lebzeiten eine starke Bewegung hervor. Auf Schiller wirkte Kant vor allem durch seine Sittenlehre, wenn auch Schiller die Härte der Kantschen Pflichtethik bekämpfte. Goethes anschauender Natur war zwar Kants Kritik der reinen Vernunft in ihrer Abstraktheit fremd, doch beeindruckte ihn Kants Kritik der praktischen Vernunft mit ihrer strengen Pflichtethik, und Kants Kritik der Urteilskraft habe ihm sogar die philosophische Grundlage für sein „Schaffen, Tun und Denken“ gegeben. Hamann, Herder und Jacobi traten als Gegner Kants auf. Fichte, Hegel, Schelling knüpften mit ihrer (aber nicht mehr kritizistischen!) spekulativ-idealistischen Metaphysik an Kant an. (Vgl. Idealismus).
Das Ganze der „Drei Kritiken“ – die Transzendentalphilosophie – besteht also aus den Bedingungen der Möglichkeit allgemeingültiger Naturerkenntnis (Wissenschaft), allgemeingültiger Willensbestimmung (Moral) und allgemeingültigen Geschmacks (Ästhetik). Neben dieser Durchführung seiner Philosophie betrieb Kant auch noch „Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung“. Darunter verstand er praktische Menschenkenntnis. Er publizierte sie 1798 unter dem Titel Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und in zahlreichen kleineren Schriften über die Menschheitsgeschichte, über Politik und Moral. Auf Kants Vernunftidee einer friedlichen Völkergemeinschaft (in der Schrift Zum ewigen Frieden, 1795) sollten sich später der Völkerbund (1919) und die UNO (1945) berufen.

Durch Kant wurde die abendländische Philosophie erwachsen.
Kant bildete den geistigen Übergang von jugendlicher zu erwachsener Kultur.
Dieser Denkpolizist fand den Grenzraum zwischen Hochdenkern und Spätdenkern.
Als jüngerer Vorkritiker war er Hochdenker, als älterer Nachkritiker war er Spätdenker.
Durch Kant erhielt auch das Abendland seine eigenen denkgeschichtlichen Fußnoten.

Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) war der Philosophielehrer der Romantiker und der Verkünder des modernen Individualismus. Er leitete die Philosophie der Menschen aus ihren Handlungen ab. Nicht nur alle Personen, sondern auch alle Dinge sind „im Leben“, das „Gott“ ist, behauptete er. Bei Jacobi finden sich sowohl lebens- als auch existenzphilosophische Ansätze. (). Großes Aufsehen erregte seine Schrift „Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Moses Mendelssohn“ (1785); er teilte darin ein Bekenntnis Lessings zum Spinozismus () mit und erklärte den Atheismus für eine Folge des Spinozismus wie aller Verstandesphilosophie, während die wahre Philosophie auf Gefühl und Glauben beruhe und erst anfange, wo der Spinozismus aufhöre. In diesem Sinne bezeichnete sich Jacobi als „Heiden mit dem Verstande, Christen mit dem Gemüte.“ In seiner Jugend war Jacobi mit Lessing und Goethe befreundet, von 1807 bis 1813 war er Präsident der bayrischen Akademie der Wissenschaften in München. Jacobi führte den Nihilismus als Terminus bereits 1799 in seinem „Sendschreiben an Fichte“ ein.
Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), für die meisten Romantiker der bedeutendste Philosoph, hatte zunächst die französische Revolution gefeiert (später aber nicht mehr!), galt als „Philosoph der Freiheit“, ja er wurde selbst zum „Napoleon der Philosophie“. Die 1788 erschienene Kritik der praktischen Vernunft von Kant hatte Fichte aus seinem „dogmatischen Schlummer“ erweckt. Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) war zunächst als ein Werk Kants angesehen worden war, nämlich als die lange erwartete, jedoch erst 1793 tatsächlich erschienene Religionsschrift Kants (); nachdem aber Kant Fichte für den doch 1792 erschienen Versuch einer Kritik aller Offenbarung als Verfasser genannt hatte, wurde Fichte schlagartig berühmt. Fichte bekam auf Betreiben Goethes in Jena eine Professur und verkündete dort 1794 sein „System der Freiheit“, seine Wissenschaftslehre; er erklärte: „Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation von den äußeren Ketten den Menschen losreißt, reißt mein System ihn von den Fesseln der Dinge an sich, des äußeren Einflusses los, … und stellt ihn in seinem ersten Grundsatz als selbständiges Wesen hin.“ Der Grundsatz lautet: „Das Ich setzt sich selbst.“ In diesem Grundsatz hängen alle Sätze des Systems zusammen. Sie bilden die systematische Form allen möglichen Wissens. Daher das Wort Wissenschaftslehre für dieses System. Fundament und Prinzip des Wissens ist demnach nicht etwas Vorgefundenes, keine Tatsache, auch nicht das Ich als Tatsache, sondern eine Tathandlung, schöpferische Tätigkeit, nämlich die, in der das Ich zu sich kommt und sich, wie sonst nur Gott, selbst erzeugt. Also gehört dazu, daß sich das Ich unterscheidet, von allem unterscheidet, was es nicht ist. Der zweite Grundsatz der Wissenschaftslehre lautet also: „Das Ich setzt sich einem Nicht-Ich entgegen.“ Da nun die entgegengesetzten Gegenstände im Bewußtsein sind, lautet der dritte Grundsatz, der die beiden anderen verbindet und umfaßt: „Das Ich setzt sich im Ich einem Nicht-Ich entgegen.“ Die drei Grundsätze bilden als These, Antithese und Synthese die Grundfigur der Dialektik. Alles, was im menschlichen Geiste vorkommen kann, muß sich, so Fichtes Forderung, aus den aufgestellten Grundsätzen ableiten lassen.
Idealismus
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Transzendal:
z.B.
Kant Subjektiv:
z.B.
Fichte
Objektiv:
z.B.
Platon
Schelling
Hegel Magisch:
z.B.
Schlegel
Schelling
(Romantik)
Abslout:
Hegel
Fichte ging also von Kants ethischem Rigorismus und Aktivismus aus. Fichtes Philosophie ist die wissentliche Selbstbeobachtung der schöpferisch-ethischen Aktivität der Persönlichkeit, des Ich. Also heißt seine Philosophie Wissenschaftslehre (1794). Fichte stellte in diesem Sinne drei Tathandlungen des Ich fest: 1.) Das Ich setzt sich selbst; 2.) Das Ich setzt sich einem Nicht-Ich entgegen; 3.) Das Ich setzt sich im Ich einem Nicht-Ich entgegen. Das Ich war für Fichte der Inbegriff des gegen die Trägheit ringenden Willens der Menschen. Demnach gäbe es ursprünglich nur eine absolute Tätigkeit: das Ich. So betrachtet stellen wir uns Dinge außer uns dadurch vor, daß das Ich eine Realität in sich aufhebt (außer sich setzt) und diese aufgehobene Realität in ein Nicht-Ich setzt, das ja auch eine Tathandlung des Ich ist. Ich-Idealismus
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1.)
Ich
setzt Ich 2.)
Ich
setzt Nicht-Ich
3.) Ich setzt im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen

Die Überzeugung, daß das Bewußtsein einer dinglichen Welt außer uns absolut nichts weiter sein soll als das Produkt unseres eigenen Vorstellungsvermögens, soll uns zugleich die Gewißheit unserer Freiheit geben. Nicht als bestimmt durch die Dinge, sondern als die Dinge bestimmend ist das Ich zu denken. Für Fichte war die Welt nichts anderes als das Material unserer Tätigkeit, das versinnlichte Material unserer Pflicht. Alles, was zur Tätigkeit gefordert ist, ist auch sittlich gefordert. Dahin gehört vor allem die Ausbildung des Körpers und des Geistes und die Eingliederung in die menschliche Gemeinschaft, denn die Arbeit an der Sinnenwelt, die Kulturarbeit, kann nur eine gemeinsame sein. Andererseits haben alle Staatsbürger das Recht sowohl auf formale Freiheit und Schutz vor Vergewaltigung als auch auf Eigentum, Arbeitsgelegenheit und Teilnahme an den Erträgen der Staatswirtschaft, wie Fichte in seinem Geschlossenen Handelsstaat (1800) dargelegt hat.

Weil seit Fichtes Wissenschaftslehre (1794) von Gott nicht mehr die Rede war, kam es zum Atheismusstreit – Fichte verlor dadurch auf ungeschickte Weise seine Professur in Jena und wurde 1810 Rektor der Berliner Universität -, obwohl Fichte sich schon in der 1800 erschienen Bestimmung des Menschen auf Gott besonnen hatte, als ein durch ihn hindurch fließendes und wirkendes und nur mystisch erfahrbares All-Leben. Das Ich war also hier schon wieder durch das Absolute oder Gott ersetzt, das im Ich erscheint. Gott war nämlich für Fichte in den blinden Fleck des Bewußtseins, in eine Art schwarzes Loch, geraten; seine geistige Erweckung hatte Fichte laut eigener Auskunft dem Berliner Domprobst Spalding zu verdanken, und seitdem sah Fichte vieles wieder anders: Die Bestimmung des Menschen besteht aus den drei Teilen Zweifel, Wissen, Glaube. Wie, wenn ich selbst nur geträumt bin? – „Es erscheint der Gedanke, daß ich empfinde, anschaue, denke; keineswegs aber: ich empfinde, schaue an, denke, Nur das erstere ist Factum; das zweite ist hinzu erdichtet. … Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder. … Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird …, das Denken … ist der Traum von jenem Traum.“ Fichte schaute also in den Abgrund der negativen Selbstreferenz, stieß ans unvorstellbare Nichtsein, an den Tod. Etwas „außer der bloßen Vorstellung Liegendes“ heißt das, nach dem Fichte von da an verlangte und fand, daß zumindest sittliches Tun Bestimmung des Menschen sei, denn: „unser Bürgerrecht ist im Himmel“, und die ganze Bestimmung kenne nur er, der „Vater der Geister“. Der Welt absterben, sich von der Welt lösen, um wiedergeboren zu werden in einem anderen Leben – das war von da an die die religiös-platonistische Devise des Idealisten Fichte. Er wurde weiterhin bekannt durch seine Reden an die deutsche Nation (1807-1808).

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) kreierte ein System, das aus 3 Teilen besteht (): der Logik (Ontologie), die das Sein Gottes vor Erschaffung der Welt nachvollzieht, der Naturphilosophie, die Gottes Entäußerung in die materielle Welt zum Inhalt hat, und der Philosophie des Geistes, die die Rückkehr Gottes aus seiner Schöpfung zu sich selbst (zu seinem Selbstdenken) im menschlichen Geiste schildert. Am Ende steht wiederum die Logik – diesmal jedoch die von Gott im Menschen vollzogene, die sich aber inhaltlich von der ersten nicht unterscheidet. Das Prinzip der dialekischen Entwicklung (Dialektik ) ist die aus dem Widerspruch resultierende Bewegung. Schon in der Natur findet ein allmähliches „Insichgehen“ der Äußerlichkeit statt, aber die eigentliche „Rückkehr“ des Geistes aus seinem „Anderssein“ (= Natur) vollzieht sich erst im Menschen. Der Mensch, der zunächst naturhaft seelenhaft (Anthropologie) existiert, trennt sich auf der Stufe des „erscheinenden Bewußtseins“ (Phänomenologie) von seinem unmittelbaren Dasein und tritt in Gegensatz zu ihm, bis er als Geistwesen (subjektiver Geist) seine eigene geistige Substanz als identisch mit seinem bewußten Verhalten erkennt. Die gleiche Entwicklung machen die von der Gemeinschaft der Menschen geschaffenen Formen wie Recht, Moralität, Sittlichkeit durch, bis hin zum Staat (objektiver Geist). Auch hier ist die 3. Stufe wiederum die Synthese der beiden ersten, die sich antithetisch zueinander verhalten. In der konkreten Sittlichlkeit (von Familie, Gesellschaft und Staat) ist eine Einheit von rechtlichen Verhalten und moralischer Gesinnung das Entscheidende. Diese Einheit erreicht im Staat ihre höchste, weil allgemeinste Form. Daher ist der Staat für Hegel der erscheinende Gott, denn Gott ist die Einheit von Subjektivität und Objektivität schlechthin. Über den Gebilden des objektiven Geistes stehen die 3 Gestalten des Anschauens, Vorstellens und Wissens (diese 3 als absoluter Geist) der absoluten Identität von Substanz und Subjekt. In der Kunst wird diese Einheit nur erst „angeschaut“, das Gedankenhafte (Ideelle) scheint durch die Materie hindurch, in der Religion wird sie in einer jenseitigen Person „vorgestellt“, die zugleich Gott (Denken des Denkens) und Mensch (im sittlichen Dasein) ist, und erst im absoluten Wissen wird diese Einheit als vollkommene Identität von subjektivem (menschlichem) und absolutem (göttlichem) Geist gewußt, erst hier erreicht die Erhebung des endlichen Wesens Mensch zum Unendlichen ihr Ziel.

Für Hegel steht über den Staaten nur noch der Weltgeist,
der sich durch den dialektischen Kampf der Volksgeister hindurch entwickelt.
Die gesamte Weltgeschichte wird als Prozeß der Selbstbewußtwerdung des Weltgeistes
aufgefaßt und zugleich damit als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“.

Hegels Freiheit besteht aber darin, daß der Mensch seine Wesensidentität mit dem Absoluten erkennt und sich mit den letztlich auch vom Absoluten geschaffenen Gebilden des objektiven Geistes und ihrem Wollen – Staat und Recht – identifiziert. Kein deutscher Denker, selbst Kant nicht, hat so nachhaltig auch auf fremde Nationen gewirkt wie Hegel. So wie Alexander von Humboldt (1769-1859) als „wissenschaftlicher Entdecker Amerikas“ gilt, so gilt Hegel als der „universalierende Weltgeist der Weltgeschichte“. Sein bekanntestes und genialstes erstes größeres Werk, die „Phänomenologie des Geistes“, ging um die ganze Welt. Der Hegelianismus (Gegenteil: Aristotelismus?), der sich in eine „Rechte“ (theistische), eine „Mitte“ (Gans, Michelet u.a.) und eine radikale „Linke“ aufspaltete, also Althegelianer (Gegenteil: 1. Aristoteliker?) und Junghegelianer (Gegenteil: 2. Aristoteliker?) und damit die folgenreichsten Hegel-Nachfolger – auch Marx und Engels waren Hegelianer – hervorbrachte, verbreitete sich weltweit und mündete in den Neu-Hegelianismus (Gegenteil: Aristarchos‘ Neu-Aristotelismus?). Könnte es deshalb in Zukunft nicht auch einen Hegelianischen Soziologismus (Gegenteil: Aristotelische Stoa?) geben? Auch der Kantianismus (Gegenteil: Platonismus), der Altkantianer (Gegenteil: Alte Akademie?), Neu-Kantianer (Gegenteil: Mittlere Akademie?) und Neu-Neu-Kantianer (Gegenteil: Neuere Akademie?) hervorbrachte, könnte in Zukunft weitere Kantianismen entwickeln und auch Mittlerer Kant(?)ismus (Gegenteil: Mittlerer Platonismus?) und Neuerer Kant(?)ismus heißen, wobei letzterer dann tatsächlich ein Neukantianismus (Gegenteil: Neuplatonismus?) wäre. Überhaupt entwickelte sich ja der gesamte Idealismus über bestimmte Neoismen zum Neu-Idealismus (vgl. 20-22) und über weitere neue Ismen (Neo-Neoismen) zum Neu-Neu-Idealismus. (Vgl. 22-24). Die über die eigene Kultur hinausreichende Wirkung, die Platon und Aristoteles erreichten, könnte auf abendländische Weise auch für Kant und Hegel gelten. Eine Wirkung bis ins Unendliche?
IDEALISMUS

Kantianismus
Altkantianer

Hegelianismus
Althegelianer (Rechte)
Hegelsches Zentrum (Mitte)
Junghegelianer (Linke)

Neu-Idealismus

Neu-Kantianer
(Lange, Mach, Cohen u.a.)
(Kant-Gesellschaft)

Neu-Hegelianer
(Dilthey, Fischer u.a.)
(Hegel-Bund)
(Hegel-Gesellschaft)

Neu-Neu-Idealismus

Neu-Neu-Kantianer

„Gott ist ein Schluß, der sich mit sich zusammenschließt.“ (Hegel)
Hier sei noch einmal an das „Problem der Universalien“ erinnert: Die Universalien sind im Geiste Gottes vor den Dingen, in der Realität in den Dingen und im menschlichen Geist nach den Dingen. Man kann den möglichen drei Antworten (vor, in, nach) die drei großen Philosophen zuordnen: Platon, Aristoteles und Kant; aber der vierte große Philosoph, Hegel (für den „Alles Schluß“ war), stellte in seiner „Enzyklopädie“ und ihren drei Teilen (syllogistisch) die Dreieinigkeit von Logik, Natur und Geist dar, entsprechend der Dreieinigkeit von Gottvater, Gottsohn und Heiligem Geist. Die Einheit der drei ist ein Schluß. Die Logik wird der Natur entgegengesetzt und im Geist mir ihr verbunden. Dies ist die dialektische Figur der von Fichte aufgestellten drei Grundsätze. Das System ist ein System aus Dreiecken, die sich durch selbstähnliche Abbildung, wie bei einem Fraktal, vermehren. Hegel hat das selbst in seiner Zeichnung vom „göttlichen Dreieck“ angedeutet. Hegels „Enzyklopädie“ endet und kulminiert in einem Zitat des Aristoteles. „Denn der Vernunft wirkliche Tätigkeit ist Leben, die Gottheit aber ist die Tätigkeit; ihre Tätigkeit ist … ewiges Leben“. Hegel meinte damit, die Entgegensetzung von Glauben und Wissen endgültig überwunden und zugleich alles begriffen zu haben – alles, bis ins kleinste Detail hinein.

„Nach Hegel heißt philosophisch denken
die Ernte des Seienden nach Hause bringen; …
der Wein der Wahrheit wird aus Spätlesen gewonnen.
Hegels typische Zeiten sind darum Herbst und Abend;
seine bevorzugte Denkfigur ist der Schluß,
seine innerste Farbe das nachtnahe Grau. …
Bedeutet das Werden eine Schule,
muß diese doch zu einem Abschluß führen;
ist es Prozeß, so kann in ihm
der Moment des Urteils nicht ausbleiben.
In diesem Sinne ist Hegel der Denker der Reife …
Hegel hätte, im Traum wie in Wirklichkeit,
Napoleon gegenübertreten können mit dem Satz:
Ich bin der Gedanke zu deiner Tat.

Durchbruch zum vollbrachten Verfassungsstaat.“
(Peter Sloterdijk; )

Hegels Philosophie trifft im Großen und Ganzen das, was,
wie Hegel selbst sagte, die meisten Leute immer schon glaubten:
– (1) –
Daß die Welt und der Lauf der menschlichen Geschichte verstehbar seien,
in sich vernünftig und daß alles in Fortentwicklung begriffen ist,
um so zu werden, wie es sein soll gemäß seiner Idee.
– (2) –
Daß Gott mit seinen Ideen in allem ist, daß es allerdings manches gibt, was nicht
den Namen eines Wirklichen verdiene, weil es nicht so ist, wie es sein soll.

Durch Kant wurde die abendländische Philosophie erwachsen.
Durch Hegel wurde diese zivil-moderne Reife eine Spätlese: 1. Herbsternte.

Mit Hegel begann die Vollendung der Metaphysik, weil die unbedingte Gewißheit als die absolute Wirklichkeit zu ihr selbst kommt; aber dies ist erst der Beginn der Vollendung, also noch nicht die Vollendung selbst, denn noch ist die Möglichkeit des unbedingten Eingehens auf sich als dem Willen des Lebens nicht vollzogen; noch ist der Wille nicht als der „Wille zum Willen“ in seiner von ihm bereiteten Wirklichkeit erschienen, weshalb die Metaphysik mit der absoluten Metaphysik des Geistes noch nicht vollendet ist!
Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854) war theologischer Mitstudent von Hegel und Hölderlin, schloß sich der Philosophie von Kant und Fichte an, erweiterte sie naturphilosophisch und gelangte schließlich zu einer Philosophie der Offenbarung. Mit Fichte und Hegel zusammen gilt Schelling als Hauptvertreter des Deutschen Idealismus bzw. des Übergangs zur Romantik. Wegen seiner steten Wandlung wurde Schelling auch der „Proteus der Philosophie“ genannt. Nach Schelling ist das Absolute (Ideal-Real-Identität) unmittelbar erfaßbar durch die intellektuelle Anschauung und in der Kunst, die gleichberechtigt neben, grundsätzlich sogar über der Philosophie steht und alles Trennende vereinigt. In den Gegenständen der empirischen Wirklichkeit ist je nach der Stufe die Natur oder der Geist stärker vertreten. Infolgedessen bildet das Reich der Natur wie das Reich des Geistes (die Geschichte) eine (Entwicklungs-) Reihe, deren einzelne Stufen Schelling als „Potenzen“ bezeichnete. Verwandt sind diese Potenzen nur durch ihren gemeinschaftlichen Urgrund, das Absolute; insofern entsteht nicht eine Stufe aus der anderen, sondern das Absolute läßt sie direkt aus sich hervorgehen, um so zu seiner völligen Entfaltung zu gelangen. (). Schellings Entwicklungslehre ist idealistisch wie diejenige Hegels. Seit 1807 wandte sich Schelling dem Problem der Freiheit des Menschen und seines in seinem Willen begründeten Verhältnisses zu Gott zu. Anschließend entwickelte Schelling in seiner Metaphysik der Religionsgeschichte Grundlagen zur späteren Religionswissenschaft. Das letzte Stadium seiner Philosophie ist besonders tiefsinnig, aber schwer zugänglich – vielleicht ein Versuch, die Neumystik wieder zum Leben zu erwecken (?!).
Was im Abendland mit dem Sturm und Drang, dem freien Gefühl gegenüber der Vernunft begann (16-18), das begann in der Antike mit Platons periagoge. Beide Bewegungen sind Umdrehungen, d.h. Revolutionen der Seele, was ich Erwachsenwerden nenne. Platons Höhlengleichnis und seine Abwendung von der immer schrecklicher werdenden griechischen Tragödie, die ihn die Akademie erst zu gründen veranlaßte (385 v. Chr.), ist zu vergleichen mit dem räumlichen Pendant der Deutschen Bewegung, die durch die Vergangenheit in das Innerste schaut. Fast gleichzeitig beginnt mit ihr die Industrialisierung, die Bevölkerungsexplosion: Ruhrpott und Romantik gehören doch irgendwie zusammen. Die Idealismus-Romantik ähnelt der platonischen Akademie, während die wissenschaftlichen Einzelgänger und Kant-Anhänger in der abendländischen Klassik den wissenschaftlichen Einzelgängern und Aristoteles-Anhängern gleichen, auch in den weiteren Entwicklungen. Als idealistischen Universalismus und Enzyklopädismus kann man die Romantik ansehen, insbesondere den Jenaer Romantik-Kreis um die Brüder Schlegel. In Friedrich Schlegel (1772-1829) hat sich das Schicksal der Romantik philiosophisch am deutlichsten ausgedrückt. Der gebürtige Hannoveraner begann nach seiner Kaufmannslehre in Leipzig ein geisteswissenschaftliches Studium in Göttingen und Leipzig und war mit Schleiermacher (1768-1834) befreundet. Er arbeitete mit Fichte (1762-1814), Schelling (1775-1854), Novalis (1772-1801) und Tieck (1773-1853) zusammen. Von 1820 bis 1823 gab Schlegel die konservative Zeitschrift Concordia heraus. Als Ästhetiker, Literaturtheoretiker, Literaturhistoriker, Dichter und Kritiker war er geistiger Mittelpunkt der Frühromantik.
Freidrich Schlegel begründete mit seinen Schriften die Theorie der romantischen Dichtkunst; er verstand die Romantik als progressive Universalpoesie, d.h. als Erschließung der transzendental-poetischen Struktur der Schöpfungswirklichkeit. Goethe und Schlegel lernten sich 1797 in Jena kennen und trafen sich auch später des öfteren. Goethe las Schlegels Aufsätze (z.B. Die Griechen und die Römer), seine Geschichte der Poesie und seinen Roman Lucinde; Schlegel stellte in seinen Fragmenten, vornehmlich in der Zeitschrift Athenäum veröffentlicht, die Goethesche Dichtung als musterhaft hin. Vor allem erschien ihm Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) und nicht mehr die Tragödie als Höhepunkt der Dichtung überhaupt. Er nannte ihn neben der Französischen Revolutuion und Fichtes Wissenschaftslehre eine der 3 größten Tendenzen des Zeitalters. Mit der Charakteristik des Wilhelm Meister (1798) und dem Gespräch über die Poesie (1800) setzte Schlegel den Beginn einer wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung. 1802 brachte Goethe Schlegels Tragödie Alarcos (1802) in Weimar zur Aufführung und las ohne Zustimmung Schlegels Schrift Über die Sprache und Weisheit der Inder (1808). Schlegel war der Begründer des Sanskrit-Studiums und Wegbereiter der vergleichenden Sprachwissenschaft. (Vgl. Schlegel/Grimm und ).
Die abendländische Romantik kann als Versuch einer Nationalisierung des humanistisch-idealistiscn Universalismus und als eine Verknüpfung des schon erwähnten Neuplatonismus mit dem Germanischen bezeichnet werden, in der eine idealistisch-pantheistische Denkweise vorherrschend ist. Sie war eine Deutsche Bewegung. Die Vertreter ihrer Entwicklungsstufen – aus Sturm und Drang, Klassik und Romantik – kennt wohl jeder. Eine Romantisierung des von der humanistischen Generation geschaffenen Werkes (vgl. 10-12 und 12-14) sowie die Erfahrung des Ich und der Tiefen der menschlichen Seele ist ihr Wesenszug. In Goethe und Schelling trat der stoffgläubig-mechanistischen Naturwissenschaft des Westens eine schöpferische Naturlehre gegenüber. Auf diesen Wesensgegensätzen beruht auch die starrdogmatische Ablehnung der Newton’schen Farbenlehre durch Goethe. Im Mittelpunkt der Naturauffassung Goethes stehen die Begriffe Urphänomen, Typus, Metamorphose und Polarität. Nüchtern und realistisch dachte Goethe über die Möglichkeit gegenständlicher Erkenntnis: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre“. Zusammengefaßt ist dies das erste erwachsene, frühherbstliche, frühabendliche Projekt zum Selbstverständnis und zur Feststellung der eigenen (Kultur-) Geschichte. Nicht umsonst hat die historische Methodik durch Leopold von Ranke (1795-1866) und hat die sprachwissenschaftliche Methodik durch Franz Bopp (1791-1867) und die Märchen sammelnden Gebrüder Grimm (1785-1863 und 1786-1859) gerade in dieser Zeit ganz entscheidende Impulse erhalten. Und während sich Physik, Chemie, Biologie, Medizin, Verkehrstechnik, Nachrichtentechnik, Drucktechnik, Kriegstechnik und die Photographie rasant weiter entwickelten und das Licht angeknipst wurde, ging den Menschen jenes Licht noch nicht auf, welches die mit Geld und Geist gerüstete Technik benutzt, wenn sie Massenmeinungen unter Kontrolle bringen will. Und sie wollte schon damals.Analog dazu kann man für die Antike die Errungenschaften nennen, die seit der Gründung der Bibliothek in Alexandria (287 v. Chr.) zu deren Geistesblitze führten. Der Geist denkt und Gott lenkt, hatte es früher geheißen. Jetzt hieß es: der Geist denkt und das Geld lenkt. Die Menschen mußten jetzt immer mehr das denken, was die freie Meinungsäußerung ihnen vorgab. Sie ahnten, aber wußten noch nicht so recht, wer der Lenker sein sollte. Die klassisch-romantische Eisenbahn fuhr noch eingleisig.
Was ist der Mensch? Nach Kant lassen sich in dieser Frage alle Fragen der Philosophie zusammenfassen. Nach seiner Meinung braucht man für die Antwort auf die Frage nach der Reichweite des menschlichen Geistes keine Erforschung der „paranormalen“ Phänomene, bei denen der Geist des Menschen ohne Vermittlung des Körpers auf außerkörperliche Dinge wirkt (z.B. Telekinese) und auch ohne Vermittlung der Sinnesorgane wahrnimmt (z.B. Hellsehen). Kant bestritt diese Phänomene in seiner Schrift „Träume eines Geistersehers“ (1766). Er hielt sie für Scharlatanerie und gab damit dem berühmten Wissenschaftler und Ingenieur Emanuel Swedenborg (1688-1772), der damals durch seine okkultem Fähigkeiten, besonders den Kontakt mit Geistern, von sich reden machte, der Lächerlichkeit preis. Als Kant dann etwas später dahinter kam, daß Raum, Zeit und physikalische Kausalität nur subjektive Formen für die Erscheinung der „Dinge-an-sich“ sein könnten, hätte er allerdings sein Urteil revidieren und zumindest die Möglichkeit solcher von Raum und Zeit unabhängiger Wirksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit des Geistes zugestehen müssen. Er tat es nicht. (). Aber Schopenhauer (1788-1860) hat dann in seiner Schrift „Versuch über das Geistersehen“ (1851) an seiner Stelle nachgeholt. Für ihn ist die Natur an sich das, was wir in uns selbst unmittelbar als Willen finden. Dieser Wille ist allmächtig, allsehend und allwissend. Die okkulten Phänomene der actio et visio in distans (Fernwirken und Fernsehen) geschehen durch Teilhabe des einzelnen Individuums am metaphysischen Willen. Später sollte der von Haeckel (1834-1919) beeinflußte Biologe und Philosoph Hans Driesch (1867-1941) nicht nur zur Aufstellung des Systems eines kritischen antimaterialistischen Vitalismus (Neu-Vitalismus) gelangen, sondern in seinem Buch „Alltagsrätsel des Seelenlebens“ (1938) auch ganz im Sinne Schopenhauers die normale Wirksamkeit des Geistes (mittels des Leibes) als Aufhebung einer Einschränkung und als Kanalisierung der Allwirksamkeit und Allwissenheit des Geistes durch den Leib erklären. Allwirksamkeit und Allwissenheit sind in den leiblichen Individuen als gänzlich maskiert oder eingeschränkt anzunehmen. Diese Maskierung und Einschränkung werden bei gewissen Hirnreizungen partiell aufgehoben. Was man das Paranormale nennt, ist also eigentlich das „Normale“: das universelle Allwissen und Allwirken (vgl. Leibniz‘ Ideal der Monade als wahrer Spiegel der Welt), das gelegentlich, meistens durch „emotionale Verbundenheit“ von seiner Verdeckung durch die leibliche Individuation befreit wird. Neben Schopenhauer waren auch Fichte und Hegel Kants Idealismus gefolgt, d.h. sie übernahmen Kants spätere Lehre der Idealität (Imaginiertheit) von Raum und Zeit. Entsprechend war ihre Einstellung zu parapsychologischen Phänomenen positiv. Parapsychologie war damals, Ende des 18. Jahrhunderts, durch die Wirksamkeit des Franz Anton Mesmer (1734-1815) im Gespräch. Man nannte sein Erforschen und seinen Umgang mit okkulten Kräften deshalb Mesmerismus. Mesmer selbst sprach vom tierischen oder animalischen Magnetismus, weil er die dabei hauptsächlichen Hypnosephänomene durch Magnetismus erklärte. Hegel stellte 1830 in der „Enzyklopädie III“ fest, daß die „endlichen Auffassungen des Geistes“ von empirischer Seite „mit aller Brutalität einer ausgemachten Tatsache“ vom animalischen Magnetismus verdrängt worden seien und daß nun auch von theoretischer Seite diese Phänomene eines von den Schranken des Raums und der Zeit befreiten unendlichen Geistes begriffen werden müßten. Seine spekulative Philosophie sei die einzige, für welche der animalische Magnetismus kein unbegreifliches Wunder ist.

Der 1825 zum Protestantismus konvertierte Heinrich Heine z.B. „sah in der Geschichte der neueren (d.h.: modernen) deutschen Philosophie in erster Linie den Abfall vom Christentum. Der zum Abdruck gebrachte Teil der philosophischen Entwicklung von Kant bis Hegel gilt als Meisterstück populär-philosophischer Darstellungskunst. Mit Recht hat man bemerkt, daß die weitverbreitete Annahme, Kant habe den moralischen Gottesbeweis – nachdem er die spekulativen Beweise widerlegt hatte – nur ironisch gemeint, auf Heine zurückzuführen sei. So zieht Lampe, Kants Diener, in die Unsterblichkeit ein, denn allein ihm zuliebe ließ Kant – so sagt wenigstens Heine – den moralischen Gottesbeweis gelten.“ (Leo Winter in der Einleitung zu: Heinrich Heine, Zeitkritische Schriften, 1834). Heine schrieb 1834 unter anderem: „Es ist entsetzlich, wenn die Körper, die wir geschaffen haben, von uns eine Seele verlangen. Weit grausamer, entsetzlicher, unheimlicher ist es jedoch, wenn wir eine Seele geschaffen und diese von uns ihren Leib verlangt und uns mit diesem Verlangen verfolgt. Der Gedanke, den wir gedacht, ist eine solche Seele, und er läßt uns keine Ruhe, bis wir ihm seinen Leib gegeben, bis wir ihn zur sinnlichen Erscheinung gefördert. Der Gedanke will Tat, das Wort will Fleisch werden. …. Die Welt ist die Signatur des Wortes. …. Maximilian Robespierre war nichts als die Hand von Jean-Jacques Rousseau, die blutige Hand, die aus dem Schoße der Zeit den Leib hervorzog, dessen Seele Rousseau geschaffen. …. Wenn aber Immanuel Kant, dieser große Zerstörer im Reiche der Gedanken, an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf, so hat er doch mit diesem manche Ähnlichkeiten, die zur Vergleichung beider Männer auffordern. …. Nachdem die Kantianer ihr terroristisches Zerstörungswerk vollbracht, erscheint Fichte, wie Napoleon erschienen, nachdem die Konvention ebenfalls mit einer reinen Vernunftkritik die ganze Vergangenheit niedergerissen hatte. Napoleon und Fichte repräsentieren das große unerbittliche Ich, bei welchem Gedanke und Tat eins sind, und die kolossalen Gebäude, welche beide zu konstruieren wissen, zeugen von einem kolossalen Willen. …. Der ehemalige (= jüngere) Schelling repräsentiert, ebenso wie Kant und Fichte, eine der großen Phasen unserer philosophischen Revolution, die ich in diesen Blättern mit den Phasen der politischen Revolution Frankreichs verglichen habe. In der Tat, wenn man in Kant die terroristische Konvention und in Fichte das napoleonische Kaiserreich sieht, so sieht man in Herrn Schelling die restaurierende Reaktion, welche hierauf folgte. (). Aber es war zunächst ein Restaurieren im besseren Sinne. Herr Schelling setzte die Natur wieder ein in ihre legitimen Rechte, er strebte nach einer Versöhnung von Geist und Natur, er wollte beide wiedervereinigen in der ewigen Weltseele. Er restaurierte jene große Naturphilosophie, die wir bei den altgriechischen Philosophen finden, die erst durch Sokrates mehr ins menschliche Gemüt selbst hineingeleitet wird und die nachher ins Ideelle verfließt. Er restaurierte jene große Naturphilosophie, die, aus der alten, pantheistischen Religion der Deutschen heimlich emporkeimend, zur Zeit des Paracelsus die schönsten Blüten verkündete, aber durch den eingeführten Cartesianismus erdrückt wurde. Ach, und am Ende restaurierte er Dinge, wodurch er auch im schlechten Sinne mit der französischen Restauration verglichen werden kann. Doch da hat ihn die öffentliche Vernunft nicht länger geduldet, er wurde schmählich herabgestoßen vom Throne des Gedankens, Hegel … nahm ihm die Krone vom Haupt und schor ihn, und der entsetzte Schelling lebte seitdem wie ein armseliges Mönchlein zu München, einer Stadt, welche ihren pfäffischen Charakter schon im Namen trägt und auf Latein Monacho monachorum heißt. Dort sah ich ihn gespenstisch umherschwanken, mit seinen großen blassen Augen und seinem niedergedrückten, abgestumpften Gesichte, ein jammervolles Bild heruntergekommener Herrlichkeit. Hegel aber ließ sich krönen zu Berlin – leider auch ein bißchen salben – und beherrschte seitdem die deutsche Philosophie. Unsere philosophische Revolution ist beendet. Hegel hat ihren großen Kreis geschlossen. Wir sehen seitdem nur Entwicklung und Ausbildung der naturphilosophischen Lehre. Diese ist in alle Wissenschaften eingedrungen und hat da das Außerordentlichste und Großartigste hervorgebracht.“ (Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1834, S. 2-3, 5, 17, 33-34 ). Was von Hegels Denken allein zur Wirkung kam, war das System des reifen Denkers. Dieses System ist, nach Hegels Anspruch, als die Selbstwerdung des Absoluten zu verstehen. Die Philosophie teilt ihren Gegenstand – Gott, das Absolute – mit der Religion, doch erscheint das Absolute erst im reinen Denken in seiner angemessenen Form. Das „absolute Wissen“ – die in Hegel vollendete Philosophie (genauer: der Vollendungsbeginn! ) – ist deshalb das „Selbstbewußtsein Gottes“ im Menschen, das Wesen Gottes ist aber (da er Geist ist) nichts anderes als solches Selbstbewußtsein, Denken des Denkens.

Ein Verteidiger des Skeptizismus war Schopenhauers Lehrer Gottlob Ernst Schulze (1761-1833), der sich selbst nach Ainesidemos (Änesidemus) benannte und den skeptizistischen Standpunkt besonders in seinem Hauptwerk Änesidemus oder … Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßung der Vernunftkritik (1792) begründete. Schulze wandte sich in seiner Erkenntnislehre mit grundlegenden Argumenten gegen die alte Verwechslung des Wahrnehmens mit dem Vorstellen. Schopenhauers Lehrer Schulze wurde auch als Änesidemus-Schulze bekannt.
Aus der Tabelle geht klar hervor, daß, analog zu Pyrrhon (360-270) und seiner Skeptiker-Schule, ein abendländischer Skeptizist ein dem Abendland gegenüber relativ pessimistisch eingestellter Lebensphilosoph wie der Willensmetaphysiker Schopenhauer (1788-1860) wäre und einer seiner Schüler, der es mit dem Pessimismus besonders ernst nimmt, beispielsweise der Existenzsubjektivist Kierkegaard (1813-1855). In einer abendländischen Stoa dieser erwähnten Zeit hätte man dann die zum ersten Mal von Comte (1798-1857) so bezeichnete Soziologie zu sehen. Abendländische Kyrenäiker wären dann aber die das allgemeine Wohl fördernden sensumotorischen Material-Positivisten, zu denen ich, neben Sensualismus (Condillac, 1715-1780) und Positivismus (d‘ Alembert, 1717-1783) – beide als eine ältere Richtung (16-18) -, auch Materialismus, Anarchismus, Sozialismus (nicht soziologisch!) und Kommunismus rechne. „Über Vergangenes soll man nicht klagen, vor Zukünftigem nicht bangen“ – das ist z.B. ein Satz, den Aristippos von Kyrene (435-355) prägte und den seine hedonistischen Schüler, die Kyrenäiker, aber auch jene abendländischen doppelt unterstrichen hätten und vielleicht auch haben, insbesondere die letzteren (jüngeren). Epikuräisch auf abendländisch wäre z.B. die Philosophie von Johann Friedrich Herbart (1776-1841); er hat die Psychologie als Wissenschaft begründet, weil er sie auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik zurück- und an die Naturwissenschaft so nah wie möglich heranführte, während Comte, der stoische Positivist, sie auf Soziologie und Biologie verteilte. Fechner (1801-1887) gehört jedoch sicherlich in die Reihe der epikuräischen Abendländer. Zwecks Naturerkenntnis und zur Glückseligkeit und zum zurückgezogenen Leben (ataraxia) von Staat und Kultur zu kommen, riet Epikur (342/341-271/270); und so hat sich auch die abendländische Psychologie entwickelt. In Übereinstimmung mit der Natur leben, das allgemeine Wohl fördern und Gentleman bleiben, lautete in etwa die Devise der Stoiker. Ihr Begründer Zenon (354-264) war zunächst Schüler der Kyniker. (Vgl. 16-18). Der heute wohl bekannteste Kyniker ist Diogenes von Sinope (412-323), obwohl nicht er, sondern Antisthenes (444-368) der Gründer der Kyniker-Schule war. (). Antisthenes predigte Bedürfnislosigkeit (autarkie) und Charakterstärke; er forderte Rückkehr zur Einfachheit des Naturzustandes, während Diogenes den Begriff der sokratischen Selbstgenügsamkeit zur inneren Askese, die äußerste Bedürfnislosigkeizt zur Pflicht machte, jeder verfeinerten Lebensart abhold. Er erkannte die geltenden Sittengesetze nicht an und wurde zum Urbild der kynischen Schamlosigkeit, der unser Ausdruck für Zynismus geworden ist. Diogenes ließ sich gehen. Anfänglich aber zählen die ersten Sokratiker, Kyniker und Kyrenäiker noch zu der letzten Phase der Sophistik bzw. Aufklärung. (Vgl. 16-18). Abendländisch gilt das für Rousseau (1712-1778), den Sturm und Drang und die Sensualisten (um Condillac bzw. Protopositivisten um Hume). Der auf Gefühle statt Vernunft setzende Sturm und Drang war allerdings für den Übergang zur (Weimarer)Klassik, damit zu Idealismus und Romantik eine fast unentbehrliche Voraussetzung, die ansonsten Kant allein hätte meistern müssen. (Vgl. „Übersicht“ und „Schulen“).
Die Schule des Skeptizismus, der sachlich auch viele Akademiker angehörten, vertrat in praktischer Hinsicht eine relativistische Ethik, die auch Pyrrhonismus genannt wird. Pyrrhon war der Ansicht, daß nichts in Wirklichkeit schön oder häßlich, gerecht oder ungerecht sei, denn an sich sei alles gleichgültig (ununterschieden), weil es ebensosehr und ebensowenig das eine wie das andere sei. Alles Nichtgleichgültige, Unterschiedliche nämlich sei willkürliche menschliche Satzung und Sitte. Die Dinge seien unserer Erkenntnis unzugänglich, darum gezieme dem Weisen Urteilsenthaltung (epoch). Als praktisch-sittliches Ideal des Weisen aber folge daraus die Unerschütterlichkeit (ataraxia). Der Skeptizismus erhebt den Zweifel zum Prinzip des Denkens, besonders den Zweifel an einer sicheren Wahrheit. Der gemäßigte Skeptizismus beschränkt sich auf die Erkenntnis der Tatsachen, während er sich gegenüber allen Hypothesen und Theorien Zurückhaltung auferlegt. Dieser antike Skeptizismus enstand als Rückschlag auf den metaphysischen Dogmatismus der vorhergehenden philosophischen Schulen. Man sieht also leicht ein, daß der Skeptizismus, wie die anderen neuen Schulen, als Reaktion auf die beiden großen von Platon und Aristoteles, einen Mittelweg darstellte, der als Ausweg gedacht war. Demzufolge müßte es im Abendland auch eine oder mehrere Alternativen zu Transzendental-Idealimus und Romantik-Idealismus gegeben haben, diesich als überlebensfähig herausstellen sollten. Tatsächlich wurde die von Arthur Schopenhauer begründete Lebensphilosophie wie seine Willensmetaphysik nicht nur zur Modephilosophie des 19. Jahrhunderts, sondern auch ein Wegbereiter für Nachfolgerund Nachahmer. (). Solch einer war wohl tendenziell bereits Kierkegaard mit seinem Existenz-Subjektivismus. Noch später sollten Nietzsche und Spengler, die Existenzphilosophen Heidegger, Jaspers und Sartre, tendenziell auch Sloterdijk, um nur einige Beispiele zu nennen, dieser ersten abendländischen Lebensphilosophie, dem Skeptizismus treu bleiben. Schopenhauers „Gesellschaft“ sollte also eine Schule von langer Dauer sein, und sie wird es wohl auch in Zukunft bleiben, denn ebenso verlief in der Antike die Weiterentwicklung des Pyrrhonismus (Pyrrhons Skeptizismus). Doch auch die Schulen der Stoa und der Epikuräer hielten sich lange, was man aus Sicht der Zukunft für die abendländischen Soziologie- und Psychologie-Schulen sicherlich auch annehmen darf. Auch nicht zu vergessen sind die Schulen aus längst vergangenen Phasen, die reanimiert worden sind. Die klassische (attische) Philosophie jedenfalls, die schon durch Sokrates berühmt, aber durch Platon und Aristoteles berühmter denn je wurde, wirkte erfolgreich, wie ihre abendländische Entsprechung, auf ihre Anhänger, auf ihre Skeptiker und auf ihre Gegner.

Für Schopenhauer war der Tod der Musaget der Philosophie,
ein Musenanführer, Freund, Förderer, d.h. rettende Verneinung des
Willens zum Leben, die zur Aufhebung des Individuationsprinzips führt,
also zum Übergang ins Nichtsein (Nirwana). Diese radikale Skepsis – ein
Nihilismus – ist eine Reaktion auf die Ideale bzw. auf den Idealismus.
Der faustische Nihilist flüchtet vor den (alten) Idealen bis ins Unendliche,
der apollinische Nihilist enthält sich ihnen bis zur Unerschütterlichkeit:
auch der Philosophie als das Einüben ins Sterben, wie Platon sie bestimmte.
(Vgl. Schopenhauers „Nichtsein“ und Pyrrhons „epoch“ und „ataraxia“).
Alle Kulturen folgen der Notwendigkeit eines Skeptizismus (radikal: Nihilismus).
Die Richtungen des „Entgegengesetzten“ in Antike und Abendland sind jedoch
ebenfalls gegensätzlich, weil auch diese beiden Kulturen gegensätzlich sind:
Faustisch versus apollinisch und Unendlichkeitsraum versus Einzelkörper
kommen auch in der „Selbstverneinung“ deutlich zum Ausdruck.

Schopenhauer bestand darauf, die gegenwärtige erfahrbare Welt mit einem einzigen Satz erklären zu können: Die Welt ist Wille und Vorstellung. Schopenhauer begann mit der Vorstellung und einer Negation. Kant hatte gelehrt, daß die von unseren Sinnen aufgenommene Welt nur Erscheinung ist, und daß die Erscheinung nichts aussagen kann von dem eigentlichen Seienden, dem Ding an sich; daß dies also unerkennbar bleibt. Schopenhauer gibt dies zu: die ganze Körperwelt ist ideal, d.h. unsere Wahrnehmung ist dem Denkgesetz unseres Intellekts unterworfen, ist nur innerlich dieses Gesetzes möglich. Subjekt und Objekt bedingen einander. Ohne das Subjekt kann das Objekt nicht gedacht werden. Mit dem Subjekt muß es fallen. Der Intellekt vermag nur aufzunehmen unter der Vorstellung von Zeit und Raum, und in kausalen Verbindungen, undurchbrechlichen Relationen. Zeit und Raum bedingen Nacheinander und Nebeneinander, also die Vielfalt der Erscheinungen; sie sind darum das principium individuationis, Grund des Einzelnen. Schopenhauer schrieb 1813 „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“. Unberührt von den Stürmen dieses Befreiungsjahres schrieb er im Hotel „Ritter“ in Rudolstadt diese Abhandlung als Grundlegung seiner Erkenntniskritik, ja seiner ganzen Philosophie. Der Satz vom Grunde (principium rationis sufficientis, Satz vom zureichenden Grunde) besagt: „Nichts ist ohne Grund warum es sei“. Für alles Bestehende stellt der Satz des Grundes einen Grund fest, aus dem es rechtmäßigerweise abgeleitet oder gefolgert werden kann. In allen seinen Gestalten ist der Satz vom Grunde das alleinige Prinzip und der alleinige Träger aller und jeder Notwendigkeit. „Die Notwendigkeit kommt also nicht dem Dinge an sich zu, sondern der Vorstellung. Nur Notwendiges kann vorgestellt werden.“ Der Satz, daß nichts ist ohne zureichenden Grund seines Seins, wurzelt in folgenden 4 Bereichen: 1) den anschaulichen empirischen Vorstellungen; 2) den Begriffen, also abstrakten Vorstellungen; 3) der a priori gegebenen Anschauung von Raum und Zeit (die also für Schopenhauer nicht absolut sind); 4) im menschlichen Willen, der, innerhalb der Erscheinungswelt, streng kausal unter der Wirkung der Motive handelt. Eine jede Handlung ist die unausbleibliche Folge des Zusammentreffens eines Motivs mit einem bestimmten Willen. Der Intellekt also baut die ganze Vorstellungswelt auf. Sie ist an die Vergänglichkeit des Subjekts gebunden. Über das eigentlich Seiende, das Unveränderliche, Ungeteilte, Unbedingte, Freie sagt sie nichts. Bis dahin glaubte Schopenhauer mit Kant einig zu sein. Nun aber machte er die Entdeckung des Dinges an sich, und zwar in seinem eigenen Wollen. Ein jeder hat die Erfahrung, die Erkenntnis seines eigenen Wollens. Sie ist unmittelbare Realität, nicht Anschauung, nicht leere Form, nicht als Gesetz der Vorstellung a priori gegeben. Der Wille ist das unmittelbar Bekannte; und von ihm ausgehend – nicht umgekehrt – ist der Weg zu suchen zum mittelbar Bekannten, der in der Vorstellung erscheinenden Körperwelt. Der Wille ist der „Schlüssel zu allem Andern“, die „enge Pforte zur Wahrheit“. Die ganze vom Intellekt aufgebaute Welt ist Objektivierung des Willens in ihm. Das ist die kühne Verknotung höchst verschiedener Erfahrungen, Schopenhauers einziger Gedanke, absurd für die Einen, genial für die Anderen, vielleicht eine geniale Absurdität. Diese Verknotung ist nicht zu erklären: er verzichtet darauf. Sie ist eben der „Weltknoten“, die Tatsache, die angenommen werden muß. Nach Schopenhauer ist der Wille das Seiende, unabhängig von Raum, Zeit, Kausalität, jeglicher Relation. Er ist das Wesen des Subjekts und der Welt, in der und mit der wir sind. Der Wille hat den Intellekt als sein Instrument geschaffen, aufnehmendes, vergängliches, dem principium individuationis (als dem Grund des Einzelnen) unterworfenes Bewußtsein – während der Wille unsterblich ist und, als Absolutum, unteilbar, das unauslöschliche Feuer, in das alle Erscheinungen zurückstürzen; aus dem neue in Ewigkeit aufsteigen werden. Die Individuen sind für den Willen nichts. Innerhalb der Erscheinungswelt zerteilt er sich in sie ohne Unterlaß, opfert er sie rücksichtslos. Tod ist ja nicht Tod, ist nur eine Phase sich fortgebärenden, unersättlichen Lebens.

Unglücklich war das Leben des Philosophen Sören Kierkegaard (1813-1855), und wohl auch deshalb darf man gerade ihn einen Existenzphilosophen nennen. Wie später Nietzsche, vermochte er es nicht, „ein Mädchen glücklich zu machen“. Das schrieb er 1841 an seine Braut Regine Olsen und löste damit die Verlobung. Im selben Jahr war er Hörer Schellings; wandte sich später jedoch schroff gegen ihn und Hegel und bekämpfte die Unangemessenheit der Philosophie als reiner Theorie des absoluten Geistes zur existierenden Wirklichkeit und zur wirklichen Existenz des Menschen. Kierkegaards einziger Gegenstand war sein Leben, seine Existenz. Seine Philosophie ist Autobiographie – wie bei Nietzsche auch. Kierkegaard war der Meinung, daß man auch durch eine lebenslange Beschäftigung mit Logik nicht selbst zur Logik wird, sondern man „existiert selbst in anderen Kategorien“. Kierkegaard unterschied drei Existenzweisen: die ästhetische, die ethische und die religiöse, je nachdem man nach Genuß strebe, oder unabhängig vom Äußeren nach moralischen Maßstäben lebe, oder im Glauben. – Später sollte Heidegger in seiner Existenzphilosophie solche Kategorien des Existierens „Existentiale“ nennen und sein Denken dann bereits „Hermeneutik“ des Daseins heißen. – Kiergegaard schrieb, daß der Denker, der vergißt, ein Existierender zu sein, den Versuch mache, mit dem Menschsein aufzuhören und selbst zu einem Buch oder einem objektiven Etwas zu werden. Das Dasein spottet dessen, der im Begriff ist, rein objektiv werden zu wollen. Die einzige Wirklichkeit, um die ein Existierender nicht bloß weiß, ist seine eigene Wirklichkeit, daß er da ist. Auch für Marx, Feuerbach und Stirner konnte die universalontologische Frage nach dem Sein nur in ihrer entschlossenen Konzentrierung auf die Frage nach dem menschlichen Dasein philosophisch sinnvoll sein. Das ist exakt der Grundvorgang und das Grundanliegen der Existenzphilosophie.

Die Anfänge der Soziologie als selbständiger Wissenschaft liegen im 19. Jh; ihr Begründer ist Auguste Comte (1798-1857), von dessen sechsbändigem „Cours de philosophie positive“ (1830-42) die drei letzten Bände die Soziologie enthalten. Von Comte stammt auch das Wort Soziologie. Er entwickelte auf der Basis seiner empiristischen, von ihm „positivistisch“ genannten Philosophie eine Soziologie als Naturwissenschaft. Danach ist Soziologie die Lehre vom menschlichen Gemeinschaftsleben als dem Inbegriff der Wechselwirkung der Individuen aufeinander. Von d‘ Alembert (1717-1783), dem ersten „Positivisten“ oder Hume (1711-1776), ebenfalls Vertreter des Positivismus, unterscheidet sich Comte durch das von ihm erstellte System des Positivismus. Comte verwarf jede Metaphysik. Er lehrte, daß der menschliche Geist in seiner Entwicklung drei Stadien zu durchlaufen habe (später sagte er, daß dazu noch eine „Religion der Menschheit“ nötig sei): das theologische, metaphysische und positivistische Stadium. (Vgl. rechts).
Comtes Gesetz gilt für die Vernunft wie für die Gesellschaftsentwicklung. Im ersten, theologischen Stadium werden alle Phänomene theologisch, also durch göttliche Mächte erklärt. Die Gesellschaft ist entsprechend theokratisch und kriegerisch organisiert. Im zweiten, metaphysischen Stadium werden alle Phänomene durch abstrakte Ideen und Ursachen erklärt, und die Gesellschaft ist durch einen juristischen Machtapparat organisiert. Im dritten, positiven Stadium gibt es nur noch erfahrungswissenschaftliche Erklärungen, auch für gesellschaftliche Phänomene. Exakte Prognosen sind möglich.
Kant (1724-1804)
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Kindesalter: Dogmatismus

Jünglingsalter: Skeptizismus

Mannesalter: Kritizismus

?

Comte (1798-1857)

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theologisch

metaphysisch

positivistisch

?
Hegel (1770-1831)
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Familie: Natur-Seele
(anthropologisch)
Gesellschaft: Bewußtsein
(phänomenologisch)

Staat: Identität
(geistig)

?

gläubig (-religiös)
(Urdenker)
religiös-theologisch
(Vordenker)
theologisch-philosophisch
(Frühdenker)
philosophisch-theologisch
(Hochdenker)
theologisch-religiös
(Spätdenker)
religiös-theologisch
(Vordenker)
Soziologie entsteht und mit ihr ein wohlgeordnetes Gesellschaftsleben. Später meinte Comte, dazu sei noch eine „Religion der Menschheit“ nötig, ein Kult des „großen Wesens“. Um den Fortschritt zu beschleunigen, bedarf es also zuletzt der Aktivierung der Gefühle durch eine allgemeine Menschheitsreligion, deren höchster Gegenstand die Menschheit selbst sein soll. Die Anliegen dieser Religion: Liebe als Prinzip, Ordnung als Grundlage, Fortschritt als Ziel. Tatsächlich fand Comte mit seiner dem Katholizismus sehr ähnlichen Religionslehre ziemlich großen Anklang. Seine Anhänger, also eigentlich „Wissenschafts-Gläubige“, verehrten Comte selbst als Heiligen.

– Kapitalismus (Thesis) –
– Diktatur des Proletariats (Antithesis) –
– Klassenlose Gesellschaft und gleiches Glück für alle (Synthesis) –
Wie Auguste Comte stellte sich auch Karl Marx (1818-1883) die Geschichte als einen in Stadien ablaufenden Prozeß vor. Dessen treibende Kraft sah er in der Selbstvergegenständlichung des Menschen durch Arbeit. Er übernahm von Hegel die Idee einer Entwicklung durch Entzweiung und Aufhebung der Entzweiung, oder durch Entäußerung und Vereinnahmung. Marx meinte im „Kapital I“ (1867), die Dialektik sei nichts Geistiges wie bei Hegel, sondern das Bewegungsprinzip des Materiellen, wobei der Geist dessen Widerspiegelung sei. Entfremdung und ihre Aufhebung sah Marx also als etwas Materielles, nämlich: Verlust der eigenen Vergegenständlichung, d.h. der Arbeitsprodukte als entfremdeter Arbeit, und Wiederaneignung, d.h. Genuß der Früchte der eigenen Arbeit. (Nicht nur deshalb muß man Sensualismus, Positivismus und Materialismus als zusammengehörig auffassen; ). Marx hatte dabei den eigenen Nachwuchs (lat. „proles“, Nachwuchs, Nachkomme, Sprößling) im Sinn, so daß sein Ökonomismus nicht weniger mystisch wurde als Hegels Dialektik, die Marx als mystisch apostrophierte, nämlch: sexual-mystisch. Die sexuelle Aneignung eigener sexueller Produkte zwecks sexueller Selbstfortpflanzung war Marx‘ Grundidee, sein Prinzip des menschlichen Gattungslebens. Auf Grund dieser Sexualmythologie unter der Parole „Genuß der Früchte der eigenen Arbeit“ konnte Marx‘ Philosophie so effektiv popularisiert werden.
„Es war die Stärke der marxistischen Doktrin, den idealistischen Elan … durch eine breite Schicht materialistischer und pragmatischer Argumente zu untermauern – und dies zu einer Zeit, als Materialismus und Pragmatismus im Begriff waren, zur Religion der Vernünftigen zu werden.“ (Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 197).
Mit seiner Verwandlung des Hegelschen Idealismus in einen Materialismus knüpfte Marx an die Religionskritik des ebenfalls positivistisch-materialistisch gestimmten Hegelianers Ludwig Feuerbach (1804-1872) an. (Vgl. Jung- bzw. Links-Hegelianer). Feuerbach erklärte in seinem Buch „Das Wesen des Christentums“ (1841), daß Gott nur der personifizierte Gattungsbegriff des Menschen sei, sein Wesen, sein Innerstes. Gott solle nicht im Jenseits, sondern im Diesseits gesucht werden: als der Mensch selbst, so wie er sich wünscht, zu sein. Der Mensch soll an sich selbst glauben, soll sich sein an den Himmel projiziertes Wesen wieder aneignen, die Selbstentfremdung aufheben im Sinne der Hegelschen Dialektik-Figur der Entzweiung und Wiedervereinigung oder Versöhnung. Feuerbach setzte also die Menschengattung an die Stelle Gottes. Er forderte, daß sich die Philosophie ins menschliche Elend zu begeben habe, um den Menschen aus dem Morast, in dem er versunken ist, herauszuziehen. Die Religion als Gottesglaube sei Ausdruck dieses Elends, sei – wie Marx und Engels (1820-1895) dann auch meinten – „Opium des Volkes“. „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks, schrieb Marx im Sinne Feuerbachs. Feuerbach sah, wie Marx auch, den Grund des Elends im Geschlechterverhältnis. Feuerbach forderte die Aufnahme der Frau „in die Gemeinschaft des Geistes“, denn sie sei das „lebendige Kompendium der Moralphilosophie“. Er forderte die Aufnahme des Weiblichen in die Wesensbestimmung des Menschen oder in das Göttliche. (Vgl. Feminismus und seine Berufung auf Feuerbach).
Marx wünschte die Rückkehr zu einem natürlichen (nach Rousseau: gutartigen) Geschlechterverhältnis durch die Auflösung der kapitalistischen, Waren produzierenden Gesellschaft. Für diese sei nämlich die Frau der Prototyp der Ware, weshalb Marx und Engels in ihrem „Kommunisischen Manifest“, das 1844-47 verfaßt und 1848 veröffentlicht wurde, diese Gesellschaft als die der Prostitution bezeichneten. Der Kommunismus schaffe den Frauentausch ab. Für Marx selbst bedeutete das, auch den Wegtausch des weiblichen Nachwuchses (lat. „proles“, Nachwuchs, Nachkomme, Sprößling), wie er dem Inzesttabu entspricht und wie er bislang überall Prinzip der Gesellschaft war, aufzugeben und eine neue Art von Gesellschaft zu bilden. Der Kommunismus schafft die Entfremdung der Arbeit ab, so heißt es. Was das eigentlich bedeutet, zeigen Marx‘ Ausführungen im „Kapital I“ (1867). Prototyp der entfremdeten Arbeit sei, so Marx immer wieder, die „geronnene“ Verausgabung der Begattungskraft, die „Gallerte“ oder die „schleimige Masse“ unnützen Spermas. Die Wiedergewinnung des Menschen solle durch die proletarische Revolution erfolgen, in der die gesamte Gesellschaft zunächst aufgelöst und dann durch nicht entfremdete Arbeit neu geschaffen werde. In der Aufhebung des Proletariats und Bildung des neuen Menschen verwirkliche sich die Philosophie, so Marx, aber: „Das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ (Karl Marx, Kapital I, 1867). Später sollte sich in der marxistischen Philosophie (besonders in der Sowjetunion) das Schicksal der mittelalterlich-scholastischen Philosophie, die sich der Religion fügen mußte, in gewisser Weise wiederholen: Philosophie oder Vernunft sollte sich dann dem Glauben an das kommunistische Evangelium fügen: die Verlautbarungen von Marx und Engels. (Vgl. Vordenker und Frühdenker).
Marx machte also Hegels Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“ zum Angelpunkt seiner gegen alle bisherige Überlieferung und Kultur gerichtete Kritik, dabei unbestreitbare Mißstände kapitalistischer und klerikaler Art zur Stützung seiner Auffassung verwendend. Für ihn war der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis entfernt, eine reine scholastische Frage, weshalb er eine umwälzende, die Welt verändernde Praxis forderte. Marx deutete die Geschichte und Zukunft also nach Hegels dialektischer Methode, die er zu seinen „Dialektischen Gesetzen“ umdeutete. Nach Marx liegt die Macht beim Interpreten; aber wer ist der richtige Interpret, wenn die Menschen die Welt immer nur falsch gedeutet haben und es darauf ankommt, sie zu verändern? War Marx ein Bote des neuen Gottes, eines kategorischen Interpretativs? War er selbst der neue Gottvater? Öffentlich vertrat er zwar nicht, wie z.B. Stirner (1806-1856) mit seinem Nihilismus, eine radikale existentialistische Ich-Philosophie, aber ähnliche nihilistische Gedanken dürften bei ihm als einzigen Deuter schon mit im Spiel gewesen sein. Vielleicht sogar gerade in den Augenblicken seines unaufhörlichen Kampfes gegen Stirner? Waren Marx und Stirner nicht in Wirklichkeit zwei Seiten derselben linkshegelianischen Schallplatte (Münze), die sich um die A-Seite stritten, weil es für sie nur diese eine Seite gab? War nicht gerade Marx ein besonders Einseitiger, wenn er die andere Seite nur deshalb hörte, um sie sogleich ins Nichts zu befördern? Interessierte sich Marx für andere Interpretationen und andere Interpretatoren nur, um sie gefügig oder lächerlich machen zu können? War nicht sogar sein Freund Engels in seiner Eigenschaft als Geldgeber gefügig? Natürlich wollte Marx, daß die Welt nur im Sinne seiner Interpretation der Welt, wonach der Kapitalismus ihr Untergang ist, verändert werden soll. Für Marx durfte nur Marx der Erlöser der Welt sein, nur seine Interpretation der Welt durfte die einzige Möglichkeit zur Überwindung des Elends sein. Der Marxismus war und ist die Ich-Philosophie für Ohnmächtige, für Sprößlingstyrannen (Prolesdiktatoren). Erst durch die Bewußtwerdung der marxistischen Interpretation kann also ein solches Sein auch das Bewußtsein bestimmen (falls das Design paßt). So gesehen lag nicht der Schüler Marx, sondern sein Lehrer Hegel richtig. War es nicht so, daß Marx sich nur selbst überwinden wollte? Waren und sind die Marxisten nicht ihr gemeintes Gegenteil? Ist auch der marxistische, d.h. der historische Materialismus lediglich Teil des Sensualismus (Condillac u.a.) und des Positivismus (d’Alembert u.a.) oder nicht doch viel eher des Hegelianismus, der von Marx nur aus Eifersucht auf den Kopf gestellt wurde? ().? War Marx nur deshalb ein Vertreter des Nihilismus, weil er die Arbeit sterben sah? Sollte oder wird das „Kommunistische Manifest“ (1848) eine „neue Bibel“ werden? Das eine der neuesten 2 Testamente?

„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volks ist die Forderung seines wirklichen Glücks. … Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht , nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist , die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1844).

Der Marxismus strebte mit seiner Neu-Theologie eine Neu-Religion an. (). Aus der „Ersten Welt“ kommend, sollte sein neu-theologisches System später auf ganz feudale Art die „Zweite Welt“ beherrschen, dabei zumindest auch die „Dritte Welt“ missionierend. Auch in der Antike war die Pseudomorphose zunächst von West nach Ost und erst Jahrhunderte später in umgekehrter Richtung verlaufen. Aber es war keine andere als die antike Kultur selbst, die diesen pseudomorphen Synkretismus eingeleitet hatte, ihn aber später nicht mehr überlebte. (). Wird es dem Abendland ähnlich ergehen? Wird der Marxismus, diese von West nach Ost gezogene Unterart des Romantik-Idealismus, in der Zukunft noch eine Chance haben? Wird der Marxismus dies als Ganzes schaffen oder nur als ein Teil, in seinem Überbegriff „Linker Hegelianismus“ eingebettet, d.h. als Teil eines Teils des Hegelianismus? Wird ein wie auch immer gearteter Hegelianismus oder wird eher ein Kantianismus oder werden beide, und zwar als Neu- oder Neu-Neu-Idealismmus, zu einer sowieso kommenden Neu-Religion?

Oder wird doch eher ein ethischer Sozialismus (), gar als ein Soziologismus, die neue Religion?
Sie würde den Glauben jedenfalls noch stärker als jetzt an die (Sozial-) Wissenschaft binden.

Seit Ende des 18. Jahrhunderts, spätestens aber seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist „Dekadenz“ bei den Kulturhistorikern „ein ›geschichtlicher Perspektivbegriff‹, der zur Bezeichnung eines Gesamtprozesses des sozialen oder kulturellen ›Niedergangs‹ einer Kultur dient. … Im Unterschied zur ›optimistischen‹ Fortschrittsgeschichtsschreibung wird die Dekadenzhistorie z.T. als die ›pessimistische‹ Schule der Historiographie bezeichnet. Wo es für die einen immerzu ›vorwärts‹ und gleichzeitig ›aufwärts‹ geht, geht es für die anderen ›abwärts‹, allerdings nicht unbedingt ›rückwärts‹, im Gegenteil: der ›Niedergang‹ wird als Abfall von einem Zustand höherer Kultur interpretiert, der meist in die Vergangenheit verlegt wird. Die meisten Dekadenzhistoriker treffen sich mit den Fortschrittshistorikern in der Vorstellung eines ›gesetzmäßigen‹ und irreversiblen Ablaufs der Geschichte, den sie freilich unterschiedlich ›bewerten‹. Es ist trotzdem zweifelhaft, ob man den Begriff der Dekadenz generell als ›Gegenbegriff‹ zu ›Fortschritt‹ bezeichnen kann. Im Unterschied zum Fortschrittsparadigma wird nämlich im Dekadenzbegriff die ›Altersmetaphorik‹ nicht ›denaturalisiert‹. Auch die Dekadenztheoretiker der Nachaufklärung knüpfen bewußt an die lebensweltlichen Erfahrungen des ›Alterns‹ und der ›Vergänglichkeit‹ alles Irdischen an. Die Folge ist, daß sie das ›Ende‹ der ›Welt‹ oder einer ›Kultur‹, im Unterschied zu den klassischen Fortschrittshistorikern, nicht in eine unendliche, offene Zukunft verschieben. Das Ende bleibt endllich. Wie im Kosmos oder in der ›Natur‹ dieselben Ereignisse nach einem festen Gesetz stets in derselben ›Reihenfolge‹ ablaufen, so auch in der ›Geschichte‹. … Da die ›komparatistischen‹ Dekadenzhistoriker die ›bessere Zeit‹ (›Goldenes Zeitalter‹, ›Zeit der Götter‹, ›Klassik‹ u.s.w.) immer in der Vergangenheit suchen, gerät aus ihrer Sicht eher ›der Fortschritt‹ in den Verdacht der Dekadenz als der ›Rückschritt‹. Bei den Zyklentheoretikern unter ihnen fällt die ›fortschrittliche‹ Entwicklung allerdings insofern mit einem ›Rückschritt‹ zusammen, als sie die einmal erreichte ›Bestform‹ hinter sich läßt; dieser ›Rückschritt‹ kann jedoch auch als ›Fortschritt‹ verstanden werden, weil er im Zyklus der Wiederkehr die Voraussetzung für einen neuen Anfang ist.“ (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler, Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 229-230). So schreiten also die Menschheit aus der Barbarei der ›Wilden‹ durch die an sich verschiedenen, aber miteinander vergleichbaren, weil analogen Phasen der Kultur und Zivilisation vorwärts in die „Barbarei der Reflexion“, die zugleich der Höhepunkt des „Fortschritts“ und der Tiefpunkt seiner „Dekadenz“ ist. Hier wird die ewige Wiederkehr der Barbarei zur Garantie.
„Die Vorstellung eines linearen Prozesses, der endlos in dieselbe Richtung läuft, ist selbst denjenigen Dekadenztheoretikern fremd, die die Geschichte als ›Entwicklung‹ begreifen.. Irgendwann kommt immer ein Punkt, wo die ›Entwicklung‹ abbricht oder eine Wende vollzieht. Wo die ›Dekadenz‹ als progressive Paralyse verstanden wird, steht am Ende der Tod … Niemand dat je im Ernst die Ansicht von einer unendlichen Steigerung der Dekadenz vertreten. Im Unterschied zu den Fortschrittsphilosophen der Aufklärung setzen ihre ›Gegner‹ immer stillschweigend voraus, daß der Verfall seine Grenzen hat. Einmal ist Schluß. Was man bei den Dekadenztheoretikern der Vergangenheit vergeblich sucht, ist die Einsicht in die Partikularität und Relativität des Niedergangs. Es ist immer gleich die ganze Kultur, die ihrem Ende entgegentreibt.“ (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler, Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 230). In einigen Bereichen geht es während des Untergangs tatsächlich eher aufwärts, jedenfalls sehr blühend zu, weshalb dennoch (oder: gerade deswegen) die ganze Kultur untergehen kann. Deshalb gibt es für Kultur ja auch zwei Begriffe: Kultur und Zivilisation. Beide haben „Aufs“ und „Abs“. Beide sind Teil einer Gemeinsamkeit (Gemeinschaft), die – „oberbegrifflich“ – Kultur genannt wird.

Was Alexander der Große und Napoleon auf politischer Seite sind, das sind Euklids Parallelenaxiom und Gauß‘ nicht-euklidische Geometrie auf geistiger Seite, denn sie vertreten das jeweilige Ursymbol auf zivilgeistiger Ebene. Sie repräsentieren das jeweilige erwachsene, zivile Ursymbol am ehesten, weil sie es aus der rein kulturellen in die Ebene der Zivilisation brachten und durch die Ehe mit einer anderen Kultur transferierten. Sie haben die antike begrenzte Körperlichkeit bzw. den abendländischen unbegrenzten Endlosraum der geistigen Nachwelt erst verdeutlicht, Euklid auf typisch antik-populäre Weise, Gauß auf typisch abendländisch-esoterische Weise, denn er veröffentlichte seine nicht-euklidischen Erkenntnisse nicht; seine Ergebnisse waren offenbar für ihn selbst bestimmt. Er hat dreißig Jahre lang seine Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrie verschwiegen, weil er das Geschrei der Böoter fürchtete (). Die Antike nannte sich schließlich seit ihrer Ehe mit dem Osten hellenistisch, das Abendland seit seiner europäisch. Neben der politischen gab es also auch eine geistige Heirat – durch Euklid mit antik-hellenistischem Geist um 312 v. Chr. und mit Gauß und abendländisch-europäischem Geist um 1800. Vielleicht ist ein geistiger Napoleonismus (Alexandrinismus) immer auch die ideale, idealistisch-romantische Version einer Heirat mit gutem Geschmack.
Ein Kontinuum ist bekanntlich das stetig sich Ausdehnende. In der Physik gelangte die Theorie vom vierdimensionalen oder Riemannschen Kontinuum, nach dem Begründer Bernhard Riemann (1826-1866) benannt, zu großer Bedeutung. Diese Theorie faßte die drei Dimensionen des Raumes und die eine Dimesion der Zeit zu einem formalmathematischen Gebilde von vier Dimensionen zusammen. Nach Gauß (1777-1855), der als bedeutendster Mathematiker aller Zeiten gilt, schon 1801 das grundlegende Werk der modernen Zahlentheorie abgeliefert hatte und noch zu Lebzeiten als Princeps mathematicorum bezeichnet wurde, war Riemann der zweitbedeutendste Mathematiker (zumindest im 19. Jahrhundert). Er entwickelte bereits in seiner Dissertation die Funktionentheorie, und in seinem Habitilationsvortrag von 1854 das begriffliche Fundament für das moderne mathematische Verständnis der Struktur des Raumes, das später besonders in der Relativitätstheorie Bedeutung erlangen sollte. Während also schon damals, im 19. Jahrhundert, die mathematisch-naturwissenschaftliche Denker das Vorhandensein eines Kontinuums des Zusammenhangs in allem Geschehen, dem geistigen und dem materiellen, behaupteten, wurde ein solches Kontinuum von nicht wenigen philosophisch-anthropologischen Denkern, vor allem von Kierkegaard, als reine Abstraktion aufgefaßt.

Hohes Spätdenken
Totalnihilismus als Hochmodernistik oder Hochnihilismus als Hochmodernistik?
Der Nihilismius ist der Standpunkt der absoluten Negation und wurde als Terminus schon von Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) in seinem „Sendschreiben an Fichte“ (1799) eingeführt. Der theoretische Nihilismus verneint die Möglichkeit einer Erkenntnis der Wahrheit (wie der Agnostizismus die Erkennbarkeit des wahren Seins), der ethische die Werte und Normen des Handelns, der politische jede irgendwie geartete Gesellschaftsordnung. Vielfach ist der Nihilismus nur ein radikaler Skeptizismus, z.B. bei Schopenhauer (1788-1860), Nietzsche (1844-1900) u.a.. Man muß sich nur bestimmte Namen (z.B. Platon, Aristoteles, Kant, Hegel, Goethe u.s.w.) in Erinnerung rufen, um festzustellen, daß es natürlich kein Zufall ist, wenn der Nihilismus in allen Kulturen in der Phase des Idealismus entsteht. Er stellt eine Reaktion auf die klassische (auch „klassizistisch“ genannte), auf die („napoleonisch“) unumschränkt herrschende idealistische Allmacht dar. Er entwickelt sich also als unmittelbare Folge auf den Idealismus und erreicht seinen Höhepunkt – eher sollte man von „Tiefpunkt“ sprechen -, wenn die „Klassiker“ endgültig von der Bühne abgetreten sind und sich das Gefühl durchsetzt, daß die obersten Werte sich entwerten, jene Werte, die allem Tun und Leiden der Menschen erst Sinn geben, daß es nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben oder zu sterben lohnt, daß das Bewußtsein aufkommt, es sei alles umsonst. Alles, was ist, auch das menschliche Erkennen, ist ab jetzt Erscheinungsform des Willens zur Macht; hier gibt es kein absolutes Sein mehr, denn Sein ist ab jetzt Werden, aber kein endloses Neuwerden, sondern „ewige Wiederkehr“ dessen, was schon unendlich oft dagewesen ist. „Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht“. (Nietzsche). So sehr Wahres in Nietzsches Aussagen steckt, so sehr sind bestimmte spätere Folgen, die sich daraus für Menschen ergeben können, als ein wohl kaum noch zu therapierendes Symptom zu bezeichnen, das sich in einer „180°-Drehung“ (vgl. Negation der Negation, Hegel) und schließlich in einer absoluten Selbst-Negation ausdrücken kann. Überwinden sollte Nietzsches „Sei du selbst“ () den „Scheinmenschen“, den Heidegger (1889-1976) später als „Man“ bezeichnete, aber nach dem alles entscheidenden Weltmachtskrieg gab es besonders auf der Seite der Kriegsverlierer einen Seitenwechsel, durch den das „Sei du selbst“ zwar noch nicht aufgehoben, aber bereits neo-nihilistisch relativiert wurde zu einem „Sei du selbst der alliierte Sieger“ (auch als Verlierer!?). Später, im „Postnihilismus“ gelang die „180°-Drehung“ mit dem Slogan „Sei du selbst der Fremde“ („Sei du selbst der Ausländer“). Also war man spätestens seit etwa 1968 Sieger statt Verlierer und später auch Nicht-Deutscher statt Deutscher, Ausländer(In) statt Inländer(In). Man war immer nur der gute Mensch, zwar ein selbstbewußtloser, aber gut. „Und das ist auch gut so“, wurde zu einer ernst gemeinten Rechtfertigung der völlig Verunsicherten. Die Tatsachen wurden verdreht, man machte die ältere Generation einfach zum Buhmann, die entweder abzutreibende oder abzuschreibende jüngste Generation zum Scheidungsproblem und wähnte sich dennoch als der ewig gute, stets moralisch die Grundstellung einnehmende Missionar. Ohne Geschichte wirklich (!) zu bedenken, bestand die nach dem 2. Weltkrieg erfolgte „Geschichtsverarbeitung“ also darin, sich selbst zu verleugnen. Heute ist es nicht mehr nur die elterliche Herkunft, sondern sogar die eigene Sprache, die verleugnet wird: „Wir können alles, außer Hochdeutsch“ (!). Hochdeutsch entwickelte sich primär aus dem Oberdeutschen (Alemannisch, Bairisch). (Vgl. DEUTSCH: AHD, Früh-MHD, Klassisches MHD, Spät-MHD, Früh-NHD, Klassisches NHD, Hochklassik des NHD und Spät-NHD).
Geschichtlichkeit ist eines der wesentlichen Erkennungsmerkmale des Abendlandes, und genau deswegen waren schon die ersten abendländischen Nihilisten dazu verdammt, die eigene Geschichte ganz aktiv zu verdrängen oder sie als abschreckendes Beispiel ganz dynamisch auf die Zukunft zu projizieren: „Der faustische Nihilist, Ibsen wie Nietzsche, Marx wie Wagner, zertrümmert die Ideale“, der apollinische, Epikur wie Antisthenes und Zenon, läßt sie vor seinen Augen zerfallen; der indische zieht sich vor ihnen in sich selbst zurück“. (Oswald Spengler, 1917 S. 456).
Vermutlich kam Oswald Spengler (1880-1936) besonders durch Friedrich Nietzsche (1844-1900) zu der Erkenntnis, wie sehr das Abendland sich seiner Kulturkleider bereits zu seiner Zeit entledigt hatte, um zu Bett zu gehen. Wenn der Kulturherbst die meisten Blätter bereits von den Bäumen geblasen hat, dann ist an den halbnackt dastehenden Bäumen, nimmt man sie als Metapher, der Kulturabbau besser zu erkennen als z.B. im immergrünen und trotzdem bereits abbauenden Sommer, der, so gesehen, vom Frühling profitiert (wie die Hochdenker von den Frühdenkern). Die ersten, noch winterlichen Gewächse (z.B. die Germanenreiche), die ersten Blüten im Frühling (z.B. das fränkische und sächsische Reich) und die hellgrün leuchtenden Bäume im Frühling (z.B. das salische und staufische Reich): sie stehen für den Kulturaufbau. Deshalb ist die Gotik und sind die gotischen Kalhedralen der Inbegriff für den Abschluß des Kulturaufbaus, der kulturelle Sommer aber der Inbegriff für dessen Fortsetzung als stolzes Beharren und Verteidigen (ganz im Sinne der Gegenreformation und des Barock) – mit dem absolutistisch-barocken Höhepunkt im Hochsommer (wie sollte es auch anders sein). Aber zur der Zeit, als Nietzsche und Spengler lebten und der kulturelle Herbst wie ein nahender Untergang am stärksten zu spüren war, da war selbstverständlich auch der Nihilismus am stärksten. Daß er heute nicht mehr so stark bzw. modifiziert ist, ändert nichts an der Tatsache, daß sich der Untergang weiter fortsetzt, denn ab jetzt ist es nicht mehr der Nihilismus selbst, sondern sind es seine Folgen, die diesen Prozeß mit gleicher Geschwindigkeit oder gar mit Beschleunigung vorantreiben, wie später z.B. die rapide Zunahme von Kinderlosigkeit und Kinderfeindlichkeit beweisen sollte.

Die von Arthur Schopenhauer (1788-1860) entwickelte willensmetaphysische Lebensphilosophie wurde nicht nur zur Modephilosophie des 19. Jahrhunderts, sondern auch ein ernster Wegbereiter für Nachfolgerund Nachahmer. (). Bereits Kierkegaard mit seinem Existenz-Subjektivismus, dann Nietzsche und Spengler, später die Existenzphilosophen Heidegger, Jaspers und Sartre, um nur einige Beispiele zu nennen, blieben dieser ersten abendländischen Lebensphilosophie, diesem Skeptizismus treu. Ob auch Sloterdijk dieser Richtung folgten oder sogar eine abendländische neu-akademische Skepsis begründen wird, ist noch nicht abzusehen, denn er gehört unserer Gegenwart an und ist noch jung. Jedenfalls wird die internationale „Schopenhauer-Gesellschaft“ wohl auch in Zukunft eine Schule von Dauer bleiben, denn ebenso verhielt es sich in der Antike mit der Weiterentwicklung des Pyrrhonismus (Pyrrhons Skeptizismus). Einer der Schopenhauer-Anhänger, der Nietzsche-Freund Paul Deussen, (1845-1919) und die beiden Schüler Gwinner und Kohler, gründeten am 30.11.1911 jene internationale Gesellschaft mit dem Ziel, „das Studium und das Verständnis der Schopenhauerschen Philosophie zu fördern“. Diesem Ziel dienen natürlich noch heute das Schopenhauer-Archiv, als Zentralstelle der Schopenhauer-Forschung, die seit 1912 erscheinenden Jahrbücher der Gesellschaft und ihre internationalen „wissenschaftlichen“ Tagungen. Paul Deussen war auch Übersetzer und Darsteller der indischen Philosophie, deren Gedanken er mit der Philosophie Schopenhauers zu einer Metaphysik vereinigte.
Friedrich Nietzsche (1844-1900) war von Schopenhauers Willensmetaphysik und vom Kampf-ums-Dasein-Prinzip seiner Zeit stark beeinflußt. Der „Kampf ums Dasein“ stammt also ursprünglich von Schopenhauer und nicht von Darwin, der Schopenhauer nur kopierte – 40 Jahre später (!). Daß ihm Schopenhauer nicht nur ein Lehrer, sondern vor allem ein Erzieher gewesen ist, betonte Nietzsche in seiner 1867 verfaßten Abhandlung über Schopenhauer deutlich und mit Nachdruck. Trotzdem kommt man nie auf Nietzsches Resultat. Sein „Zarathustra“ (1883) ist vielleicht der romantisch verkleidete „Wille zur Macht“. Nietzsche nannte sein bekanntestes Werk nach Zarathustra (7. / 6. Jh. v. Chr.), weil dieser „im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge“ gesehen habe. (). Da Nietzsche für sein eigentliches Hauptwerk mit dem Titel „Der Wille zur Macht – Versuch einer Umwertung aller Werte“ nur Notizen und Aphorismen hinterließ, gab seine Schwester Elisabeth dieses Material als Buch unter dem Titel „Der Wille zur Macht“ heraus. Nietzsches Wort Nihilismus bedeutet die Erscheinung, daß die obersten Werte sich entwerten, jene Werte, die allem Tun und Leiden der Menschen erst Sinn geben, daß es nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben oder zu sterben lohnte, daß das Bewußtsein aufkommt, es sei alles umsonst. Von Schopenhauer und Darwin ausgehend, wollte Nietzsche den neuen Menschen, den Übermenschen schaffen, dessen Aufgabe es sein sollte, alles Verlogene, Krankhafte, Lebensfeindliche zu vernichten. (). Seine Philosophie sollte an die Stelle eines philosophischen Nihilismus treten, den er herannahen sah. Nietzsches metaphysische These läuft auf den Willen zur Macht und auf eine Schicksalhaftigkeit hinaus. Alles, was ist, auch das menschliche Erkennen, ist Erscheinungsform des Willens zur Macht; es gibt kein absolutes Sein, sondern Sein ist Werden, aber kein endloses Neuwerden, sondern „ewige Wiederkehr“ dessen, was schon unendlich oft dagewesen ist. „Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht“. Nietzsches Bedeutung liegt aber nicht in der Metaphysik, sondern in dem Beitrag, den er für die Bekämpfung des spekulativen Denkens und vor allem für die Einbeziehung des Denkens in das Leben geleistet hat. „Der Denker auf der Bühne“ heißt er bei Sloterdijk (*1947). Nietzsche lehrt einen Amor fati: „Schicksal, ich folge dir freiwillig, denn täte ich es nicht, so müßte ich es ja doch unter Tränen tun“. (Vgl. Macht & Schicksal). Die Botschaft an die nächsten Erben der Lebensphilosophie:

„Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören,
gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft:
»sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst.«
(Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 6)

Dieser „öffentlich meinende Scheinmensch“ läßt sich als Vorwegnahme des „Man“ bei Heidegger (1889-1976) deuten – laut Heidegger wird das Dasein in der Öffentlichkeit in der Regel vom „Man“ beherrscht: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst“; und „die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus“. Die Öffentlichkeit ist also etwas ganz anderes als die Offenheit, das Offene („Lichtung“). Die Öffentlichkeit ist das Gegenteil zur „Eigentlichkeit“. (). Es besteht also eine Linie von Schopenhauers Lebensphilosophie (), dem „Analogon“ zu Pyrrhons Skeptizismus, über Nietzsche und Heidegger zu Sloterdijk und einigen Zukünftigen. Es besteht Einigkeit darüber, daß Nietzsche, dieser freie Hyperbel-Kritiker (= Skeptiker), ein sprachschöperischer Schriftsteller hohen Ranges, daß er einer der bedeutendsten Aphoristiker und Essayisten und daß er ein Dichter war. Das Verständnis seiner Philosophie ist allerdings erschwert durch die sophistische Form, in der er sie vorträgt. Er war ein großer Bühnendenker. – Also sprach Friedrich:
– „Zarathustra’s Vorrede“ (S. 6) –
„»Ich muss, gleich dir, u n t e r g e h e n , wie es die Menschen nennen, zu denen ich hinab will.
.…
Siehe ! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden.«
– Also begann Zarathustra’s Untergang.“

– „Zarathustra’s Vorrede“ (S. 8) –
„»Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem
Walde noch Nichts davon gebört, dass G o t t t o d t ist!«“

– „Zarathustra’s Vorrede“ (S. 8) –
„I c h l e h r e e u c h d e n Ü b e r m e n s c h e n . Der Mensch ist
Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?
Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser
grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?
Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas
soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham:
Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm.
Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe.
Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze
und von Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen!
Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!“

– „Zarathustra’s Vorrede“ (S. 13-14) –
„Seht! Ich zeige euch den l e t z t e n M e n s c h e n .
Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht?
Was ist Stern? – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.
Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte
Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar,
wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.
»Wir haben das Glück erfunden« –
sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben;
denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar
und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.
Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht
achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine und Menschen stolpert!
Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume.
Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung.
Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.
Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich.
Wer will noch regieren ? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.
Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche.
Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.
»Ehemals war alle Welt irre« –
sagen die Feinsten und blinzeln.
Man ist klug und weiß Alles, was geschehn ist:
so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch;
aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen.
Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen
für die Nacht, aber man ehrt die Gesundheit.
»Wir haben das Glück erfunden« –
sagen die letzten Menschen und blinzeln.“

– „Zarathustra’s Vorrede“ (S. 16) –
„»Nicht doch«, sprach Zarathustra, »du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht,
daran ist nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde:
dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.«“

– „Von den drei Verwandlungen“ (S. 25-27) –
„Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum
Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.
Vieles Schwere giebt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem
Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke.
Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder,
dem Kameele gleich, und will gut beladen sein.
….
Neue Werthe schaffen – das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit
sich schaffen zu neuem Schaffen – das vermag die Macht des Löwen.
Freiheit sich schaffen zu neuen Werthen und ein heiliges Nein auch
vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen.
….
Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel,
ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.
Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens:
s e i n e n Willen will nun der Geist, s e i n e Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“

– „Von der Nächstenliebe“ (S. 75) –
„Meine Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht:
ich rathe euch zur Fernsten-Liebe.“

– „Vom Wege des Schaffenden“ (S. 78)-
„Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber!
Und an dir selber führt dein Weg vorbei,
und an deinen sieben Teufeln!“

– „Von alten und jungen Weiblein“ (S. 82)-
„Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“

– „Von der schenkenden Tugend“ (S. 98) –
„»Todt sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe.«
– diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille! -“

– „Von den Priestern“ (S. 115) –
„Und noch von Grösseren, als alle Erlöser waren, müsst ihr, meine Brüder, erlöst werden,
wollt ihr zur Freiheit den Weg finden! Niemals noch gab es einen Übermenschen.
Nackt sah ich Beide, den grössten und den kleinsten Menschen: –
Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den Grössten fand ich – allzumenschlich!“

– „Von der Selbst-Ueberwindung“ (S. 145) –
„Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern … Wille zur Macht!“

– „Von der unbefleckten Erkenntnis (S. 153) –
„Wo ist Unschuld? Wo der Wille zur Zeugung ist.
Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen.
Wo ist die Schönheit ? Wo ich mit allem Willen wollen muss;
wo ich lieben und untergehn will, dass ein Bild nicht nur Bild bleibe.
Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten.
Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode.
Also rede ich zu euch Feiglingen!“

– „Vor Sonnen-Aufgang“ (S. 205) –
„Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre:
ȟber allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld,
der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth.«
….
Diesen Übermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte:
»bei Allem ist Eins unmöglich – Vernünftigkeit!«
Ein wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern, – dieser Sauerteig
ist allen Dingen eingemischt: um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt!
Ein wenig Weisheit ist schon möglich, aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen:
dass sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls – tanzen.“

– „Der Genesende“ (S. 268-269) –
„Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins.
Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins.
Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins.
Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.
In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort.
Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“

– Der Genesende (S. 273) –
„Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort:
so will es mein Loos -, als Verkünder gehe ich zu Grunde!
Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet.
Also – e n d e t Zarathustra’s Untergang.“

– „Die sieben Siegel“ („oder: Das Ja-und Amen-Lied“; S. 283-287) –
„Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und
nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, – dem Ring der Wiederkunft!
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte,
es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
D e n n i c h l i e b e d i c h , o h E w i g k e i t ! “
(Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883-1885)

„Gott ist tot“ und mit ihm „unsere ganze europäische Moral“, verkündet der „tolle Mensch“ in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft (1882). „Wir Philosophen und freien Geister fühlen uns bei der Nachricht, daß der alte Gott tot ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei.“ Im Jenseits von Gut und Böse (1886) schildert Nietzsche Jesu Martyrium als sein eigenes: „Das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, … das Liebe, Geliebtwerden und Nichts außerdem verlangte, mit Härte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren Ausbrüchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten. … Wer so fühlt, wer dergestalt um die Liebe weiß, sucht den Tod.“ Nietzsche preist in seinem Buch Morgenröte (1881) im Gegenstaz zu den bisherigen Werten des Wohlbefindens, der Wissbegier, des Friedens, des Mitleidens und der Arbeit die Grausamkeit, die Verstellung, die Rache, den Wahnsinn als Tugend. Denn das seien die ehemals geltenden, durch die spätere Kultur, besonders des Christentums, verdeckten und unterdrückten eigentlichen, beim früheren kriegerischen Menschen noch zu findenden Charaktere des Menschen, die den Menschen der Zukunft wieder auszeichnen sollten.

„Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer, – wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. »Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden«: das hat schon Pindar von uns gewusst. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes – u n s e r Leben, u n s e r Glück.« … Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn s o n s t? – Der moderne Mensch etwa? »Ich weiss nicht aus, noch ein; ich bin Alles, was nicht aus noch ein weiss« – seufzt der moderne Mensch … An d i e s e r Modernität waren wir krank, – am faulen Frieden, am feigen Comppromiss, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz … des Herzens, die Alles »verzeiht«, weil sie Alles »begreift«.“
(Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, 1889, S. 5).

„Ich kenne mein Loos, es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures
anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine
Entscheidung, heraufbeschworen g e g e n Alles, was bis dahin geglaubt und geheiligt war.
Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. – Und in alledem ist Nichts in mir von einem
Religionsstifter – …. Ich w i l l keine »Gläubigen«, ich denke, ich bin zu boshaft dazu,
um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen. …. Ich habe eine schreckliche
Angst davor, dass man mich eines Tages h e i l i g spricht: man wird errathen, weshalb
ich dies Buch v o r h e r herausgebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mir treibt. ….
Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. …. Vielleicht bin ich ein Hanswurst. ….
Und trotzdem oder vielmehr n i c h t trotzdem – denn es gab nichts Verlogeneres als Heilige –
redet aus mir die Wahrheit. – Aber meine Wahrheit ist f u r c h t b a r : denn man hiess bisher
die Lüge Wahrheit. – U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e : das ist meine Formel für einen
Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist.“
(Friedrich Nietzsche, Warum ich ein Schicksal bin, in: Ecce homo, 1889, S. 111).

„Nietzsche war der Chefdesigner des mächtigsten Mentalitätsstroms der Moderne: des Individualismus.“
(Peter Sloterdijk, 2000)

Zu der Zeit, als Nietzsche seine modernen Werke schrieb, waren z.B. das Telefon, die Mendelschen Gesetze, das Periodensystem der Elemente, der Viertakt-Motor, die Elektrolokomotive schon bekannt, die Mengentheorie, die Gruppentheorie, der Benzin-Motor, der Kraftwagen wurden gerade entwickelt, der Elektromagnetismus wurde gerade bewiesen, die Arktis intensiv erforscht, der Kinematograph nahezu vollendet, und auch Benzin- und Diesel-Motor sowie Röntgen-Strahlen wurden ebenfalls bekannt. (). Als Nietzsche 1900 starb, startete Graf Zeppelins erstes Luftschiff gen Himmel und Plancks Quantentheorie in die diskrete Natur (von Quanten und Chaos): die mikrophysikalischen Größen machten infolge Bestehens von Unschärferelation den prinzipiell nicht mehr zu vernachlässigenden Einfluß der Meßgeräte auf den Ausgang einer Messung an einem mikrophysikalischen System sowie den experimentell gesicherten Welle-Teilchen-Dualismus deutlich. Hier war man erstmals an die Grenzen der „klassischen Physik“ gestoßen und mußte sich auf die Wahrscheinlichkeit der Wahrscheinlichkeit einstellen. (). Ähnlich revolutionierend wirkten in der Antike um 250 v. Chr. Aristarchos (ca. 312-230) und Archimedes (285-212). Spengler nannte solche ähnlichen Entwicklungen, Phänomene und Personen „gleichzeitig“. (). Für ihn waren Pythagoräer und Puritaner, Polykrates und Wallenstein, Sokrates und Rousseau, Phidias und Mozart, Platon und Hegel, Stoiker und Sozialisten, Pergamon und Bayreuth genauso „gleichzeitig“ wie für mich Aristarch bzw. Archimedes und Planck oder Einstein bzw. Hahn oder Heisenberg. Sie und ihre Zeit stehen für die revolutionäre „Denkart“, die die traditionelle ihrer jeweiligen Kultur erschütterten: Aristarch und Archimedes, indem sie die statische Denkweise der Antike mehr in Richtung auf eine dynamische lenkten, Planck und Einstein (Hahn, Heisenberg u.a.), indem sie die dynamische Denkweise des Abendlandes relativierten. (). Diese Denkweisen zeigten die Grenzen der bis dahin gültigen wissenschaftlichen Denkweisen genauso auf wie die Nihilisten die bis dahin gültigen philosophischen, wobei es in der Antike um einen Ausbruch aus den geschlossenen Grenzen und im Abendland um einen Einbruch in die offenen Unbegrenztheiten ging. (). Und trotz dieser Erschütterungen behielten in den beiden Kulturen die alten Normen ihre Wertigkeit – jedenfalls wissenschaftlich: das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik (Galilei, Newton u.a. ) wurde durch ein zweites (Planck, Einstein u.a.) ergänzt, aber nicht ersetzt! In der Antike wurde die Folgelosigkeit der Erschütterung, d.h. ihre Unerschütterlichkeit (ataraxia), sogar besonders deutlich, weil z.B. das heliozentrische Weltbild des Aristarchos bald in Vergessenheit geriet. Das Entscheidende (und auch Unterscheidende) ist, daß es sich bei den Analogien nicht um „malerische“ Pendants oder anekdotische Spielereien handelt, sondern um ein schöpferisches Erfassen von Gestalten und Bildungen, in denen die tiefste und innerlichste Symbolik eines jeden Zeitalters sich ihren Ausdruck erzwungen hat. Nach Spengler sind Jugend, Reife, Verfall keine poetischen Floskeln, sondern biologische Formzustände, morphologische Tatsachen, mit denen er geradezu experimentierte. Sie sind geeignet, Vergangenheit zu enträtseln, Zukunft zu entschleiern:

„Der antike Skeptizismus ist ahistorisch: er zweifelt, indem er einfach nein sagt.
Der des Abendlandes muß, wenn er innere Notwendigkeit besitzen … soll, durch und durch historisch sein.“
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 63f.).

„Es besteht die Möglichkeit einer dritten und letzten Stufe
westeuropäischer Philosophie: die eines physiognomischen Skeptizismus.“
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 481).

Typische Züge des Skeptizismus sind das Mißtrauen gegen die Sinneswahrnehmnug, die überlieferten Denkgewohnheiten sowie gegen ethische und politische Wertvorstellungen und Vorurteile. Die völlige „Enthaltung“ (epoch) des Urteils, für die Pyrrhon sich so stark gemacht hatte, ließ natürlich nur noch aporetische Argumente zu, aber genauso ausweglos oder ratlos (aporetisch) stand man mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit da, den die mittlere, vor allem aber die neuere Akademie favorisierte. Da die Unerschütterlichkeit und Unverwirrtheit (ataraxia), die Pyrrhon als das praktisch-sittliche Ideal ansah, für die praktische Orientierung des Handelns gelten sollten, resultierte daraus, zusammen mit der theoretischen Orientierung des Denkens – der epoch – eine nur noch von den Indern zu übertreffende Gelassenheit. Während die abendländische Kultur die energischste Art einer Inhaltsdynamik ist, forderte die antike Kultur genau gegenüber dieser Art die Zurückhaltung. epoch geisterte durch alle Schriften der Antike und deshalb wahrscheinlich auch durch die gesamte Lebensart dieser statischen Kultur. Aber gerade diese Gegensätze erlauben es uns, unsere eigenen Fehler im Spiegel der Antike zu erkennen und von dieser verstorbenen Kultur zu lernen, denn ihre Geschichte ist uns ziemlich gut bekannt. Die Möglichkeit, von uns auf diese Weise zu lernen, hatte die Antike nicht. Die Analogien von Akademie und Idealismus einerseits sowie Skeptizismus und Lebensphilosophie andererseits lehren uns z.B. die in jeder zivilisierten Kultur notwendig werdende Skepsis, deren Höhepunkt (eher: Tiefpunkt) wir Abendländer noch vor uns haben. (Vgl. Beispiel).

„Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen und
endgültige Ergebnisse stets als vorläufige hinzustellen. …. Anders als der Kritizismus,
der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für
Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen.“
(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet – Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263, 273).
„In der Beängstigung und Verwirrung die plötzliche Ruhe im Gedanken an den Fötus, der man war.“
(Emile Cioran, De l’inconvénient d’être né, „Vom Nachteil geboren zu sein“, 1973, S. 20).
„In der Nachbarschaft dieser Sätze, die ausreichen würden, um Ciorans Stellung als
zweiter Patriarch des Eurobuddhismus zu festigen – der erste war Schopenhauer -,
schreibt der Autor eine Bemerkung nieder, von der es mir undenkbar erscheint,
daß sie nicht eines Tages als Axiom einer philosophischen Psychologie anerkannt würde.“
(Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, 1988, S. 107).
„Die ‚empirische‘ Psychologie hat das Unglück, nicht einmal ein Objekt im Sinne irgend einer
wissenschaftlichen Technik zu besitzen. Ihr Suchen und Lösen von Problemen ist ein Kampf
mit Schatten und Gespenstern. Was ist das – Seele ? Könnte der bloße Verstand
darauf eine Antwort geben, so wäre die Wissenschaft bereits überflüssig.“
(Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 381f.).

Vom Nihilismus abgesehen, entstanden in der Antike und im Abendland in dieser Phase der Krise keine wirklich neuen philosophischen Richtungen mehr. Die wichtigsten alten Schulen, insbesondere die der Klassik, wirkten weiter: Platonische Akademie, Aristotelischer Peripatos, Skeptizisten, Stoizisten, Epikuräer sowie Reste der noch älteren Richtungen wie die der Sokratiker, Kyniker und Kyrenäiker (Hedoniker), wobei die mittlere platonische Akademie eine mehr skeptische Richtung unter Arkesilaos (315-241) bekam. Er war von 270 bis 241 deren erster Vorsteher. (). Von Zenon (354-264), dem Begründer der Stoa, ging die Leitung der stoischen Schule 262 über auf seinen Schüler Kleanthes, der persönliches Ansehen genoß. Seinen Ausspruch „In ihm (Gott = Kosmos) leben, weben und sind wir“ sollte Paulus später in Athen zitieren. (). Nach Kleanthes‘ Tod (232) leitete Chrysippos die stoische Schule bis 208 (205). Er schuf eine Lehre von der periodischen Weltverbrennung und Welterneuerung durch die Gottheit. Chrysippos war bestrebt, die stoische Lehre in allen ihren Teilen systematisch durchzuarbeiten und trug maßgeblich dazu bei, daß sich die Stoa fest konsolidierte. Mit großer dialektischer Schärfe gelang es Chrysippos, dieses Lehrgebäude gegen die Akademie, von der er anfangs viel gelernt hatte, zu verteidigen.
Wie auch in der Antike geschehen, wirkten im Abendland die alten Schulen weiter: Neu-Kantianismus, Neu-Idealismus, Neu-Hegelianismus, Neu-Positivismus, Neu-Realismus, Neu-Morphologie, Neu-Universalismus, Neu-Sensualismus, Neu-Ontologie, Neu-Marxismus, Neu-Strukturalismus, (Neu-)Lebensphilosophie (weil zweite Art), (Neu-)Psychologismus (weil zweite Art) sowie Neu-Aufklärer und Neu-Aussteiger, die antiken Neu-Kyniker, Neu-Kyrenäiker (Neu-Hedoniker), Neu-Sokratiker, Neu-Sophisten, Neu-Akademiker (weil jetzt mittlere), Neu-Peripatetiker (weil jetzt jüngere), Neu-Stoiker (weil jetzt mittlere oder römische), Neu-Skeptiker (weil auch die mittleren Akademiker skeptizistischer wurden). In der Antike bewegten sich viele Denker auf den Skeptizismus zu, im Abendland auf eine von Schopenhauer ins Leben gerufene Lebensphilosophie, z.B. Kierkegaard, Dilthey (neu-hegelianisch), Nietzsche, Freud, Bergson, Simmel, Klages, der Kulturmorphologe Spengler, der Fundamentalontologe Heidegger (1889-1976) oder der Neu-Ontologe N. Hartmann (1882-1950). Zumeist blieben diese daher (neu-)lebensphilosophisch (), (neu-)idealistisch bzw. (neu-)hegelianisch oder auch (neu-)kantianisch orientiert und verfaßt. Auch bezogen auf die anderen „Altschulen“ gilt also, daß sie auf eine wie auch immer geartete Neo-Weise romantisch-klassizistisch verhaftet blieben. (18-20). Auch sind die charakteristischen Ähnlichkeiten mit den Richtungen der historisierenden, eklektizierenden Kunst evident. Das gilt für die Antike und für das Abendland gleichermaßen. Die eben erwähnten Leistungen stellten hier wie dort zwar enorme Bereicherungen dar, vor allem in wissenschaftlich-technischer Hinsicht, aber philosophisch-metaphysisch setzten sie nur (radikaler) fort, was vorher bereits gedacht worden war.

„Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. ….
Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und Dichten eine
Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang.“
(Martin Heidegger, 1966)

Ausgerechnet das seelenkundliche Genie Nietzsche inspirierte die Tiefenpsychologie als eine Disziplin der modernen analytischen Psychologie und Psychotherapie, und Sigmund Freud (1856-1939) „hatte zeitlebens Anlaß zu leugnen“, daß er durch dieses Nietzsche-Tor „zu seinen Ansichten gelangt sei und daß er seine Grundbegriffe von Nietzsche geliehen hatte“. (Sloterdijk, in: Focus 34, 2000; S. 85). Eugen Bleuler (1857-1939) prägte den Begriff der Tiefenpsychologie, um die Bedeutung unbewußter Prozesse zu betonen. Daß das Seelenleben ausschließlich oder überwiegend durch den Sexualtrieb, durch Macht und Geltungstrieb oder durch das libidinöse Kollektiv-Unbewußte bestimmt sei, wird zwar hin und wieder von den tiefenpsychologischen Vertretern als die Wirklichkeit verfälschende Simplifikation und als Biologismus abgelehnt, doch einig scheinen sie sich darüber zu sein, daß die Tiefenpsychologie sich auf die Lehren von Sigmund Freud, Alfred Adler (1870-1937) und Carl Gustav Jung (1875-1961) zu stützen habe. Die Tiefenpsychologie entstand jedoch bereits in der Romantik bzw. im Idealismus, als auch die Psychologie selbst, zunächst als Mesmerismus, und die klassische Homöopathie sowie andere individualisierende oder „selbstversuchende“ Projekte entstanden waren. (). Als dann später Nietzsche sein eigenes Werden exemplarisch untersuchte, entdeckte er selbst und durch ihn bald auch die Öffentlichkeit „den Ernst des Selbstgeburtkampfes, den das einzelne Individuum mit sich und seinem Schicksal auszufechten hat.“ Nietzsche hob „den Sachverhalt ans Licht, daß die Aufgabe, das eigene Leben aus dem rohstoffartigen Zustand herauszuführen und es zu einem Werk zu machen, den Charakter eines Ringens ums Ganze annehmen kann.“ Letztlich war Nietzsche vielleicht auch „mehr Psychagoge als Psychologe – und das will etwas sagen, denn zu Recht durfte man ihn … als den größten Psychologen seines Zeitalters im Gedächtnis behalten“. (Peter Sloterdijk, in: Focus 34, 2000; S. 84f). Entscheidend für Freud war die Annahme des Unbewußten (oder des Es) als Teil des Psychischen außer dem Bewußten (Ich) und die Annahme einer Kraft, die dafür sorgt, daß es unbewußte Vorstellungen gibt: die Verdrängung. Sigmund Freud fand in der psychoanalytischen Technik Mittel, diese widerstrebende Kraft aufzuheben und die betreffenden Vorstellunegn bewußt zu machen. Neurosen schienen für Freud durch das Vorwalten wirksamer unbewußter Vorstellungen bestimmt zu sein und könnten demanch durch Bewußtmachen auch beseitigt werden. Freud sah sich mit seiner Entwicklung des Unbewußten als ein zweiter Kant. Die Korrektur, die Kant an der äußeren Wahrnehmung gemacht hatte, daß sie subjektiv bedingt sei und daß hinter ihr das unerkennbare Ding-an-sich stünde, machte er nun für die innere oder Selbst-Wahrnehmung. So wie nach Kant die Dinge an sich nicht so zu sein brauchen, wie sie uns erscheinen, so braucht nach Freud auch das Psychische, also das innere Objekt, nicht so zu sein, wie es uns erscheint. Ganz so unerkennbar wie Kants Dinge an sich sei das innere Objekt allerdings nicht, meinte Freud, denn in dessen Erkenntnis und Behandlung bestehe schließlich die ganze Psychoanalyse als Therapie und Technik der seelischen Kräfte. Freud verglich auch die Philosophie, neben Kunst und Religion, mit der Neurose. „Die Neurosen zeigen einerseits auffällige und tiefreichende Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produktionen der Kunst, der Religion und der Philosophie. Andererseits erscheinen sie wie Verzerrungen derselben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems“. Der Neurotiker, meinte Freud, wendet sich von der Wirklichkeit ab, weil er sie – ihr Ganzes oder Stücke desselben – unerträglich findet, und ersetzt sie durch eine Wahnwelt. Sind also Künstler, Religiöse und Philosophen Neurotiker? (Und Freud?). Schon Hegel hatte Kunst, Religion und Philosophie als „Selbstbefriedigungen des absoluten Geistes“ bezeichnet, gwissermaßen als Selbsttherapien des Geistes. (). Nietzsche vermutete, daß hinter der Logik und Philosophie physiologische Forderungen stünden, daß Philosophie bisher ein „Mißverständnis des Leibes“ gewesen sein könnte. Freud konnte an Nietzsches Versuche psychoanalytischer Aufklärung anknüpfen. Allerdings verschonte er – wohl zum Dank – Nietzsches Philosophie selbst von einer psychoanalytischen Aufklärung. Oder lag das an Freuds eigenem Komplex? Der Ödipuskomplex bildete ja für Freud als das inzestuöse Verlangen (die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht auf den Vater) den Kern aller Verdrängungen (des Mannes). In der unzulänglichen Bewältigung des Ödipuskomplexes sah er den Grund für seelische Störungen und Neurosen. Und wo für Männer der Ödipuskomplex war, da sollte für Frauen der Elektrakomplex werden. Analog zu Freuds Ödipuskomples ist Jungs Elektrakomplex zu sehen: der verdrängte Wunsch der Tochter, mit dem Vater inzestuöse Beziehungen einzugehen. Jung nannte seine Lehre „Analytische Psychologie“, in der das Unbewußte den schöpferischen Mutterboden des Bewußtseins darstellt und persönliche, der Ontogenese, und kollektive, der Phylogenese entstammende Inhalte umfaßt. Letztere seien die artbedingten Aktions- und Reaktionsweisen der Psyche: die Archetypen (z.B. Animus vs. Anima).

„Selbsterkenntnis kann nach dem Tode des Selbst, sprich nach dem Tode Gottes,
nur noch eine Vorstufe zu dem Projekt der Selbstverwirklichung sein.“
(Peter Sloterdijk, 2000)

Max Weber (1864-1920), laut Karl Jaspers „der größte Deutsche unseres Zeitalters“, war der Diagnostiker der Moderne. In seinem berühmten Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904) zeigte er die Bedeutung des religiösen Rationalismus, d.h. der reformatorischen Weltauslegung, die das Diesseits entzauberte oder entsakralisierte und die mit dem Berufsgedanken das alltägliche Leben mit dem Jenseitsschicksal verband, für die Entstehung des modernen Betriebskapitalismus: im Berufserfolg und Gelderwerb bewährt sich der je eigene Gnadenstand. Weber, Begründer der Religionssoziologie, suchte die Sozialwissenschaften zum Range strenger Wissenschaftlichkeit zu erheben, indem er ihre Methoden prüfte und sie als rein beschreibende auffaßte. Er suchte scharf zu trennen: Erfahrungswissenschaft und wertende Beurteilung, einseitige partikulare Erekenntnis und Ergreifen des Totalen, empirische Wirklichkeit und Wesen des Seins. Entgegen der intuitiven Verstehens-Theorie Diltheys () muß nach Weber die verstehende Soziologie, als „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“, rational hauptsächlich nach Zweck und Mitteln fragen, weil allein dadurch das Verstehen eine besonders hohe Evidenz erreicht. Als Hauptbegriff entwickelte Weber den des „Idealtypus“. Durch diesen Terminus wurde eine für die sozialwissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung zentrale Konstruktionsmethode bezeichnet. Der Idealtypus wird „durch gedanklich einseitige Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen“, die dann „zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammengefügt“ werden. „Der Idealtyp ist ein »Gedankenbild«, welches nicht die historischen Wirklichkeit oder gar die eigentliche Wirklichkeit ist, … sondern die Bedeutung des eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchenm die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.“ (Max Weber). Die Bildung des Idealtypus ist ein heuristischer Schritt der Begriffs- und Theoriebildung, der deutlich von der überprüften Theorie zu unterscheiden ist.
Alfred Weber (1868-1958) wollte die Soziologie mit der Strukturlehre der Geschichtswissenschaft verbinden; seine Kultursoziologie zeigt, daß die eigentliche Grundlage der großen Kulturen immer ein bestimmter charakteristischer Typus der betreffenden sozialen Organisation ist, und beschreibt die geschichtlichen Entwicklungsstufen dieser Typen. In seinem Werk Kulturgeschichte als Kultursoziologie (1935) heißt es, das Ergebnis der bisherigen Geschichte sei, daß die Menschen zu der Welt- und Daseinsangst der Primitiven zurückkehre. „Sozialreligionen“ sind laut Weber der demokratische Kapitalismus, der demokratische Sozialismus und der sozialistische Kommunismus; ihr Ursprung ist die Erklärung der Menschenrechte von 1776 mit ihrem religiös-sozialen Gehalt als Ausdruck eines neuen Menschenbildes. „Diese Sozialreligionen sind weithin an die Stelle der Transzendentalreligionen getreten; ideell und zugleich sozialstrukturell bilden sie in unerhörtem Maße die praktisch-dynamischen Umwälzungskräfte des heutigen Daseins. Keine der Transzendentalreligionen, der Islam vielleicht ausgenommen, hat heute noch eine Missionskraft, die auch nur im entferntesten vergleichbar wäre derjenigen dieser Sozialreligionen.“ (Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, 1935, S. 423).

Seit in Europa der Geburtenrückgang eingesetzt hat, also spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts (in Frankreich schon seit Ende des 18. Jahrhunderts!), ist „die Befürchtung, man habe es hier mit einem echten Anzeichen des ›Untergang des Abendlandes‹ zu tun, nicht mehr verstummt. Vor allem in Frankreich, wo in den Jahren 1890, 1891, 1892, 1895 und 1900 ein Geburtendefizit registriert wurde, hat man die ›décadence de la natalité‹ schon früh mit dem Dekadenz-Paradigma in Verbindung gebracht. Arsène Dumont leitet 1890 das erste Kapitel seiner demographischen Studie ›Dépopulation et Civilisation‹ mit der Frage ein: ›La France est-elle une nation en décadence?‹ ›Die Geschichte‹, schreibt er, ›bietet mehr als ein Beispiel sozialer Auszehrung. Mitten im Frieden, im Überfluß, in der Sekurität, umgeben von allem, was an Spannkraft und Vitalität anstacheln sollte, schmilzt ein Volk dahin und erlöscht; es war fruchtbar und wird steril, tapfer und wird feig, eroberungslustig und wird schließlich selbst erobert. Daß ein allzu schwacher Staat von einem stärkeren zerstört wird, ist leicht zu verstehen. Aber diese Hinfälligkeit ohne äußere Einwirkung, diese Art Anämie, die ein Volk stillschweigend hinwegrafft und es geräuschlos unterminiert, ist ein schreckliches und mysteriöses Phänomen.‹ (Ebd., S. 3). … Im Jahre 1905 hält Pontus Fahlbeck, seines Zeichens Professor für Geschichte, Staatslehre und Statistik an der Universität Lund, bekannt geworden durch seine demographisch-genealogischen Untersuchungen über das Aussterben der schwedischen Aristokratie, einen Vortrag … und … gibt … zu bedenken, daß die Statistik neben Fragen des unmittelbaren Nutzens die großen Probleme der Zukunft nicht vergessen dürfe, die wissenschaftlich auch von größerem Interesse seien als die kleinen Problemchen der Tagespolitik. Und zu diesen großen Problemen rechnet er den Untergang der Völker. Der Untergang von Völkern sei zwar kein alltägliches Ereignis, aber die Geschichte sei insgesamt doch eine einzige Nekropole von Staaten und Völkern, die einmal zugrunde gegangen seien. Sofern diese Staaten und Völker nicht einfach einem übermächtigen Angriff von außen erlegen seien, hätten die Historiker schon immer Symptome einer ›inneren Krankheit‹ registriert, deren typischer Verlauf von Demographen näher untersucht werden sollte, da eine ›soziale Krankheit‹ sich stets auch in ›demographischen Tatsachen‹ manifestiere. Fahlbeck untersucht dann am klassischen Paradigma des ›Untergangs der antiken Welt‹ mögliche demographische Indikatoren der ›Dekadenz‹. Er findet das Symptom der Symptome im Geburtenrückgang aufgrund der abnehmenden Heiratsneigung und des 2-Kinder-Systems. In unserem Zusammenhang ist vor allem der zweite Teil des Vortrags von Interesse, in dem er seine Fragestellung auf die ›zivilisierten Völker‹ Europas überträgt, und der in der Prognose eines langfristig anhaltenden Geburtenrückgangs kulminiert. Man kann diese Prognose im Rückblick nicht anders als ›schlagend‹ nennen. Fahlbeck hat … den … Geburtenrückgang in großen Zügen fast genau so vorhergesagt, wie er im Endeffekt dann auch tatsächlich abgelaufen ist. Ich will das am Beispiel Großbritanniens demonstrieren. Nach Fahlbecks Extrapolation schneiden sich die Kurven der Geburten- und Sterbeziffern etwa im Jahr 1957 auf dem Niveau von 16‰. Tatsächlich ist es in England erst 20 Jahre später auf einem Niveau von 12‰ zu einem Gleichstand von Geburten- und Sterbeziffern gekommen. Wie aus der Grafik zu ersehen ist (vgl. Robert Hepp, a.a.O., S. 193), hat sich der schwedische Statistiker nur in zwei Hinsichten verschätzt, wobei der erste Punkt ziemlich belanglos ist: Der Geburtenrückgang verlief zeitweise rasanter, als er annahm, und die Mortalität sank weiter ab, als er offenbar glaubte. Wenn man seine Projektion von diesem Irrtum bereinigt, stimmt der Trend mit dem tatsächlichen Verlauf ziemlich genau überein. Die ausgezogenen hypothetische Geburtenkurve schneidet die reale Kurve der Sterbeziffer um 1977, was auch tatsächlich der Fall gewesen ist. Ich führe das Beispiel nicht als Meisterstück einer guten statistischen Prognose an. Wenn es um die Treffsicherheit ginge, gäbe es in der älteren Literatur viele andere mehr oder weniger schlagende Beispiele. … Dazu gehörte meist nur ein Schuß Pessimismus und die Einsicht in die Tatsache, daß die Grenzen, die der Tod dem menschlichen Leben setzt, nicht unendlich verschoben werden können, während die menschliche Fruchtbarkeit im Prinzip bis auf Null heruntergefahren werden kann. Heute weiß man, wie recht Fahlbeck hatte, als er sich über Kollegen wie den berühmten Statistiker Jacques Bertillon mokierte, die aus unerfindlichen Gründen daran glaubten, daß die geburten- und Streberaten immer gleichsinnig miteinander steigen und fallen würden, oder wenn er sich über die Ideologen des Null-Wachstums lustig machte, die damalas John Sturat Mill oder Rauchberg hießen.“ (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler, Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 191-194).
Anfangs hielt man den Geburtenrückgang für eine typisch französisches Phänomen (), doch die Tatsachen widerlegten diese Ansicht, denn spätestens um die 1870er Jahre herum griff der Geburtenrückgang auch auf die anderen Staaten des Abendlandes über. Zum Vergleich sind hier auch nichteuropäische Länder erwähnt:Geburtenraten
seit 1871 1871 / 1880 1881 / 1890 1891 / 1900 1901 / 1910 1911 / 1913 1921 1924 1925 Prozentualer
Geburtenrückgang
1871/1880 – 1925 2003 * Prozentualer
Geburtenrückgang
1871/1880 – 2003 *

Deutschland 39,1 36,8 36,1 33,4 29,0 25,3 20,5 20,6 47% 10,0 74%
England 35,5 32,5 30,0 27,2 24,0 22,4 18,9 18,3 48% 12,0 66%
Schottland 34,9 32,3 30,7 28,0 25,7 25,2 21,9 21,3 39% 12,0 66%
Frankreich * 25,4 23,9 22,1 20,7 18,8 20,7 19,2 19,6 23% 13,0 49%
Schweden 30,5 29,0 27,1 25,8 23,7 21,4 18,1 17,5 43% 11,0 61%
Schweiz 30,8 28,1 28,7 27,4 23,8 20,8 18,7 18,4 40% 10,0 68%
Belgien 32,7 30,2 28.9 26,7 23,1 21,9 19,9 19,7 40% 11,0 66%
Norwegen 30,9 30,8 30,3 27,6 25,6 23,9 21,7 20,0 35% 12,0 61%
Dänemark 31,5 31,9 30,2 28,7 26,7 24,0 21,9 21,1 33% 12,0 62%
Niederlande 36,4 34,2 32,5 30,7 28,0 27,4 25,1 24,2 34% 12,0 67%
Italien 36,9 37,8 34,9 32,5 31,9 30,3 28,2 27,5 25% 9,0 76%
Ungarn 43,4 44,2 40,5 36,8 35,4 31,8 26,8 27,7 36% 10,0 77%
Spanien 37,9 36,2 34,8 34,5 31,2 30,0 29,9 29,3 23% 10,0 74%
Rumänien 35,0 41,4 40,6 40,0 42,6 37,4 36,2 36,2 + 3% 10,0 71%
Rußland 49,3 47,2 47,1 43,9 43,7 37,2 42,7 Die Zahlen von 1921 an sind unbrauchbar!
Massachusetts 27,2 27,0 26,0 26,5 25,6 23,7 22,3 Keine Angaben
Australien 36,8 34,8 29,4 26,6 27,4 25,0 23,2 22,9 38% 13,0 65%
* Frankreich mit Geburtendefizit ! Quellen: Richard Korherr, Geburtenrückgang, a.a.O., 1927, S. 164; * Fischer Weltalmanach, 2006, S. 504
Die Fruchtbarkeit scheint die Schlüsselvariable des gesamten Bevölkerungsprozesses zu sein. Nur spekulieren die einen auf das „Hoch“ und die anderen auf das „Tief“. Anders gesagt: „Die einen befürchten eine Bevölkerungsexplosion, die anderen eien Bevölkerungsimplosion. … Da anfangs in Europa, dann nach und nach weltweit, die Sterberate schneller zurückging als die Geburtenrate und also die Bevölkerung trotz des Geburtenrückgangs ständig zunahm, sprach prima vista alles für die malthusianische Position. Sie ist eigentlich erst heute – und speziell in Deutschland – von der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung dementiert worden. Und damit werden auch die Dekadenztheoretiker wieder aktuell und interessant. Sie haben mit ihrem demographischen Pesseimismus … recht behalten. … Dabei hat sich … eine ganze Schule herausgebildet, die den … Geburtenrückgang ständig mit kritischen Kommentaren und düsteren Untergangsprognosen begleitet hat. (). All diesen Untersuchungen ist gemeinsam, daß sie den Geburtenrückgang als demographischen Prozeß irgendwie mit ›Dekadenz‹ oder ›Niedergang‹ in Zusammenhang bringen, sei es als Ursache oder als Folge, als Symptom, Symbol oder Indikator eines allegemeinen kulturellen und politischen Verfalls. Bei den meisten Autoren bezeichnet ›Dekadenz‹ einen Gesamtprozeß sozialen und kulturellen Wandels, in dem der Geburtenrückgang nur eines von vielen parallel oder gleichlaufenden Symptomen ist. In Spenglers Interpretation wird der Geburtenrückgang zum ›körperlichen‹ Ausdruck einer allgemeinen ›Unfruchtbarkeit‹ des ›zivilisierten Menschen‹ und seiner ›durchaus metaphysischen Wendung zum Tode‹, die sich auch im ›Erlöschen der großen Kunst, der gesellschaftlichen Formen, der großen Denksysteme, des großen Stils überhaupt‹ manifestiert; die Fruchtbarkeit des ›letzten Menschen‹ ist in jeder Hinsicht ›erschöpft‹. (Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 678ff. ). Die Demographen unter den Dekadenztheoretikern … interpretieren den Geburtenrückgang zwar auch als ›Symbol‹ eines allgemeinen soziokulturellen Niedergangs, wobei sie aber immer mit Nachdruck betonen, daß der Geburtenrückgang die wichtigste aller Dekadenzerscheinungen sei, weil es da sozusagen … ums Leben geht und weil – um Landry … zu zitieren – ›das Leben das Substrat aller Ziele‹ ist. Außerdem ist nach ihrer Ansicht der Geburtenrückgang das ›sicherste‹ aller Dekadenzsymptome, weil man ihn – im Unterschied zu den meisten anderen – präzise messen kann. Wenn einmal der kontinuierlich anhaltende Bevölkerungsrückgang eingesetzt hat, kann man das Ende eines Volkes mit mathematischer Sicherheit vorausberechnen. Sobald die Zahl der Sterbefälle über einem längeren Zeitraum hinweg die der Geburten übersteigt und die Kurve der Geburtenziffern unter die der Sterbeziffern absinkt, sind die Tage eines Volkes gezählt. Rein demographisch betrachtet, steht das Ende des Zerfallsprozesses also fest, unter gewissen Bedingungen ist es sogar in seinem weiteren Ablauf ziemlich genau prognostizierbar. Da mit der Bevölkerungsabnahme gewisse Struktureffekte einhergehen, kann man auch die Formen des weiteren Verlaufs im wesentlichen vorhersehen. Was man als ›Überalterung‹ bezeichnet, der wachsende Anteil der älteren Bevölkerung und die Verminderung des Anteils der jüngeren, ist als latenter Vorgang ja schon lange vor dem Stadium des Bevölkerungsrückgangs zu registrieren. Auch diese Strukturmerkmale haben eindeutig angebbare ›Ursachen‹ und Konsequenzen. … Wenn es um die Ursachen des Geburtenrückgangs geht, müssen auch die Bevölekruingswissenschaftler soziale und kulturelle ›Einflußfaktoren‹ in Betracht ziehen. Auch die Dekadenztheoretiker unter den Bevölkerungswissenschaftlern suchen sie unter den ›Faktoren‹, die heute noch von empirischen Demographen für ›Ursachen‹ des Geburtenrückgangs gehalten werden. (). Schon die älteren Vertreter dieser Schule unterscheiden sich aber von den meisten ihrer zeitgenossen, vor allem von den orthodoxen Malthusianern, darin, daß sie den monokausalen Erklärungen ›multifaktorielle Modelle‹ vorziehen. Das Ensemble aller Faktoren bezeichnen sie dann oft mit dem Sammelnamen ›Dekadenz der Kultur‹. Dieser ›Sammelbegriff‹ ist oft mißverstanden worden.“ (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler, Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 194-196).
Nicht selten stört am Fortschrittsglauben seine „Megalomanie“ oder die typisch abendländische „Tendenz ins Unendliche, der faustische Ausgriff, die imperialistische Geste, der ›Wikinger-Geist‹ des ›Eroberers‹. Die Wachstumskritiker verkörpern … vielleicht das Bindeglied der ›demographischen‹ und der allgemeinen ›kulturellen‹ Dekadenz. Der Engländer, der sich – in Sauvys Parabel – beim Wirt darüber beklagt, daß zu viele Gäste am Tisch sitzen, statt noch ein Hähnchen zu bestellen, ist zugleich der Prototyp des Neomalthusianers und des Wachstumskritikers. Angesichts der Diskrepanz zweier Größen, die einander angeglichen werden müssen, entscheidet er sich ›instinktiv‹ für eine ›Anpassung nach unten‹; er fürchtet den ›Exzeß‹ und das Risiko. Wo dieser ›Kleinbürger‹ und ›Kleinhäusler‹ den Ton angibt, verbreiten sich Kleinmut und Megalophobie. Wie eine Litanei zieht sich jenes ›siao-sin‹ (›Mache mein Herz klein!‹), der Drang zur ›Selbstverkleinerung‹, der nach Nietzsche für ›Zivilisationen‹ typisch ist, durch Bußpredigten der modernen Wachstumskritiker. (Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, § 267 ). In politicis entspricht dieser Einstellung die ›kleine Politik‹ (Georges Sorel), deren kühnster Ausdruck die ›Hochschornsteinpolitik‹ (Inneminister Zimmermann) ist. An die Stelle der ›Großmachtambitionen‹ – ›Supermächte‹ sind an sich böse! – tritt die Fellachensehnsucht nach dem ›ewigen Frieden‹. (Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 678ff. ). Um wenigstens zu ›überleben‹, duckt und unterwirft man sich. ›Wenn man keine Eroberungen mehr macht‹, sagt Cioran, ›willigt man ein, erobert zu werden‹.“ (Robert Hepp, Der Aufstieg in die Dekadenz, in: Armin Mohler, Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 231-232).

Im 3. Jahrhundert v. Chr. war das Museion in Alexandria mit einer Bibliothek von mehreren hunderttausend Papyrusrollen, später auch die Bibliothek von Pergamon, kultureller Mittelpunkt der hellenistischen Wissenschaft. Kennzeichen dieser hellenistischen Wissenschaft war jetzt die zunehmende Spezialisierung. Athen blieb aber weiterhin die antike Weltuniversität, wobei das Wort Universität weder im Gebrauch war noch wiedergibt, was Athen eigentlich wirklich war: Mittelpunkt der antiken Liebe zur Weisheit (Philosophie). Ein Schüler des Straton, der den neuen Peripatos (vgl. 2. Aristoteliker) gründete und von 287 bis 269 leitete, war Aristarchos von Samos (ca. 310-230), der einzig uns überlieferte Astronom, der bereits das heliozentrische Weltbild, die Achsendrehung der Erde und die Drehung der Erde um die Sonne erkannte (272). Archimedes von Syrakus (285-212) machte mathematische und physikalische Entdeckungen, z.B. die antike Form der Integralrechnung, die Bestimmung des spezifischen Gewichts der Körper, ein erstes Himmelsmodell mit beweglichen Sternen und Wurfmaschinen für die Verteidigung von Syrakus gegen die Römer. Eratosthenes von Kyrene (280-200) entdeckte durch Erdmessung die Kugelgestalt der Erde (Berechnung des Erdumfangs), zeichnete eine Weltkarte und betrieb auch sonstige Geographie und Chronographie (Trojazug: 1184 v. Chr., vgl. 8-10; Lykurg: 844 v. Chr., erste Aufzeichnungen der Olympischen Spiele: 776 v. Chr., vgl. 10-12). Der Entdecker der Nerven und des Gehirns als Zentralorgan des Nervensystems war Herophilos (335-250), während Erasistratos (300-240) der Ergründer der Pneuma-Lehre war und sich mit dem Blutkreislauf beschäftigte. Beide führten auch Sektionen am menschlichem Körper durch.
In der Philologie wirkten Aristophanes von Byzantion (257-180), der Begründer der wissenschaftlichen Grammatik und Klassikerausgaben mit Einleitung, Aristarchos von Samothrake (217-145) mit explizitenn Kommentaren. Krates von Milet (um 170) in Pergamon glänzte mit seinen allegorischen Erklärungen zu Homer. In Alexandria brillierten dichterisch: Kallimachos von Kyrene (310-240) mit Elegien, Epihrammen und Hofgedichten, Theokrit von Syrakus (um 270) durch seine Hirtengedichte und Idyllen sowie Apollinios von Rhodos (295-215), der das Argonauten-Epos schrieb. Das griechische Bildungsideal wurde im Römischen Reich übernommen und gefördert, vor allem durch den Kreis der Scipionen. Dieser anfängliche Enthusiasmus für den gesamten griechischen Kulturbereich im lateinischen Sprachraum (Sprachkörper) wich mehr und mehr einem eigenen Kulturbeitrag, welcher gefordert und gefördert wurde von Livius Andronicus (285-204), der eine Literatur in lateinischer Sprache begründete, die Odyssee (Odusia) des Homer und die griechischen Tragödien übersetzte. Damit kann er als der Erfinder der Übersetzungskunst gelten. Gnaeus Naevius (3. Jh. v. Chr.) schrieb lateinische Komödien (Zeitkritik), die nationalrömischen historischen Dramen namens Praetexta und ein Epos über den 1. Punischen Krieg. Titus Maccius Plautus (254-184) verfaßte Komödien mit volkstümlichen, obszönen und burlesken Bildern. Ennius (239-169) dichtete ein Epos über die römische Geschichte in Hexametern (Annales). Begründer der römischen Geschichtsschreibung ist Fabius Pictor (3.Jh./2.Jh.) mit seinem Werk Annales, eine Annalistik, d.h. eine nach Jahresabschnitten geordnete Darstellung, die jedoch in griechischer Sprache erschien (197). Cato (234-149) gab ein Geschichtswerk über Rom und Italien mit dem Titel Origenes (Usprünge) und das älteste landwirtschaftliche Fachbuch heraus. Als hätten die Römer es geahnt: im 2. Jahrhundert v. Chr. kam es zu einer geistigen Reaktion in den hellenistischen Gebieten des Ostens; die einheimische Bevölkerung wehrte sich immer mehr gegen die Hellenisierung durch ihr Festhalten an der eigenen (magischen) Kultur und Sprache. Diese orientalische Gegenwirkung, die zunehmende Macht der Randstaaten, z.B. der Parther und Inder, und eine allgemeine Wirtschaftskrise förderten den langsamen Niedergang der hellenistischen Kultur. Das herbstliche Fallen der Blätter setzte jetzt vermehrt ein. Die nackten Tatsachen kamen immer mehr zum Vorschein.
Der abendländische Nationalismus war wie der antike Hellenismus auch ein Versuch, sich und der gesamten dazugehörigen Kultur mittels einer Rückbesinnung eine zivilisierte Identität zu geben und eine Eigenbilanz zu erstellen, die nicht von der eigenen Kultur wegführen sollte, wie es die Renaissance versucht hatte, sondern zu ihr hin. Deshalb mußten solche Entwicklungsvertreter stark historisierend vorgehen. Sie leiteten geistig die jetzige Historismus-Hochphase ein. Leopold von Ranke (1795-1886) war der Begründer der mit hohen Ansprüchen auf Objektivität zu Werke gehenden modernen Geschichtswissenschaft, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dem von ihm geprägten Historismus stark verpflichtet blieb. Ranke brachte die methodischen Grundsätze der Quellenforschung und -kritik im akademsichen Lehrbetrieb zu allgemeiner Geltung über Deutschland hinaus, besonders groß war der Einfluß auf Großbritannien und die USA. Das Wesen des Historismus drückte Ranke in dem Satz aus, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott sei, daß jedes geschichtliche Ereignis aus sich selbst heraus verstanden und geschildert werden müsse. Neben dem Individulitätsprinzip, das Ranke auf die politische Welt (Staaten, Völker) anwandte, gilt der Objektivitätsanspruch als der eigenste Zug seines Geschichtsdenkens. Der Historiker soll nicht über die Vergangenheit richten oder die Gegenwart belehren; er soll „blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“. In den Geisteswissenschaften gilt der Historismus als eine Betrachtung der kuklturellen Erscheinungen unter dem leitenden Gesichtspunkt ihrer historischen Gewordenheit, d.h. Geschichtlichkeit () und der damit verbundenen Betonung der Einmaligkeit und der Besonderheit. In der Individualität sah der Historismus die schlechthin bestimmende Kategorie historischer Erkenntnis. Die Geschichtswissenschaft hat daraus starke Antriebe für Forschung und Deutung der Gegenwart gezogen, gleichzeitig aber durch Absolutsetzung dieses methodischen Prinzips, das die Unvergleichbarkeit historischer Prozesse und Strukturen voraussetzt, sich der Gefahr des Wertrelativismus ausgesetzt und von der Entwicklung der anderen Sozialwissenschaften abgesondert. Der Begriff Historismus entstammt eigentlich erst der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, obwohl der Historismus schon Ende des 18. Jahrhunderts aufkam (Früh-Historismus; vgl. 18-20). Die Phase von der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts heißt Hoch-Historismus (vgl. 20-22) – ich nenne sie auch Krise oder Kampf ums Ei, denn auch im Hoch-Historismus geht es nicht nur um Höchstform, sondern auch um Tiefstform, um Krise oder Kampf ums Ei, und das Ei ist in diesem Fall der Historismus. Für Geschichts- und Gegenwartsbewußtsein erreichte der Historismus seine größte praktische Bedeutung in der Zeit der 2. Deutschen Reichsgründung als grundlegende quellenbezogene geisteswissenschaftliche Position mit Auswirkung auf Sprachwissenschaft, historische Rechtsschule und historische Schule der Nationalökonomie. Eine andere Folge war die immer mehr zunehmende Politisierung der Historiker.
Die Krise des Historismus fiel mit dem Ende des 1. Weltkriegs zusammen. Sie führte zur methodologischen Neuorientierung der modernen Geschichtswissenschaft. Krisen, auch eine 1. Weltwirtschaftskrise (ab 25.10.1929), mußten in dieser Phase alle durchmachen. Während die Wissenschaft auch jetzt in vielen Bereichen großartige technische Erfolge erzielte, erfuhr die für Weltanschauungen so wichtige Physik zum ersten Mal Grenzgefühle. Vergleichbar mit Aristarch und Archimedes während ihrer großen Zeit (272/260, 237), wurde der Physik 1900 von Planck durch „Wahrscheinlichkeit“, d.h. durch seine Quantentheorie als fundamentale Innovation die Absolutheit des Wissens genommen, was Plancks Nachfolger nur noch in Weiterführung bestätigen konnten, so 1905-1916 Einstein und 1924-1927 Heisenberg mit seiner Feststellung, daß die Kausalität an ihr Ende kommen kann und sich mit „Wahrscheinlichkeiten der Wahrscheinlichkeit“ begnügen muß, wenn sie noch Erfolge verzeichnen will. Der technischen Anwendung tat das keinen Abbruch, wie allgemein bekannt. Heureka! soll Archimedes gerufen haben, nachdem er das hydrostatische Grundgesetz entdeckt hatte, und auch die Abendländer versuchten sich in vielen Bereichen, heuristisch zu betätigen. Die Moderne ging munter weiter. Im Abendland sollte sie bald auch Postmoderne genannt werden, um zu deklarieren, daß die linear-progressive Entwicklung unter umgekehrten Vorzeichen weitergehen werde – wie eine Rolltreppe. Kommunikationstheoretische Ansätze gehören ebenso hierher wie die Erkenntnis, daß gegenwärtige Zustände durch ihre Historizität zu erklären seien. Ein Beobachter sei selbst ein zu Beobachtender samt seiner Geschichtlichkeit. (). Die Beobachtung wurde also zu einem Prozeß, der mit seiner Umkehrung zu rechnen hatte; was physikalisch ermittelt worden war, ging auch immer mehr in die Alltäglichkeit der Kultur ein. Überhaupt schien es für nicht wenige Menschen so zu sein, daß Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und ihre Nachbardisziplinen projektiv vorgaben, was aus ökonomischen, technischen und medialen Motiven gefiel. (). Abendländisch-mathematische Gebilde waren kaum von der Anschauung abhängig; jetzt wurden sie von ihnen immer mehr unabhängig. In der Antike verlief dieser Prozeß genau umgekehrt. Aus einer heiligen Zahl wie der 3 wurde im Abendland eine viel heiligere – n. Man denke nur an die Übersteigung des dreidimensionalen Raumes durch Exponenten, die größer gleich 4 oder gar unendlich groß sind. Ob wir die antike Mathematik, euklidisch oder archimedisch, die abendländische nach Gauß oder Cantor benennen; in beiden Fällen geht es darum, dem kulturellen Ursymbol auf die Schliche zu kommen, ob den Forschern dies bewußt ist oder nicht. Dort das Begrenzte, hier das Unendliche; dort der Körper, hier der Raum. Im Abendland gingen die moderne Zahlentheorie und die Mengenlehre in eine Algebra der Logik ein, und damit wurde die moderne Axiomatik vollkommen zum Kapitel der Erkenntnistheorie.
Die Relativitätstheorie der Physik, die zuvor nur eine, die alte Relativität kannte, hatte ab jetzt drei: 1.) Das Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik besagt, daß in allen gleichförmig-geradlinig bewegten Systemen die mechanischen Vorgänge genauso ablaufen wie in ruhenden. (Vgl. Galilei, Newton u.a. ). Es ist also die geradlinig gleichförmige Bewegung des betreffenden Systems ohne Zuhilfenahme eines außerhalb des Systems befindlichen Körpers nicht feststellbar. Wird z.B. in einem gleichförmig geradeaus fahrenden Eisenbahnwagen ein Ball senkrecht in die Höhe geworfen, so fällt er, als ob der Wagen stillstände, wieder senkrecht nach unten. Dagegen würde ein Beobachter, der außerhalb steht, etwa am Bahndamm, die Wurfbahn als eine Parabel sehen. Aus der Form der von außen beobachteten und gezeichneten (photographierten) Parabel kann man die Geschwindigkeit des Zuges relativ zum Standort des Beobachtes bestimmen. Ähnlich verhält es sich mit der Bewegung der Himmelskörper im Weltraum. Versuche durch elektromagnetische (optische) Mittel ein absolutes Bezugssystem im Weltraum festzustellen – etwa einen ruhenden „Äther“ als absoluten, unbeweglichen Raum im Sinne Newtons -, fielen negativ aus. 2.) Die von Einstein 1905 begründete spezielle relativitätstheorie schuf einen neuen Zeitbegriff für die Physik: die Zeit wird nicht mehr durch die Drehung der Erde, sondern durch die Geschwindigkeit des Lichts (ca. 300 000 km/s) definiert. Diese Zeit wird in der formaltheoretischen Betrachtung mit dem Raum so verknüpft, daß sie zusammen mit den drei Raumdimensionen einen vierdimensionalen Raum (Kontinuum) aufspannt. Als Koordinate büßte die Zeit ihre Absolutheit ein, wurde zu einer nur „relativen“ Zahl in einem Bezugssystem. Eine den Tatsachen der gesamten Physik angemessene Raumzeitauffassung war gefunden worden. Eine weitere Folgerung aus der speziellen relativitätstheorie ist die Äquivalenz von Masse (m) und Energie (E), so daß E = mc² ist (Äquivalenzprinzip). 3.) Die von Einstein 1916 begründete allgemeine Relativitätstheorie dehnte die Erkenntnisse der speziellen Relativitätstheorie auf beschleunigte Systeme aus. Schwerkraft und Beschleunigung sind gleichwertig. Es ist für einen Beobachter innerhalb eines begrenzten Bereichs der Raumzeit unmöglich zu entscheiden, ob er eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung ausführt oder sich in einem Gravitationsfeld befindet (Prinzip der Äquivalenz von Trägheit und Masse). Ein abgeschlossener Beobachter kann also durch keinerlei Experimente herausfinden, ob er sich in einem Gravitationsfeld befindet oder außerhalb eines solchen beschleunigt bewegt. Nach Einstein ist die Gravitation nicht allein als eine Kraft anzusehen; er sah sie als eine Folge der Raumkrümmung. In der allgemeinen Relativitätstheorie stellt sich der Raum jedenfalls als Folge der Anwesenheit von Massen dar; in der Nachbarschaft einer besonders großen Masse ist die Raumkrümmung entsprechend größer und nimmt mit zunehmendem Abstand von dieser Masse ab. Die Gesamtheit aller Massen im Weltall bedingt die Gesamtkrümmung des Universums. – Die Relativitätstheorie löste Probleme, die sich aus der Beobachtung der Ausbreitung elektromagnetischer und optischer Erscheinung ergaben, insbesondere der Ausbreitung des Lichts in beliebig bewegten Systemen. Die Resultate der mit Hilfe der Realativitätstheorie gedeuteten Beobachtungen weichen von den Beobachtungsresultaten der klassischen Mechanik und Elektrodynamik nur dann erheblich ab, wenn es sich um sehr große Entfernungen im unendlichen Kosmos handelt.
Die physikalische Relativitätstheorie hat ihre Grundlagen
in verifizierbaren kosmologischen Hypothesen sowie
im Ralationismus der verwendeten mathematischen Theorien.
Und vom Mathematischen her betrachtet
– also vom Reiche reiner Begriffe aus –
ist die Logistik reiner Rationalismus.
In der Zukunft sollte es vor allem für die Fragen der Kosmologie,
der zeitlichen und räumlichen Struktur des Universums, sowie
der Hochenergiephysik notwendig sein, die (allgemeine)
Relativitätstheorie mit der Quantentheorie zu vereinen.

Relativierte Denkweisen entstehen aus dem Grenzdenken, daß jede Kultur auf ihre Weise bewerkstelligt. 1900 gab Max Planck (1858-1947) der Physik eine völlig neue Richtung durch seine Quantentheorie. Vor seinem Studium war ihm noch abgeraten worden, Physik zu studieren, weil man annahm, daß die Physik nichts mehr zu entdecken habe. Aber gerade Planck war es, der durch seine Entdeckung der gequantelten, d.h. der nur in diskreten (nicht kontinuierlichen) Größen meßbaren Natur der Energie zur fundamentalen Innovation der Physik beitrug und damit auch das alte Axiom „Die Natur macht keine Sprünge“ außer Kraft setzte. Seit Planck nahm die Physik endgülig Abschied von der Absolutheit des Wissens, denn im Kern besagt Plancks Quantentheorie, daß sich nur noch die Wahrscheinlichkeit eines Vorgangs beschreiben läßt. Das Aussenden oder Aufnehmen der Strahlungsenergie durch die Atome geschieht immer nur stoßweise, unkontinuierlich, und zwar in bestimmten Quanten (Energiequanten), deren Größe sich aus der Schwingungszahl (Lichtgeschwindigkeit geteilt durch Wellenlänge) der betreffenden Strahlungsart multipliziert mit dem Planckschen Wirkungsquantum (Elementarquantum) ergibt. Diese Plancksche Konstante ist die von Max Planck bei der Aufstellung des ebenfalls nach ihm benannten Strahlungsgesetzes eingeführte Konstante h (). Sie besitzt die Dimension einer Wirkung und ist gleichzeitig der Proportionalitätsfaktor in der Beziehung W = hv zwischen der Frequenz v einer elektromagnetischen Welle und der Energie W der in ihr enthaltenen Energiequanten (Photonen). Plancks Quantentheorie war Voraussetzung für eine Reihe weiterer Forschungsergebnisse, so etwa der Lichtquantenhypothese von Albert Einstein (1879-1955) oder des Atommodells von Niels Bohr (1885-1962). Nach der aus der Quantentheorie hervorgegangenen Lichtquantentheorie (Korpuskulartheorie des Lichts) besteht auch das Licht aus mit Lichtgeschwindigkeit bewegten Quanten (Lichtquanten, Photonen). Die Quantenmechanik, von Werner Heisenberg (1901-1976) begründet, ist das Rechenverfahren, daß die mathematische Beschreibung der Quantentheorie, also die quantenmäßiger Energieabgabe und -aufnahme der Atome, ermöglicht. Dasselbe leistet die Wellenmechanik, die von Erwin Schrödinger (1887-1961) ausgebaute Theorie der Atome, die die Korpuskelnatur mit der Wellennatur mathematisch zu koordinieren und dadurch zu deuten sucht. Ein Materieteilchen kann so als der Energieknoten eines Bündels von Wellen gedacht werden, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten und „Materiewellen“ heißen. Die Wellenfunktion eines Elektrons gibt die Wahrscheinlichkeit dafür an, wieweit das Elektron an einem bestimmten Ort gemessen werden kann, was jeweils vom Stand der Kenntnis des Beobachters abhängt. Die Wellenmechanik kam also, wenn auch auf anderen Wegen, zu den gleichen Resultaten wie die Quantenmechanik.
Heisenberg, der Begründer der Quantenmechanik, stellte 1924-1927 fest, daß sich die Elementarteilchen durch weitere Teilungen nicht mehr in weitere (z.B. kleinere) Teilchen, also Körperformen zerlegen lassen, sondern lediglich und für kurze Zeit in mathematisch-geometrische Formen, die nicht lokalisierbar sind und dann wieder in ihre ursprüngliche Teilchenform übergehen. Man kann also keine exakten Vorhersagen mehr machen und ist statt dessen auf Wahrscheinlichkeiten der Wahrscheinlichkeit angewiesen. Heisenbergs Unschärfe-, Unbestimmtheits- oder Ungenauigkeitsrelation ist in der Quantentheorie eine Beziehung, die festlegt, wie genau zwei physikalische Größen eines mykrophysikalischen Systems (z.B. eines Elementarteilchens) gleichzeitig gemessen werden können. Wird z.B. der Impuls eines Teilchens exakt gemessen, dann ist keinerlei Aussage mehr möglich über den Ort dieses Teilchens zum Zeitpunkt dieser Messung. Dieses „Naturgesetz“ der Unbestimmtheitsrelation bedeutet, daß das Produkt der Ungenauigkeit von Impuls- und Ortsbestimmung eine Korpuskels, z.B. eines Elektrons im Atom mindestens gleich der Planckschen Konstante (h) ist. Der Impuls und der Ort, z.B. eines Elektrons im Atom, ist also nicht genau bestimmbar. Jede Steigerung der Genauigkeit im Bezug auf den einen Faktor durch Veränderung der Versuchsordnung würde einen Eingriff in das atomare Geschehen bedeuten, der die Bestimmbarkeit des anderen Faktors beeinträchtigt. Metaphysisch gesehen gibt die Unbestimmtheitsrelation die Grenze der Überprüfbarkeit und der begründeten Anwendung der Kausalität an: die letzten Gleichungen, zu denen ein Physiker gelangt, sind Wahrscheinlichkeitsgleichungen, jedoch nicht solche, bei denen es sich um statistisch gewonnene handelt, sonden solche, deren Veränderliche selbst eine Wahrscheinlichkeitsfunktion ist. Das mikrophysikalische Geschehen läßt sich so interpretieren, als käme ihm eine Art von Spontaneität, von „fehlender Ursächlichkeit“ zu. Heisenberg stellte somit seine Unbestimmtheitsrelation (Unschärferelation) für die Quantenmechanik auf, nach der das Geschehen im Atom einer streng deterministischen Behandlung grundsätzlich unzugänglich ist. Die Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes wurde dadurch nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wohl aber erwies es sich als notwendig, die Begriffe „Kausalgesetz“ und „Determinismus“ einer gründlichen neuen Analyse zu unterziehen. Heisenberg beeinflußte mit seinen fundamentalen Beiträgen zur Atom,- und Kernphysik die Entwicklung der modernen Physik nachhaltig.

Denkgeschichtlich gesehen kam Heisenberg hier Platon,
kulturgeschichtlich gesehen das Abendland der Antike wieder näher.

Die Konsequenzen aus dem „Grenzdenken“ dieser hoch- und tiefmodernen Phase
– der Hochmodernistik –
geben den Weg frei für die „Denkumkehr“ einer hochmodern gewordenen Kultur.
Die abendländische Umkehrrichtung geht nun ausgerechnet in die antike Richtung
und die antike Umkehrrichtung ausgerechnet in die abendländischen Richtung.

Spätes Spätdenken
Globalismus als Spätmodernistik oder Spätnihilismus als Spätmodernistik?
Karneades (214-129) aus Kyrene war (Alt-) Platonist und stiftete um 160 v. Chr. die dritte Akademie, die „Neuere Akademie“. (Vgl. Platonismus). Er entwickelte die akademische Skepsis bis zur äußersten Konsequenz und leugnete Wissen und Möglichkeit eines endgültigen Beweises. Karneades war der erste Theoretiker einer „Wahrscheinlichkeit“. Er kam 156 v. Chr. nach Rom, wo er die Philosophie heimisch machte. Ainesidemos aus Knossos auf Kreta lehrte um 70 v. Chr. in Alexandria und war der Erneuerer der Lehren des aus Elis (Peloponnes) stammenden Pyrrhon (360-270), Begründer der älteren skeptischen Schule. (Vgl. Skeptizismus). Ainesidemos begründete somit die Schule des „Jüngeren Skeptizismus“. Die Grundlage hierfür waren seine 10 Gründe zur Rechtfertigung der zweifelnden Skepsis:
1) Die Verschiedenheit der Lebewesen
2) Die Verschiedenheit der Menschen
3) Die Verschiedenheit der Sinnesorgane
4) Die Verschiedenheit der Zustände des Indivduums
5) Die Verschiedenheit der Lagen, Entfernungen, Orte
6) Das Vermischtsein des Wahrnehmungsobjekts mit anderen Objekten
7) Die Verschiedenheit der Erscheinungen, je nach ihrer Verbindung
8) Die Relativität überhaupt
9) Die Abhängigkeit von der Anzahl der Wahrnehmungen
10) Die Abhängigkeit von Bildung, Sitten, Gesetzen, religiösen und philosophischen Anschauungen

Auch im heutigen Abendland wird man mehr und mehr darauf aufmerksam, daß auch an jeder „rein“ wissenschaftlichen Erkenntnis der Glaube einen großen Anteil hat, z.B. der Glaube an die – wenn auch nicht vollkommene – Übereinstimmung der Erkenntnis- und der Seinskategorien. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozeß besteht aus einer psychophysischen Grundrelation (a posteriori) und einer kategorialen Grundrelation (a priori) als Verhältnis zwischen Erkenntnis- und Seinskategorien. Im Wahrnehmungsakt sind beide Grundrelationen im Spiel: die kategoriale bringt die Allgemeincharaktere des Gegenstandes zum Bewußtsein, die psychophysische die individuellen Sondercharaktere. „Durch die kategoriale Grundrelation begreifen wir, wissen wir aber nicht um das Dasein; durch die psychophysische Grundrelation wissen wir um das Dasein, begreifen es aber nicht.“ (N. Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, 1921). Schon Philosophen wie Leibniz („Prästabilisierte Harmonie“), Spinoza, Schelling, Schopenhauer und hatten z.B. für das Verhältnis zwischen Denken und Sein oder Psychischen und Physischen einen psychophysischen Parallelismus angenommen, wonach die beiderseitigen Verläufe einander sachlich und zeitlich streng entsprechen, ohne im mindesten in Wechselwirkung zu stehen. Fechner (1801-1887), der Begründer der Psychophysik, wollte die gesamte Leib-Seele-Frage über den psychophysischen Parallelismus lösen. (). Er gelangte durch Verallgemeinerung, Erweiterung und Steigerung der Gesichtspunkte über das Erfahrbare hinaus zu einer panentheistischen und panpsychistischen Naturphilosophie. Nach dem Panpsychismus sind alle Dinge beseelt, haben Leben und Bewußtsein, als ob nichts wirklich Totes existiere. Der Panentheismus ist die Vereinigung von Theismus, der das All, die Natur, von Gott machen läßt, und Pantheismus, der das All, die Natur zu Gott macht. Der Panentheismus aber ist keine All-Gott-Lehre, sondern behauptet nur das Enthaltensein des Weltganzen in Gott. Von der romantischen Naturphilosophie beeinflußt, bemühte sich der Physiker, Psychologe und Philosoph Fechner, für das Psychische ein physikalisches Maß zu finden und die Beziehung von Leib und Seele mathematisch zu formulieren und begründete nebenbei die experimentelle Psychologie und damit die Psychophysik, die von Wilhelm Wundt (1832-1920) und seinem psychologischen Institut in Leipzig weiter ausgebaut und zu einer der wichtigsten Grundlagen der Psychotechnik wurde. Wundt sagte über den psychophysischen Parallelismus, „daß alle diejenigen Erfahrungsinahlte, die gleichzeitig der mittelbaren, naturwissenschaftlichen und der unmittelbaren, psychologischen Betrachtungsweise angehören, zueinander in Beziehung stehen, indem innerhalb jedes Gebiets jedem elementaren Vorgang auf psychischer Seite ein solcher auf physischer entspricht“. Die Gesamtheit der im Großhirn liegenden Endabschnitte der von den Sinnesorganen ausgehenden chemisch-physikalischen Wirkungsreihen (vgl. Reize) wird häufig auch als psychophysisches Niveau bezeichnet. Nur diejenigen Prozese in den Nervenbahnen und überhaupt im nervösen System des körperlichen Organismus sind bewußtseinsfähig und können eine Empfindung oder Wahrnehmung konstituieren, die sich im psychophysischen Niveau abspielen. Weil Näheres unbekannt ist, bleibt die Angelegenhiet eine Leib-Seele-Frage, und die Beziehungen zwischen Leib und Seele, die besonders in der heutigen Medizin, Psychotherapie und Psychopathologie eine zentrale Rolle unter der Bezeichnung Psychosomatik spielen, sind überhaupt nicht geklärt. Die Vorgänge im psychophysischen Niveau müssen als metaphysisch und metapsychisch zugleich aufgefaßt werden ; nur gewisse Glieder dieser Vorgänge treten als physiologische Erscheinungen auf.

„Der Seele Wissen kannst Du nicht ausfinden,
auch wenn du jeglichen Weg abschrittest,
so tief ist ihr Wesen“ (Heraklit)

Ob man im Bereich der Seele überhaupt noch weiterkommen kann? Vielleicht mit einer Parapsychologie? Seitdem sich die Naturwissenschaft, d.h. die naturwissenschaftlichen Disziplinen, auch mit Parapsychologie, d.h. mit denjenigen Äußerungen seelischer Kräfte beschäftigt, die ihrer Art nach naturwissenschaftlich sein müßten, es aber nicht sind (!), hat man den Mesmerismus natürlich längst vergessen, spricht statt dessen von Psi-Phänomenen und unterscheidet hierbei Psi-Gamma-Phänomene (Wahrnehmungserscheinungen: Hellsehen, Präkognition, Vorwegnahme künftiger Ereignisse u.s.w.) und Psi-Kappa-Phänomene (Bewegungserscheinungen: Psychokinese, seelische Fernbeeinflussung eines Objekts u.s.w.). Eine „Gesellschaft für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie“ wurde z.B. 1950 in Freiburg (Breisgau) gegründet. Ist hier die Wissenschaft zu optimistisch geworden oder resigniert sie vor sich selbst, indem sie Wissen zu erreichen zwar vorgibt, aber den Glauben meint,ohne es zu wissen? Sucht die Wissenschaft im Optimismus einen Halt, um den Pessimismus aus der Phase des Nihilismus zu überwinden oder verstärkt sie ihn unterschwellig dadurch sogar noch? Oder will sie einfach nur Geld ? Man darf hier skeptisch bleiben.
Die typischen Züge des Skeptizismus wurden also von Ainesidemos noch weiter intensiviert: das Mißtrauen gegen die Sinneswahrnehmnug, die überlieferten Denkgewohnheiten sowie gegen ethische und politische Wertvorstellungen und Vorurteile. Die völlige „Enthaltung“ (epoch) des Urteils, für die Pyrrhon sich so stark gemacht hatte, ließ natürlich nur noch aporetische Argumente zu; aber genauso ausweglos oder ratlos (aporetisch) stand man mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit da, den die mittlere, vor allem aber die neuere Akademie favorisierte. (Vgl. Karneades). Da die Unerschütterlichkeit und Unverwirrtheit (ataraxia), die Pyrrhon als das praktisch-sittliche Ideal ansah, für die praktische Orientierung des Handelns gelten sollten, resultierte daraus, zusammen mit der theoretischen Orientierung des Denkens – der epoch – eine nur noch von den Indern zu übertreffende Gelassenheit. Während die abendländische Kultur die energischste Art einer Inhaltsdynamik ist, forderte die antike Kultur genau gegenüber dieser Art die Zurückhaltung. epoch geisterte durch alle Schriften der Antike und deshalb wahrscheinlich auch durch die gesamte Lebensart dieser statischen Kultur. Aber gerade diese Gegensätze erlauben es uns, unsere eigenen Fehler im Spiegel der Antike zu erkennen und von dieser verstorbenen Kultur zu lernen, denn ihre Geschichte ist uns ziemlich gut bekannt. Die Möglichkeit, von uns auf diese Weise zu lernen, hatte die Antike nicht. Die Analogien von Akademie und Idealismus einerseits sowie Skeptizismus und Lebensphilosophie andererseits lehren uns z.B. die in jeder zivilisierten Kultur notwendig werdende Skepsis, deren Höhepunkt (eher: Tiefpunkt) wir Abendländer noch vor uns haben. (Vgl. Beispiel).
Tatsächlich wurde die von Arthur Schopenhauer begründete Lebensphilosophie ein Wegbereiter für Nachfolgerund Nachahmer. (). Allgemein gesehen ist Lebensphilosophie jede Philosophie, die nach Sinn, Ziel, Wert des Lebens fragt, besonders wenn sie sich vom theoretischen Wissen ab- und der unverfälschten Fülle des unmittelbaren Erlebens zuwendet. Die eigentliche Lebensphilosophie will „das Leben aus ihm selber verstehen“. Nietzsche, Freud, Simmel, Bergson, Klages, Spengler und Keyserling, um nur einige Beispiele zu nennen, waren dieser Lebensphilosophie, diesem abendländischen Skeptizismus, genauso treu geblieben wie nach ihnen die Existenzphilosophen Heidegger, Jaspers und Sartre. In der Existenzphilosophie werden z.B. drei verschiedene Gestalten unterschieden: die Existenzial-Ontologie von Heidegger, deren Leitfrage die nach dem Sinn des Seins ist; die Existenzerhellung von Jaspers, die jene Frage als unmöglich ablehnt und sich auf die Erhellung der Seinsweise der menschlichen Existenz und ihrer Bezüge zur (göttlichen) Transendenz konzentriert; der Existentialismus von Sartre, der, von Husserl und Heidegger ausgehend, einen realistischen Standpunkt im Bezug auf Sinn und Zweck des Daseins vertritt. (). Ob auch Sloterdijk, der an der „wahren Geschichte“ der Globalisierung arbeitet, dieser Richtung der Lebensphilosophie treu bleiben oder seher eine abendländische neu-akademische Skepsis begründen wird, ist noch nicht abzusehen, denn er gehört unserer Gegenwart an und ist noch jung. Jedenfalls wird die internationale „Schopenhauer-Gesellschaft“ wohl auch in Zukunft eine Schule der Längerfristigkeit bleiben, denn ebenso verhielt es sich in der Antike mit dem Pyrrhonismus (= Pyrrhons Skeptizismus).

Auch die Schulen der Stoa und der Epikuräer hielten sich lange, was man mit Blick auf die
Zukunft für die abendländischen Soziologie- und Psychologie-Schulen sicherlich ebenfalls annehmen darf.

Panaitios von Rhodos (um 180-110), der Begründer der Mittleren Stoa, verpflanzte die griechische Bildung nach Rom und wurde dadurch der Begründer des römischen Stoizismus. Panaitios entfernte aus der Stoa die orientalische Mystik und die asketische Härte der altstoischen Ethik. (). Er gilt auch als Schöpfer des Begriffs „Humanität“. Poseidonios (um 135-51) wurde zum einflußreichsten Denker der Mittleren Stoa und war ebenfalls Leiter der von Panaitios in Rhodos gegründeten Schule, wo Cicero (106-43) und Pompeius (106-48) ihn hörten. Poseidonios war Philosoph, Naturforscher, Mathematiker, Astronom, Geograph, Historiker, Ethnograph zugleich und deshalb wahrscheinlich der universalste Gelehrte seiner Zeit. Er schuf ein eklektizistisches philosophisch-wissenschaftliches System, das den dualistisch in Leib und in (zur Strafe in den Leib eingekerkerte) Seele aufgespaltenen Menschen im Mittelpunkt der göttlichen Allnatur sieht. Für das römische Volk wurde die Stoa immer mehr zu einer Art ethischer Religion, besonders in der schon bald folgenden Kaiserzeit, in die auch die Gründung der Neuen Stoa fiel (etwa 20/50). Gott und Natur waren der Stoa, die nach Art des Eklektizismus bzw. Synkretismus die verschiedensten Lehren in sich aufnahm, eins, das Menschenwesen ein Teil der Gott-Natur:
Alles Wirkliche und Wirkende ist körperhaft; die Kraft ist nicht etwas Inmaterielles oder Abstraktes, sondern der feinste Stoff selbst. Die wirkende Kraft im ganzen der Welt ist die Gottheit. Sie durchdringt die Welt als ein allverbreiteter Hauch (Lichtäther); sie ist die Weltseele, die Weltvernunft. Aller Stoff ist eine Modifikation dieser göttlichen Kraft, und alles löst sich in ewigem Wechsel wieder auf in die göttliche Kraft. Alles geschieht nach einer inneren und absoluten Notwendigkeit, und das absolut Notwendige ist zugleich das absolut Zweckmäßige. Andererseits lehrte die Stoa die Willensfreiheit. Eben darum lautet die ethische Forderung: (aus Freiheit) in Übereinstimmung mit der Natur leben! Weil aber die menschliche Vernunft, sofern sie wirklich diesen Namen verdient, ein Teil der Weltvernunft ist, so heißt naturgemäß leben zugleich auch vernunftgemäß leben. Alles sittliche Handeln ist nach der Stoa nichts anderes als Selbsterhaltung und Selbstbehauptung; aber sich selbst fördern heißt, wenn es im rechten Sinne geschieht, zugleich auch das allgemeine Wohl fördern. Alle Sünde und Unsittlichkeit ist nichts als Selbstzerstörung, Verlust der eigensten Menschennatur, Krankheit der Seele.

Ein kurzer Rückblick auf die „Linguistische Wende“: Ausgehend von der Linguistik – vom postum erschienenen Werk Cours de linguistique génerale (1916) des Schweizers Ferdinand des Saussure (1857-1913) – beeinflußte der Strukturalismus rasch die Methoden der „Wissenschaften vom Menschen“, darunter z.B. Anthropologie, Ethnologie, Psychologie, Soziologie, Kunstästhetik u.a.. Der Strukturalismus sieht in der Sprache, die als „Code“ aufgefaßt wird, d.h. als ein nach bestimmten Regeln kombinierbares Zeichensystem mit kommunikativen Funktionen, den Prototyp jeder ganzheitlichen Organisation der Wirklichkeit. Die vom Strukturalismus synchronisch untersuchten Sprachmodelle werden methodisch auf den gesamten Bereich des menschlichen Verhaltens ausgedehnt, besonders auf die gesellschaftlichen Phänomene. Der Strukturalismus will also antigeschichtlich und amtimetaphysisch bzw. antiideologisch vorgehen. Der Soziologe Lévi-Strauss (*28.11.1908) entwickelte z.B. eine Theorie, die davon ausgeht, daß „Kulturerscheinungen in einer anderen Ordnung der Wirklichkeit Phänomene vom gleichen Typus wie die sprachlichen sind“. Dieser Ansatz eröffnet die Möglichkeit, bestimmte Beziehungen zwischen der Sprache als dem Benennungssystem und dem System der menschlichen Werthaltungen und Einstellungen gegenüber natürlichen Phänomenen herauszuarbeiten. Bei Lévi-Strauss verschwindet das Subjekt zugunsten der Strukturen: „Ich habe nie das Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt, habe es auch jetzt nicht. Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist. Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, auf der sich Verschiedenes ereignet. Die Straßenkreuzung selbst ist völlig passiv; etwas ereignet sich darauf. Etwas anderes, genauso Gültiges, ereignet sich andeswo. Es gibt keine Wahl, es ist einfach eine Sache des Zufalls.“ Lévi-Strauss entleerte in seiner strukturalen Anthropologie das Subjekt von außen, Lacan (1901-1981) von innen – wie Freud. (). Das Unbewußte ist sprachlich strukturiert, und: „da ich nicht über mein Unbewußtes verfüge, kann ich kein autonomes Subjekt sein“, so der strukturalistische Psychoanalytiker Lacan.
Analytische Philosophie setzt auf die formal erweiterte Logik (mehrwertige Logik bzw. Logistik), auf Sprache, ihre Syntax. Es sollen künstliche Sprachen aufgebaut werden, zurückgreifend auf den einfachen sprachlichen Inhalt der Sätze (Syntakteme). Beim Versuch, die Welt wissenschaftsgültig zu beschreiben, stieß z.B. Rudolf Carnap (1891-1970) mit seinem Konstitutionssystem auf Sprachschwierigkeiten. Deshalb versuchte er die Sprachprobleme durch formale, künstliche Sprachen zu lösen. Er glaubte, wissenschaftliche Erkenntnisse darstellen zu können.
Ludwig Wittgenstein (1889-1951) beschäftigte sich zunächst mit einer Idealsprache zur Abbildung der Tatsachenwelt, und dann, mit seiner Idee der Sprachspiele, der Umgangssprache. „Alle Philosophie ist Sprachkritik“, sagte Wittgenstein: „Der Satz kann die gesamte Wirklichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit gemeint haben muß, um sie darstellen zu können – die logische Form. Um sie darzustellen, müßten wir uns mit dem Satz außerhalb der Logik aufstellen können, d.h. außerhalb der Welt.“ Er kam zu dem zum Schluß: „Das Resultat der Philosophie sind nicht philosophische Sätze, sondern das Klarwerden von Sätzen. …. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“
In den „Philosophischen Untersuchungen (erschienen 1953) revidierte Wittgenstein diese Ansichten teilweise: „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben“. Wittgensteins Kunde, daß alle Philosophie Sprachkritik, der Rest Schweigen und alle Wahrheit auf das klar Sagbare, also die Naturwissenschaft, eingegrenzt sei, verrät, weil ja die Eingrenzung selbst beredt ist, den Grund seiner Philosophie: eine unsagbare private Subjektivität.
7 Haupt-Sätze (nach Wittgenstein):

1) Die Welt ist alles, was der Fall ist.

2) Was der Fall ist, die Tatsache, ist
das Bestehen von Sachverhalten.

3.) Das logische Bild der Tatsachen
ist der Gedanke.

4.) Der Gedanke ist der sinnvolle Satz.

5.) Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion
der Elementarsätze.

6.) Die allgemeine Form der
Wahrheitsfunktion ist:
_ _ _
(P, x, N(x)).

7.) Wovon man nicht sprechen kann,
darüber muß man schweigen

Postmoderne bedeutet problemlose Vielfalt der Lebensformen oder Lebensstile, die ja nach Wittgenstein Sprachspiele sind. „Die Postmoderne ist der Zweifel an allen großen Erzählungen, also auch an Ideologien, Ideale oder Utopien wie Psychoanalyse, Marxismus, Christentum und andere Religionen“, philosophierte Lyotard (1934-1998). Er verfaßte 1979 die Programmschrift „Das postmoderne Wissen“, wobei er den in amerikanischen Architektur-Debatten bereits gängigen Begriff „postmodern“ aufnahm, welcher Vielfalt der Stile (Codes) bzw. Silelemente in einem Objekt bedeutet, mindestens Zweiheit eines elitären und eines populären Codes. Dieser Begriff aus der Ästhetik, angewendet auf das Wissen, die Sprachspiele, die Diskurse, meint: Ästhetisierung der Vernunft. Alle Denkformen, Interpretationen, Sprachspiele sind möglich. „Anything goes“, formulierte Karl Feyerabend (1924-1994) und machte, wie Lyotard, damit einen Befund von Max Weber (1864-1920) geltend, der schon zu Anfang des Jahrhunderts einen nicht mehr synthetisierbaren Pluralismus und Widerstreit letzter Sinngebungen in der abendländischen Gesellschaft konstatierte. Es gibt keinen umfassenden, maßgebenden Metadiskurs, keine „großen Erzählungen“ mehr „wie die Dialektik des Geistes (Hegel), die Hermeneutik, die Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts (Marx), des Sinns (Heidegger)“, schrieb Lyotard in einer Studie. Das soziale Leben ist ein Ensemble von Zügen in Sprachspielen, die nirgendwo ihre Legitimation haben.
Niklas Luhmann (1927-1998) betrachtete Gesellschaft als Kommunikationssystem mit vielen mehr oder weniger selbständigen Subsystemen. Kommunikation bezieht sich dabei immer nur auf sich selbst. Die Subjekte oder Menschen mit ihrem Körper und ihrer Psyche gehören nicht mit zum System. Sie bilden die Umwelt des Systems oder der Gesellschaft. Luhmann kann sich sogar vorstellen, daß die Kommunikation weiterläuft, auch wenn es längst schon keine Menschen mehr gibt (!). Wissen und Vernunft befindet sich nicht in den Köpfen oder Psychen, sondern in Büchern, Datenspeichern oder im Internet. Das Verschwinden des Subjekts ist im Buddhismus ein religiöses Ideal. Luhmann hat aus seiner Sympathie mit dem Buddhismus keinen Hehl gemacht. (Vgl. Eurobuddhismus). Das eine Auge, das alles sieht, Gott, gibt es nicht mehr, nicht mehr die Wahrheit und den Blick aufs Wirkliche. Statt dessen nur mehr Beobachtung der Beobachtung, selbstreferentielle, rekursive Beobachtung: Luhmanns Beobachter des Beobachters ist eine tragische Figur. Ihm ist die Welt abhanden gekommen. Er beobachtet nur, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie ein anderer beobachtet, wie … u.s.w.; aber er sieht nicht, wie er selbst beobachtet; denn das kann nur ein anderer beobachten, der auch nicht beobachten kann, wie er beobachtet … u.s.w.: Jeder hat seinen blinden Fleck. Und außer diesem gibt es nichts zu sehen.

„Die Kritische Theorie ist tot.“
(Sloterdijk, in: Die Zeit, 09.09.1999)
„Wenn kritische Theorie nur als Hyperbelkritik möglich ist, …, so kann das Prädikat
»kritisch« nur einer durchgehaltenen skeptischen Theorie vorbehalten sein.

Die emanzipierte Hyperbelkritik wird nicht mehr berabsetzend oder dekonstruktiv gegen die Gebilde vorgehen; sie nimmt sich, ohne sie abzuleiten, die Freiheit, Steigerungen des Lebens zu applaudieren, grundlos. Es genügt, daß der »Himmel Übermuth« (Nietzsche) über einer Übertreibung steht, um ihr
Recht zu geben. Dies entzieht der Skepsis nichts von ihrer zivilisierenden Kraft. …. Nietzsche ersetzt die Logoshyperbel durch die Kunsthyperbel, ja durch die freie Hyperbel, kraft welcher jetzt Leben und Übertreiben gleichgesetzt werden.

Die Hyperbelkritik beendet die kritische Theorie, indem sie den Vorzug der Übertreibung vor ihrer Einebnung statuiert. Gegen Hyperbeln helfen nur Hyperbeln. Wirklichkeit ist die Gewaltenteilung der Übertreibungen. Wem dies bewußt war, der mochte seine Gründe haben, warum er Jahr für Jahr unbeirrbar nach Sils-Maria reiste, um sich in Nietzsches Höhe von Mißverständnissen in der Mainsenke zu erholen.“
(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet – Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263, 273, 274).

In Wissenschaft und Technik verzeichnen wir in dieser spätmodernistischen Phase sowohl eine mehr als je zuvor zunehmende Spezialisierung als auch eine, insbesondere dem Wohlstand dienende Verbesserung und Verfeinerung mit globalen Auswirkungen. (). Was wir Abendländer heute Globalisierung nennen, gab es auf euklidisch-begrenzte Art auch in der Antike, und zwar einzigartig und punktuell. Das Abendland vernetzt heute denjenigen Weltraum, den die Antike als körperlich-stoffliche Ordnung dem Chaos geburtshelferisch abgerungen hatte. (Vgl. Kosmos). Die Antike kannte keine Raumfahrt, stellte dem Weltraum aber auf euklidisch-statische Art eine Ordnung, ein ptolemäisches Weltbild entgegen. Dennoch brillierte die Antike in der Zeit von 200/150 bis 80/180 in den Bereichen, die das Abendland zum größten Teil in ihren faustischen Entsprechungen noch vor sich hat, weil diese Phase hier gerade erst begonnen hat.
Was am Ende der Gotik durch den Buchdruck erreicht worden war, wird ab jetzt, im weltweit vernetzten Rahmen allerdings, ergänzt durch Bildschirme und Computer, die man, neben den Autos, Raketen und Weltraumschiffen, als Symbole für die Phase der Globalisierung im unendlichen Raum (Globalik) ansehen kann. Die Informationen rasen wie Raketen durch den Raum und kommen auf ähnlich individuelle Art zum Ziel wie Autos und andere moderne Mobile. Nicht umsonst heißen die Wege der Daten auch Datenautobahnen. In beiden Fällen sind es möglich gewordene Eindrücke der Fernsehenden und Fernreisenden. In der Konsequenz gibt es neben Autobahnen auch Datenautobahnen, neben Weltraumfahrt auch Datenweltraumfahrt. In dieser Globalphase steht uns das Erreichen des Zivilisationshöhepunkts bevor, dessen Anfänge wir gerade erleben. Schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts, am Ende der Gotik, erreichte derabendländische Kulturspracherwerb auch den ersten Kulturhöhepunkt mit den portugiesischen Globuseroberungen, dem deutschen Erdglobus und dem deutschen Buchdruck: die Zunahme der Leser, Globuskenner und Kulturreisenden bedeutete eine kultursymbolische Schriftfähigkeit. Mit der in der Gotik offenbar gewordenen Kompetenz zur eigenspezifischen Kultursymbolik ging am Ende auch der Humanismus einher, der sich heute sozusagen auf der gegenüberliegenden Seite befindet und wohl oder übel in einen Hominismus umgewandelt werden wird.
Humanismus und Hominismus bedeuten nicht nur Vollendung zweier Phasen – Gotik einerseits, Globalik andererseits -, sondern zugleich Vollendung einer ganzen und auch einer doppelten Kulturjahreszeit. Der gotische Humanismus beendete nicht nur das scholastische Quartal, den Frühling desMittelalters, sondern auch die geographisch auf Europa beschränkte 1. Hälfte der Abendlandkultur: Winter und Frühling (Spätantike und Mittelalter). Er bereitete den Sommer der Neuzeit vor. (Vgl. 10-12). Und am Anfang des 23. Jahrhunderts wird der global befruchtende Hominismus nicht nur den Herbst der Moderne endgültig beendet haben, sondern auch die Sommer und Herbst umfassende 2. Hälfte der Abendlandkultur: den Globalzeitraum. Durch ihn wird sogar die gesamte Sphäre der 4 Kulturjahreszeiten beendet werden. Mit der vollendeten Befruchtung wird er den Kreis geschlossen und den Winter der anderen Zeit vorbereitet haben.
Was vorher rein ursymbolisch-seelenbildlich vorbereitet worden war und in der Gotik auf der Oberfläche der Ozeane zum Beginn der konkreten Welteroberung führte, das wird in der jetztigen Phase mit der Weltalleroberung in aller Tiefe vollendet werden. Der Computerbau zeigt vielleicht schon jetzt an, wie weit wir mit bestimmten Beispielen aus der Technik kommen könnten: Mathematiker haben ausgerechnet, wann die Computerbauer spätestens an ihre Grenzen stoßen werden. Sollten sie mit derselben Geschwindigkeit fortfahren wie bisher, dann wird dieses Limit etwa im Jahre 2230 erreicht sein, dann nämlich, wenn die Computer 5,4 x 1050 Operationen pro Sekunde ausführen und dabei 1031 Bit an Informationen speichern können. Dann tritt ein physikalischer Zustand ein, der unser heutiges Vorstellungsvermögen sprengt: alle Materie des Rechners wird dann in Energie umgewandelt – d.h. er verschwindet (!).
Bis spätestens zum Beginn des 23. Jahrhunderts wird sich die abendländische Kultur auf die anderen Umstände vorbereitet haben müssen, um mit der schwangeren Kulturpartnerin und dem kommenden Nachwuchs gemeinsam überleben zu können, auch weil dann der letzte, vollendende Zivilisationshöhepunkt erreicht sein wird. In der römisch-lateinischen Antike wurde der Höhepunkt dieser Phase mit einem (cicero-cäsarischen) Goldenen Zeitalter erreicht: eine Befruchtung und ein Cäsarismus, der von Marius bis Augustus einen Wechsel von pessimistischer zu optimistischer Stimmung erlebte, wenn auch auf antik verhaltene Art. Das Verhalten eines Gentleman, wie wir heute sagen würden, war in dieser Zeit besonders ausgeprägt, besonders in der mittleren (römisch werdenden) und neueren (explizit römischen) Stoa, die einst von Zenon in Athen gegründet worden war. (). Die Antike war ja bekanntlich eine ständig sich Enthaltsamkeit und politische Zurückhaltung (epoch) auferlegende Kultur. Gerade deswegen waren in der zivilisatorischen Urteilsenthaltung Persönlichkeiten sehr gefragt und die Antike, als populäre Kultur, in der Phase des Cäsarismus viel mehr auf Personenkult, Führer- und Gefolgschaft ausgerichtet als das heutige Abendland, das im Vergleich dazu als unpopuläre Kultur zu bezeichnen ist. (Vgl. Spengler). Weil die Antike an sich schon populär war, war sie es in der Zeit des Cäsarismus um so mehr. Heute assoziiert jeder durchschnittliche Zeitungsleser mit dem Begriff Antike Personennamen wie Cäsar, Augustus, Caligula oder Nero. Sie waren Staatsmänner, Diktatoren, Prinzeps oder Kaiser (Caesares), aber sie standen im politischen Mittelpunkt: als polisartig strahlend-euklidischer Punkt, der auf seiner ganzen Liniekeine Parallele kannte. Im Abendland hingegen gibt es seit Gauß mathematisch und seit Wegfall der Demarkationslinie auch politisch unendlich viele Parallelen zur eingefahrenen Linientreue. Deshalb ist man hier auch ständig böse auf die lenkenden Medien, obwohl man ihnen unentwegt nach dem Mund redet und weil man es satt hat, es ständig tun zu müssen. Autolenker und Meinungslenker sind sich offenbar zu ähnlich. Man möchte die unendlichen Möglichkeiten auch repräsentiert sehen, obwohl man sich gleichzeitig nach antiken Mustern umschaut und weil man es satt hat, unendlich viele, aber nicht das eigene Exemplar sehen zu dürfen. Es ist das antik-väterliche Erbe, das zum Durchbruch kommen will und, wenn es erschiene, doch wieder abgelehnt würde. Da die Antike aber tot ist, kann sie auch nicht erscheinen. Die Suche nach dem Cäsar bleibt, und weil das Abendland das Gegenstück zur Antike ist, geht diese Suche immer weiter. Der Cäsarismus steht uns in seinem größten Ausmaß erst noch bevor, und zwar mit dem angenehmen Nebeneffekt einer künstlichen Befruchtung. Wahrscheinlich wird er geklont daherkommen, weil die Opfer-Täter-Rollen dadurch vertuscht werden können. Ein solcher Cäsarismus steht dem Abendland auch viel besser zu Gesichte, denn es möchte nicht populär, sondern esoterisch erscheinen. Denn schon jetzt gilt: der abendländische Cäsarismus sieht anders aus als der antike, aber er ist genetisch mit ihm verwandt. Und noch eines ist sicher: die Festsetzung der Geburt Jesu als Zeitpunkt 0 (die wahre „Stunde Null“?) und damit der Beginn des Hinaufzählens der Jahre bis ins Unendliche ist nicht nur aus christlich-kirchlichen Gründen bedeutungsvoll, sondern auch aus ursymbolischen Gründen für das damals noch werdende Abendland, denn zu dieser Zeit wurde die genetische Information weitergegeben, d.h. zwei Kulturen liefen zu Höchstformen auf und lenkten ihr Interesse derart aufeinander, daß dadurch einer dritten das Leben ermöglicht wurde. Unter Augustus und Tiberius sollte das freie Germanien römisch werden, was Arminius verhinderte, und es sollten die Christen unbefruchtet bleiben, was Jesus verhinderte. (Und Paulus!). Die magische Kultur war schwanger, aber sie wußte es noch nicht. Und die noch nicht sichtbare faustische Kultur – das Abendland – war bereits auf dem Weg zur „Schlüpfung“ aus der ursprünglichen „Eizelle“, aber sie weiß es heute nicht mehr.
Im Verlauf der hier erwähnten Phase läßt sich am Grad der noch oder nicht mehr ausgeübten traditionellen Kulte in jeder Kulturgeschichte ganz genau ablesen, ob eine Befruchtung vollzogen wurde oder mißlungen ist. Alte religiöse Kulte z.B. können weiterhin gepflegt oder zugunsten neuer aufgegeben werden. Am Ende dieser Phase wird man wissen, wo im Koordinatenkreuz der Dichotomie Fruchtbarkeit-Unfruchtbarkeit sich das hierfür zur Hälfte verantwortliche Abendland dann befinden wird. Wahrscheinlich wird man dann auch wissen, ob und, wenn ja, welche werdende Kultur aus dem befruchteten, ursprünglichen Ei geschlüpft und auf dem Wege zur Einnistung sein wird.

Kulturphilosophisches Fazit –
Die Wissenschaft, die sich eigentlich schon in der Zeit der rationalistischen Hochdenker von der Philosophie getrennt hatte, ihr aber hyponym treu geblieben war, verselbständigte sich immer mehr. Sogar die sogenannten „Humandisziplinen“ wie Geistes-, Sozial- und Kunstwissenschaften trennten sich von der „Königin der Wissenschaften“. Technologie, Wissenschaft, Philosophie und Theologie starteten das Spätdenken als Neu-Theologien, wobei die einst ruhmreiche Theologie (ironischerweise) die ungünstigste Startposition innerhalb einer größtenteils säkularisierten Welt einnehmen mußte. So wie in der Antike Platon den Zerfall des Gemeinwesens und den Verlust der Verbindlichkeit mythischer Weltbilder erkannt und sie auf neue Weise in seiner Akademie idealistisch zu wiederinnernden Urbildern (Ideen, Archetypen) gemacht hatte, so versuchten die abendländischen Idealisten, über ihre Wiederinerung dem kulturellen Zerfall zu begegnen, indem sie romantizierend und national (lat. natio, Geburt; nationis, Abstammung, Volksstamm) ihrer vorgeburtlichen Geschichte auf die Schliche zu kommen, was dazu führte, daß auch ihre Anamnese, ganz im Sinne Platons, zu einer wiedererinnernden Erkenntnis werden und den Weg in eine Neu-Religion ebnen konnte. Sowohl in der Antike als auch im Abendland beduetete ein solcher Weg, daß er von einer Neu-Theologie (z.B. Idealismus, mit Pantheismus, Panentheismus u.s.w.) auzugehen und in eine Neu-Religion zu münden habe, auch und gerade dann, wenn dies verschwiegen wurde. (). Dieser Weg wird immer vom Idealismus beschritten, vom Nihilismus negativ verstärkt, um dann vom Globalismus, und zwar auf global-eklektizistische Weise, synthetisch bestätigt zu werden. Und diese Entwicklung von einer Neu-Theologie zu einer Neu-Religion bedeutet antik, daß sie passiv und statisch respektiert oder bekämpft wird, und abendländisch, daß sie aktiv und dynamisch respektiert oder bekämpft wird. (). Auch hierin zeigt sich der Gegensatz zwischen antiker Gelassenheit, die wir heute gelegentlich noch stoische Ruhe nennen, und abendländischem Wettbewerb, den wir als den welweit größten Konkurrenzkampf kennen. Man kann die apollinische Kultur auch deshalb als eine Nähe-Kultur bezeichnen, weil hier fast jeder über fast alles informiert war, ja sein sollte, und das bei Passivität. (Vgl. Popularität). Dagegen muß man die faustische Kultur auch deshalb als eine Distanz-Kultur bezeichnen, weil hier fast alle über fast nichts informiert sind und trotz aller Dynamik und Höchstanstrengung auch bleiben sollen. (Vgl. Esoterik). Also: Wettbewerb!
Wie die Kultur insgesamt, ist auch die Philosophie der Spätdenker durch einen rigorosen, letztlich globalen Imperialismus gekennzeichnet. In der Antike gab es in der globalistischen Phase nicht mehr nur griechische Philosophen, sondern auch römische, die ihren Pragmatismus genauso einbringen konnten wie die angloamerikanischen Philosophen den ihrigen in die europäische Denkgeschichte. (). In Europa stieß das amerikanische Nützlichkeitsdenken zunächst auf heftigen Widerstand, weil das Erklären des Nützlichen zum Wahren hier oftmals als ein Angriff auf die abendländische Kultur verstanden wurde. Außerdem meinte man hier, daß derartige Grundideen schon bei Schopenhauer und Nietzsche zu finden wären. Aber die Überwindung der Subjektphilosophie stand auch hier an. Georg Simmel vertrat eine pragmatistische Wahrheitstheorie noch vor William James, bestimmte das Erkennen als „freischwebenden Prozeß“, übertrug die Aprioritätslehre Kants auf die Historik und analysierte das Phänomen der historischen Zeit. (). Max Scheler und Martin Heidegger übernahmen pragmatische Ideen, und für den zu der Zeit aufkommenden Nationalsozialismus erfüllte der Pragmatismus, gekappt um seine intersubjektiv-sozialen Züge, alsbald die Funktion einer aktivistischen Ideologie. Arnold Gehlen verband in seiner Anthropologie, die den Menschen als handelndes Wesen herausstellte, den Pragmatismus mit einer autoritären Theorie der Institutionen. (). Und Hugo Dingler gründete in seinem Buch Ergreifung des Wirklichen Erkenntnis auf Praxis. Sicher waren für ihn nur Willensaussagen und Handlungsanweisungen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 1960er Jahren, kam es, allerdings auf sehr opportunistische und also scheinmoralische Weise, mit Habermas‘ Universalpragmatik und Apels semiotischer Transformation der Transzendentalphilosophie zu einer (angeblich „vorurteilsfreien“, in Wahrheit aber mit vielen anderen Vorurteilen behafteten) Rezeption des USA-Pragmatismus, insbesondere von Peirce und Mead. Mit Peirce betrat die Philosophie gewissermaßen erstmals amerikanischen Boden. Ähnlich kritisch und polemisch wie die Stoa sich mit der Akademie und dem Peripatos auseinandersetzte, setzt sich heute auch der angloamerikanische Soziologismus (Pragmatismus) mit den Kantianern und Hegelianern auseinander. Der Stoizist Panaitios, Begründer der mittleren Stoa und damit des römischen Stoizismus, verpflanzte die griechische Philosophie und Bildung nach Rom, entfernte aus der Stoa die orientalische Mystizität und die asketische Härte der altstoischen Ethik. Panaitios war Schöpfer des (wohl gemerkt!) antiken Begriffs „Humanitas“; wer aber im Abendland einmal Schöpfer des kulturell akzeptablen Begriffs „Hominität“ sein wird, bleibt abzuwarten, obwohl das Thema selbst mittlerweile schon aktuell geworden ist.

– Tiefblick –
Daß die Zukunft der Philosophie globalistisch ausgerichtet sein soll, bestätigte auch das Ergebnis der vor einigen Jahren durchgeführten Umfrage unter 100 Berufsdenkern, d.h. Universitätshilosophen. (). Die meisten Antworten bezogen sich auf eine „planetare Verantwortungsethik für eine »multikulturelle Weltgemeinschaft«“, wie es z.B. Otto Apel formulierte. (). Ziele sind dabei die „Humanisiserung des Cybermenschen“, der Helden des 21. Jh., durch die Wiedereinsetzung der Grundideen politischer Theorie und Praxis und auch die Rettung von „Flora, Fauna und genetischer Substanz des Menschen“ durch eine neue „wahrhaftige und moralisch bindende Beziehung zur Menschheit als dem Stamme“. Die Philosophie der Zukunft will demnach praktische Philosophie sein, will der Menschheit helfen, unter den sich rasant verändernden Umständen, d.h. mit den neuen technischen Mitteln, zu leben und zu überleben. Sie will selbstlos sein. Das eigene Leben des Philosophen tritt da ganz in den Hintergrund. Zwei Philosophen nannten aber auch das Bewußtsein als das eigentliche Problem der Philosophie. Bewußtseinsphilosophie schließt ja die Ziele der praktischen Philosophie nicht aus, denn Bewußtsein hat auch mit dem Leiblichen zu tun und ist auch immer affektiv bestimmt durch das, was Schopenhauer Willen nannte. Freud nannte es Eros (Libido). Bewußtsein und Vernunft sind durch und durch vom Lebens- oder Zeugungswillen bestimmt oder besessen. Die Bewußtseinsphilosophie hat hier die Neuro- und Genbiologie einzubeziehen, sie sollte Anthropologie des Bewußtseins sein. Indem sie sich selbst aus dem (Zeugungs-) Willen heraus versteht, hat sie ihre eigene Psychonalyse zu betreiben. Die Sexualität des Bewußtseins, d.h. seine Affektivität und „Lebensbesessenheit“, die es natürlich immer schon gab, hat es heute mit einer neuen Situation zu tun: mit einer von der Sexualität, d.h. der Kopulation der Geschlechter, auf die das sexuelle Erkennen zielt, getrennten biotechnischen Lebensreproduktion. Bald schon wird es von „verantwortungsvollen und vermögenden“ Eltern keine „natürlich“ gezeugten und ausgetragenen Kinder mehr geben. Ebenso entscheidend wie die Lebensweitergabe ist die Lebenserhaltung. Durch die Fortschritte in der Genetik und Neurobiologie werden unsere Krankheiten und unser Ableben immer genauer prognostizierbar. Unser Leben wird immer weiter fortsetzbar durch Organtransplantationen und künstliche Organe, bald auch durch nanotechnische Reparatur der Organe und Körperteile – Stück für Stück, Molekül für Molekül.
Wenn Menschen wissen, daß sie ihr Leben nur noch dann verlieren können, wenn sie getötet werden, womit würden sie dann ihr ewiges Leben sonst verbringen als mit Maßnahmen gegen das Getötetwerden? Das anthropotechnische Wissen ist ein Wissen vom Leben, das uns womöglich hindert, „human“ zu leben. Weil wir dann die „Neu-Hominiden“ sein werden, werden wir uns wohl oder übel jetzt schon auf die neuartige „Hominität“ einstellen müssen.
Wie genau wird unsere zukünftige Religion, diese zusätzlich „neohominid“ daherkommende Neu-Religion, definiert sein? Wird sich bis dahin ein revolutionäres oder reaktionäres Potential gegen alle bisherigen gesellschaftlichen Traditionen entwickelt haben? Es gibt ja schließlich noch einen dritten Komplex außer Sex und Tod, der unser Bewußtsein bestimmt: Transzendenz, ein Jenseits oder Gott. Denn Bewußtsein ist immer auch Bewußtsein vom möglichen Ganzen des Daseins, der Welt. Doch auch wenn Bewußtsein sich im jenseitigen Raum Gottes gegenüber der diesseitigen Welt befindet, bleibt der menschliche Körper doch faktisch in der letzteren. Auch wenn er sich noch so weit in den Weltraum vorwagt, sich also durch die extraplanetarischen Ausflüge und Aktivitäten zugleich Gott nähert, bleibt er im Diesseits gegenüber der Welt Gottes. (). Vielleicht aber wird die Informationsstechnologie sogar für einen realen Gott sorgen, der die Geschicke, Gedanken und Taten der Menschen leitet. Ist der von Menschen gemachte Mensch, der künstliche Mensch, der Mensch der Zukunft? Unser eigenes Bewußtsein wird wohl lernen müssen, sich als Bewußtsein einer Maschine, als gemachtes und doch in seinem faktischen Sein unhintergehbares, in sich geschlossenes Dasein zu verstehen. Bereits heute werden Organe (auch Gehirne) mit nicht-biologischer Intelligenz aus- und aufgerüstet oder repariert. In Zukunft werden Kleinstcomputer (Nanobots) von der Größe einer Zelle unsere Gehirnfunktionen verbessern. Man wird mit ihnen das Gehirn erkunden, Synapse für Synapse abtasten, Transmitter für Transmitter, und ein Gehirn kopieren können. Ray Kurzweil prognostizierte dies bereits 1999 in seinem Buch Homo S@piens – Leben im 21. Jahrhundert. Mit solchen Kleinstcomputern wird man virtuelle Realität erzeugen. Milliarden von Nanobots werden dann als künstliche Neuronen in unser Gehirn geschickt, die sich an jedem einzelnen, von unseren Sinnesorganen herkommenden Nervenstrang festsetzen. „Wenn wir reale Realität erleben wollen, dann halten die Nanobots still. Für das Erlebnis virtueller Realität unterbrechen sie die Zufuhr realer Reize und setzen künstliche Signale an ihre Stelle“. Bald schon wird das World Wide Web aus virtuellen Begegnungsstätten bestehen, die genauso real sind wie jeder Ort der Welt. Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, auf dem Weg zu einer neuen Existenz. Deshalb kann die zukünftige Philosophie eigentlich nur eine Existenzphilosophie: eine Lebensphilosophie, die nicht der zu radikalen Skepsis, d.h. dem Nihilismus, folgt, sondern einer mehr gemäßigten Variante, die die globalistischen Skeptiker bevorzugen, so wie einstmals die antiken Skeptiker (skeptikoç) mit ihrer Epoché (epoch – An[sich]halten, Urteilsenthaltung) und Ataraxie (ataraxia – Unerschütterlichkeit).

Tabelle
Analoge (Spät-) Philosophien
antik von ca. 400 v. Chr. bis ca. 150 n. Chr.
abendländisch von ca. 1750 bis ca. 2300
(18-20, 20-22, 22-24)
3) Pythagoräer Rel.-pol.-arist. Rationalismus seit -550
4) Subjektivisten Elemenekinetik; Heraklit u.a. seit -520
5) Atomisten Naturph.; Leukipp/Demokrit, .. seit -490/-460
6) Sophisten Anthropologie/Aufklärung seit -475/-450
7) Sokratiker Sokrates, Maieutiker seit -440
8) Megariker Eristiker (Streiter) Euklid v. Megara seit -430
9) Kyrenäiker Aristippos von Kyrene, Hedoniker seit -400
10) Kyniker (Autarkisten) Antisthenes, Diogenes seit -400
11) Platoniker Platon, Alte Akademiker seit -385
12) Aristoteliker Aristoteles, Peripatetiker seit -335
13) 2. Kyniker Älterer Diogenes seit -330
14) Skeptizisten Pyrrhon, Zweifler/Pyrrhonisten seit -315
15) Stoizisten Stoizismus (Stoa poikile) Zenon seit -300
16) Epikuräer Epikur seit -300
17) 3. Kyniker seit -300
18) 2. Aristoteliker Jüngere Peripatetiker seit -287
19) 2. Platoniker Mittlere Akademie seit -270
20) 4. Kyniker seit -270
21) Aristarchos (Neu-Aristoteliker) seit -270
22) 5. Kyniker seit -190
23) 3. Platoniker Neuere Akademie seit -160
24) 2. Stoizismus Mittlere Stoa seit -150
25) 2. Skeptizismus Jüngere Skeptiker seit -70 (-50)
26) 2. Epikuräismus Jüngere Epikuräer seit -70 (-50)
27) 3. Stoizismus Neue Stoa seit 20 (50)
28) 1. Gnostizismus Alexandrinische Schule seit 20 (50)
29) 1. Patristik Apostolische Kirchenväter seit 70 (80)
30) 6. Kyniker Dion Chrysostomos von Prusa seit 70 (80)
31) Mittlerer Platonismus (Plutarch u.a.) seit 70 (80)
32) 2. Gnostizismus Alexandrinische Schule seit 150
33) 2. Patristik Apologeten seit 150
34) Aristotelischer Stoizismus seit 160 (180)
35) 3. Skeptizismus Letzte Skeptiker seit 200 (250)
36) Neu-Platonismus (Plotinos u.a.) seit 220 (250) PSEUDO
PSEUDO
PSEUDO
PSEUDO
3) Pol.-rel. Empirismus Polit. Rationalismus seit 1600
4) Subjektivismus Rationalismus; Descartes u.a. seit 1630
5) Atomismus Monaden/Infinitesimal., Leibniz seit 1660-90
6) Aufklärung seit 1685 (1700)
7) Naturalismus-Subjektivismus seit 1710
8) Naturalismus/Deismus Freidenker seit 1720
9) Sensualismus Positivisten/Materialisten seit 1750
10) Früh-Romantik Sturm-und-Drang seit 1760
11) Kantianer Transzendental-Idealismus, Kant seit 1770
12) Hegelianer Idealismus, Hegel, Alt-Hegelianer seit 1800
13) Hoch-Romantik „Klassische“ Romantik seit 1800
14) Lebensphilosophen Existentialisten seit 1820
15) Soziologisten seit 1820
16) Psychologisten seit 1820
17) Spät-Romantik seit 1840
18) Jung-Hegelianer Jüngerer Idealismus seit 1850
19) Neu-Kantianer Neu-Idealismus seit 1860/1870
20) Neu-Romantik seit 1870/1890
21) Neu-Hegelianer Neu-Idealismus seit 1880/1900
22) Neu-Neu-Romantik Neu-Ökologismus seit 1960
23) Neu-Neu-Kantianer Neu-Neu-Idealismus seit 1990
24) 2. Soziologismus seit 2000
25) 2. Lebensphilosophie ab 2080 (2100)
26) 2. Psychologismus ab 2080 (2100)
27) 3. Soziologismus ab 2170 (2200)
28) 1. ………………… ab 2170 (2200)
29) 1. ………………… ab 2220 (2230)
30) Neu-Neu-Neu-Romantik ab 2220 (2230)
31) Mittlerer Kant..?..ismus ab 2220 (2230)
32) 2. ………………… ab 2300
33) 2. ………………… ab 2300
34) Hegelianischer Soziologismus ab 2310 (2330)
35) 3. Lebensphilosophie ab 2350 (2400)
36) Neu-Kant..?..ismus ab 2370 (2400)

Analoge Theologien
– PURITANISMUS –
26) Dionysos-Kult zu: Rationalismus; seit Pythagoräer
27) Theogonie zu: Idealismus/Real.; seit Platon – Aristoteles
28) Gegenreformation (6) Zeus-Götterwelt seit – 7. / – 6. Jh. 26) Neuscholastik (5) zu: Rationalismus; seit Leibniz – Wolff
27) Neumystik zu: Idealismus/Romantik; seit Kant – Hegel
28) Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.

Nur die Zeus-Welt (Rom: Jupiter-Welt) bleibt: Gegenreformation und deren Neuscholastik.

=> Alle analogen Schulen der Antike und des Abendlandes im Überblick Sterberate = Positive Wachstumsrate (= Bevölkerungsmehrung wegen Geburtenüberschuß bzw. Sterbedefizit); Geburtenrate = Sterberate = Neutrale Wachstumsrate (Gleichstand [also: kein Wachstum]); Geburtenrate < Sterberate = Negative Wachstumsrate (= Bevölkerungsminderung wegen Geburtendefizit bzw. Sterbeüberschuß). Weil die „rohe“ Geburtenrate nicht ausreicht, um die „Gründe“ für den Geburtenrückgang zu „erklären“, gibt es auch noch die Fruchtbarkeitsrate (Fertilitätsrate, – ziffer). Vgl. Demographie, „Übergangstheorie“, „ökonomisch-demographisches Paradoxon“.
Fruchtbarkeitsrate: das „Fortpflanzungsverhalten“ bzw. die gesamten Bedingungen und Motive des „generativen Verhaltens“ als die (insgesamte) „durchschnittliche Zahl von Kindern, die eine Frau im Laufe ihres Lebens gebären würde, wenn sie in jeder Altersstufe in Übereinstimmung mit der altersspezifischen Fruchtbarkeitsrate Kinder zur Welt bringen würde.“ (Fischer Weltalmanach, 2006, S. 781). Denn bei einer gegebenen Zahl von Frauen zwischen 15 und 45 Jahren hängt die Zahl der Geborenen z.B. „auch davon ab, wie sich die Frauen auf diese Altersjahre innerhalb des Intervalls von 15 bis 45 aufteilen. Je mehr von ihnen zu der Altersgruppe gehören, in der die meisten Kinder zur Welt kommen – in Deutschland liegt das Gebäralter mit der höchsten Geburtenrate bei 30 -, desto höher ist bei gleicher Zahl und gleichem Fortpflanzungsverhalten der Frauen die jährliche Geburtenzahl. Die Verteilung der Frauen auf die Altersjahre von 15 bis 45 ist in jedem der miteinander verglichenen Kalenderjahre oder Länder meist unterschiedlich. Deshalb wird bei zeitlichen oder internationalen Vergleichen künstlich eine gleiche Altersverteilung zugrunde gelegt, indem pro Altersjahr genau 1000 Frauen angenommen werden. Mit diesem Kunstgriff läßt sich die zur Erklärung von Verhaltensänderungen wesentlich besser geeignete, von den Einflüssen der Altersstruktur bereinigte »Zahl der Lebendgeborenen pro Frau« berechen, die auch als »zusammengefaßte Geburtenziffer« (englisch: Total Fertility Rate, TFR) bezeichnet wird. Der Begriff »zusammengefaßt« drückt dabei aus, daß die Kinder, die in einem Kalenderjahr von dem im Altersintervall von 15 bis 45 gleichzeitig lebenden 31 Frauenjahrgängen geboren wurden, zusammen berücksichtigt werden. Man tut dabei so, als ob die in einem Kalenderjahr geborenen Kinder von einer künstlich zusammengesetzten Generation zur Welt gebracht woren seien, die aus den 31 verschiedenen Jahrgängen besteht, die im Jahr der Betrachtung gemeinsam leben und in eienm unterschiedlichen Alter stehen. die simpel erscheinende statistische Größe – »Zahl der Geburten pro Frau« – läßt sich also nicht durch Umfragen ermitteln, sie ist das Ergebnis von Berechnungen, die auch Annahmen über die Zahl der Geburten enthalten, die die heute erst 15, 16, 20 oder 30 Jahre alten Frauen in der Zukunft noch haben werden. Eine dieser Annahmen ist beispielsweise, daß die im Jahr der Betrachtung 25jährigen zehn Jahre später als 35jährige so viele Kinder (pro 1000) zur Welt bringen werden wie die heute 35jährigen. Das klingt nicht nur ziemlich konstruiert, sondern ist es auch. Es gibt jedoch keine einfachere Methode um die Geburtenrate eines Landes in einem bestimmten Kalenderjahr – gemessen durch die simpel erscheinde Zahl der Lebendgeborenen pro Frau – anzugeben. Die Unterschiede der Altersstruktur machen sich auch dann störend bemerkbar, wenn nicht verschiedene Kalenderjahre oder Länder, sondern verschiedene Geburtsjahrgänge miteinander verglichen werden. In der Fachliteratur wird ein Geburtsjahrgang auch mit dem Begriff »Kohorte« und die Kinderzahl pro Frau eines Geburtsjahrgangs entspechend als »jahrgangs- bzw. kohortenspezifische Geburtenzahl pro Frau« bezeichnet (englisch: Completed [oder: Cohort] Fertility Rate, CFR). Auch bei der Berechnung der Geburtenzahl pro Frau für die verschiedenen Geburtsjahrgänge wird der im Zeitablauf variierende Einfluß der Altersstruktur künstlich ausgeschaltet, um den reinen Effekt des Fortpflanzungsverhaltens zu messen.“ (Herwig Birg, Die ausgefallene Generation, 2005, S. 35-36). Vgl. Demographie, „Übergangstheorie“, „ökonomisch-demographisches Paradoxon“.
Frankreich mit Geburtendefizit !
Claude Lévi-Strauss (*28.11.1908), belgischer Ethnologe, seit 1959 Professor am Collège de France in Paris, entwickelte die ethnologische Methode des Strukturalismus weiter, insbesondere zur Analyse der Verwandtschaftssysteme und Denkformen der schriftlosen Gesellschaften. Lévi-Strauss übertrug das Modell der linguistischen Strukturanalyse von Schweizers Ferdinand des Saussure (1857-1913) auf die so genannten Human- und Sozialwissenschaften und glaubte, herausgefunden zu haben, daß die in den Subjekten wirkenden Strukturen unbewußte Strukturen seien. Bei Lévi-Strauss verschwindet das Subjekt zugunsten der Strukturen. Er sagt: „Ich habe nie das Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt, habe es auch jetzt nicht. Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist.“ An anderer Stelle heißt es bei Lévi-Strauss: „Die Welt hat ohne den Menschen begonnen und wird ohne ihn enden. Die Institutionen, die Sitten und Gebräuche, die ich mein Leben lang gesammelt und und zu verstehen gesucht habe, sind die vergänglichen Blüten einer Schöpfung, im Verhältnis zu der sie keinen Sinn besitzen; sie erlauben bestenfalls der Menschheit, ihre Rolle im Rahmen dieser Schöpfung zu spielen.“ (Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, 1960). Auf Lévi-Strauss und Jacques Lacan (1901-1981) bezieht sich übrigens auch Michel Foucault (1926-1984). Der eine zeige für die Gesellschaften und der andere für das Unbewußte, daß der Sinn, als dessen Programmierer und Deuter uns z.B. Sartre immer noch ansehe, nur eine Spiegelung, ein Schaum sei, daß es das autonome System sei, was uns durchdringe und erhalte. Demnach könne es auch keine Freiheit des Denkens und auch keinen Sinn der Geschichte geben. Geschichte sei in den Strukturen gefangen.
Hermann Schmitz (*1928) geht vom leibhaftigen „In-der-Welt-Sein“ aus. (). In einem seiner Werke (Subjektivität, 1964) heißt es: „In meiner Analyse des leiblichen Befindens setze ich mir – soviel ich sehe, zum ersten mal in der Weltliteratur – das Ziel, ein abgerundetes Begriffssystem allein auf das Zeugnis des eigenleiblichen Spürens zu gründen, also dessen, was der Mensch, wie man sagt, am eigenen Leibe spürt.“ Schmitz, der Begründer der „Neuen Phänomenologie“, arbeitete ein in 10 Büchern vorliegendes System der Philosophie aus, dessen Basis die Erfahrung der Leiblichkeit und des Augenblicks unmittelbarer Betroffenheit ist. Er setzte bei der ursprünglichen, unwillkürlichen Lebenserfahrung an.
Noam Chomsky (*07.12.1928), Sprachwissenschaftler und Begründer der „Generativen Transformationsgrammatik“, die von einem angeborenen Spracherwerbsmechanismus (L.A.D.), d.h. vom „Nativismus“ ausgeht. Wissenschaftsgeschichtleich steht Chomsky in der Tradition des Rationalismus von Leibniz und Descartes. (). Mit dem Ausbau des Konzepts der „angeborenen Ideen“ wendet sich Chomsky gegen die behaviouristische Sprachauffassung (wie z.B. bei Skinner). Chomsky erweiterte seine Grammatiktheorie zu einer Theorie des Spracherwerbs, indem er die Entwicklung der Kompetenz durch einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus („Language Acquisition Device“) auf der Basis von grammatischen Universalien erklärte. Eine endliche Menge von Kernsätzen, die durch kontextfreie Phrasenstrukturregeln erzeugt werden, bilden die Basis für die Anwendung von Transformationsregeln, die einen prinzipiell unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln gewährleisten. Die These der Transformationsgrammatik begründete Chomsky in seinen „Syntactic Structures“ (1957), und diese Syntaxtheorie erweiterte er später mit seinen „Aspects of the Theory of Syntax“ (1965) zu einer allgemeinen Grammatiktheorie (inklusive Phonologie und Semantik).
Nativismus nennt sich die philosophisch-psychologische Position, die die kognitive Entwicklung des Menschen primär aus der Existenz von „angeborenen Ideen“ ableitet. In der neueren Sprachwissenschaft finden sich nativistische Erklärungsversuche vor allem bei Chomsky, der damit die Tradition rationalistischer Sprachauffassung Descartes', Leibniz u.a. sowie neuhumanistischer Sprachauffassung Humboldts u.a. fortsetzt. Die Gegenposition vertritt der Empirismus.
Logistik (mathematisierte Logik oder symbolische Logik) ist die moderne Form der Logik. Sie unterscheidet sich von der älteren, traditionellen Logik vor allem durch ihre Formalisierung (d.h. sie berücksichtigt nicht die inhaltlichen Bedeutungen der einzelnen Ausdrücke, sondern nur ihre syntaktische Kategorie und deren strukturelle Beziehungen) und Kalkülisierung (d.h. die Ausdrücke können nach festen Operationsregeln rein formal umgeformt werden, man kann mit ihnen logisch rechnen). Vgl. die Begründung der Logistik durch Friedrich Ludwig Gottlob Frege (1848-1925). Die analytische Philosophie beruft sich auf Logik als wissenschaftliche Sprache. Die bahnbrechende Arbeit dazu lieferte Frege mit seiner Begriffschrift (1879). Sie erweiterte die aristotelische Syllogistik, löste die dort nicht formulierbaren Probleme durch symbolische Wiedergabe von Sprachausdrücken. (). Freges Grundlagen der Arithmetik (1884) machte alle Philosophie der Zahl vor Frege „zu einem Konglomerat von 'Unsinn' in des Wortes strengster Bedeutung“ (B. Russel), weil sie einen grammatischen Fehler machte. Sie verwechselte die Zahl (z.B. 3) als Anzahl von Anzahlen (Gattung aller Dreiheiten) mit der Anzahl einer gegebenen Dreiheit (bloße Anzahl). Erst Frege unterschied und hielt dies und mehr ganz genau auseinander. Freges Schrift Über Sinn und Bedeutung (1892) wurde sogar bibelartige Grundlage der modernen Semantik.
„Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus. …. Jeder ist der Andere und keiner er selbst.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 127-128). In der Öffentlichkeit wird das Dasein in der Regel vom „Man“ beherrscht. Dieser Öffentlichkeit stellt Heidegger bekanntlich die „Eigentlichkeit“ entgegen. Von der Öffentlichkeit deutlich zu unterscheiden ist also bei Heidegger die Offenheit, das Offene, die „Lichtung“ !
Martin Heidegger (1889-1976) im Gespräch mit Rudolf Augstein (1923-2002), in: Spiegel (10), 1966.
Peter Sloterdijk (*26.06.1947), Der Denker auf der Bühne – Nietzsches Materialismus, 1986.
Peter Sloterdijk (*26.06.1947) in: Focus (34), 21.08.2000; S. 86. Weiter heißt es: „In diesem Sinn ist Nietzsche der größte Lehrer der individualistischen Lebensentscheidung gewesen. Wenn … über dem Tor der Alten Welt die Inschrift stand: Erkenne dich selbst!, so liest man über dem Tor zur modernen Welt: Werde du selbst! In Nietzsches Perspektive ausgelegt, bedeutet der erste Spruch: halte dich in der Mitte und überschätze dich nicht! Der zweite will hingegen sagen: Beende die Selbstunterschätzung und verlange mehr von dir!“
Gilles Deleuze (1925-1995) interesierte sich, ähnlich wie Peter Sloterdijk (*1947) für die umgekehrte Freud-Perspektive (vgl. Freuds Individual-Perspektive ), nämlich für die Frage: „Welche genuin gruppen- und massendynamischen Energien artikulieren sich in den Kollektiven und nur dort.“ (Vgl. Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 77-78).
Die Umfrage lautete: Wohin geht die Philosophie? 1999 erschien das Buch „Quo vadis, Philosophie? Antworten der Philosophen. Dokumentation einer Weltumfrage“.
Die Beweise sind doch evident: im heutigen Deutschland stellt schon allein sein Name nur noch ein Appell an Geldbörse und schlechtes Gewissen dar, schon allein die Worte „deutsch“, „deutsches Volk“, „national“ u.s.w. werden hier als „Kriegserklärung“ empfunden (mit der scheinheiligen Begründung, auch das hätte Hitler verursacht – dieser „ewige Minusmessias“); und daß heute die meisten jungen Deutschen ihre eigene Sprache gar nicht mehr kennen (wollen), aber in jedem Gespräch peinlich genau auf die phonetischen und orthographischen Regeln der englischen Sprache achten, beweist doch allein schon, daß gerade die als nicht-typisch-deutsch sich bezeichnenden Deutschen typisch deutsch sind, daß hier also eine Selbst-Negation vorliegt und daß die „Verantwortlichen“ Deutschlands trotz ihres Willens zur Rettung und Versorgung der Welt mit Deutschland und den Deutschen gar nichts mehr anfangen können (wollen). Diese „Regierenden“ sprechen von Geschichtsverarbeitung, meinen aber Dogmenbefolgung und kommen selbst dabei nicht einmal über 12 braune Jahre hinaus. Das ist keine Geschichtsverarbeitung, sondern Geschichtsverdrängung, um nicht zu sagen: „Post-Nihilismus“. Deutschland ist alt geworden, und mit ihm das Abendland. Geschichtlichkeit (): sie ist eines der wesentlichen Erkennungsmerkmale des Abendlandes, und genau deswegen waren schon die ersten abendländischen Nihilisten dazu verdammt, die eigene Geschichte ganz aktiv zu verdrängen oder sie als abschreckendes Beispiel ganz dynamisch auf die Zukunft zu projizieren: „Der faustische Nihilist, Ibsen wie Nietzsche, Marx wie Wagner, zertrümmert die Ideale“, konnte Spengler schon 1917 (S. 456) konstatieren; und über die Nihilisten der passiv oder statisch orientierten Kulturen schrieb er: „der apollinische, Epikur wie Antisthenes und Zenon, läßt sie vor seinen Augen zerfallen; der indische zieht sich vor ihnen in sich selbst zurück.“ (ebd., S. 456). – Deutschland versorgt Europa und viele Teile der restlichen Welt großzügig und gefällt sich auch in der Rolle des wohltätigen Geldgebers, wie ein älterer Familienvater (und in Deutschland wird „Vater Staat“ ja auch nur in diesem Sinne verwendet und gebraucht). Bedenklich ist nur, daß dieser Zahlmeister sich selbst freiwillig aufgibt. Obwohl Deutschland das „Rentenalter“ noch gar nicht erreicht hat, will es (freiwillig!) nicht mehr sein. Der Untergang des Abendlandes ist wie der Aufgang des Abendlandes primär eine Geschichte der Westeuropäer, insbesondere der Deutschen. – Gute Nacht!
Zitat aus der Werbung „Baden-Württemberg“. Das Alemannische ist (neben dem Bairischen) Hauptbestandteil des Hochdeutschen. Die heutigen Alemannen aber wollen ganz offensichtlich keine Alemannen mehr sein. Schon andere Alemannen – die Elsässer (Hochalemannen) – wollten ja schon des öfteren keine Alemannen mehr sein, sondern lieber die „Ossis“ der Franzosen. Die Alemannen kennen offenbar sich selbst sowie die Herkunft und die Bedeutung ihres Dialektes nicht mehr. Auch hier gilt die aus dem Nihilismus erwachsene Regel, daß typisch deutsch ist, wer behauptet, nicht typisch deutsch zu sein. Hier werben typische Deutsche ganz öffentlich für das Nicht-Deutsche und gleichzeitig für den Analphabetismus (trotz Jugendgefährdung und „Pisa-Studie“). – Reklame für das „Nichts“. Willkommen im Nirwana!
Auf die vorhistorischen Hominiden folgte der historische Hominide namens Homo sapiens sapiens, auf den vormodernen Humanismus folgt der moderne Hominismus. Damit schließt sich vorerst der Kreis. Schon im 13. Jahrhundert sollen Alchimisten erste Experimente unternommen haben, um einen künstlichen Menschen im Reagenzglas zu erzeugen. Goethe ließ im 2. Teil des Faust den Famulus Wagner einen Homunkulus nach Anleitung des Paracelsus erzeugen. Heute scheinen sich die Möglichkeiten zur Erschaffung des Menschen nach eigenen Wünschen konkretisiert zu haben. (Vgl. Kult-Uhr).
Vgl. hierzu : 10-12 und 12-14 sowie unter: Frühdenker und Hochdenker.
Jesus (7 / 4 v. Chr. – 26 / 30 n. Chr.) ist Urheber und zentrale Gestalt des Christentums. Das Christentum umfaßt die Auswirkungen des Glaubens an Person und Wirken Jesu Christi, wie er von den christlichen Kirchen und Gemeinschaften in der Auseinandersetzung mit fremden Religionen, den geistigen und weltanschaulichen Strömungen der verschiedenen Zeiten sowie mit den politischen Mächten entwickelt worden ist. In Rom galt die christliche Gemeinde zunächst als jüdische Sekte. Der römische Staat entzog dieser schnell wachsenden Gemeinschaft bald die religiösen und rechtlichen Privilegien, die er dem Judentum gerade eingeräumt hatte. Die Auseinandersetzung mit dem Römischen Reich wurde intensiv seit der Mitte des 3. Jahrhunderts geführt. Auf das Toleranzedikt des Galerius und Licinius, 311, folgte die Bekehrung Konstantins und mit dem Toleranzedikt von Mailand (313) die Einstellung der Christenverfolgungen. Konstantin der Große machte das Christentum zu der mit allen zeitgenössischen Kulten gleichberechtigten und schließlich zur allein berechtigten Religion im Reich (Konzil von Nicaea, 325). Damit hatte er eine Entwicklung eingeleitet, die zur Entstehung der Reichskirche als einer vom Reich letztlich abhängigen Einrichtung führte. Durch den oströmischen Kaiser Theodosius I. wurde 380 mit dem Edikt von Thessalonike der Athanasianismus (Katholizismus) begründet, im 1. Konzil (= 2. Ökumenisches Konzil, 381) von Konstantinopel das (konstantinopolitanische) Glaubensbekenntnis formuliert und das Nizänum bestätigt, 391 das Christentum überhaupt Staatsreligion, damit alle heidnischen Kulte verboten. 395 teilte sich das Reich in West- und Ostrom, 455 eroberten die Wandalen Rom und 476 erlosch das Weströmische Reich endgültig mit der Absetzung des Romulus Augustus durch den Germanen Odowaker (Odoaker), aber die römische Kultur wurde von den Eroberern nicht zerstört, die arianische Christen waren und mit der unterworfenen Bevölkerung, die römisch-katholisch war, die erste und für die Christen-Geschichte wichtigste Verschmelzung eingingen. Für die geschichtliche Erkenntnis Jesu ist man nahezu ausschließlich auf die Evangelien des Neuen Testaments angewiesen. Derjenige, der das Christentum erst zur Weltreligion machte, war Paulus. (Vgl. 0-2 und 2-4 sowie 4-6).
Paulus († 29.06.66 oder 67; enthauptet), christlicher Heidenapostel, machte das Christentum durch Überwindung der nationalen und traditionellen Bedingtheiten seitens des Judenchristentums zur Weltreligion, indem er den übernationalen Charakter der durch den Glauben an Christus begründeten Heilsgemeinschaft betonte. Er war Verfasser zahlreicher neutestamentlicher Schriften. Als Quellen zur Rekonstruktion seines Lebens dienen vor allem die wirklich von ihm verfaßten Briefe an die Gemeinden in Rom, Korinth, Galatien, Philippi, Thessalonike und an Philemon, die alle aus der Zeit zwischen 50 und 56 stammen. Bei der spekulativen Durchdringung des Christentums verwendete er Elemente der stoischen und jüdisch-hellenistischen Philosophie. Seine vielen Missionsreisen führten am Ende zur Verhaftung in Jerusalem, zur Überführung nach Rom und dort zur Enthauptung (Märtyrertod). (Vgl. Mission und Apostelkonzil). Paulus gilt als der bedeutendste Missionar des Urchristentums. In seiner mehrjährigen Missionstätigkeit auf Zypern, in Kleinasien, Syrien, Griechenland, Makedonien u.a. Regionen verkündete er kompromißlos das Evangelium frei von Gesetzesbindungen und trat dadurch natürlich in Gegensatz zum Judenchristentum der Urgemeinde. Er knüpfte besonders an die nachösterliche Verkündigung des gekreuzigten und auferstandenen Herrn und seine Bedeutung für das Heil der Menschheit an. Die durch den Tod und die Auferstehung Christi eingetretene Wende der Heilsgeschichte zeigt sich nach Paulus vor allem darin, daß der jüdische Heilsweg, der in der Erfüllung der Gesetzgebung als der Verpflichtung gegenüber dem Bund mit Jahwe steht, aufgehoben ist (!), die Rechtfertigung* ausschließlich aus dem Glauben erlangt werden kann (!). (*Rechtfertigung ist ein Begriff der christlichen Theologie, mit dem der Vorgang reflektiert wird, daß das durch die Sünde gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Gott in einen als „heil“ geglaubten Zustand überführt wird). Der Glaube kann auch nicht als Werk des Menschen aus sich selbst verstanden werden, sondern als Gabe und als Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Der Mensch ist in allen seinen Aspekten („Geist“, „Seele“, „Leib“) aufgerufen, das in Christus geschenkte neue Leben zu verwirklichen. In seinem Verhalten ist der Mensch jedoch nicht auf sich allein gestellt, sondern ist Mitglied der Gemeinde des auferstandenen Herrn. Diese ist schon gegenwärtig der Leib Christi, wird aber gleichzeitig von der Hoffnung auf die endgültige Wiederkunft (Parusie) des Herrn geleitet und ist in dieser Spannung von „schon“ und „noch nicht“ Träger seines Geistes.
48 fand das Apostelkonzil in Jerusalem statt, an dem auch Petrus und Paulus teilnahmen. Anlaß des Apostelkonzils war die Frage, ob „Heiden“, die zum Christentum übertreten, sich der Beschneidung und dem jüdischen Gesetz unterwerfen müssen. Das Apostedekret ist der vom Apostelkonzil (Apg. 15; Gal. 2, 1-10) den Christen Antiochias, Syriens und Kilikiens (heute: Südanatolien) mitgeteilte Beschluß, daß sie zur Beobachtung (Befolgung) des mosaischen (israelitisch-jüdischen) Gesetzes nicht verpflichtet seien (!). Also war das Apostelkonzil ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Universalkirche.
Römisch-katholische Interpretationen attestieren dem Abendland zumeist, daß in ihm die Dominanz des Christlichen überwiege. Diese Meinung teilen vor allem kirchliche und vornehmlich christlich orientierte Vertreter. Theodor Heuss (31.01.1884 – 12.12.1963) soll einmal gesagt haben, daß Europa von 3 Hügeln ausgegangen sei: von der Akropolis, von Golgatha und vom Kapitol. Diese Sichtweise würde eher, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt, auf eine Dominanz der Antike verweisen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß aus einem antik-apollinischen Einzelkörper und einer magisch-seelengeistigen Welthöhle ein abendländisch-faustischer Unendlichkeitsraum entstehen kann, dann muß unbedingt ein dritter Faktor hinzukommen, den ich die Kulturpersönlichkeit nenne: das Germanentum. Ohne das Germanentum versteht man die Willensdynamik eines Faust nicht, und ohne das germanische Element ist die Raumtiefe, aber auch die in jeder Hinsicht sowohl ins Mikrokosmische als auch ins Makrokosmische gehende Unendlichkeit nicht als distinktives Merkmal der abendländischen Kultur zu identifizieren. Diese Merkmale treffen auf keinen antiken Menschen zu, aber insbesondere auf die Abendländer, die germanischen Ursprungs sind. Scharfe Gegensätze, wie die zwischen Antike und Abendland, sind zwar unbedingt ein Indiz für Verwandtschaft, weil beide Kulturen so auffallend gegensätzlich sind: aktiv und reaktiv. Offenbar hat die Antike auf das Abendland aber nicht persönlichkeitsstiftend gewirkt und konnte auch erzieherisch nicht tätig werden, weil sie so früh verstarb. Die Biogenetik und Sozialisation geraten nicht selten so weit auseinander, wenn ein Elternteil früh verstirbt, d.h. nicht wirklich erlebt wird. Dem Abendland scheint es auch so ergangen zu sein. Die Auseinandersetzungen mit der magischen Mutter hat beim Kind jedoch zu einer enormen, fast schon verdächtigen Erinnerung bis hin zur Vergötterung des antiken Vaters Beitrag geleistet. Aber liegt deshalb immer auch schon ein Vaterkomplex vor? Es bleibt zunächst festzuhalten, daß auch kulturell zwischen Genetik und Sozialisation, zwischen Anlage und Umwelt, zwischen angeboren und anerzogen ganz klar unterschieden werden muß. Dazwischen bewegt sich die Persönlichkeit. Man kann sie nicht isolieren, folglich auch nicht isoliert betrachten, aber man kann sie beschreiben, und ich beschreibe die Kulturpersönlichkeit des Abendlandes als germanisch, weil dieser Raum zwischen Anlage und Umwelt für die Kulturpersönlichkeit zwanghaft unendlich werden muß, wenn sie die verlorene Vaterkultur zurückholen will. Der unendliche Raum und Wille sind auch deshalb Ursymbol und Urwort des Abendlandes. Wenn der Mensch eine Grundlage von etwa 60 Billionen Zellen hat und einer Umwelt von praktisch unendlicher Vielfalt ausgesetzt ist, so gilt für eine Kultur, daß sie Völker, Staaten oder Nationen zur Grundlage hat und einer Umwelt von unendlichen Möglichkeiten, aber auch gähnender Leere gegenübersteht. Mit dem Germanentum fiel eine faustische Entscheidung zugunsten der unendlichen Möglichkeiten. Die Eltern des Abendlandes waren also antik-magisch, ihre gentragenden Chromosomen römisch-christlich, aber die Kontrollgene germanisch. (Vgl. 22-24).

Urdenker Vordenker Frühdenker

Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

Hoch-Denker

– Hochdenker sind Denker „jugendlicher“ Art –
Die Hochdenker verdanken den Frühdenkern die in den Raum gespielte „Steilvorlage“, durch die dem Denken ein stark offensiver Charakter aufgezwungen wird. Der von den Frühdenkern hoch in den Raum gespielte „Denkball“ verlangt von den Philosophen einen „Höhenflug“, den sie zu dieser Zeit aber auch sehr gut beherrschen. Wenn die „Wissenskugel“ jedoch in den tiefen Raum gespielt wird, wird offenbar, daß hier noch die Erfahrung fehlt und der „Denkgegner“ leichtes Spiel zu haben scheint. Weil aber der von den Elternkulturen vorgedachte eigene „Strafraum“ mittlerweile so gut bekannt und für den Gegner zur „Abseitsfalle“ geworden ist, kann hier auch sicher aufgespielt, d.h. hochgedacht werden. Der gegnerische „Strafraum“ scheint jedoch immer noch ein relativ fremder Raum zu sein, in dem man sich erst einmal orientiern muß, bevor die Wende vom primären Defensivdenken zum primären Offensivdenken, die Umstellung von „Verteidigung auf Angriff“, vollzogen werden kann. Erst wenn dies klappt, ist die Wende endgültig und das Spiel zur hochdramatischen Denkbühne geworden. Das Denken wird ab jetzt immer mehr zu einem jugendlichen Abenteuer, manchmal an Jugendwahn grenzend. Auf einem scheinbaren Höhepunkt angekommen, denkt man sich sogar als absolutes Zentrum aller Geschehnisse. Als zentriertes Denksubjekt gestaltet man das Spiel aus dem „Mittelfeld“ heraus und versteht sich als „Regisseur“. Dieser Mittelfeldregisseur kann nicht nur „das Spiel an sich reißen“, sondern auch und gerade durch seinen überragenden Individualismus „das Spiel gestalten“. Er wähnt sich, beim Selbstdenken für alle anderen Mitspieler mitzudenken. Weil aber auch er Fehler macht und niemand da zu sein scheint, der die Patzer völlig ausgleichen kann, wird erste Kritik nicht nur an ihm, sondern am gesamten „eigenen Spielsystem“ laut. Der Kritizismus verlangt nach Auswechslung. Ab jetzt wird assoziiert und bei Eigenverantwortlichkeit auch an Selbstverschuldung und Unmündigkeit gedacht. Ob eine solche „aufgeklärte Spielethik“ zu mehr Erfolg führen kann oder ob sie den Denkern eher Anlaß gibt, nach dem „Denkhebel“ zu verlangen, mit dem man das Spiel ideenreich noch einmal herumreißen kann, ist bereits eine Frage an den Idealismus der Spätdenker. (). Zur Rationalistik:

Frühes Hochdenken
Das Prinzip Wasser als Beginn exakten Wissens in der antiken Philosophie?
Das Prinzip Sonnensystem als Beginn exakter Wissenschaft in der abendländischen Philosophie?
Die Philosophie – als eine nicht mit Mythos und Religion verschmolzene, sondern mit ihnen sich auseinander setzende „vernünftige“ Selbst- und Welterklärung -, kam im 7. Jh. v. Chr. in Griechenland, d.h. in den griechischen Kolonialstädten, auf. Die ersten Philosophen waren Naturwissenschaftler. (). Sie versuchten, die Welt aus einem Prinzip oder auch mehreren Prinzipien und Urstoffen zu verstehen. Für Thales von Milet (650-570) schien klar zu sein, daß dies nicht mehrere, sondern lediglich ein Prinzip, und zwar mit Bewegung, sein müßte: das Wasser. Thales war der Begründer der Ionischen Naturphilosophie und frühester Vertreter des Hylozoismus. Er gilt als der erste griechische Philosoph und war in Griechenland einer der Sieben Weisen. Sie waren die sieben Herrscher und Staatsmänner im 7. und 6. Jh. v. Chr., deren Lebensweisheit in Form kurzer Aussprüche in ganz Hellas bekannt war, wie z.B. die Prägung des Spruches „ERKENNE-DICH-SELBST“ von Thales (vielleicht auch von Cheilon, einem anderen der Sieben Weisen). Thales nahm als Seinsgrund des Kosmos nicht mythische Kräfte, sondern das Wasser an. Der nach ihm benannte geometrische Lehrsatz (Satz des Thales) war bereits den Babyloniern bekannt: alle Winkel, deren Scheitel auf einem Halbkreis, dem sogenannten Thales-Kreis, liegen und deren Schenkel durch die Endpunkte eines Durchmessers gehen, sind rechte Winkel. Natürlich wußte Thales, daß der Durchmesser den Kreis halbiert, daß im gleichschenkligen Dreieck die Basiswinkel gleich sind und daß zwei Dreiecke kongruent sind, wenn eine Seite und zwei korrespondierende Winkel gleich sind. Als Staatsmann unternahm Thales viele Reisen und erwarb sich auch dadurch viele Kenntnisse. Auf Grund des in Ägypten erworbenen Wissens sagte Thales z.B. die Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 v. Chr. voraus. Er gab für die Nilüberschwemmungen nicht den Göttern die Schuld, wie es üblich war, sondern natürliche Ursachen an, wenn auch nicht ganz die richtigen. Die Abhandlung „Über die Natur“, die Anaximander (um 611-545), ein Schüler des Thales, schrieb, ist die erste aus der antiken Kultur schriftlich überlieferte philosophische Abhandlung. Anaximander fragte nach dem „Anfang“ von allem, und bezeichnete ihn als ein Prinzip, das er „Apeiron“ (Unerfahrbares) nannte. Es sei der Urstoff, das Unendliche der Natur, das Göttliche, das allein Ungewordene und Unvergängliche. Aus ihm entstünden sie Stoffe durch Ausscheidung. Ebenfalls zu den ionischen Naturphilosophen zählend, wußte auch Anaximenes (um 585-525) schon, daß der Mond sein Licht von der Sonne empfängt, und erkannte in der Verdeckung des Vollmonds durch den Erdschatten die Ursache der Mondfinsternisse. Anaximenes bezeichnete als den Urstoff die „Luft“, aus der durch Verdünnung Feuer, durch Verdichtung Wind, Wolken, Wasser, Erde und Steine entstanden seien: „Wie die Luft als unsere Seele uns zusammenhält, so umfaßt Hauch und Luft die ganze Welt“. Der Urstoff hatte hier sein Element gewechselt, vom Wasser (Thales) zur Luft (Anaximenes). Thales‘ Wasser als Ursprung und Erklärungsgrund der Welt und ihrer Phänomene erinnerte spätere Philosophen an den die Welt umfließenden mythischen Urstrom und an den Totenfluß Styx. (). So sehr rational war diese Naturerklärung des Philosophen und Mathematikers Thales also nicht. Er war wohl der Meinung, daß das Wasser der Ursprung von allem, alles aber von den Göttern sei. Sie müßten dann, wie alle Wesen, auch aus Wasser bestehen, oder die Natur selbst ist göttlich. Wahrscheinlich erlosch mit dem Wasser der ionischen Naturphilosophie der Glaube an die im Kosmos herrschenden Götter – es erlosch die alte Astrotheologie. Durch die sogenannte mesopotamische Renaissance (orientalisierende Renaissance) wurden die Griechen Schüler babylonischer Weisheit. Sowohl die Antike als auch das spätere Abendland erinnerten sich mittels ihrer Renaissance also an einen Teil ihrer Kultureltern: Sumer einerseits, Antike andererseits. Als liturgische und wissenschaftliche Sprachen wurden tote Sprachen wiederentdeckt und konserviert: Sumerisch in der Antike, Latein und Griechisch im Abendland. Auch die Kolonisation begann hier (750/700) wie dort (1400/1450) durch Bildung von Stützpunkten an den entfernt liegenden Küsten – hier mit der Mutterpolis Milet, dort mit dem Mutterland Portugal verbunden. Die Kolonisation brachte auch ein neuartiges, elementar hervorbrechendes Lebensgefühl, ausgelöst durch den Aufschwung des Handwerks, die Ausweitung des Seehandels und des Bevölkerungsüberschusses. Hesiod (um 700 v. Chr.) soll geraten haben, sich auf ein Kind zu beschränken, was zur Folge gehabt haben soll, daß immer mehr Neugeborene ausgesetzt wurden. Weitere Gründe waren die Verschuldung der Bauern, die politische Emigration und die sozialen Gegensätze. Diese Gründe lassen sich auch für das Abendland anführen, wenn auch in einem anderen Maßstab, der sich aber durch das Ursymbol und das faustische Seelenbild erklären läßt. Ein auf Abenteuer und Wissen abzielender Abendländer emigrierte damals nicht über das Mittelmeer, sondern über den Atlantik. In beiden Kulturen sollte die erste große Auswanderungswelle aber erst in der nächsten Phase erfolgen. So wanderten z. B. die Ionier, unter ihnen auch die ionischen Naturphilosophen, wegen der 546 v. Chr. beginnenden persischen Herrschaft in Ionien nach Unteritalien und die puritanischen Pilgerväter mit der Mayflower 1620 nach Nordamerika aus. (Vgl. 14-16). Diese Phase der Rückschau und Reformen brachte in der Antike tatsächlich so etwas wie einen kulturellen Schrifterwerb hervor, wenn man darunter versteht, daß der antiken (griechischen) Kultur der Vorteil bewußt wurde, schriftlich Wertvolles zu hinterlassen, wie die ersten griechischen Philosophen beweisen: Thales, weil er der Lehrer Anaximanders war, und Anaximander, weil seine Abhandlungen schriftlich überliefert werden konnten. Sie waren die ersten antiken Philosophen und, als ionische Naturphilosophen auf der Suche nach dem Urstoff, wegweisend für den weitern philosophischen Verlauf der Antike. Die Antike war mit dieser schriftlichen Überlieferung schulreif geworden. Wer auf Konevention beruhende Kulturschriften sicher überliefern (lesen und schreiben) kann, der ist für die nächste Phase, die Wissensschulung und Rationalisierung, gerüstet. (Vgl. Hoch-Rationalistik).

In beiden Kulturen – Antike und Abendland – war der Beginn einer eigenen Philosophie eine Wende,
die Renaissance, Reformation und Gegenreformation nur sein und Rationalistik nur fördern konnte.

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Ab jetzt sollte die gerade entstandene kultureigene Philosophie in Richtung Neutheologie steuern,
weil das Hochdenken so erfolgreich wurde, daß viele Systeme sich von der Philosophie abspalteten.

Denkgeschichtlich fiel ja der Übergang vom Erwerb der ausgesprochen kultureigenen Philosophie zum Beginn der Rationalistik in die Zeit der „Nikoläuse“, von Nikolaus (von Kues) bis Nikolaus (Kopernikus), also in die Zeit, in der nicht zufällig fast gleichzeitig die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg, der Beginn der atlantischen Seefahrt durch Heinrich den Seefahrer, der Konstantinopel-Fall, die doppelte Buchführung, die Frühkapitalisten (Medici, Fugger, Welser), die Herstellung des ersten Erdglobus durch den Seefahrer und Geographen Behaim, der Frühnationalismus und Machiavelli, der endgültige Erfolg der Reconquista, die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, die erste Weltumsegelung durch Magellan, die Reforamtion durch Luther und nicht zuletzt das Genie Leonardo da Vinci die Welt revolutionierten. Und es war (auch nicht zufällig!) die Zeit des abendländischen Faust, dessen Leben Literaturstoff für alle noch folgenden Jahrhunderte bot und dessen Eigenschaft zum abendländischen Seelenbild (!) erklärt werden sollte. Diese Zeit war also tatsächlich der Beginn der „Neuzeit“. Glaubens- bzw. geistesgeschichtlich war sie jedenfalls die Vollendung der Theologie oder ihre Überwindung zugunsten der Philosophie und der mathematisch fundierten Naturwissenschaft. Sie war so etwas wie die Geburt der technischen (Natur-) Wissenschaft.
Der Buchdruck mit beweglichen, gegossenen Lettern, den Johannes Gutenberg (1397-1468) um 1440 erfand, beschleunigte sämtliche großen historischen Entwicklungen der Neuzeit. (). Die Nationalsprachen erhielten den Zusatz „Neu“ (z.B. Neu-Hochdeutsch), und mit dem abgeschlossenen „Spracherwerb“ konnte der „Schrifterwerb“ beginnen: die Verbreitung der antiken Schriften in der Zeit des Humanismus wäre ohne Gutenbergs Buchdruck ebenso unmöglich gewesen wie der rasche Erfolg der protestantischen Reformation. Nicht weniger profitierten der Schul- und Universitätsunterricht, die Politik sowie die wissenschaftliche Diskussion von den Einzelblattdrucken, Flugschriften, Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, die einen lebhaften literarischen Markt entstehen ließen. Der Druck von Werken der schönen Literatur, der bildenden Kunst und der Musik ermöglichte die ästhetische Bidung breiter Volksschichten. Schon bald war es möglich, in nur einer Bibliothek in kurzer Zeit mehr Druckwerke zu studieren, als das zuvor einem umherreisenden Gelehrten während seines ganzen Lebens möglich gewesen war.
Leonardo da Vinci (1452-1519) wurde beim Bildhauer und Maler Verrocchio (1436-1488) ausgebildet, kehrte nach langjähriger Tätigkeit (1482-99) am Mailänder Hof des Herzogs Ludwig von Mailand nach Florenz zurück, ging dann (1596) jedoch auf Einladung des französischen Satthalters wieder nach Mailand. 1513 begab er sich in Erwartung päpstlicher Aufträge nach Rom und folgte 1516 einer Einladung des ihn verehrenden Königs Franz I. nach Frankreich. Von der überraschenden Vielseitigkeit Leonardos legen v.a. seine Zeichnungen (in Silberstift, Feder, Kreide, Kohle, Rötel oder Tusche) Zeugnis ab. Sie beziehen sich nicht nur auf vollendete oder geplante Werke in Malerei, Plastik und Architektur, sondern weisen Leonardo als Wegbereiter einer anschaulichen Naturforschung auf dem Gebiet der Anatomie, Botanik, Zoologie, Geologie, Hydrologie, Aerologie, Optik und Mechanik aus. Als Naturforscher und Techniker war Leonardo ein typischer Empiriker. Er wird deshalb heute noch als Universalgenie der Renaissance bewundert, zumal er nicht nur die Disziplinen, denen er sich zuwandte, beherrschte, sondern sie oft zu Höhepunkten führte und darüber hinaus gerade im Bereich der Technik einen Weg wies, an dessen Ende diese erst in späteren Jahrhunderten gelangen sollte. Berühmt sind seine „Mechanischen Flügel“, aber auch die Konstruktionsentwürfe für ein fahrradähnliches Fahrzeug. Sind Leonardos „Mona Lisa“ und das „Abendmahl“ Glanzlichter der Malerei, so waren seine Zeichnungen in ihrer Anschaulichkeit wegbereitend für die didaktische wissenschaftliche Demonstrationszeichnung und einzigartig in ihrer künstlerischen Intensität.
Bekannt wurde der Staatsmann und Geschichtsschreiber Niccoló Machiavelli (1469-1527) durch seine Discorsi sopra la prima decade di Tito Livio und Il principe („Der Fürst“; 1513). Angeregt durch die Lektüre des Titus Livius (59 v. Chr – 19 n. Chr.), entwickelte Machiavelli eine Art Technik der Politik, dabei das Ethos und die Macht des stolzen, vorchristlichen römischen Imperiums preisend. Machiavelli bezeichnete nationale Selbständigkeit, Größe und Macht des Staates als das Ideal, das der Politiker durch die zweckentsprechendsten Mittel erstreben müsse, unbekümmert um private Moralität und bürgerliche Freiheit. Damit war die Staatsräson begründet, aber auch der Machiavellismus als skrupellose, zugleich konsequente Gewaltpolitik, die ihre Ziele auch mit moralisch verwerflichen Mitteln erstrebt und durchsezt, unter Berufung auf die Interessen und die Erhaltung des Ganzen. Etwas mehr als 200 Jahre später, im Jahre 1738, sollte eine Streitschrift gegen Machiavellis Il principe erscheinen (anonym): der Antimachiavell von Friedrich II. (1712-1786).
Das heliozentrische Weltbild wurde aus Gründen mathematischer Erkenntnis herangezogen, weil es sich besser eigente als das geozentrische Weltbild, aber das heliozentrische Weltbild galt der Kirche natürlich als ketzerisch und war nicht geduldet. Das neue Weltbild war primär ein Verdienst der naturwissenschaftlich orientierten Vertreter dieser reformistischen Phase, in der beispielsweise Nikolaus Kopernikus (1473-1543), Paracelsus (1493-1541), Andreas Vesal (1515-1564), Tycho Brahe (1546-1601), Giordano Bruno (1548-1600), Galileo Galilei (1564-1642) und Johannes Kepler (1571-1630) wirkten. Hierbei spielte auch eine große Rolle, was sich schon im Nominalismus entwickelt hatte: der Empirismus, dessen methodologische Variante Francis Bacon (1561-1626) begründete und die später durch eine erkenntnistheoretische Variante von John Locke (1632-1704) erweitert werden sollte. (Vgl. 14-16).
Der Deutsche Nikolaus Kopernikus (1473-1543), Astronom und Domherr in Frauenburg (Ostpreußen), studierte neben allgemeinen Fächern auch Medizin und Jura (er schrieb in lateinischer und deutscher Sprache [vgl. Quellen]). Seine Mutter hieß Barbara Watzenrode, sein Vater hieß Nicolai Koppernick (Kopernikus), der aus Köppernig bei Neiße (Schlesien) stammte, seine Geschwister hießen Andreas, Barbara und Katharina. Die Familie Kopernikus gehörte zur Bürgerschaft der Hansestadt Thorn an der Weichsel und wohnte dort in der St.-Annen-Gasse. Der Vater war ein wohlhabender Kupferhändler und Regierungsbeamter. Nikolaus war zehn Jahre alt, als sein Vater 1483 starb. Sein Onkel Lucas Watzenrode (1447-1512), der Bruder seiner Mutter Barbara Watzenrode, sorgte für die Ausbildung der vier Waisen und wurde 1489 Fürstbischof im Ermland. Der ältere Bruder Andreas schlug den gleichen Lebensweg wie Nikolaus ein, erkrankte aber um 1508 an Aussatz, wurde später ausgeschlossen und starb vermutlich um 1518. Die ältere Schwester Barbara wurde Äbtissin im Kulmer Kloster, die jüngere Katharina heiratete Barthel Gertner. Nikolaus Kopernikus hielt stets seine Familienkontakte aufrecht. So sorgte er später für Kinder des Reinhold Feldstett, der mit der Tochter eines Onkels von Kopernikus, Tilman von Allen, verheiratet war. Im Danziger Dokument erschien als gemeinsamer Vormundt der „Frauenburger Domherr vor Burgermeister und Rathman der stadt Dantzick … Hern Nicolai Koppernick, des wirdigen gstichts zur Frauenborck thumherrn im jare tawsent funfhundert sechs und dreysick.“ (Leopold Prowe, Nicolaus Copernicus, 1883-1884, S. 265). Nikolaus Kopernikus hatte als Administrator die Regierungsgeschäfte zu regeln. In den Verhandlungen über die Reform des preußischen Münzwesens erarbeitete er die Position der preußischen Städte. Er gab dazu ein Schreiben heraus, das noch Jahrhunderte später als wegweisend für die Geldtheorie angesehen wurde. Die Astronomie war seine private Hauptbeschäftigung. Er erkannte, daß das „geozentrische System“ für die Vorhersage der Planetenpositionen über längere Zeiträume ungeignet war. Etwa 1507 schon griff er deshalb auf die Idee des Aristarchos von Samos (ca. 310-230) zurück, statt der Erde die Sonne als ruhendes Zentrum des Planetensystems anzunehmen und erarbeitete das „heliozentrische System“, in dem er die jährliche Bewegung der Erde um die Sonne beschrieb und die tägliche Umdrehung des Fixsternhimmels als Rotation der Erde um die eigene Achse erklärte. Kopernikus veröffentlichte sein Hauptwerk („Von den Kreisbewegungen der Himmelskörper“, 1543) kurz vor seinem Tod. Ob es Zufall war, daß die Bücher von Vesal und Kopernikus im selben Jahr – 1543 – erschienen? Jedenfalls kam Kopernikus‘ Hauptwerk im Jahre 1616 auf den Index.
Martin Luther (1483-1546) rezipierte mit Augustinus (354-430) auch dessen Platonismus (Neuplatonismus) und stand deutlich unter dem Einfluß des Nominalismus und des Humanismus. „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ ist, als Heilsegoismus gesehen, typisch für den Individualismus der Renaissance. Doch dem Humanismus machte die Reformation ein Ende oder nahm ihn religiös in sich auf. Der Beginn der Reformation war zwar eindeutig durch Martin Luther zu einem Faktum geworden, doch genau datieren kann man ihn nicht. Es hatte auch schon vor 1517, vor Luthers Veröffentlichung der 95 Ablaßthesen, Bestrebungen zu kirchlichen Reformen gegeben. Sie waren eine vorbereitende Bewegung zur Reformation, besonders seit durch das 2. Große Schisma von 1378-1417 das Abendland in zwei Lager geteilt war. (). Weil Luther die Durchführung seines philosophischen Programms seinem Anhänger Melanchthon (1497-1560) überließ, wurde dieser und nicht jener selbst zum Begründer der protestantisch-lutherischen Neuscholastik. Luther bekannte sich zur Lehre der Prädestination, seine Philosophie gipfelte in der Lehre vom unbekannten Willen in Gott, über den positiv nur der Glaube bzw. die Bibel auszusagen vermöge. Für Luther war nicht der Papst, sondern die Heilige Schrift höchste Autorität in Glaubensfragen. Gottes in der Bibel offenbartes Wort sollte allen Gläubigen zugänglich sein, nicht nur denen, die Latein, Griechisch oder Hebräisch beherrschten. Die bislang veröffentlichten Bibelübersetzungen waren unzulänglich und machten eine Neuübertragung erforderlich. 1522 erschien Luthers Übersetzung des Neuen Testaments, 1534 war die Arbeit am Alten Testament abgeschlossen. Noch zu Luthers Lebzeiten wurden 430 Teil- und Gesamtausgaben seiner Bibel in rund 500 000 Exemplaren gedruckt, was entscheidend zum Durchbruch des neuen Glaubens beitrug. Von nun an gab es endlich eine konkrete Alternative. Ebenso bedeutend war Luthers sprachlich-literarische Leistung. Auch wenn er nicht Schöpfer der einheitlichen neuhochdeutschen Sprache war, so bündelte und beschleunigte er doch in seinen Schriften sprachliche Entwicklungen, die vor ihm bereits eingesetzt hatten. (Vgl. Früh-NHD). Luthers von Bildkraft, Rhythmik und Wohlklang geprägte Sprache verlieh der deutschen Literatur über Jahrhunderte Impulse. (Vgl. NHD).
„Luther der Medizin“ wurde Paracelsus (1493-1541), der eigentlich Bombast von Hohenheim hieß, schon zu seinen Lebzeiten genannt. Für Paracelsus war Medizin die allumfassende Gesamtwissenschaft, fußend auf Physik, Chemie Physiologie, mündend in Philosophie und Theologie. Er lehrte: All unser Wissen ist Selbstoffenbarung, all unser Können ist Mitwirkung mit der aus Gott stammenden Natur. Alle Wesen bestehen aus einem elementaren, irdischen, sichtbaren Leib und einem himmlischen, astralen, unsichtbaren Lebensgeist (Archeus bzw. Archaeus). Beim Menschen, dem Mikrokosmos, kommt dazu noch die dualische (göttliche) Seele, die Quelle des Erkennens, der Sittlichkeit, der Seligkeit. Demgemäß ist ein kranker Mensch stets dreifach: leiblich, seelisch, geistig erkrankt und muß dreifach kuriert werden. Der Mensch (Mikrokosmos) ist Abbild des Makrokosmos.
Andreas Vesal (1515-1564) war Professor der Chirurgie und Anatomie. Zusammen mit dem Maler J. S. van Kalkar, der die anatomischen Tafeln anfertigte, schuf er das erste vollständige Lehrbuch der menschlichen Anatomie (Vom Bau des menschlichen Körpers, 1543 ). Später war er u.a. auch Leibarzt des deutschen Kaisers Karl V.. ().
Vom dänischen König Friedrich II. wurde Tycho Brahe (1546-1601) der Aufbau eines Observatoriums auf der Insel Ven ermöglicht. Seit 1599 war Brahe Astronom des deutschen Kaisers Rudolf II. in Prag. (). Er steigerte durch Verbesserung der Beobachtungsverfahren die Meßgenauigkeit. Er hinterließ Kepler (1571-1630) Aufzeichnungen über genaue Positionen des Mars, aus denen dieser die Gesetze der Planetenbewegungen ableitete. Brahe selbst blieb jedoch Anhänger eines von ihm modifizierten geozentrischen Weltsystems.
Giordano Bruno (1548-1600) wurde 1563 Dominikanermönch und entfloh 1576 aus dem Kloster. Er lehrte an vielen Universitäten und war 16 Jahre lang auf Wanderschaft, vor allem durch Deutschland, Frankreich und England. In Venedig wurde er schließlich verhaftet, acht Jahre eingekerkert und wegen Ketzerei zum Tode verurteilt. Er vertrat, von Kues, Kopernikus und Paracelsus beeinflußt, das heliozentrische Weltbild und den Gedanken eines unendlichen Weltalls mit einer sich selbst enthaltenden Materie (im Sinne der „aristotelischen Linken“). In Bruno zuerst verbanden sich die naturwissenschaftlichen Errungenschaften der Neuzeit mit epikuräischen, stoischen und neuplatonischen Elementen zu einer genialen pantheistischen Weltschau, die er mit dichterischer Kraft und Begeisterung verkündete: Das All ist Gott, es ist unendlich, und zahllose Sonnen mit ihren Planeten folgen in ihm ihrer Bahn. Dieses unendliche Universum ist das einzig Seiende und Lebendige, von inneren Kräften bewegt, das seiner Substanz nach ewig und unveränderlich ist; die Einzeldinge haben am ewigen Geiste und Leben je nach der Höhe ihrer Organisation teil, sind jedoch dem steten Wechsel unterworfen. Die elementaren Teile alles Existierenden, die nicht entstehen und nicht vergehen, sondern sich nur mannigfach verbinden und trennen, sind die Minima, die materiell und psychisch zugleich sind. Nichts in der Welt ist also leblos, alles ist beseelt. Gott kann von uns nicht würdiger verehrt werden, als indem wir die Gesetze, welche das Universum erhalten und umgestalten, erforschen und ihnen nachleben. Jede Erkenntnis eines Naturgesetzes ist eine sittliche Tat. Wie Bruno von den großen deutschen Denkern stark beeindruckt und von der Weltmission des deutschen Geistes überzeugt war (Rede in Wittenberg, 1588), so sollte er umgekehrt auf Leibniz, Herder, Goethe, Schelling wirken. Die Inqusition aber verurteilte seine pantheistische Naturreligion und verbrannte ihn 1600 bei lebendigem Leibe auf dem Campo dei Fiori in Rom.
Die Phase der Renaissance und Reformation brachte durch seine Rückwärts-Vorwärts-Gerichtetheit gewissermaßen eine neue Kulturschriftart, die einerseits durch die Kultursprechart der Gotik ermöglicht worden war und andererseits durch die Loslösung von althergebrachten Mutterkulturbindungen zu neuen Bindungen führen konnte. Schon in der Gotik hatte sich, zumindest teilweise, die perspektivische Darstellung behauptet, um die Dreidimensionalität des Raumes in die Zweidimensionalität der Malerei zu überführen, z.B. bei Duccio di Buoninsegna (1255-1319) und Giotto di Bondone (1266-1337). Giotto und Duccio begannen um 1300 die mittelalterliche Bildfläche zu einem Kastenraum zu öffnen. Die gesetzmäßig konstruierte Zentralperspektive war aber eine Leistung der Frührenaissance, die durch die theoretische Begründung des künstlerischen Schaffens zum Zeugnis der ab jetzt stattfindenden Verwissenschaftlichung der Weltsicht wurde. Der Überlieferung nach war es Filippo Brunelleschi (1377-1446), Bahnbrecher der italienischen Frührenaissance und Begründer ihrer Architektur, der die Gesetze der mathematisch exakten perspektivischen Darstellung für die Neuzeit (wieder) entdeckte. Schriftlich festgehalten wurde diese bahnbrechende Innovation von dem Architekturtheoretiker Leon Battista Alberti (1404-1472). Geistig gesehen leuchtete der Humanismus der Renaissance voran. Man wollte antigotisch sein, war antik orientiert, aber dennoch spätgotisch. (). Die Begegnung von Spätgotik und Renaissance vollzog sich in Albrecht Dürer (1471-1528) besonders sinnfällig. Wie vielen seiner Zeitgenossen, kam auch dem in Nürnberg geborenen Meister zugute, daß sein Leben in die Wende von der Spätgotik zur Renaissance fiel: indem er sich mit der italienischen Kunst schöpferisch auseinandersetzte, entwickelte er seine eigene Künstlerpersönlichkeit weiter zum deutschen Maler, Zeichner, Graphiker und Kunstschriftsteller.
Schon während der Reformation setzte die Neuscholastik ein, die sich als Fortsetzung der Scholastik verstand – teils protestantisch, teils katholisch (gegenreformatorisch). Martin Luther (1483-1546) überließ die Durchführung seines philosophischen Programms seinem Anhänger Melanchthon (1497-1560), der deshalb zum Begründer der protestantisch-lutherischen Neuscholastik wurde, während Clemens Timpler (1540-1604) die protestantisch-reformierte Neuscholastik begründete. Die protestantische Neuscholastik ging in ihrem lutherischen Zweig von Melanchthon und seinem Aristotelismus aus. Luther bekannte sich zur Lehre der Prädestination, seine Philosophie gipfelte in der Lehre vom unbekannten Willen in Gott, über den positiv nur der Glaube bzw. die Bibel auszusagen vermöge. Die gesamte protestantische Neuscholastik jedoch wurde schließlich durch die Leibniz-Wollf-Schule, die manches aus jener übernahm, abgelöst. Ein solches Schicksal widerfuhr der gegenreformatorischen Neuscholastik freilich nicht (und natürlich gibt es sie noch heute! ): Luthers Augsburger Disputationsgegner Thomas Cajetan (1469-1534) war einer der ersten Vertreter der katholischen Neuscholastik. Sie wurde besonders in Spanien und durch den neugegründeten Jesuitenorden organisiert und stützte sich von Anfang an auf Aristoteles und Thomas von Aquino, weshalb der Neuthomismus zum Kern der Neuscholastik wurde. Das erste System der katholischen Neuscholastik wurde um 1600 durch den Jesuiten Franciscus Suárez (1548-1617) vollendet. Suárez wirkte nicht bloß auf Katholiken, sondern auch auf Protestanten. In Deutschland wirkte besonders der Jesuit Gregor von Valencia (1549-1603). Metaphysik der katholischen Neuscholastik: Erkenntnislehre, Leib-Seele-Problem, Naturphilosophie (Hylemorphismus), Akt-Potenz-Problem sowie Gott, Geist, Ethik. (). Die katholische Neuscholastik drang bis nach Polen und Südamerika vor.
Die Reformation sah, weil sie eine Protestbewegung gegen die religiös-politischen Umstände der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit war, in der reinen Urform des Christentums und den Evangelien eine Möglichkeit zur Erneuerung der Kirche. Sie rief dadurch aber auch die Gegenreformation auf den Plan, die spätestens 1534 mit der Gründung des Jesuitenordens durch den Spanier Ignatius von Loyola gegeben war. Begleiterscheinungen der Reformation waren Verfolgungen, Hexenwahn und überstiegene Inquisitionsprozesse. All diese Erscheinungen und Prozesse gab es aber auch in sozialrevolutionären Formen, z. B. durch die Bewegung der Wiedertäufer, die in Münster von 1534 bis 1535 ein Reich errichten und erst nach einem blutigen Kampf besiegt werden konnten. Soziale Unruhen führten aber auch zu Bauernkriegen, und zwar sowohl im Abendland als auch in der Antike. Der Einfluß des Volkes wuchs in dieser Phase in beiden Kulturen. Aufgrund ihrer gewachsenen wirtschaftlichen Macht wurden Großhandelsfamilien und andere Bürgerliche auch politisch immer mehr zu Konkurrenten der Alleinherrscher und zu Fürsprechern des Volkes. In der Antike geschah dies unter Führung von Tyrannen, im Abendland nicht selten unter mehr oder minder tyrannische Führung von Reformatoren und Gegenreformatoren, die einen politischen Ausgleich erzwingen oder abwehren konnten. In Spanien führte dies z. B. zu einem Frühabsolutismus und in England zu einer frühen konstitutionellen Monarchie, zu einer Oligarchie.
Einige Reformatoren standen auch der Mystik nahe, und Luther selbst veröffentlichte 1518 die mystische Erbauungsschrift Theolgia Deutsch. (Vgl. 8-10 und 10-12). Sie wurde nach der Reformation weitergeführt von Sebastian Franck (1499-1542) und Bombast von Hohenheim, besser bekannt als Paracelsus (1493-1541). Auf ihn berief sich auch der nachreformatorische Mystiker Valentin Weigel (1533-1588). Dieser verstand Gott als den unbegreiflichen Gegenwurf des Menschen und die Welt als den begreiflichen. Nach ihm trägt der Mensch in sich das Gute aus Gott, das Böse aus sich selbst, bleibt aber in seinem Wesen immer gut, da nur sein Wille böse werden kann. Aus Weigels Schriften lernte der Mystiker und dialektische Philosoph Jakob Böhme (1575-1624) den Gehalt der bisherigen Mystik kennen. Durch Jakob Böhme erfuhr die Mystik einen weiteren, vielleicht den Höhepunkt überhaupt, weil dieser Philosophus Teutonicus, nicht zuletzt durch seine Sprachgewalt, gleichermaßen auf einfache Gemüter wie auf differenzierteste Geister wirkte. Was Francis Bacon (1561-1626) für den methodologischen Empirismus, Galileo Galilei (1564-1642) für die Naturwissenschaft und Johannes Kepler (1571-1630) für die Astronomie bewirkten, das bewirkte Jakob Böhme für die mystisch orientierte deutsche Philosophie. Nicht nur durch seine barocke Sprache, sondern auch durch den Tiefeninhalt seiner Werke bereitete er den geistigen Boden der nächsten Phase vor. Böhme war also, wie Galilei und Kepler, bereits ein Vertreter des Barock, und sein Denken beeinflußte mindestens 3 ganze Phasen, also nach dem Barock auch noch Rokoko und Idealismus (hier insbesondere die deutschen Romantiker).

Hohes Hochdenken
Das Prinzip der Elemente und Atome als exaktes Wissen in der antiken Philosophie?
Das Prinzip der Subjekte und Monaden als exakte Wissenschaft in der abendländischen Philosophie?
Nachdem die Ionischen Naturphilosophen nach Unteritalien ausgewandert waren, gründeten sie dort die beiden ersten Philosophenschulen der Antike: Xenophanes (ca. 580-485) in Elea (Eleaten) und Pythagoras (ca. 580-500) in Kroton (Pythagoräer). Die Eleaten, deren Schule sich bis ca. 430 v. Chr. hielt, sowie Pythagoras und seine Pythagoräer, die bis ins 4. Jh. v. Chr. aktiv blieben, aber auch die Einzelgänger-Philosophen – z.B. Heraklit (544-483), Anaxagoras (500-428), Empedokles (483-424) und Leukipp (5. Jh. v. Chr.) sind in etwa zu vergleichen mit den barocken Philosophen und Naturforschern des Abendlandes, von denen die meisten auch großartige Mathematiker und Naturwissenschaftler waren. ().

Die fünf pythagoräisch-platonischen Urkörper (aus Keplers Harmonices Mundi libri V, 1619) sind regelmäßige Vielflächler, ihre Ecken liegen auf einer Kugel. (vgl. sfaira = Kugel, Sphäre). Sie entsprechen dem Weltganzen und den vier Elementen (Feuer, Erde, Luft, Wasser). (). Nicht nur bei Pythagoras, sondern auch bei Johannes Kepler hatten Zahlen und geometrische Figuren sinnbildlichen Charkater. Keplers Lehre von den Planetenschalen verdankt sich noch der mathematischen Mystik: er griff auf die fünf platonischen Urkörper zurück. Ein Brief Keplers aus dem Jahre 1608 definiert dann aber, wohl zum ersten Male in der abendländischen Kulturgeschichte, die Grenze zwischen dem Symbolischen und Rationalen:
„Auch ich spiele ja mit Symbolen, ich habe ein kleines Werk angelegt, ‚geometrische Kabbala‘; es handelt von den Ideen der Naturdinge in der Geometrie. Allein ich spiele so, daß ich dabei nie vergesse, daß ich spiele. Denn mit Symbolen wird nichts bewiesen“. ().
Was aber wird nicht alles im Spiel gewonnen? Das Spiel ermöglicht psychische Ganzheit, Integration und Zentrierung durch Projektion. Nach Carl Gustav Jung (Psychologie und Alchemie, 1944) projiziert z.B. der Alchemist seinen Individuationsprozeß durch die Symbolisierung von Zerstörung, Auflösung und Neugestaltung in die chemnischen Wandlungsvorgänge.
Alles ist Zahl – das war die Devise des Pythagoras, der in Kroton (Unteritalien) einen Bund für sittlich-religiöse Lebensform gründete und wegen seiner exklusiv aristokratisch-konservativen Einstellung verfolgt wurde. Er suchte das Geheimnis der Welt nicht in einem Urstoff, wie alle seine Vorgänger, sondern in einem Urgesetz, dem Urgesetz der zahlenmäßigen Beziehungen der Weltbestandteile. Für Pythagoras war die Welt ein harmonisches Ganzes, ein ewiges, lebendiges göttliches Wesen: der Kosmos. Die Weltharmonie war für ihn musikalisch. Pythagoras hatte erkannt, daß Zahlenverhältnisse für den harmonischen Zusammenhang der Töne sorgen. Bei dem Monochord, einem altgriechischen Instrument mit einer Saite über einem Resonanzkörper mit beweglichem Steg, ergibt sich bei der Halbierung der Saitenlänge ein um eine Oktave höherer Ton. Für die Oktave ist also das Verhältnis der Saitenlängen 1:2, für die Quinte 3:2 und die Quarte 4:3. Pythagoras gründerte auch die soziale Harmonie auf Zahlenverhältnisse und identifizierte sogar Tugenden mit bestimmten Zahlen. Er stellte sich die Zahlen als geometrische Figuren vor, die die Welt erst zur Welt, zu einer Ordnung machten. Er erforschte die Geometrie der vollkommenen festen Körper, der fünf Urkörper, die wir heute als die fünf platonischen Urkörper kennen. Es handelt sich hierbei um konvexe Polyeder, die von regelmäßigen, untereinander kongruenten Vielecken begrenzt werden und in deren Ecken jeweils gleich viele Kanten zusammenstoßen.
Pythagoras und nach ihm Platon (427-347) meinten, die mathematisch-geometrischen Körperformen entsprächen der Form der Seele, so daß Wahrnehmung und Erkenntnis durch Passung zustande kämen. Die Mathematik würde dann zugleich die Prinzipein im Aufbau der Seele und der Objektwelt erfassen. Erkennen hieße dann, wie der für seine Unschärferelation und seinen Versuch einer Weltformel berühmte Physiker Werner Heisenberg (05.12.1901 – 01.02.1976) erklärte: das sinnlich Wahrnehmbare außen mit den Urbildern innen vergleichen und es damit als übereinstimmend zu beurteilen. Heisenberg stellte 1925-1927 fest, daß sich die Elementarteilchen durch weitere Teilungen nicht mehr in weitere (z.B. kleinere) Teilchen, also Körperformen zerlegen lassen, sondern lediglich und für kurze Zeit in mathematisch-geometrische Formen, die nicht lokalisierbar sind und dann wieder in ihre ursprüngliche Teilchenform übergehen. Sein Fazit war, daß man keine exakten Vorhersagen mehr machen könne und statt dessen auf Wahrscheinlichkeiten der Wahrscheinlichkeit angewiesen sei. Heisenberg beeinflußte mit seinen fundamentalen Beiträgen zur Atom- und Kernphysik die Entwicklung der modernen Physik sehr. ().
Pythagoras steht heute noch Pate bei der String-Theorie, die behauptet, die Bauelemente des Kosmos seien winzige Fädchen aus Energie – wie Saiten (strings) unaufhörlich vibrierend. Aus ihren Schwingungen bestünden dann alle Elementarteilchen und physikalischen Kräfte. Die Strings brächten das Universum wie eine riesige Äolsharfe zum Klingen. Auch Pythagoras meinte, die bewegten Himmelskörper tönten in Intervallen (Sphärenharmonie); diese Harmonie sei aber nicht wahrnehmbar, weil sie unaufhörlich auf uns einwirke.
Über die wissenschaftliche Tätigkeit des Pythagoras sagte Heraklit (544-483), Pythagoras habe am meisten von allen Menschen sich mit Forschung befaßt; er fügte allerdings hinzu, Pythagoras habe sich daraus eine Vielwisserei und Afterkunst zurecht gemacht, denn Heraklit ließ außer sich niemand gelten. Die Unterrichtsgegenstände der Pythagoräer waren hauptsächlich Gymnastik, Heilkunde und Mathematik, zu der sie die Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik rechneten: diese Einteilung blieb die ganze antike Geschichte hindurch kanonisch. Ihre große Geistestat bestand eben darin, daß sie die Astronomie und Musik als eine Art angewandte Mathematik erkannten. Sie entdeckten, daß die Tonabstände Quart, Quint und Oktave durch die einfachen Zahlenverhältnisse 3:4, 2:3, 1:2 ausdrückbar sind, und von da an gelangten sie zu der tiefen, schon in der späteren Antike nicht mehrverstandenen Erkenntnis, daß alles Musik, Harmonie und Zahl sei. (Vgl. oben). Nach dem Prinzip des Geraden und Ungeraden stellten sie eine Art Tafel der Weltkategorien auf, wobei die „1“ als die gerad-ungerade Urzahl galt, die die beiden Reihen aus sich heraus erzeugt. Das Ungerade ist das Begrenzte, das Gerade ist das Unbegrenzte (weil es ins Unendliche teilbar ist), wobei nach echt griechischer Auffassung das Begrenzte als das Vollkommenere gilt, und diesem Dualismus entsprechen nun sämtliche Gegensätze im Weltall: Eines und Vieles, rechts und links, Männliches und Weibliches, Licht und Dunkelheit, Gutes und Böses und alle übrigen. Ferner ist der Punkt das Prinzip der Einheit, die Linie (da sie von zwei Punkten bestimmt wird) das der Zweiheit, die Fläche der Dreiheit, der Körper die Vierheit: aus 1,2,3,4 besteht die ganze Körperwelt. Aber auch die ganze Zahlenwelt, denn 1+2+3+4 sind 10, alle folgenden Zahlen nur Wiederholungen der ersten Zahlenreihe. Die ungeraden Zahlen erweisen sich auch darin als die vollkommeneren, daß sie alle aus Differenzen von Quadraten zusammengesetzt sind: 3=2²-1², 5=3²-2², 7=4²-3², 9=5²-4² u.s.w., und daß die Summen der aufeinander folgenden Ungeraden immer wieder Quadrate ergeben: 1+3=2², 1+3+5=3², 1+3+5+7=4², 1+3+5+7+9=5² u.s.w.. Nach diesen wenigen Proben wird man sich vielleicht schon ungefähr vorstellen können, worauf der Pythagoräismus hinaus wollte. Im Grunde war sein Kardinalprinzip kein anderes als das Galileische: „Das Buch des Universums ist in mathematischen Lettern geschrieben“ und überhaupt das der ganzen modernen Naturwissenschaft, die z.B. die völlige Verschiedenheit so vieler aus denselben Bestandteilen zusammengesetzter Stoffe auf die Ungleichheit der Atomzahlen zurückführt und die Vielfältigkeit der Farben auf bloße Unterschiede der Schwingungszahlen. Nur daß der Pythagoräismus noch viel weiter ging, indem er die Mathematik einen Bund mit der Mystik schließen ließ. Auch dies erscheint nur auf den ersten Blick paradox; denn bloß die niedere Mathematik ist rational, die höhere eine Art Zauber und ein Pfad zum Absoluten. Vielleicht sollte deshalb später einer der größten deutschen Neumystik-Frühromantik-Vereiniger, der Dichter Novalis (1772-1801), sagen: „Echte Mathematik ist das eigentliche Werkzeug des Magiers; das höchste Leben ist Mathematik; das Leben der Götter ist Mathematik; reine Mathematik ist Religion“. Und in der Tat war der Pythagoräismus eine Religion, die sich sehr nahe mit der Orphik berührte: auch die Pythagoräer lehrten die Seelenwanderung; daher wohl auch die bedeutende Rolle, die die Frauen spielten – ein ungriechischer Zug! Einer seiner sonderbarsten Glaubenssätze aber war die Lehre von der paliggenesia, der ewigen Wiederkunft, die aber einer mathematischen Weltanschauung nicht allzu fern lag.
Die Pythagoräer waren also nicht nur Mathematiker, sondern auch religiös motivierte Politiker. Die Anhänger der Philosophie des Pythagoras waren nämlich im engeren Sinne Mitglieder der von diesem gegründeten religiös-politischen Gemeinschaft in Kroton. Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurden die der Aristokratie nahestehenden Pythagoräer aus Unteritalien mit Ausnahme von Tarent vertrieben, und bald nach 350 v. Chr. gab es in Unteritalien keinen Bund der Pythagoräer mehr. (Vgl. 18-20). Pythagoras kann man aufgrund der politischen Motive durchaus mit Oliver Cromwell (1599-1658) vergleichen, vom geistigen Standpunkt her gesehen mit Francis Bacon (1561-1626) und Thomas Hobbes (1588-1679). Wenn er aber auch mit Leibniz (1646-1716) zu vergleichen ist, dann hätte er Philosoph, Mathematiker, Physiker, Diplomat, Historiker, Erfinder, also Universalgenie sein müssen, denn Leibniz war wohl der universalste und schöpferischste Gelehrte des Abendlandes. Irgendwie hatte er doch auch etwas Einzelgängerisches, ja „Monadisches“.
Auch Heraklit (544-483) war einzelgängerischer Philosoph und Politiker, für den es nur einen Urgrund gab: das Feuer als die Weltvernunft schlechthin. Das Feuer war für ihn der Urstoff, der Logos als das Urfeuer, das sogar über den Göttern thront. Heraklit war ein Verächter der Masse: von Volkssängern lasse sie sich leiten, sie wisse nicht, daß die Mehrheit schlecht und nur die Minderheit gut sei, „die meisten liegen da, vollgefressen wie das liebe Vieh“. Aber auch die über die Menge Emporragenden konnten es ihm nicht recht machen: „Vielwisserei bildet den Geist nicht, sonst hätte sie den Hesiod belehren müssen und den Pythagoras, den Xenophanes und den Hekataios“ (den Vater der Geographie, der auch als der erste Geschichtsschreiber gilt). Homer und Archilochos hätten verdient, ausgepeitscht zu werden, meinte Heraklit. Für seine eigene Philosophie, die er mit dem tiefen Satz charakterisierte: „Ich habe mich selbst gesucht“, rechnete er auf kein Verständnis: „Die Hunde bellen jeden an, den sie nicht kennen, und der Pöbel greift alles an, was ihm neu ist“, „für den Logos, obgleich er immer da ist, haben die Menschen keinen Sinn, weder bevor sie von ihm gehört haben noch nachdem sie von ihm gehört haben“, „wie Taube sind sie, anwesend sind sie abwesend“. Zweifellos war die gedankenschwere, überkomprimierte Aphosristik Heraklits eine bewußt gewählte Stilform und ihre Rätselhaftigkeit beabsichtigt; von ihr gilt, was er vom Delphischen Orakel sagte: „Es spricht nicht und verbirgt nicht, sondern deutet an“. Heraklits Sentenzen sind von schärfstem Schliff, reinstem Glanz und wuchtiger Fassung, messerhart und tausendstrahlig wie Diamanten: „Die Zeit ist ein spielendes Kind, das Brettsteine hin und her schiebt“, Der Seele Wissen kannst Du nicht ausfinden, auch wenn du jeglichen Weg abschrittest, so tief ist ihr Wesen“ (), „Dem Menschen ist sein Ethos sein Dämon“,“Der Mischtrank zersezt sich, wenn er nicht geschüttelt wird“. Der berühmte Ausspruch Heraklits: „In dieselben Flüsse steigen wir hinab und nicht hinab, wir sind es und sind es nicht, denn in denselben Strom vermag man nicht zweimal zu steigen“, will besagen, daß alles Irdische einem ewigen Wandel unterworfen, daß das ganze Dasein ein solcher Fluß ist. Noch weiter ging der Herakliteer Kratylos (5. Jh.), der später Platons Lehrer wurde. Kratylos erklärte, in denselben Fluß zu steigen vermöge man nicht einmal einmal, und später redete er überhaupt nicht mehr, sondern beschränkte sich darauf, mit dem Finger den Kreislauf des ewigen Fließens anzudeuten, womit er wahrscheinlich meinte, daß das Werden so flüchtig und unfaßbar sei, daß die Fixierung durch das Wort es bereits fälschte. Heraklit klagte die Dinge des entgegengesetzten Betrugs an wie der Eleate Parmenides (540-480): daß sie uns ein beharrendes Sein vorspiegeln. Für Heraklit entsteht der Schein des Beharrens, wenn zwei gegensätzliche Kräfte sich das Gleichgewicht halten. Ein jegliches Ereignis ist das Ergebnis einer Selbstentzweiung und Wiederversöhnung, der Krieg der Vater der Dinge, der Streit (Kampf) der Pulsschlag der Welt. Bekanntlich beruht auf dem Grundgedanken, daß das Treibende in der Weltentwicklung der Widerspruch und dessen Auflösung sei, auch Hegels Philosophie. (Vgl. Dialektik). Ganz wie bei Hegel trug schon bei Heraklit jeder Zustand seinen Übergang in den entgegengesetzten, somit diesen selbst in sich: „Die Menge“, sagt er höhnisch, „sucht Belehrung bei Hesiod, er, meint sie, wisse am meisten, der nicht einmal Tag und Nacht kennt, denn er weiß nicht, daß beide eins sind“. Die Nacht gebiert den Tag, der Tag die Nacht, also ist die Nacht latenter Tag, der Tag potentielle Nacht. Aus Totem wird Lebendiges, aus Lebendigem Totes, aus Wachen Schlaf, aus Schlaf Wachen, und ebenso verhält es sich mit den Jahreszeiten, mit Hunger und Sättigung, Gesundheit und Krankheit, Anstrengung und Erholung, jung und alt. Aus dem Gegensatzpaar des Männlichen und Weiblichen entsteht das Leben, aus dem ebenfalls antipodischen Vokalen und Konsonanten die Sprache, aus den hohen und tiefen Tönen die Harmonie. Diese Harmonie durchwaltet alles, und gegen die, welche einwenden, daß sie nicht wahrnehmbar sei, setzte Heraklit das Orakelwort: „die unsichtbare Harmonie ist gewaltiger als die geoffenbarte“. In dieselbe Richtung zielt auch sein tiefsinniges Gleichnis, das Platon im „Symposion“ überlieferte: „Die Einheit entzweit sich und söhnt sich wieder mit sich aus, wie die Harmonie des Bogens und der Leier“. Der scharfsinnige Heraklit (der wegen seines Tiefsinns auch „der Dunkle“ genannt wurde) meinte wohl ganz einfach das Phänomen der Spannung, eine von ihm genial erahnte Weltrealität. Aus alledem folgt aber, daß vor der Gottheit alles gleich schön, gut und gerecht ist, „nur die Menschen halten das eine für unrecht, das andere für recht“. Diese Welt, die von jeher war und immerdar sein wird, ist „ein ewiglebendes Feuer, das nach Maßen sich entzündet und nach Maßen wieder verlischt“. Feuer ist die alles durchwaltende und durchwärmende Weltseele, die alles erleuchtende Weltvernunft. (Vgl. Feuer und Sprache). Wenn Heraklit sagte, daß alles Feuer ist, so meinte er damit, daß alles belebt ist. Die exakte, nicht etwa bloß symbolische Analogie zwischen dem Leben und einer Flamme hat die moderne Naturwissenschaft enthüllt. Die kohlenstoffhaltige Nahrung gelangt im Organismus zur Verbrennung, indem sie mit dem eingeatmeten Sauerstoff oxydiert wird, und das Endprodukt ist Kohlensäure. Ferner herrscht in einer Flamme ein ununterbrochener sehr rascher Stoffwechsel, und auch dies empfahl sie zum Weltprinzip des Heraklitismus. Und mit seiner Lehre vom ewigen Kreislauf antizipierte dieser ebenfalls eine der Grundideen der heutigen Naturwissenschaft. Heraklits Vernunft, den Logos (das Feuer bzw. Urfeuer als Welt- oder Urvernunft), zu erkennen als Feuer, das in allem waltet, alles durch alles steuert, ist weise; weise ist es, sich dieser Vernunft zu beugen und zu fügen. Nur durch Unterwerfung unter die Gesetze der Vernunft, die in der Ordnung der Natur zum Ausdruck kommen, kann der Mensch die Heiterkeit der Seele gewinnen, die sein höchstes Glück ausmacht. Heraklit wirkte weit über seine Zeit hinaus und war in etwa das für die Antike, was Descartes (1596-1650) für das Abendland war: ein von der Souveränität der Vernunft Überzeugter. Descartes begründete bekanntlich den von der philosophischen Souveränität der Vernunft überzeugten Rationalismus. Der Cartesianismus steht ja nicht nur für ihn selbst, sondern vor allem für die Philosophie seiner Anhänger und Fortbildner in Frankreich, Deutschland, Holland und Italien, die sich in vier verschiedene Richtungen entwickelten; eine davon ist der Okkasionalismus. Der Cartesianismus ist gekennzeichnet durch den Ausgang von der Selbstgewißheit des Bewußtseins ([Ego] cogito, ergo sum), durch den strengen Dualismus von Leib und Seele () und durch die rationalistische mathematische Methode. Descartes erreichte so eine außerordentliche Wirkung. Wo Methode und Evidenz die Oberhand gewonnen hätten, dort müßten bewaffneter Glaubenseifer und Positionsanmaßung das Feld räumen, folgerte er in seiner Abhandlung über die Methode (Discours de la méthode, 1637). Seit Descartes konnte sich das Denken viel vorbehaltloser als zuvor öffnen für die Epochenaufgabe: Maschinenbau. (). Für Descartes waren Tiere Maschinen (Automaten) ohne Seele. Seine Metaphysik des Maschinenbaus stellt den Versuch dar, alles Seiende in kleinste Teile zu zerlegen und die Regeln für deren Zusammensetzung bekanntzumachen. Descartes verpflichtete das Denken auf das Hin und Her von Analysis und Synthesis und machte so die Vernunft selbst ingenieursförmig. Descartes war deshalb ein Ingenium (Scharfsinniger, Erfinder) wie der ingeniöse Heraklit, für den Vernuft Feuer war:
„Das Weltall hat weder der Götter noch der Menschen einer gemacht, sondern es war immer und ist und wird immer sein ein ewig lebendiges Feuer;
gesetzesmäßig sich entzündend und wieder löschend.“ (Heraklit, Fr. 30 ).
Aus dem einen allwaltenden göttlichen Urfeuer (Logos) geht durch Zwiespalt und Kampf die Vielheit der Dinge hervor („Weg hinab“); Eintracht und Friede bringt Erstarrung, bis das Erstarrte wieder zur Einheit des Urfeuers zurückkehrt („Weg hinauf“). In diesem ewigen „Auf-und-Ab“ wird aus „Einem“ „Alles“ und aus „Allem“ „Eines“. Alles fließt, aber in diesem Fließen waltet der Logos als Gesetz, das nur wenige erkennen. So ist Gott Tag und Nacht, Sommer und Winter, krieg und Frieden, Sättigung und Hunger; gut ist schlecht, schlecht ist gut – in allem ist Gegensätzliches vereint und doch verborgene Harmonie, und diese unsichtbare Harmonie ist besser als die sichtbare Gegensätzlichkeit. Krieg ist der Vater aller Dinge, und die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen als Freie, die anderen als Sklaven. Heraklit war echt weise!
Die Lehre des Heraklit hatte ganz erhebliche Auswirkungen.
Sie hatte Einfluß auf Platon, also auch auf den Platonismus,
sie wurde insbesondere von der Stoa wieder aufgenommen,
verbreitete sich von dort aus über die christliche, ja die
ganze abendländische Philosophie, wobei hier auch die
heraklitischen Feuer-Analogien von der exakten
(Natur-) Wissenschaft bestätigt wurden.

Xenophanes (ca. 580-485), wahrscheinlich der Begründer der Eleaten-Schule, polemisierte gegen das herrschende Weltbild des Polytheismus und meinte: „alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, was bei den Menschen Schimpf und Schande ist: stehlen und huren und einander betrügen“. (). Xenophanes gelangte bereits zu dem Satz Feuerbachs „homo homini deus“: seine Götter denke sich der Äthiopier schwarz und plattnasig, der Thraker blond und blauäugig, und der Ochse vermutlich als Ochsen, das Pferd als Pferd; aber was bei Feuerbach ein lederner Treppenwitz war, das war bei Xenophanes, dem bitteren Grübler, eine Geistestat von höchster Neuheit und Kühnheit. Für ihn gab es nur einen Gott, „weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Denken“, „ganz Auge, ganz Ohr, ganz Verstand“, und diese Gottheit war für ihn identisch mit dem Weltganzen, en kai pan (hen kai pan, eins und alles). Xenophanes war der erste hellenische Pantheist. Zugleich aber war er, wie alle großen Dichter, Agnostiker: volle Gewißheit über Gott und Natur habe noch keiner erlangt und werde auch keiner erlangen, denn Schein ist über alles gebreitet. Dieser Gedanke, daß unsere Welt eine Scheinwelt sei, bei Xenophanes eine geistreiche Bemerkung, wurde von dem Eleaten Parmenides (ca. 540-470), dem Großen, wie Platon ihn nannte, zum Grundstein seines tiefsinnigen Lehrgebäudes gemacht. Er schrieb über die Wahrheit (alhqeia) und von der Meinung (doxa), man könnte auch sagen: von der wahren und der Sinnenwelt, und das Ganze etwa nach Schopenhauer betiteln: Die Welt als Sein und Vorstellung. (). In der Einleitung wird geschildert, wie ihn ein Wagen, von Sonnenjungfrauen gelenkt, aus dem Reich der Nacht zum Licht emporführte, und diese phantastische Einkleidung ist nicht unberechtigt, denn er mußte in der Tat den Blitz, der ihm mit einem Schlag die Phänomenalität der Welt erhellte, wie eine göttliche Erleuchtung und Berufung zu übermenschlichem Wissen empfunden haben. Ein Grundgedanke, der immer wiederkehrt, ist die Einheit, Unvergänglichkeit und Wandelbarkeit des Seineden: „Es ist mir einerlei, von wo ich ausgehe, da ich ja doch immer wieder auf dasselbe zurückkomme“. Das Seiende war für Parmenides einzig, ohne Anfang und Ende, ein Kontinuum (souneceç), alles mit einem Mal: „Man kann nicht sagen: es war oder es wird sein, sondern es ist jetzt“. (). Aber die Natur bestätigt diese Aussage nicht: sie zeigt uns im Gegenteil nichts als Vielheit, Entstehen und Vergehen, Wechsel. Also ist die Natur im Unrecht, und was wir Werden nennen, eine Täuschung, für den, der ihn zuerst zog, ein Schluß von einer abgrundtiefen Verwegenheit. Aber Parmenides versuchte ihn auch dialektisch zu begünden: das Seiende kann nicht entstanden sein, weder aus dem Seienden, weil es dieses ja schon selber ist, noch aus dem Nichtseienden, weil dieses überhaupt nichts ist; es kann auch nicht vergehen, weil es dann zu seinem Gegenteil, einem Nichtseienden, werden müßte; es kann auch nicht unendlich sein, weil es dann niemals vollendet, also unvollkommen wäre. Das ist ebenso typisch griechisch empfunden wie die Minderwertigkeit des Geraden im Zahlenwerk des Pythagoräismus, und noch griechischer ist ein Gedanke, der uns ziemlich paradox anmutet: das Sein ist eine Kugel (!). (sfaira = Kugel, Sphäre). Nach allen Seiten gleich ausgedehnt, völlig ebenmäßig gebaut, rund und in sich geschlossen: nur dies verbürgt ihm die Ewigkeit. Dieses absolute Sein läßt sich im reinen Denken erfassen, denn, so Parmenides, „das Denken und der Gegenstand des Denkens sind identisch“. Hier kündigte sich bereits die Ideenlehre Platons an. Parmenides‘ Begriff einer ungewordenen, unvergänglichen Substanz des Seienden bedeutet, daß alle Veränderung nur subjektiver Schein und Trug ist, durch die Sinneswahrnehmung hervorgerufen. (Vgl. Subjektivismus). Das Wahre, Seiende wird nur durch das Denken enthüllt, ja ist dieses Denken, wie dieses das Sein, während die Sinneswahrnehmung nur Meinung (doxa) erzeugt. Nach Parmenides zerfällt die Welt in zwei Urstoffe, aus deren Mischung sie entsteht: in das helle und tätige Feuer und in die dunkle und passive Masse. Parmenides erinnert auch an Gautama Buddha (ca. 560-480), der im fernen Indien lehrte, daß die Vielheit nur für den Nichtwissenden bestehe und wer sie als Täuschung durchschaue, sei erlöst. Parmenides‘ Lehre von der Unwirklichkeit der Sinnenwelt wurden von seinem Schüler, dem Eleaten Zenon (490-430) ausgebaut. Berühmt waren seine Aporien, Spitzfindigkeiten, aus denen man sich nicht heraushelfen kann. So behauptete er z.B., jeder Körper sei sowohl unendlich klein wie unendlich groß: unendlich klein, denn er bestehe, da er unbegrenzt teilbar sei, aus einer Summe von zahllosen Teilen, die zusammen wieder nur ein unendliches Kleines ergeben können; unendlich groß, denn bei jener unbegrenzten Teilung erhalte man unendlich viele Teile, aus denen man den Körper zusammensetzen und, da zahllose übrig bleiben, ins Unendliche anwachsen lassen kann. Hier wird das Nicht-Abendländische an der Antike, d.h. ihr Gegenstück, geanz deutlich, denn dieser typisch antike Gedankengang des Zenon beruht auf einem Mißbrauch des Begriffs der Unendlichkeit , der – bewußt oder unbewußt – unklar gefaßt wurde: in wie viele Teile der Körper auch zerlegt wird, immer wird deren Summe (1/x)x oder, wenn es unendlich viele sind, (1/n)n sein und immer 1 ergeben, d.h. den Körper selber, den „Einzelkörper“. Eine andere Aporie war der Pfeil: der fliegende Pfeil ruht, denn er befindet sich in jedem kleinszen Zeitteilchen, dem „Jetzt“, nur an einem einzigen Ort, also im ruhenden Zustand; da aber die ganze Zeit, die er fliegt, aus solchen „Einzelmomenten“ zusammengesetzt ist, so bewegt er sich überhaupt nicht vorwärts. (Vgl. „Statik“). Hier liegt der (typisch antike) Trugschluß darin, daß das „Differential“ gleich 0 gesetzt wurde: zu dem „Jetzt“, der unendlich kleinen Zeit dt (Differential von t), gehört nämlich der unendlich kleine Weg ds, und nach der Formel v = ds/dt ist daher die Pfeilgeschwindigkeit im kleinsten Zeitteil ds/dt aber nicht 0/0. Eine andere Aporie, das Beispiel Kornhaufen(Medimnos), weist auf den Widerspruch hin, daß ein Scheffel Getreide beim Umfallen ein Geräusch hervorbringe, das einzelne Korn aber nicht, somit sei entweder das Gesamtgeräusch oder die Geräuschlosigkeit der Einzelkörner eine Sinnestäuschung. Dieses Paradoxon fand seine Erklärung durch das Gesetz vom Schwellenwert der Empfindung, das erst um 1840 bis 1860 von Fechner (1801-1887) entdeckt wurde: jeder Reiz wird erst bewußt, wenn er eine gewisse Stärke besitzt, durch die er die Empfindungsschwelle zu überschreiten vermag; Gehörsempfindungen entstehen durch jedes einzelne Korn, aber erst ihre Summation erlangt den Schwellenwert, und wieviel Körner dazu nötig sind, läßt sich nur durch das Experiment feststellen. Aber noch verzwickter ist die Frage des „phalakros“: Wieviel verlorene Haare machen einen Kahlkopf? Offenbar ist es ein einziges Haar, das den Übergang macht. Hier stößt man, das Problem verallgemeinernd, in der Tat auf einen schwer lösbaren Knoten: die Willkürlichkeit unserer Sprache, unserer Begriffsbildungen, was aber weniger ein Einwand gegen unsere Sinneseindrücke bedeutet als gerade gegen unsere Ideenwelt, die Parmenides als die einzig wahre erblickte. Die antike Aporien waren Vorläufer der Kantschen „Antinomien der reinen Vernunft“, so nannte Kant Lehrsätze, deren Bejahung ebenso richtig und beweisbar ist wie deren Verneinung. Zum Beispiel: die Welt ist eine zeitlich unbegrenzte Größe. Aber hätte sie keinen Anfang in der Zeit, so müßte im gegenwärtigen Zeitpunkt bereits eine Ewigkeit abgelaufen sein, eine abgelaufene Ewigkeit ist aber ein Unding. Also ist die Welt eine zeitlich begrenze Größe. Aber hätte sie einen Anfang in der Zeit, so hätte diesem eine Zeit vorausgehen müssen, in der keine Welt, also nichts war, eine leere Zeit, also wiederum ein Unding. Die Lösung liegt darin, daß das Weltganze keine gegebene Größe, kein Gegenstand unserer Erkenntnis, kein Objekt unserer Vernunfttätigkeit ist. Es ist für uns ein „Ding an sich“, d.h. daß es jenseits der Grenzen unseres Vorstellungsvermögens liegt. Wir können daher weder sagen, daß es zeitlich begrenzt noch daß es zeitlich unbegrenzt ist, denn die Zeit ist eine subjektiv menschliche Anschauungsform, die auf das Ding an sich keine Anwendung findet.
Anaxagoras (500-428) war Mathematiker und Astronom aus Klazomenai (Kleinasien) und lehrte in Athen. Er wurde 431 aber von dort wegen Gottlosigkeit vertrieben, weil er behauptet hatte, die Sonne sei eine glühende Steinmasse. Er lebte danach im Lampsakos. Die Verschiedenheit der Naturkörper führte er auf verschiedenartige, unveränderliche, unendlich kleine Elemente des Wirklichen („Samen der Dinge“, griech.: Homoimerien) zurück, die anfangs, bunt durcheinandergemischt, ein Chaos bildeten. Der „Nous“ (in etwa: „Weltvernunft“), „das feinste und reinste aller Dinge“, setze sie in Bewegung und ordne sie: „es trennen sich die ungleichartigen, es verbinden sich die gleichartigen Elemente; die Dinge entstehen“. Dabei sei der „Nous“ in der Materie, in der er wirke; doch mische er sich nicht mit ihr; er sei unvermischbar. „Kein Ding entsteht, noch auch vergeht es, sondern aus vorhandenen Dingen setzt es sich zusammen, und durch Trennung dieser Dinge vergeht, zerfällt es“. Nur Ungleiches und Gegensätzliches könne erkannt werden. Anaxagoras gehörte keiner bestimmten Richtung oder Schule an, er zählte zu den großen „Einzelgängern“, wie u.a. auch Heraklit (544-483), für den das Feuer als der Urstoff (Logos als Weltvernunft) galt, oder Empedokles (483-424), der für das Verbinden und Trennen des Unveränderlichen, Unentstandenen und Unvergänglichen erstmalig die 4 Elemente bestimmte (Feuer, Erde, Luft, Wasser). (). Sie waren Einzelgänger, aber nicht allein deswegen auch Subjektivisten bzw. Elementekinetiker. (Vgl. Tabelle).
Empedokles (483-424) schrieb sich selbst magische Kräfte zu, und wurde, als Arzt, Priester und Wundertäter umherziehend, von seinen Anhängern als Gott verehrt. Er lehrte im Anschluß an die mystische Orphik, daß es Entstehen und Vergehen im eigentlichen Sinn nicht gibt, sondern nur Mischung und Entmischung, Verbindung und Trennung von unveränderlichen, unentstandenen und unvergänglichen Elementen, deren Empedokles vier aufzählt: Feuer, Erde, Luft, Wasser. (). Aus einem Urzustand der absoluten Mischung, in dem keine Einzeldinge existieren, entwickelt sich allmählich ein Zustand der absoluten Trennung der Elemente, aus diesem wieder der Zustand der Mischung und so fort ins Unendliche. Die bewirkenden Kräfte dieser Entwicklung nannte Empedokles „Liebe und Haß“ (Freundschaft und Zwist, Anziehung und Abstoßung), die abwechselnd zur Alleinherrschaft kommen. Von den Lebewesen waren zuerst die Pflanzen aus der Erde hervorgekeimt, danach tierische Wesen, und zwar zuerst nur als Teilwesen, die sich später vereinigten, wobei jedoch nur lebensfähige Gebilde sich fortpflanzten (Gedanke des Überlebens des Tauglichsten; ). Auch der Mensch sei so entstanden, der das ihm seinsmäßig Nahestehende allein erkenne; denn Gleiches werde stets durch Gleiches erkannt, die Sonne z.B. durch das sonnenhafte Auge (Goethe). (Vgl. auch Hölderlin, „Der Tod des Empedokles“, 1798/99).

In der Antike bewgten sich die Hochrationalisten allmählich auf die 4 Elemente zu,
im Abendland bewegten sich die Hochrationalisten allmählich von den 4 Elementen weg,
aber auch auf etwas zu, was erst die Hochmodernisten wissenschaftlich bestätigen sollten
und was sich auf die alle Vorgänge in der Natur zurückführen läßt: die 4 Naturkräfte. ().

Was für Heraklit die Geschichte des Logos (Feuer) war, das war für die Eleaten Xenophanes und Parmenides das All-Eine. Die Eleaten Zenon und Melissos versuchten, das All-Eine zu beweisen, und der Einzelgänger Empedokles versuchte, das All-Eine zu sein. Was Galilei für die Geschichte der naturwissenschaftlichen Methodik war, war Descartes für deren theoretische Grundlagen, weil die moderne Technik auch nur dadurch entstehen konnte, daß Descartes die Menschen in eine Position gegenüber der Natur brachte, von wo aus eine durchgreifende Naturbeherrschung überhaupt erst möglich wurde. Er hat die Menschen so denken gelehrt, daß sie die Technik erschaffen konnten. Kepler erfand das astronomische Fernrohr (1600), während er mit der Begründung der Planetengesetze (1605-1609) beschäftigt war. Pascal (1623-1662) begründete die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Leibniz und Newton begründeten unabhängig voneinander die Infinitesimalrechnung (1665/1672). Leibniz erfand eine Multipliziermaschine (1673), Newton das Spiegelteleskop (1669). Außerdem begründete Newton die Gravitationsgesetze (1666).
Grundsätzlich waren die Eleaten Vertreter des Rationalismus und des Agnostizismus, aber im Gegensatz zum faustischen Abendland fehlte der apollinischen Antike dieser gesamte Zug zur wissenschaftlichen Praxis, zur Trennung von Geist und Natur, zur Bejahung der Zeit und des unendlichen Raums. Der unendliche Raum wurde und wird im Abendland nicht denkerisch übersprungen, sondern willentlich erforscht und untersucht, selbst auf die Gefahr hin, daß man sich in ihm verliert, wie es die gotischen Dome symbolisch verraten und wie die Seefahrer anfangs auch ohne Kenntnis der Ozeanwinde darauf hofften, daß es dort einen Wind geben könne, der sie wieder zurück nach Portugal bringen würde. (Vgl. 10-12). Der Mensch ist das Maß aller Dinge, behauptete der Sophist Protagoras (480-410), der sich auch zuerst als Sophist und Menschenkenner bezeichnete. (). Die Technik ist das Maß aller Dinge, könnte man dagegen die Devise der rational-empirisch ausgerichteten Meister des Abendlandes nennen. Die Antike war in philosophischen Angelegenheiten von grandioser Eigenart, aber sie sah in allen kulturellen Elementen nichtzeitliche Körper, ahistorische Halbgötter (Halbmenschen), zeitlose Urstoffe und raumlose Gesellschaftskörper. Für letztere ist die Polis das beste Beispiel. Ursymbol und Seelenbild müssen um 180 Grad gedreht werden, wenn man Antike und Abendland vergleichen will. Wahrscheinlich beschäftigen wir uns deshalb so gern mit der Antike. Es scheint dies eine solche Vater-Sohn-Beziehung zu sein, die typischerweise symbiotisch ausfällt.

Leukipp (5. Jh. v. Chr.), Begründer der Atomistik, war
Lehrer und älterer Zeitgenosse des Demokrit (460-371).

Was in der Antike als Ein-und-Alles(hen kai pan) galt und mit Xenophanes zum ersten Mal auch naturphilosophisch und mit der Forderung nach freier Weisheit fundiert worden war, das war im Abendland die auf Experiment und Rationalismus beruhende mechanische Naturerkenntnis, die freie Wissenschaft nur sein konnte und von Galileo Galilei (1564-1642), dem Begründer der neueren mechanistischen Naturphilosophie, vehement gefordert wurde. „Er starb in dem Jahr, da Newton geboren wurde. Hier liegt das Weihnachtsfest unserer neuen Zeit“ (Goethe). „In ihm folgte auf mehr als 2 Jahrtausende von Beschreibung und Formbetrachtung der Natur das Studium einer wirklichen Analysis der Natur“ (Wilhelm Dilthey).
Galileis Entdeckung der Fallgesetze war für die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Methode von so überragender Bedeutung, weil sie sich auf reine Erfahrung beschränkte, d.h. nicht auszudrücken versuchte, „warum“ der Stein falle, sondern „wie“ er es tut. Das wahre Buch der Philosophie war für Galilei das Buch der Natur, das nur in anderen Buchstaben geschrieben sei als in denen des Alphabets, nämlich in Dreiecken, Quadraten, Kreisen, Kugeln u.s.w. (vgl. Polyeder). Zum Lesen desselben könne nicht Spekulation dienen, sei vielmehr Mathematik nötig. Für die wissenschaftliche Forschung forderte Galilei: Verwerfung der Autorität in Fragen der Wissenschaft, Zweifel, Gründung der allgemeinen Sätze auf Beobachtung und Experiment, induktives Schlußverfahren. Galilei huldigte einem Rationalismus, der glaubt, die Welt rein auf mechanistische Weise, mit Hilfe von Mathematik, Mechanik und Vernunft, begreifen zu können. Wie wegweisend er für viele Nachfolger und damit für einen wichtigen Kulturteil des Abendlandes wurde, sollte sich durch einen seiner Erben herausstellen, denn die von Newton (1643-1727) aufgestellte Mechanik gilt mit wenigen Einschränkungen noch heute. Newton betonte die Notwendigkeit einer streng mechanischen, kausalen und mathematischen Naturerklärung, zu der er selbst durch die Entdeckung des Gesetzes der Gravitation beitrug, und die sich aller unnötigen Hypothesen enthält. Hierbei spielte auch die sich schon im Nominalismus angedeutete Entwicklung des Empirismus eine Rolle, dessen methodologische Variante Francis Bacon (1561-1626) begründete, die dann später durch eine erkenntnistheoretische Variante von John Locke (1632- 1704) erweitert werden sollte. Newton sah, vielleicht unter dem Einfluß Jakob Böhmes (1575-1624), die absolute Zeit und den absoluten Raum, innerhalb derer die physikalischen Vorgänge streng ablaufen, gleichzeitig als Sinnesorgan Gottes an, dessen geheimnisvolle Wirklichkeit er für unerklärbar hielt. Newton stellte auch mystische Betrachtungen über die Offenbarung des Johannes an. Die Mystik erfuhr nach der Reformation mit Jakob Böhme einen weiteren Höhepunkt, weil dieser Philosophus Teutonicus, nicht zuletzt durch seine Sprachgewalt, gleichermaßen auf einfache Gemüter wie auf differenzierteste Geister wirkte. Was Galileo Galilei für die Naturwissenschaft und Johannes Kepler (1571-1630) für die Astronomie bewirkten, das bewirkte Jakob Böhme für die mystisch orientierte deutsche Philosophie. Nicht nur durch seine barocke Sprache, sondern auch durch den Tiefeninhalt seiner Werke bereitete er den geistigen Boden dieser Phase vor. Böhme war ein Vertreter des Barock, und sein Denken beeinflußte mindestens 3 ganze Phasen, also nach dem Barock auch noch Rokoko und Klassizismus, hier insbesondere die deutschen Romantiker.
Johannes Kepler (1571-1630) war nach dem Studium der evangelischen Theologie in Tübingen war Kepler ab 1594 als Mathematiker in Graz tätig und bis 1612 Assistent des Astronomen Tycho Brahe in Prag. 1604 kam Kepler zu der bedeutsamen Erkenntnis, daß die Marsbahn kein Kreis (wie Kopernikus annahm), sondern eine Ellipse ist. Aus einer mystischen Naturphilosophie und einer pantheistischen Stimmung entwickelte Kepler den Gedanken einer Weltharmonie und fand in dem Bemühen, diesen Gedanken induktiv zu begründen, u.a. die drei nach ihm benannten Gesetze der Planetenbewegung, die ersten Naturgesetze in mathematischer Form; sie drückten für ihn eine gottgewollte Harmonie aus; er veröffentlichte sie in seinen beiden Hauptwerken „Astronomia nova“ (1609) und „Harmonices mundi“ (1619). Die Zahl der Planeten konnte nach Kepler keine andere als fünf sein, weil es nur fünf regelmäßige Polyeder gibt. (Vgl. auch Galilei). Keplers Lehren waren für die Gestaltung des modernen Weltbildes von größter Bedeutung. Auch in der Optik leistete Kepler Bahnbrechendes (1604 „Astronomiae pars optica“, 1611 „Dioptrice“). Er entwickelte darin die Theorie der Linsen und des Fernrohrs (mit zwie Konvexlinsen). Nach dem Tod des deutschen Kaisers (Rudolf II.) erarbeitete Kepler als Mathematiker in Linz einen umfassenden „Abriß der kopernikanischen Astronomie“ (1618-22) und veröffentlichte 1627 die Rudolphinischen Tafeln. Um Obligationszinsen einzutreiben, begab sich Kepler, der ab 1628 in Wallensteins Diensten in Sagan stand, 1630 auf die Reise nach Linz. Er erkrankte in Regensburg, wo er kurz nach seiner Ankunft verstarb.
Keplersche Gesetze
1.)
Die Bahnen der Planeten sind Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht.
2.)
Der Radiusvektor (Verbindungslinie Planet – Sonne; d.h. der Fahrstrahl von der Sonne zum Planeten) überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen. Dieser sogenannte Flächensatz bedeutet, daß ein Planet sich am schnellsten im sonnennächsten Punkt (Perihel), am langsamsten im sonnenfernsten Punkt (Aphel) seiner Bahn bewegt.
3.)
Die dritten Potenzen (Kuben) der großen Halbachsen der Planetenbahnen verhalten sich wie die Quadrate der Umlaufzeiten. Anders gesagt: Die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten verhalten sich wie die Kuben ihrer mittleren Entfernungen von der Sonne. Die Umlaufzeiten und mittleren Entfernungen werden dabei auf die betreffenden Werte der Erde (= 1) bezogen. (Vgl. die folgende Tabelle).
Planet Mittlere Entfernung von der Sonne in AE Umlaufzeit
in Jahren Quadratzahl der Umlaufzeit Kubus der mittleren Entfernung
Merkur
Venus
Erde
Mars
Jupiter
Saturn 0,387
0,723
1,000
1,524
5,203
9,539 0,241
0,615
1,000
1,881
11,868
29,461 0,058
0,378
1,000
3,538
140,849
867,978 0,058
0,378
1,000
3,540
140,852
867,951

Die Keplersche Gleichung ist die mathematische Verknüpfung der mittleren mit der exzentrischen Anomalie (bezogen auf das 1. Keplersche Gesetz: Planetenbahn als Ellipse um sein Zentralgestirn in einem der beiden Brennpunkte). Sie lautet: E-e • sin E = M . Dabei ist E die exzentrische, M die mittlere Anomalie und e die numerische Exzentrizität der Bahn. Die Keplersche Gleichung stellt eine sehr wichtige Funktion für die Bahnberechnung von Himmelskörpern dar.
Die 3 Keplerschen Gesetze, die auch aus dem fast 70 Jahre später von Newton erstellten Gravitationsgesetze abgeleitet werden können, gelten nur näherungsweise. Sie wären nur dann exakt gültig, wenn die Massen der Planeten gegenüber der Sonnenmasse als vernachlässigbar klein betrachtet und die Anziehungskräfte der Planeten untereinander vernachlässigt werden könnten.

Der deutsche Astronom Simon Mair (1573-1625), auch Marius Simon genannt und ab 1605 in Ansbach am Hof der fränkischen Hohenzollern als Hofastronom tätig, entdeckte den Andromedanebel und – gleichzeitig, aber unabhängig von Galileo Galilei (1564-1642) – 1610 die vier hellsten und gößten Jupitermonde sowie die Venusphasen und die Sonnenflecken. Der Mathematiker und Naturforscher Thomas Harriot (1560-1621), der ebenfalls – unabhängig von Simon Mair (Marius Simon) und Gaileo Galilei – die hellsten und gößten Jupitermonde 1610 entdeckte und Forschungen an ihnen betrieb, verbesserte Winkelmeßgeräte, bewies die Winkeltreue der stereographischen Projektion und berechnete die ballistische Kurve – noch vor Galileo Galilei – als schiefe Parabel. Schon 1601 hatte er das Brechungsgesetz entdeckt – von Willebrord van Snel (Snellius; 1580-1626) mußte es neu entdeckt werden – und 1603 die Inhaltsformel für das sphärische Dreieck gefunden. Harris verbesserte die Gleichungslehre des Franciscus Vieta (François Viète; 1540-1603) und leitete Interpolationsformeln ab. Er zeichnete nach Fernrohrbeobachtungen eine erste Mondkarte, zählte die Sonnenflecken und berechnete danach die Rotationsdauer der Sonne.

– Der Kordinator –
René Descartes (1596-1650) erfaßte die Ebenen und den Raum durch Koordinatensysteme und ermöglichte die Grundlegung der analytischen Geometrie, in der die Zuordnung von rein mathematischen Gebilden (etwa algebraischen Gleichungen) und geometrischen Formen (Geraden, Kurven, Flächen u.s.w.) ihren exakten Ausdruck gefunden hat. Diese methodische Leistung Descartes‘, die Erfassung der Mannigfaltigkeit von Raumformen durch abstrakte Symbole des algebraisch-analytischen Denkens, kann in ihrer ontologischen Tragweite kaum hoch genug eingeschätzt werden.
Koordinaten (die „Zugeordneten“) sind die grundlegenden Bestimmungstücke einer Gegebenheit, in der Mathematik Zahlen, die die Lage eines Punktes bestimmen. Sie werden oft durch Strecken veranschaulicht. So wird z. B. die Lage eines Punktes P im Inneren eines Würfels mathematisch bestimmt durch seinen Abstand von der linken, der unteren und der hinteren Würfelfläche. Fällt man Lote vom Punkt P auf diese 3 Flächen und nennt man die Fußpunkte A, B und C, so entsteht in der linken hinteren Ecke des Würfels ein Quader mit den folgenden Eckpunkten: A-C1-C-P-A1-0-B1-B. Die Strecken 0-A1, 0-B1, 0-C1 sind dann die Koordinaten des Punktes P (vgl. Bild). Die vom Punkt 0 (Nullpunkt) ausgehenden Geraden x, y, z sind die Koordinaten-Achsen (die man sich über die Würfelkanten hinaus verlängert zu denken hat). Sie stehen in diesem Falle senkrecht aufeinander und bilden daher ein orthogonales oder kartesisches Koordinatensystem.

Zur Definition der kartesischen Koordinaten eines (n-dimensionalen) Raumes muß zuerst von einem beliebigen Punkt 0 dieses Raumes aus ein Satz von n zueinander senkrechten Einheitsvektoren abgetragen werden; dadurch wird in ihm ein rechtwinkliges oder kartesisches Koordinatenssystem festgelegt. Der Punkt 0 ist der Ursprung (Nullpunkt, Koordinatenanfangspunkt), und wie gesagt: die durch 0 gehenden Geraden sind die zueinander senkrechten Koordinaten-Achsen. Die Zuhilfenahme von Koordinaten zur Beschreibung geometrischer Sachverhalte in der Ebene (n = 2) und im gewöhnlichen „euklidischen Raum“ (n = 3) ist das Hauptkennzeichen der analytischen Geometrie. Es wird dabei unterschieden zwischen rechtwinkligen oder kartesischen und krummlinigen oder (seit Gauß, 1777-1855) Gaußschen Koordinaten ().

– Magdeburger Halbkugeln –
Der Naturforscher und Staatsmann Otto von Guericke (auch: Gericke; 1602-1686) wurde weithin berühmt durch seine öffentlichen physikalischen Demonstrationsversuche. Mit der von ihm noch vor 1650 erfundenen Luftpumpe führte er Versuche mit luftleer gepumpten Kesseln durch und zeigte, daß sich im Vakuum der Schall nicht ausbreiten und eine Kerze nicht brennen kann. 1656 konstruierte er zur Veranschaulichung der Größe des Luftdruckes die „Magdeburger Halbkugeln“, mit denen er 1663 am Hof Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten, einen Schauversuch durchführte. Er erfand außerdem ein Manometer (vor 1661) und baute ein über 10 m langes, mit Wasser gefülltes Heberbarometer, an dem er neben der Höhenabhängigkeit auch die wetterabhängigen Schwankungen des Luftdruckes erkannte, was ihm Wettervorhersagen ermöglichte.

– Herzenslogik –
Blaise Pascal (1623-1662) war Philosoph, Mystiker und Mathematiker, einer der namhaften Vertreter des Geistes von Port Royal und Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Er griff als Jansenist in seinen Lettres provinciales (1657) die Jesuiten wegen ihres Probabilismus an. Pascal sah die Grenze der Mathematik, an deren Entwicklung er selbst hervorragend beteiligt war, und des Rationalismus überhaupt besonders darin, daß sie nicht zu antworten vermögen auf die Fragen: welches ist unsere Stellung in der Welt und welches der Weg zum Seelenfrieden? Deshalb kehren nach Pascal die großen Seelen, auch wenn sie alles nur irgend mögliche Wissen erworben haben, zur Unwissenheit zurück, zur Hingabe an die Offenbarung und die Gnade, die selbst ein Mysterium ist. Die Wahrheit gründet sich auf eine Herzenslogik und auf das subjektive Erlebnis mystischer Gottesbezeugung.
1
1 1
1 2 1
1 3 3 1
1 4 6 4 1
1 5 10 10 5 1
1 6 15 20 15 6 1
. . . . . . . .

In dem „Pascalschen Dreieck“ sind die Binominalkoeffizienten in Form eines gleichschenkligen Dreiecks angeordnet. Jede Zahl dieser Anordnung ist die Summe der unmittelbar rechts und links darüber stehenden Zahlen; in der n-ten Zeile stehen die Koeffizienten des Polynoms (a + b)n – 1. Der „binomische Lehrsatz“ ist eine Regel zur Entwicklung einer beliebigen Potenz eines Binoms (Beispiel: a +b) in eine Reihe (deshalb: Binominalreihe); die auftretenden Koeffizienten bezeichnet man als Binominalkoeffizienten.

– Deus sive natura –
In Amsterdam geboren, von aus Portugal ausgewanderten Juden abstammend und mit dem sakralen Namen Baruch versehen, wurde Benedictus de Spinoza (1632-1677) im Jahre 1656 wegen „schrecklicher Irrlehren“ aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen . Spinoza wendete bei der Abfassung seines Hauptwerks, der „Ethik“ (1677), in rigoroser Weise die von Descartes (1596-1650) geschaffene Methode an und behauptete: Nur die mathematische Denkweise führt zur Wahrheit. Je mehr der Mensch weiß, desto besser erkennt er seine Kräfte und die Ordnung der Natur, desto leichter kann er sich selbst leiten, sich Regeln geben und sich von nutzlosen Dingen zurückhalten. Die Seele ist selbst nur ein Teil der Natur, der Substanz, die sich uns in zwei Attributen offenbart: Ausdehnung und Denken, Materie und Geist; alle Dinge, alle Ideen sind Modi, Daseinsweisen dieser einzigen, ewigen, unendlichen Substanz, außer der es kein Selbst gibt und keinen Gott: Deus sive natura, (Gott oder Natur), die Natur selbst ist Gott. Je mehr wir die Einzeldinge erkennen, um so mehr erkennen wir Gott. Je mehr und je besser wir Gott kennen, um so mehr lieben wir ihn, und diese intellektuelle Liebe zu Gott ist ein Teil der unendlichen Liebe, womit Gott sich selbst liebt. In dieser Erkenntnis und Liebe Gottes besteht unser Heil. Spinoza vertrat einen strengen Determinismus. Die Menschen, so meinte er, hielten sich für frei, weil sie sich ihrer Determiniertheit nicht bewußt seien. Die Lehre Spinozas fand zunächst wenig Anklang. Doch später, nämlich durch den Streit von F. H. Jacobi (1743-1819) mit Moses Mendelsohn (1729-1786) über den Spinozismus, sollte das Interesse an Spinoza allgemeiner und durch J.G. Herder (1744-1803) und J. W. Goethe (1749-1832) sogar zu hohem Ansehen gelangen.

– Huygenssches Prinzip –
Der Physiker, Mathematiker und Astronom Christiaan Huygens (1629-1695) beschäftigte sich in seinen ersten Untersuchungen, seit 1656, mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung () und dem Differential- und Integralkalkül (). Im Zusammenhang mit seiner 1657 erfundenen Pendeluhr () entwickelte er u.a. die Theorie des physikalischen Pendels. Seine Konstruktion einer Uhr mit mit Spiralfeder und Unruh (1675) führte zu einem Prioritätsstreit mit Robert Hooke (1635-1703), der 1678 ein Gesetz formulierte, durch das der Zusammenhang zwischen der elastischen Verformung eines Körpers und der dazu erforderlichen Kraft bzw. der dabei auftretenden rücktreibenden Kraft dargestellt wird („Hookesches Gesetz“). Bei seiner Auffindung des Gesetzes vom Stoß erkannte Huygens als Konsequenz des Trägheitsgesetzes die Relativität von Ruhe und Bewegung. Am bekanntesten sind seine Leistungen in der Optik (), insbesondere das „Huygenssche Prinzip“ (), mit dessen Hilfe er 1676 Reflexion, Brechung und geradlinige Ausbreitung des Lichtes erklärte. Bereits seit 1663 hatte Huygens sich auch mit der Anfertigung von optischen Instrumenten (Linsen, Fernrohre, Mikroskope) befaßt und 1655 den ersten Saturnmond, 1656 den Satrurnring und den Orionnebel entdeckt.

– Fast Lichtgeschwindigkeit –
Olaf Römer (1644-1710), ebenfalls Mathematiker und Astronom, bestimmte 1675 aus der Verfinsterung der Jupitermonde zum ersten Male die Lichtgeschwindigkeit, wenn auch noch nicht so exakt (der moderne Wert für die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum beträgt 299792,458 km/s). Römer hatte also schon fast die exakte Lichtgeschwindigkeit errechnet, und zwar lediglich mit Hilfe der Verfinsterungen einiger Jupitersatelliten: je nach der Entfernung Jupiter-Erde ergaben sich nämlich zeitliche Verzögerungen dieser Verfinsterungen. Römer erfand auch den Meridiankreis, ein astronomisches Winkelmeßgerät, d.h. jenes astronomische Fernrohr, das nur in der Meridianebene frei drehbar ist. Es wird also so aufgestellt, daß es im Meridian () schwenkbar ist.

1 N = 1 kg m / s2
Isaac Newton (1643-1727) kam zu seinem Ruhm, weil er die klassische theoretische Physik begründete und damit (wie schon vor ihm Galilei und Kepler) die exakte Naturwissenschaft zum Triumph verhalf, vor allem durch sein 1687 erschienenes Hauptwerk „Philosophiae naturalis principa mathematica“, in dem er u.a. nicht nur sein 1666 gefundenes Gravitationsgesetz formulierte, sondern auch die Grundgesetze der Mechanik: die 3 Axiome der Mechanik (Newtonsche Axiome): 1.) Ursache der Beschleunigung eines Körpers ist eine auf ihn einwirkende Kraft, d.h. jeder Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen, geradlinigen Bewegung, solange keine Kräfte auf ihn einwirken (Trägheitsgesetz). 2.) Die Bewegungsänderung (Beschleunigung) eines Körpers ist der einwirkenden Kraft proportional und ihr gleichgerichtet (Dynamisches Grundgesetz). 3.) Die Wirkung ist stets gleich der Gegenwirkung (actio = reactio), d.h. übt ein Körper A auf einen Körper B eine Kraft F1 aus, so übt stets auch der Körper B auf den Körper A eine Kraft F2 aus, die von gleichem Betrage, aber entgegengesetzter Richtung ist: F1 = – F2 (Reaktions-, Gegenwirkungs- oder Wechselwirkungsprinzip, Newtonsches Wechselwirkungsgesetz).

– Englische Philosophie als Sonderfall –
Innerhalb der abendländischen Philosophie muß die englische Philosophie immer gesondert berücksichtigt werden, weil auch sie „Inselcharakter“ hat. Häufig war sie dem Kontinent dabei abdriftend voraus. Der englische Staatsmann und Philosoph Francis Bacon (1561-1626) begründete den (neuzeitlichen) englischen Empirismus und brach die Herrschaft des naturwissenschaftlichen Denkens Bahn, obwohl er zum Teil noch der Metaphysik des Mittelalters verhaftet war. In seinem Buch Große Erneuerung der Wissenschaften (1605) trat er dafür ein, daß die experimentelle, wissenschaftliche Erfahrung zur Quelle der Wahrheit werden soll. Und wie das Glück der Menschen aus dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt hervorgehen könnte, zeigte er in seiner Utopie Neu-Atlantis. Francis Bacon erklärte als höchste Aufgabe der Wissenschaft die Naturbeherrschung und die zweckmäßige Gestaltung der Kultur durch Naturerkenntnis. Dazu sei nötig, daß der Mensch sich der Vorurteile und falschen Vorstellungen (Idole) entledige. Die einzige verläßliche Quelle der Erkenntnis ist nach Francis Bacon die Erfahrung (Beobachtung und Experiment), die einzig richtige Methode die Induktion, die zur Erkenntnis der Gesetze fortschreitet; von da aus läßt sich dann wieder herabsteigen und zu Erfindungen gelangen, welche die Macht des Menschen über die Natur erhöhen. Denn der Mensch vermag so viel, als er weiß: tantum possumus quantum scimus. Bacon stellte auch fest, daß Kulturen altern wie Menschen und Phasen bzw. Auf-und-Ab-Stufen durchleben: „In der Jugend der Völker und Staaten blühen die Waffen und die Künste des Krieges; im reifen männlichen Alter der Völker und Staaten Künste und Wissenschaften; dann eine Zeit lang beide zusammen, Waffenkunst und Musenkünste; endlich im Greisenalter der Völker und Staaten Handel und Industrie, Luxus und Mode.“ (Francis Bacon, De dignitate et augmentis scientiarum, 1605; IV, 2, 114). Genial! Ein weiterer englischer Staatsmann und Philosoph, Thomas Hobbes (1588-1679), lehnte die spekulative Metaphysik ab und definierte die Philosophie als die Erkenntnis der Wirkungen oder der Phänomene aus den Ursachen und andererseits der Ursachen aus den beobachteten Wirkungen mittels richtiger Schlüsse; ihr Zweck liegt nach Hobbes darin, daß wir die Wirkungen voraussehen und für unser Leben nutzbar zu machen lernen. Alle Erkenntnis, behauptete er, erwächst aus den Empfindungen teils unmittelbar, teils aus ihren Rückständen, den Erinnerungen. Diese werden unterstützt durch konventionelle Zeichen, Namen, Worte. (Vgl. Sprache). Alles Denken ist ein Verbinden und Trennen, Addieren und Subtrahieren von Namen: Denken ist Rechnen. Da alles ursächlich bestimmt ist, so ist auch das Wollen streng determiniert. Nicht der Wille, sondern das Handeln ist so weit frei, wie es der Natur des Menschen entspringt. Die menschliche Natur wird ursprünglich nur von der Selbstsucht getrieben, sich zu erhalten und Genuß zu verschaffen. Daher war der Naturzustand des Menschen der allen nachteilige Krieg aller gegen alle (Bellum omnium contra omnes). Deshalb vereinigen sich durch einen Vertrag die Menschen im Staat und unterwerfen sich einem Herrscher, dem alle Gehorsam leisten, um dadurch Schutz und die Möglichkeit eines humanen Lebens zu erhalten. Was er sanktioniert, ist gut, das Gegenteil verwerflich. Das öffentliche Gesetz ist das Gewissen des Bürgers. Die Furcht vor denjenigen unsichtbaren Mächten, welche der Staat anerkennt, ist Religion, die Furcht vor solchen, welche er nicht anerkennt, Aberglaube. Obwohl von Hobbes‘ Wirkungen beiendruckt, meinte Pufendorf (1632-1694), daß der nur fiktive Naturzustand zwar kein Krieg aller gegen alle wäre, aber ein Zustand der Unsicherheit, zu dessen Vermeidung die Menschen den sie stützenden Staat gründeten (Vertragstheorie). Beide – Hobbes und Pufendorf – unterbauten den staatlichen Absolutismus ihrer Zeit. Hobbes beschrieb in seinem „Leviathan“ (1651) die Gesellschaft als ein Monster, das nur durch eine unteilbare Regierungsmacht gezähmt werden könne, denn ohne die Zentralgesellschaft zerfiele die Gesellschaft in einem Kampf aller gegen alle, wie er ihn im englischen Bürgerkrieg (1642-1648) gerade erlebt hatte und den er als das Natürliche darstellte. Seine Geseelschaftstheorie beweist, wie man bestehende Gesellschaftsformen hinterfragen und ändern kann. John Locke (1632-1704), Philosoph, Psychologe, Pädagoge und Hauptvertreter des Empirismus, unterbaute erkenntnistheoretische Untersuchungen durch eine psychologische Theorie des Bewußtseins (wodurch er Psychologie im modernen Sinne als Analyse des empirischen Bewußtseins anbahnte) und schuf damit ein System einer Pädagogik der individuellen Persönlichkeit. Psychologisch-erkenntnistheoretisch stellte er sich die Aufgabe, den Ursprung, die Sicherheit und den Umfang des menschlichen Wissens zu untersuchen, sowie die Gründe und Grade des Glaubens, der Meinung und der Zustimmung. In seiner Staatslehre schränkte Locke die Bedeutung des Staates auf das Notwendigste ein und forderte auf Grund der Volkssouveränität eine konstitutionelle Regierung, die Freiheit und gleiches Recht für alle verbürgen solle, sowie Teilung der Gewalten. In seiner Ethik bezeichnete er als gut, was Lust erweckt oder steigert, und das Gegenteil als Übel. Das höchste Gesetz war für ihn das allgemeine Wohl. Religionsphilosophisch lehrte Locke: was Gott geoffenbart hat, ist zwar unbedingt wahr; was aber göttliche Offenbarung sein kann, was nicht, kann nur die Vernunft beurteilen, nicht aber das kirchliche Dogma.

– Universalgenie –
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) war mit Sicherheit der schöpferischste Gelehrte und das Universalgenie des 17. Jahrhunderts, wahrscheinlich sogar der gesamten abendländischen Philosophie. Zunächst wurde Leibniz durch seine Lehrer Jacob Thomasius (1622-1684) in Leipzig und Erhard Weigel (1625-1699) in Jena beeinflußt, später durch den kurmainzischen Kanzler Johann Christian von Boineburg (Konvertit); unter ihm war Leibniz von 1667 bis 1674 in kurmainzischen Diensten, woher seine Bemühungen stammten, einen Ausgleich zwischen katholischer und protestantischer Kirche herbeizuführen.. Von 1672 bis 1676 war er in Paris, 1673 in London und nahm auch dort gelehrte Beziehungen auf. Von 1676 bis 1716 stand Leibniz in hannoverschen Diensten, verfaßte eine Kampfschrift gegen Ludwig XIV. von Frankreich (Mars christianissimus = Allerchristlichster Kriegsgott), war seit 1696 außenpolitischer Berater und Geschichtsschreiber des Welfenhauses, das aber seine über vierzigjährigen, oft in den vertraulichsten Missionen bewährten Dienste nicht gebührend anerkannte. Bis etwa 1680 bewegte Leibniz sich vorzugsweise auf politischem, theologischem und mathematisch-naturwissenschaftlichem Gebiet, dann vollzog sich in ihm die Loslösung von der Neuscholastik. (). Erst nach 1680 traten auch seine philosophischen Arbeiten und Gedanken hervor, die leider nur in Gestalt von Briefen und Zeitschriftenabhandlungen vorliegen. Leibniz‘ Denkentwicklung ist sehr wandlungsreich, kreist jedoch stets um das Problem einer geschlossenen, Widersprüche ausgleichenden, jeder Einzelheit der Wirklichkeit gerecht sein wollenden sowohl anschaulichen wie gedanklichen Systematik.
Von der scholastischen Lehre der metaphysischen allgemeinen Wesenheiten (formae substantiales) ausgehend, gelangte Leibniz zum Prinzip des schöpferischen Denkens hinsichtlich individueller Wirklichkeiten. Die mathematische Methode erschien ihm hier angemessen, bis er sich über deren unverrückbare Grenzen klar wurde. Im Anschluß an Descartes‘ Lehre vom klaren und deutlichen Erkennen bzw. Denken, mit deren ungelösten Problemen er sich eingehend beschäftigte, entwickelte er sodann eine analytische Theorie des denkenden bzw. erkennenden Bewußtseins. Zugleich kam er naturwissenschaftlich von der Mechanik nahe an die Energetik heran. Er führte u.a. Beobachtungen der Lebensvorgänge durch das Mikroskop durch, das bereits seit 1590 bekannt war. (Vgl. Tabelle). Andererseits gelangte Leibniz zur Unterscheidung zwischen gedanklichen Wahrheiten und Tatsachenwahrheiten.
Leibniz‘ bekanntestes Werk ist seine Monadenlehre (Monadologie). Monaden waren für ihn die einfachen, körperlichen, geistigen, mehr oder weniger bewußten Substanzen; ihre tätigen Kräfte bestehen in Vorstellungen. Die Verschiedenheit der Monaden besteht in der Verschiedenheit ihrer Vorstellungen. Gott ist die Urmonade, alle anderen Monaden sind ihre Ausstrahlungen. Was uns als Körper erscheint, ist nach Leibniz ein Aggregat von vielen Monaden mit unbewußten Vorstellungen. Tierseelen haben Empfindung und Gedächtnis; die Menschenseelen sind klarer und deutlicher Vorstellungen fähig; Gott hat lauter adäquate, d.h. vollbewußte und vollsachliche Vorstellungen. Der Vorstellungsverlauf jeder Monade schließlich kreist in sich, es kommt nichts aus ihr heraus und nichts in sie hinein. Leibniz ergänzte seine Monadenlehre durch seine Lehre der Prästabilisierten Harmonie. Danach hat Gott alle Substanzen so geschaffen, daß, indem jede dem Gesetz ihrer inneren Entwicklung mit voller Selbständigkeit folgt, sie zugleich mit allen anderen in jedem Augenblick in genauer Übereinstimmung steht. Sowohl die Monadenlehre als auch die Lehre von der Prästabilisierten Harmonie gelten nach Leibniz für alle Wesen leiblicher, seelischer, geistiger Art sowohl in sich wie zwischeneinander, so insbesondere für das Verhältnis von Leib, Seele, Geist innerhalb der menschlichen Persönlichkeit. Der Philosoph und Mathematiker Christian Wolff (1679-1754), der führend in der deutschen Aufklärung wurde und das System des deutschen Rationalismus unter Verwendung aristotelischer, stoischer und auch scholastischer Gedanken zur höchsten Entfaltung brachte, machte dadurch die von ihm umgestaltete Leibnizsche Philosophie zur herrschenden Philosophie seiner Zeit. Seine Schüler, die Wolffianer, hatten an fast allen deutschen Universitäten die philosophischen Lehrstühle inne. Zu seinen Schülern zählte auch Kant, der Wolff den gewaltigsten Vertreter des rationalen Dogmatismus nannte: des Standpunktes des reinen ungebrochenen Vertrauens in die Macht der Vernunft. Die Titel der Schriften Wolffs beginnen fast alle mit „Vernünftige Gedanken … „. Gewachsen waren sie in Leibniz, der außer auf die Leibniz-Wolffsche Schule u.a. auf Herder, Goethe, Schiller und den Deutschen Idealismus wirkte, später u.a. auf Herbart und Lotze, sogar noch auf die analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts, auf die Logistik der Sprachphilosophie, wie überhaupt auf die Linguistische Wende und den linguistisch orientierten Nativismus. (u.a. Chomsky) sowie auf den Konstruktivismus (Maturana, Luhmann u.a.).
Das Ganze wird von Gott zusammengehalten. Er hat das Zusammenwirken der Monaden, die als geistige Wesensheiten
ewig und unvergänglich sind, prästabilisiert, d.h. ihre Harmonie im voraus angelegt. Und eben alles so gemacht wie es ist:
„Die beste aller Welten“.
( G. Wilhelm Leibniz )
„Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“
( G. Wilhelm Leibniz )

Diese Frage sollte z.B. im 20. Jh. auch Martin Heidegger wiederholen und sie die Grundfrage der Metaphysik nennen. ()
„Bei Leibniz nahm der kognitive Optimismus gedämpftere Formen an, weil der Verfasser der Monadologie einen präzisen Begriff besaß von der Unauslotbarkeit der Implikationen, die ins Unendliche reichen. Wenn die Fältelung des von der Seele implicite oder dunkel Mitgewußten ins Unendliche geht, besteht keine Aussicht darauf, zu einem völlig expliziten Wissen zu gelangen; dieses ist dem Gott vorbehalten, für den menschlichen Intellekt ist der Fortschritt im Bewußtsein zunehmender, doch immer unzulänglicher Explizitheit reserviert.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 78). Leibniz setzte wieder Gott an die Stelle des Ich und meinte, daß es außer dieser Supermonade noch viele andere Monaden gäbe, die alle in sich abgeschlossene Bewußtseinssphären wären, ohne Kontakt miteinander, und doch wäre eine jede dieser „fensterlosen Monaden“ ein Spiegel des Ganzen. Das Ganze wird von Gott zusammengehalten. Gott hat das Zusammenwirken der Monaden, die als geistige Wesenheiten ewig und unvergänglich sind, prästabilisiert, also ihre Harmonie im voraus angelegt, und eben alles so gemacht, wie es ist: „Die beste aller Welten“. Hieran sollte z.B. am Ende des 20. Jahrhunderts auch der Konstruktivismus, u.a. Luhmann und Maturana, anschließen, ebenso Sloterdijk mit seinen Sphären: Blasen, Globen, Schäume. (). „Die Schaumtheorie ist unverhohlen neo-monadologisch orientiert: Ihre Monaden jedoch haben die Grundform von Dyaden oder komplexeren seelenräumlichen, gemeindlichen und mannschaftlichen Gebilden. Es gehört zu den Tugenden des neo-monadologischen Ansatzes in der Gesellschaftstheorie, daß er durch seine Aufmerksamkeit für die Assoziationen der kleinen Einheiten die Raumblindheit verhindert, die den gängigen Soziologien anhaftet. »Gesellschaften« sind aus dieser Sicht raumfordernde Größen und können nur durch eine angemessene Ausdehnungsanalyse, eine Topologie, eine Dimensionentheorie und eine »Netzwerk«analyse (falls man die Netzmetapher der des Schaums vorzieht) beschrieben werden.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 61 und 298). Zwar sollten z.B. bei den Konstruktivisten Leibniz‘ Monaden autopoietische Systeme (sich selbst erzeugende Funktionssysteme) heißen, sollten bei ihnen Leibniz‘ Kognitionen auf physikalischer Basis beruhen, sollte bei ihnen Gott Evolution heißen, sollte bei ihnen Leibniz‘ prästabilisierte Harmonie eine strukturelle Kopplung sein; doch in Wahrheit bedeutet all dies dasselbe wie bei Leibniz.
Leibniz – der mächtigste Geist der abendländischen Philosophie, der Begründer der Differentialrechnung und der analysis situs, Monadenlehrer und Erfinder der Multipliziermaschine sowie eines Programms für eine Idealsprache (Leibnizsche Charakteristik oder „characteristica universalis“) – hat neben einer ganzen Reihe von hochpolitischen Plänen, an denen er mitwirkte, in einer zum Zweck der politischen Entlastung Deutschlands entworfenen Denkschrift an Ludwig XIV. die Bedeutung Ägyptens für die französische Weltpolitik dargelegt. Seine Gedanken waren der Zeit (1672) so weit vorausgeschritten, daß man später überzeugt war, Napoleon habe sie bei seiner Expedition im Orient benützt. Leibniz stellte schon damals fest, was Napoleon seit Wagram (1809) immer deutlicher begriff, daß Erwerbungen am Rhein und in Belgien die Stellung Frankreichs nicht dauernd verbessern könnten und daß die Landenge von Suez eines Tages der Schlüssel zur Weltherrschaft sein werde. (Vgl. 18-20). Ohne Zweifel war der König den tiefen politischen und strategischen Ausführungen des Philosophen nicht gewachsen.

Eine Hochkonjunktur der Ethik, die von der Hochrationalistik zur Spätrationalistik überleitet, macht auch philosophisch deutlich, daß für jede auf ihren Höhepunkt stehende Kultur dasselbe gilt wie für die uralte Bauernkultur seit der Seßhaftwerdung, denn nicht zufällig fällt die Haupternte in die Zeit der sogenannten Hundstage (23.07. bis 23.08.), aber ob die hochsommerlichen Klimaverhältnisse eine zufriedenstellende Ernte bedeuten, weiß man erst, wenn das Wetter bereits dabei ist, vollendete Tatsachen zu schaffen. Das Resultat ist kaum beeinflußbar, aber man kann aus ihm lernen und im Hinblick auf das nächste Jahr nur mittels verbesserter Technik höhere Erfolge erzielen oder erneut auf den klimatischen Zufall setzen. Eine erste Zwischenbilanz kann also erst am Ende dieser Phase gezogen werden, und sobald die der Natur abgerungene Ernte ins Haus geholt worden ist, muß sie verteidigt, ihr Schutz überprüft und eventuell verbessert werden. Überträgt man die Regeln einer Bauernkultur, die sich seit der Neolithischen Revolution mehr oder weniger stark entwickelten, auf die Regeln einer Hochkultur, die sich seit der Vor- und Frühkultur entwickelten, dann stößt man zwangsläufig auf die aufklärerischen Figuren, die der kulturellen Weiterentwicklung dienen können und wollen oder am Markt Versicherungen anbieten, die dem Selbstzweck dienen, aber ethisch anspruchsvoll sein sollen. Sie sollen „vernünftige“, „weltliche“, „natürliche“ Ethiken, sie sollen Natur-Theologie sein. In der Selbstgenügsamkeit und Zurückhaltung sich auferlegenden Antike lösten die Sophisten und Sokrates (470-399) mit ihren anthropologisch-ethischen Alternativlösungen die kosmologische Naturphilosophie genauso ab wie im Abendland die unendlichen Raum sich verschaffenden Aufklärer und Extrem-Subjektivisten die universalistische Naturphilosophie, während in beiden Kulturen die Naturphilosophie atomistischer wurde. (Vgl. Tabelle). Aber Selbstgenügsamkeit und Zurückhaltung sind nicht dasselbe wie Unendlichkeit und Raumschaffung, sondern deren Gegensätze. Deshalb gab es für eine Naturwissenschaft in der Antike keinen Raum, im Abendland dagegen jeden unendlichen. In der Antike blieben die Naturerscheinungen eine Sache der Philosophie, im Abendland blieben sie eine Sache der Wissenschaften. Diese abendländische Institution hatte sich in der jetzigen Phase der absolutistischen Hochrationalistik endgültig etabliert und muß als eine der großartigsten und in den Konsequenzen weitreichendsten Leistungen des Abendlandes angesehen werden. (Vgl. Ursymbol).

Spätes Hochdenken
Das Prinzip der Sophistik und Maieutik als Ende exakten Wissens in der antike Philosophie ?
Das Prinzip der Aufklärung und Naturtheologie als Ende exakter Wissenschaft in der abendländischen Philosophie?
Philosophisch bekämpfte die Aufklärung jede echte Metaphysik. Sie beförderte jede Art des Rationalismus, also auch die Naturwissenschaft. Mit dem Rationalismus zusammen teilt die Aufklärung den Glauben an eine unbegrenzte Erkenntniskraft und ihre über kurz oder lang sich vollziehende Bemächtigung alles Seienden. Der alte Glaube wurde hier abgelöst vom Glauben an Wissenschaft und Fortschritt. Für Rationalismus und Aufklärung gab es nur vorläufige Probleme, nicht aber grundsätzlich unlösbare Probleme. Sie vertraten ethisch-pädagogisch humanitäre Ideale, ein jugendgemäßes Erziehungswesen, politisch-juristisch und gesellschaftlich-wirtschaftlich die Freiheit des Menschen aus ungerechten Bindungen (Individualismus), die Gleichheit aller Bürger desselben Staates vor dem Gesetz und schließlich die Gleichheit all dessen, was Menschenantlitz trägt.

„Von den Göttern weiß ich nichts,
weder ob es welche gibt,
noch auch ob es keine gibt.“

„Der (einzelne!) Mensch ist das Maß aller Dinge“,
der seienden , daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind.“
So behauptete es jedenfalls der Sophist Protagoras (480-410),
der sich auch zuerst als Sophist und Menschenkenner bezeichnete.

Antike Aufklärer nannten sich Sophisten: Protagoras (485-410), Gorgias (ca. 480-380) Hippias (um 400), Prodikos (um 400) und die anderen Sophisten galten zunächst als die Denker und Weisen, dann als Lehrer der gewandten Rede- und Unterredungskunst, schließlich jedoch als Vertreter der geschwätzigen und spitzfindigen Scheinweisheit, weil sie eine Tendenz entwickelt hatten, in Diskussionen um jeden Preis zu obsiegen. Trotzdem waren sie bedeutend, besonders im Hinblick auf ihre aufklärerische Verbreitung des philosophischen Gedankenguts und auf die praktische Pädagogik. Sophistisch im positiven Sinne war auch die Tatsache, daß die praktische Beschäftgung mit philosophischer Argumentation durch die Sophistik zu einem größeren Interesse am Philosophieren und am kritischen Denken führte. Die Sophisten trugen die Lehren der Vorsokratiker (Ionier, Eleaten, Atomisten u.a.) in die Öffentlichkeit und wirkten dadurch aufklärerisch.
Mit Sokrates (470-399) war, wie der Name schon verrät, die Zeit der Vorsokratiker vorbei. Einer seiner Schüler (Sokratiker) war z..B. Xenophon (450-354). Die kosmologische Naturphilosophie der Griechen wurde durch Sokrates und seine anthropologische Ethik abgelöst, zugleich aber der ethische Relativismus der Sophisten widerlegt. Menschenbildung, Jugendbildung und Seelenführung war der Zweck seines Philosophierens; geistige Maieutik und Ironie der Weg dazu. Sokrates‘ Philosophie beruhte auf seiner Grundüberzeugung, daß das Sittliche erkennbar und lehrbar sei und aus dem Wissen um Sittlichkeit stets das Handeln gemäß der Sittlichkeit folge. In diesem Sinne versuchte Sokrates zunächst jedesmal vom Einzelfall aus die Menschen zu einer klaren Begriffsbildung hinsichtlich des sittlich Richtigen hinzuführen. Für ihn war dasjenige Handeln richtig, das den wahren Nutzen des Menschen und damit seine Glückseligkeit bewirkt. Nach Sokrates ist deshalb die Selbsterkenntnis die Bedingung der praktischen Tüchtigkeit: weiß ich, was ich bin, so weiß ich auch, was ich soll. In sich selbst fand Sokrates aber auch ein göttliches Daimonion, das ihm als innere Stimme zur Verfügung stand und ihm mitteilte, was er tun oder unterlassen sollte. Die höchste Tugend war für Sokrates die Genügsamkeit: wer am wenigsten bedarf, ist der Gottheit am nächsten; nur wer sich selbst zu beherrschen gelernt hat und in allen Dingen ausschließlich der richtigen Einsicht folgt, ist imstande, andere zu beherrschen, und berechtigt, als Staatsmann zu wirken. Sokrates gilt mit Platon und Aristoteles zusammen als bedeutendster Philosoph der Antike, blieb aber vielumstritten. Von einigen wurde er als erster großer Ethiker gepriesen, von anderen als Aufklärer und Auflöser verworfen. Auch die Aufklärung hatte ihre zwei Seiten, und ihre Schattenseite war die eben erwähnte negative Sophistik. ().
Lehrer und älterer Zeitgenosse des Demokrit (460-371) war Leukipp (5. Jh. v. Chr.), aber beide gelten als Begründer der Atomistik. Wegen der mangelnden Quellen über Leukipp kann man jedoch eher dazu neigen, Demokrit als den eigentlichen Begründer des Atomismus zu bezeichnen. Die Atomistik ist die naturphilosophische Lehre, die besagt, daß alle Dinge aus selbständigen Elementen bestehen und alles Geschehen auf Umlagerung, Vereinigung und Trennung dieser Elemente beruhe. Auch diese Lehre gehört zu den das antike Ursymbol körperlicher Abgegrenztheit immer wieder neu bestätigenden Bildern, die zusammen das antike Seelenbild ergeben und rechtfertigen (sollen). Mit Daniel Sennert (1572-1637) lebte der Atomismus im Abendland wieder auf. Er entwickelte anschaulich-gestalthaft ein umfassendes System der Atomistik. Nach ihm erneuerte auch Pierre Gassendi (1592-1655) die atomistisch-mechanistische Physik Demokrits. Überhaupt sollte gerade der antike Atomismus eine solch starke, erbschaftliche Wirkung erzielen, daß er noch heute in den abendländischen kausal-mechanischen Natur- und Weltauffassungen mitregiert und erst durch Heisenberg und die moderne ganzheitliche Betrachtungsweise erschüttert worden ist. Demokrit lehrte, daß alles Geschehen Mechanik der Atome sei, die, verschieden an Gestalt und Größe, Lage und Anordnung, sich im leeren Raum in ewiger Bewegung befänden und durch ihre Verbindung und Trennung die Dinge und Welten entstehen und vergehen ließen. Die Seele, identisch mit dem Element Feuer, besteht nach ihm aus kleinsten, glatten und runden Atomen, die im ganzen Leib verbreitet sind. Organ des Denkens ist für ihn allein das Gehirn. Die Empfindungen sollen dadurch zustande kommen, daß von den Dingen ausgehende Ausflüsse, sich loslösende Abbilder in die Sinnensorgane eindringen und die Seelenatome in Bewegung setzen. Das höchste Gut sei die Glückseligkeit, so Demokrit, und sie bestehe wesentlich in der Ruhe und Heiterkeit der Seele, die am sichersten durch Mäßigung der Begierden zu erreichen sei. Demokrit selbst hieß schon in antiken Zeiten wegen der Befolgung dieser Lehre der lachende Philosoph. Leukipp und Demokrit vollbrachten auf typisch antike Weise das, was Leibniz und Newton auf typisch abendländische Weise vollbrachten. Auf ihre Art waren die Atomisten Nachfolger der ionischen und eleatischen Naturphilosophen weiter, die abendländischen Naturwissenschaftler und Mathematiker Nachfolger der sie fordernden Naturphilosophen. (Vgl. Tabelle).
Antisthenes (ca. 444-368), Stifter der Philosophenschule der Kyniker, war Schüler des Sophisten Gorgias (ca. 480-380), wurde dann Schüler des Sokrates, weil er die Möglichkeit jeglichen Widerspruchs geleugnet hatte. Er verbreitete die Lehren des Sokrates und war Gegner der Ideenlehre Platons. Vorwiegend praktisch orientiert, predigte er Bedürfnislosigkeit (Autarkie) und Charakterstärke und forderte Rückkehr zur Einfachheit des Naturzustandes. Er lehnte die herkömmliche Religion ebenso ab wie den herkömmlichen Staat. Der Weise solle nicht Bürger eines bestimmten Staates sein, sondern Weltbürger. Diogenes von Sinope (412-323) steigerte den Begriff der sokratischen Selbstgenügsamkeit zur inneren Askese, die, jeder verfeinerten Lebensart abhold, äußerste Bedürfnislosigkeit zur Pflicht machte. Er forderte Gemeinsamkeit der Frauen und Kinder und erkannte die geltenden Sittengesetze nicht an. Diogenes wurde zum Urbild der kynischen Schamlosigkeit (daher unser Ausdruck für „Zynismus“) und des Sichgehenlassens. Auf ihn beziehen sich die Anekdoten vom Philosophen, der in einer Tonne wohnte, der Alexander den Großen, als dieser ihn besuchte und eine Bitte zu erfüllen versprach, bat, aus der Sonne zu gehen, und der mittags auf dem Markt von Athen mit der Laterne nach „Menschen“ suchte. Man nannte Diogenes auch den „übergeschnappten Sokrates“, was aber den Tatsachen nicht so ganz entsprach, denn er hatte in seiner lachenden Menschendurchleuchtung und Verachtung aller Konvention viel echt Sokratisches und, vom Philisterstandpunkt aus betrachtet, war auch schon Sokrates übergeschnappt. Als man ihn fragte, was das Schönste auf der Welt sei, antwortete er: „die freimütige Rede“, und als er, durch Seeräuber in die Sklaverei geraten, zum Verkauf ausgestellt wurde, erklärte er auf die Frage, zu welcher Arbeit er zu brauchen sei, er verstehe sich darauf, Menschen zu beherrschen. (Beides hätte auch Sokrates sagen können).
Die Megariker waren die Anhänger des Euklid von Megara (450-380), eines ehemaligen Sokrates-Schülers. Sie befaßten sich besonders mit der Logik, mit der Kunst des Worstreites, der Eristik. Die Megariker verbanden die sokratische Ethik mit der Eleaten-Lehre von dem ewigen steten „Einen“. Auch Eubulides, der im 4. Jh. v. Chr. wirkte, gehörte der megarischen Schule an. Er wurde durch die Erfindung einiger Fangschlüsse bekannt. (z.B. vom sogenannten „Lügner“).
Eine andere Philosophenschule bildeten die Kyrenäiker, die Schüler des Aristippos von Kyrene (435-355). Aristippos war, bevor er die kyrenäische (hedonistische) Schule gründete, Schüler und Freund des Sokrates gewesen, mit sophistischen Einschlag. (). Für Aristippos beruht Erkenntnis allein auf Empfindungen, deren Ursachen allerdings unerkennbar sind. Auch die Empfindungen anderer sind uns unzugänglich, wir können uns nur an ihre Äußerungen halten. Die Eudämonie (Glückseligkeit) war für Aristippos nicht, wie bei Sokrates, Begleiterscheinung der Tüchtigkeit (Arete), sondern das Bewußtsein der Selbstbeherrschung in der Lust: der Weise genießt die Lust, ohne sich von ihr beherrschen zu lassen. Über Vergangenes soll man nicht klagen, vor Zukünftigem nicht bangen. Man richte seinen Sinn im Denken wie im Tun auf die Gegenwart, sie allein steht uns zur freien Verfügung, so Aristippos der Genießer (Hedoniker von „hedone“, Lust).
Platon (eigtl. Aristokles, 427-347) Sohn des Ariston und der Periktione, stammte mütterlicherseits aus reicher und vornehmer Familie Athens. Nach dem Tod des Sokrates (399), dessen Schüler Platon 8 Jahre lang war und dessen Prozeß er erlebte, hielt er sich eine Zeitlang bei dem Eleaten Eukleides von Megara auf, der ebenfalls ehemaliger Schüler des Sokrates war. Eukleides‘ megarische Schule war eine der an Sokrates orientierten Philosophenschulen, die eine Synthese zwischen dem sokratischen Begriff des Guten und dem unbeweglichen, unveränderlichen Sein der eleatischen Philosophie zum Ziel hatte. Auf Reisen nach Unteritalien und Sizilien lernte Platon auch die Denkweise der Pythagoräer kennen. Platon war zu Beginn seiner Karriere Dichter, wandte sich von der Dichtung jedoch ab, weil sie seit 387 v. Chr. laut Gesetz ziemlich grausame Theaterstücke aufführen durfte und deshalb u.a. zu einer Götter-Blasphemie herabsank. Platon gründete wahrscheinlich deshalb 385 v. Chr. eine Schule, die (dem altattischen Heros) Akademos gewidmet war. Die Ältere Akademie war stark pythagoräisch beeinflußt: das Problem von „Idee“ und „Zahl“ spielte erkenntnistheoretisch eine große Rolle. (Später sollten noch die Mittlere Akademie, seit 270 v. Chr., und die Neuere Akademie, seit 160 v. Chr., folgen: vgl. die Akademien im Altplatonismus, den Mittleren Platonismus, die Auswirkungen auf die Gnosis, den Neuplatonismus, die Patristik). Platon setzte sich mit der Ideenlehre von Sokrates ab, obwohl er sie in den (mittleren und späteren) Dialogen seinem Dialoghelden Sokrates in den Mund legte. Für ihn waren die unveränderlichen Ideen die Urbilder der veränderlichen Dinge, ihr Programm, ihr Ziel und Zweck. Er nahm bei seiner Ideenlehre die Mathematik (Geometrie) zum Vorbild aller anderen Wirklichkeit, wie schon vor ihm Pythagoras (580-500) und seine Schüler. (Vgl. Tabelle). Er schrieb Dialoge, tatsächliche und fiktive Gespräche mit Sokrates (470-399), seinem Lehrer. Platon lehrte die Scheinhaftigkeit und Abkünftigkeit der Sinnenwelt von archetypischen Urbildern oder Ideen. Ein nicht sinnlich erfahrbares geometrisches Gebilde, z.B. ein gleichseitiges Dreieck, wird hinter dem sinnlich erfahrbaren Dreieck, dessen Darstellung es ist, „gedacht“ oder in nicht sinnlicher, formaler Anschauung vorgestellt. Die gerade Linie, der Punkt, eine Fläche: das sind alles mathematische Gegenstände. Es gibt sie nicht in Wirklichkeit. Aber die Wirklichkeit ist durch sie erkennbar, rekonstruierbar. Über dem Eingang der Akademie Platons soll deshalb der Satz gestanden haben:

„KEIN DER GEOMETRIE UNKUNDIGER SOLL DIESEN ORT BETRETEN“

Das platonische Denken entwickelte sich vor dem Horizont einer doppelten Krisensituation: zunehmender Zerfall des Gemeinwesens und Verlust der Verbindlichkeit mythischer Weltbilder. Der Mythos bot keine lebendige Orientierung mehr. Er war zum formelhaften Ritual erstarrt und zum Spielball inhaltloser und nur noch auf Überredung angelegter Rhetorik (der Sophisten) geworden. Das Schlimmste daran war für Platon, daß kein Bewußtsein darüber vorhanden war. Hier, bei der Bewußtseinsbildung, wollte Platon eingreifen. Die Methode seines Helden Sokrates besteht darin, zunächst einmal ein Bewußtsein für das Gute bzw. für das Schlechte bei seinen Gesprächsteilnehmern zu wecken, indem er ihnen z.B. zeigt, daß sie nicht wissen, wovon sie reden, wenn sie Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit u.s.w. im Munde führen. Die Verbindlichkeit ihrer Rede zerfällt in dem Maße, in dem Sokrates als ihren Grund private Interessen und Willkür erweist. Ihrer schützenden ideologischen Haut entledigt, muß die Gewalt letztlich ihr wahres Gesicht zeigen: sie muß den Sokrates vernichten. Insofern gehörte der Tod des Sokrates (399) mit zu seiner Beweisführung. Sein Tod war geradezu der letzte Beweis dafür, daß er Recht hatte.
Platon bestimmte die Philosophie als Einüben ins Sterben. Für ihn war Philosophie die Erkenntnis des Seienden oder des Ewigen und Unvergänglichen. Er definierte: Philosophen sind die, welche mit dem, was sich für ewig als dasselbe unwandelbar verhält, in Berührung kommen wollen. Es gelingt ihnen durchs Denken, d.h. durch die Begriffe. (Vgl. Ideenlehre und Meta-Sprache) – (). Wir sind gewiß weiter als Hippokrates (460-370), der griechische Arzt; wir dürfen kaum sagen, daß wir weiter seien als Platon (427-347). Nur im Material wissenschaftlicher Erkenntnisse, die er benutzt, sind wir weiter. Im Philosophieren selbst sind wir vielleicht noch kaum wieder bei ihm angelangt. ().
Aber auch Mythos und Religion standen Pate bei Platons Ideenlehre. Die Idee, so Platon, im „Timaios“, ist gewissermaßen der Vater oder das Original eines Dings, das, wie das Kind, mit dem Namen des Vaters benannt wird. Die Mutter ist der abstrakte Raum, in dem die Zeugung der Dinge, d.h. der Kinder des Vaters, stattfindet und in dem sich die Dinge dann auch bewegen. Jede Art oder Rasse besitzt nur eine Form oder Idee. Im „Staat“ (Politeia) heißt es: „Gott hat also nur jenes eine wesentliche Bett hergestellt. Zwei dieser Art oder noch mehr wurden weder von Gott erschaffen, noch werden sie je von ihm erzeugt werden; auch wenn er zwei einzelne schüfe und nicht mehr, dann würde doch ein weiteres zutage treten, nämlich die eine gemeinsame Form, die sich in beiden darstellt. Sie, und nicht jene beiden, wäre dann das wesentliche Bett“. Die Ähnlichkeit der Dinge ist ihrer Idee verdankt, ihrem Ursprung, wie die Ähnlichkeit der Kinder ihrem Vater. Harte Dinge haben an der Idee der Härte teil, weiße an der Idee des Weißen. Sie haben an jenen Ideen teil im gleichen Sinne, in dem die Kinder an den Besitztümern und Gaben der Väter Anteil haben. Platons Ideenlehre ermöglicht Wissen, das sich auf die veränderlichen Dinge anwenden läßt, von denen sich, weil sie sich ständig verändern, eigentlich nichts Bestimmtes aussagen läßt. Platon nahm an, daß es innere Kräfte, unwandelbare Wesenheiten der wahrnehmbaren Dinge gibt, und von denen ist wahres Wissen möglich. (Vgl. dagegen: Kant). Die Ideenlehre ermöglicht eine Theorie der Veränderung und des Verfalls. Die Ideen sind Urbilder, die selbst durch Verfall (Degeneration) der höchsten Idee entstehen. Entsprechend ist die historische Tendenz der Gesellschaft die des Zerfalls und der Degeneration. Außerdem bietet die Ideenlehre den Weg zu einer Sozialtechnik, zur Herstellung des besten, idealen Staates, der sich nicht verändert und nicht zugrunde gehen kann, und zwar durch Anhalten der politischen Veränderung und Rückkehr zum idealeren Anfang, der alten Stammesfrom des sozialen Lebens (Stammesaristokratien). Platons Philosophie, die er selbst auch Weltverabschiedung und Einübung ins Sterben nannte, lehrt die Notwendigkeit einer „zweiten Geburt“, insbesondere seine Lehre von der Umkehr durch Ausstieg aus der Höhle („Höhlengleichnis“). Durch die natürliche, die physische Geburt gelangen wir aus einer Höhle (der Uterus-Höhle der Mutter) ans Licht der (sichtbaren) Welt. Aber diese Welt ist nach Platons Meinung nur Schein, nur vituell. Wir bedürfen einer zweiten metaphysischen Geburt, um aus der Scheimwelt in die wirkliche (unsichtbare) Welt der Ideen zu gelangen. Für diese „zweite Geburt“ ist der Philosoph der „Geburtshelfer“. Platons Schriftwerke:

„Protagoras“
Kritik der Sophistik bezüglich der Einheit und Lehrbarkeit der Tugend.

„Apologie“
Verteidigungsrede des Sokrates vor Gericht.

„Euthyphron“
Über die Frömmigkeit.

„Gorgias“
Gegen die Sophistik, für das absolute sittliche Gute, über die Seele im Jenseits.

„Kratylos“
Über die Sprache.

„Menon“
Erkenntnis als Wiedererinnerung.

„Phaidon“
Über die Unsterblichkeit der Seele und die Philosophie als Einüben ins Sterben.

„Symposion“
Über den homoerotischen Eros und seine Sublimierung in der Philosophie.

„Politeia“
Über den Idealstat und die Seele.

„Phaidros“
Über die Seele und die Ideen.

„Theaitetos“
Über das Wissen.

„Parmenides“
Über die Einheit und Vielheit, Sein und Nichtsein.

„Sophistes“
Über das Wesen des Sophisten.

„Nomoi“
Über den Staat und die Erziehung der Bürger.

„Timaios“
Naturphilosophie.

Das „Höhlengleichnis“ ist laut Platons „Staat“ (7.Buch) ein Vergleich des menschlichen Daseins mit dem Aufenthalt in einer unterirdischen Behausung. Gefesselt, mit dem Rücken gegen den Höhleneingang, erblickt der Mensch nur die Schatten der Dinge, die er für die alleinige Wirklichkeit hält. Löste man seine Fesseln und führte ihn aus der Höhle in die lichte Welt mit ihren wirklichen Dingen, so würden ihm zuerst die Augen wehtun, und er würde seine Schattenwelt für wahr, die wahre Welt für unwirklich halten. Erst allmählich, Schritt für Schritt, würde er sich an die Wahrheit gewöhnen. Kehrte er aber in die Höhle zurück, um die anderen Menschen aus ihrer Haft zu befreien und von ihrem Wahn zu erlösen, so würden sie ihm nicht glauben, ihm heftig zürnen und ihn vielleicht sogar töten.
In seinem „Liniengleichnis“ unterschied Platon den Bereich des Sichtbaren von dem des Unsichtbaren. Er veranschaulichte das durch die Teilung der Strecke im Verhältnis a:b. Er wiederholte diese Teilung in den beiden Bereichen a und b und veranschaulichte damit die vier Wissensbereiche bzw. Wissensarten: Gerücht (eikasia), Meinung (doxa), Wissenschaft und Philosophie. Im Sonnengleichnis sah Platon die Analogie zwischen der Sonne und der Idee (des Guten) einerseits und zwischen Auge und Seele andererseits: So wie die Sonne durch ihr Licht dem Auge ermöglicht, etwas zu sehen und den Gegenständen ihre Sichtbarkeit verleiht, so ermöglicht die Idee des Guten durch das Licht der Ideen der Seele die Erkenntnis und den Dingen ihre Erkennbarkeit und Wahrheit. Dabei ist die Sonne selbst „Sprößling des Guten“.
Der Mensch gehört beiden Welten an: der Welt der Ideen und der Welt der wandelbaren Dinge, deren Vorbilder die Ideen sind. Er gehört der Ideenwelt an durch seine Seele mit ihrer Vernunft. Der Körperwelt gehört er an durch den Leib. Mit dem Tode trennt sich die Seele vom Leib. Entscheidend ist, in welchem Zustand sie dann ist. Philosophie hat ihr Motiv in der Sorge um die Seele oder im Tod. Die Sorge um den Staat ist darin eingeschlossen. Der ideale Staat ist nämlich beschaffen wie die Seele, dreiteilig. Lehrstand, Wehrstand und Nährstand im Staate entsprechen den drei Seelenteilen: dem vernünftigen, dem mutigen und dem begehrenden Teil. Hier wie da kommt es auf die Harmonie der drei Teile an – durch Hierarchie. Die Vernunft soll herrschen in der Seele, so wie im idealen Staate die Philosophen die Könige sein sollten. Sinn des Staates ist, die Seelen der Bürger zu retten, ihre Heimführung bzw. Rückführung ins Ideenreich zwecks Reinkarnation zu ermöglichen.

Durch Platon wurde die antike Philosophie erwachsen.
Platon bildete den geistigen Übergang von jugendlicher zu erwachsener Kultur.
Dieser Denkarchitekt baute die Brücke zwischen Hochdenkern und Spätdenkern.
Der jüngere Platon war ein Hochdenker, der ältere Platon war ein Spätdenker.
Nach ihm wurde die Philosophie zu einer Denkgeschichte der Fußnoten zu ihm.

Während der Aufklärung lebte auch die Mystik fort: Friedrich Oetinger (1702-1782) suchte die Narturmystik Jakob Böhmes mit der Gravitationstheorie Newtons zu verbinden. (). Johann Georg Hamann (1730-1788) war ein Gegner der Aufklärung und wies gegenüber Kants rein verstandesmäßiger Erkenntnis auf die Schöpferkraft des Gefühls und des Gemüts hin, die er besonders in der Sprache am Werk sah und die sich in der Dichtung der Muttersprachedes Menschengeschlechts offenbare. Hamann wirkte über die Sturm-und-Drang-Zeit und den Klassizismus bis weit in die Romantik und die moderne Sprachphilosophie hinein. (Vgl. 18-20). Aber Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) war ein Gegner des Geniekults und des Mystizismus der Philosophie seiner Zeit. Er war ein geistvoller Vertreter der Aufklärung, in dessen Denken sich schon Züge des Deutschen Idealismus abzeichneten. (Vgl. 18-20). Als Kritiker Kants zog er aus dessen Philosophie besonders ethisch und pädagogisch weitgehende, auch praktische Folgerungen. Lichtenberg bekämpfte geistige Zuchtlosigkeit (Relativismus) und Pedanterie (Rationalismus), ebenso die konfessionelle Orthodoxie. Vermischte Schriften und Aphorismen, die viele satirische, ironische, geistvoll formulierte Aussprüche über alle Lebensgebiete enthalten, kann man ohne weiteres als geniale Qualität Lichtenbergs bezeichnen. Die Zeit des Sturm und Dranggalt damals als Geniezeit – wahrscheinlich weil deren Vertreter auf die später noch mehr zu beneidende Deutsche Klassik zu wirken vermochten. Der Sturm und Drang erhielt Anregungen durch die Kulturkritik des Genfers Jean-Jacques Rousseau (Zurück zur Natur!), durch das Genieverständnis E. Youngs sowie durch die pietistische und empfindsame Tradition. Unmittelbarer Wegbereiter der antirationalen und religiösen Komponente war der eben erwähnte Hamann, die eigentlichen Grundideen entwickelte aber Herder. Der literarische Sturm und Drang begann mit Begegnung zwischen Herder und Goethe 1770 in Straßburg. Von Herders ästhetischen Ideen beeinflußt, verfaßte Goethe im lyrischen, dramatischen und epischen Bereich die initiierenden Werke Sesenheimer Lieder (1771), Götz von Berlichingen (1773), Die Leiden des jungen Werther (1774) u.a.. Goethe, Schiller, F. M. Klinger, J. A. Leisewitz, H. L. Wagner, J. M. R. Lenz und andere Dichter des Sturm und Drang verfolgten folgende Themen und Motive: Selbstverwirklichung des genialen Menschen, den tragischen Zusammenstoß des einzelnen mit der Geschichte, den notwendigen Gang des Ganzen, Bruderzwist bis zum Brudermord, Konflikte zwischen Moralkodex und Leidenschaft, soziale Anklage gegen die Korruption der herrschenden Stände und gegen Standesschranken überhaupt. Guter Stoff war für die Dichter natürlich auch das Drama um Faust, das es spätestens seit 1746 auch als Puppenspiel gab. G. E. Lessing konzipierte ein Faustdrama in ganz neuem Verständnis. Dem Dichter der Aufklärung bedeutete Fausts Streben nach Wissen nicht Vermessenheit und Aufbegehren gegen Gott. Nach ihm wurde der Stoff von Dichtern des Sturm und Drang aufgegriffen: Faust als titanische Persönlichkeit aufgefaßt, so bei Friedrich Müller (genannt Maler Müller), bei F. M. Klinger und auch bei Goethe im sogenannten Urfaust, der 1772-1775 entstand und als Abschrift des Fräuleins von Göchhausen erhalten ist. In einer stark veränderten und von Goethe 1790 veröffentlichten Fassung war die Goethesche Konzeption, in der das Faustdrama zum Menschheitsdrama wird, bereits so angelegt, wie in der Endfassung des Werkes verwirklicht (Teil I, 1806; Teil II, 1831). Den Rahmen bildet eine doppelte Wette des Mephistopheles mit dem Herrn und mit Faust, in der es um das Streben des Menschen nach Selbstverwirklichung geht, das für den Nihilisten Mephistopheles nur Selbsttäuschung ist und daher in dumpfem Genuß enden muß. Goethes philosophischer Werdegang führte ihn von der Abneigung gegen die Schulphilosophie (das Collegium logicum) in der Leipziger Zeit (1765-1768), wo seine erste Lyrik im Stil des Rokoko entstanden. Zur Erweckung eigenen philosophischen Denkens kam es in der Straßburger Zeit (1770-1771), wo Goethe in der Freundschaft mit Herder seinen Durchbruch zum Sturm und Drang fand. Goethes naturphilosophische Studien der ersten Weimarer Zeit (1775-1786) gründeten insbesondere auf Auseinandersetzung mit Platon, Neuplatonismus, Giordano Bruno und Spinoza. Nach seiner italienischen Reise (1786-1788) begann nicht nur die Weimarer Klassik, sondern auch Goethes Sachinteresse an der Farbenlehre und an der vergleichenden Gestaltlehre, der Morphologie (niedergelegt in der Metamorphose der Pflanzen, 1790; vgl. Metamorphose).
Die Literatur des deutschen Rokoko (1740-1780) übernahm die Grundtendenzen der Aufklärung und Züge der Empfindsamkeit. Oberstes Prinzip war für ihre Vertreter die Grazie als das moralisch Schöne. Neues Lebensgefühl, heitere, weltimmanente Lebensfreude wurden ebenso propagiert wie ein verfeinerter Sinnengenuß, der in ästhetischem Spiel und graziöser Form Leben und Kunst harmonisch vereinen sollte. Man bevorzugte Kurzformen wie Lyrik, Verserzählung, Dramolett, Singspiel und Idylle. Während des deutschen Rokoko wirkten hauptsächlich C. M. Wieland (1733-1813), der junge J. W. Goethe (1749-1832), der junge G. E. Lessing (1729-1781), F. von Hagedorn (1708-1754), J. W. L. Gleim (1719-1803), H. W. von Gerstenberg (1737-1823), C. F. Gellert (1715-1769), S. Geßner (1730-1788), J. P. Uz (1720-1796), F. G. Klopstock (1724-1803), E. C. von Kleist (1715-1759) J. C. Gottsched (1700-1766). (Vgl. 18-20). Einen Vorgriff auf die nächste Phase unternahmen die gelehrten Vertreter der klassizistischen Bewegung in Deutschland, und zwar J. J. Winckelmann (1717-1768) und G. E. Lessing sowie die zu Beginn dieser Zeit noch jungen J. W. Goethe und F. Schiller. (Vgl. 18-20).
Johann Gottfried Herder (1744-1803) stand von 1762 bis 1764, als er in Königsberg Theologie studierte, unter Einfluß Kants und Hamanns. 1764 bis 1769 war er Lehrer in Riga, 1771 Hofprediger in Bückeburg. Die Philosophie Herders ist vor allem von Giordano Bruno, Spinoza, Leibniz und Hamann, mit dem er befreundet war, geprägt. Den späteren Kant lehnte er schroff ab, seine Untersuchungen nannte er öde Wüsten voll leerer Hirngeburten und im anmaßenden Wortnebel. Gegen den Aphorismus Kants führte er den Entwicklungsgang der Sprache ins Feld. Erst mit dem Sprechen entsteht Vernunft, war seine Antwort. Herders Sprachphilosophie und seine Volksliedersammlung lenkten seine Aufmerksamkeit besonders auf jene Völker, die ihre urtypischen Sitten und Bräuche und ihre urwüchsige Sprachkraft noch nicht verloren hatten. So wurde Herder zum Bewunderer der Lieder der Slawen, von deren Volkstum West-Europa bis dahin so gut wie nichts wußte. Herder ist der Vater der europäischen Slawistik. Er bahnte den slawischen Völkern den Weg zu den eigenen, von ihnen selbst vernachlässigten Volksgütern. Sie haben es Herder zu verdanken, daß sie in den Bereich der europäischen Kulturinteressen treten konnten. Nach Herder ist Geschichte fortschreitende Entwicklung zur Humanität: Kritik der Vernunft bedarf es nicht, sondern einer Physiologie der menschlichen Erkenntniskräfte. In der Geschichte wie in der Natur entwickelt sich alles aus gewissen natürlichen Bedingungen nach festen Gesetzen. Das Fortschrittsgesetz der Geschichte beruht auf einem Fortschrittsgesetz der Natur, das schon in den Wirkungen der anorganischen Naturkräften verborgen tätig ist, in der aufsteigenden Reihe der organischen Wesen vom Naturforscher bereits erkannt wird und sich für den Geschichtsforscher in den geistigen Bestrebungen des Menschengeschlechts zeigt.
Weil in einer Zeit der Aufklärung die Staatsdinge auch für einen Herrscher nicht wie im Handumdrehen zu erledigen sind, der Anspruch auf Perfektionismus aber aufrechterhalten bleiben soll, gibt es viel Dienst und mühsame Arbeit für die pflichtbewußten Staatsdiener. Das gilt auch z.B. für Staatstheoretiker und Historiker. Thukydides (460-396) und Xenophon (430-354) hatten also wie Charles de Montesquieu (1689-1755) und Justus Möser (1720-1794) viel Material zu bearbeiten.
Die ganze Universalgeschichte des Rechtes und die Ethnologie vorausgeahnt haben soll Giovanni Battista Vico (1668-1744). Er führte die vergleichende Methode in die abendländische Geschichtswissenschaft bzw. Geschichtsphilosophie ein und nahm an, daß alle Völker sich „parallel“ entwickeln, daß der „corso“ (Lauf, Kurs als Aufstieg) der Völker drei Zeitalter durchläuft: das der Götter, das der Heroen, das der Menschen; die Aufeinanderfolge eines göttlichen, eines heroischen und eines menschlichen Zeitalters kann man also als ein Drei-Stadien-Gesetz auffassen. Später sollten jedenfalls nicht wenige ein ähnliches Drei-Stadien-Gesetz und/oder eine ähnliche Parallelität zwischen Völkern oder sogar Kulturen annehmen. (). Vico war seiner Zeit sehr weit voraus und lehnte den Cartesianismus ab, genauer: er setzte gegen Descartes‘ an Mathematik und Physik orientierten naturalistischen Rationalismus in De antiquissima Italorum sapienta … (1710) den erkenntnistheoretischen Grundsatz: „Nur das kann erkannt werden, was einer selbst hervorgebracht hat“. Deshalb ist eine universale Erkenntnis nur Gott möglich, der in seiner Schöpfung alles geschaffen hat; weil die Geschichte aber andererseits das ist, was der Mensch in der Welt geschaffen hat, ist die Geschichte sein vornehmliches Erkenntnisobjekt. Ausgehend von diesem Grundsatz entdeckte Vico in seinem Werk Von dem einen Ursprung und Ziel allen Rechtes (1720) die Geschichtlichkeit des Rechts und entwickelte das für die gesamte Menschheitsgeschichte als gültig erachtete geschichtsphilosophische Modell der gesetzmäßigen Wiederkehr je eines theokratischen, heroischen und menschlichen Zeitalters in einem Zyklus von Aufstieg, Verfall und ständiger Wiederkehr. (). Wie gesagt: Vico erklärte die Geschichte zum eigentlichen Feld der menschlichen Erkenntnis, weil der menschliche Geist am besten das verstehen könne, was er selbst gemacht habe: „Tat-Sachen“. Daß Vico seiner Zeit weit voraus war, läßt sich schon allein daran erkennen, daß er als Wegbereiter des Historismus und als Systematiker der Geschichtswissenschaften gilt. Und das sind gerade nicht die „positiv“ erkennbaren physikalischen Phänomene, denn sie können nur von außen erklärt werden und nicht, wie in der Geschichtswissenschaft, von innen verstanden werden. Das ist im wesentlichen schon die These der Hermeneutik, denn die Gegenüberstellung von Erklären und Verstehen ist typisch für diese Denkrichtung, und zu Vicos Zeiten gab es die Hermeneutik als wissenschaftliche Disziplin noch gar nicht: Vico war eben seiner Zeit weit voraus. Was jedoch die Kulturzyklen-Theorie angeht, so hatte schon lange vor Vico Francis Bacon (1561-1626) festgestellt, daß Kulturen altern wie Menschen und Phasen bzw. Auf-und-Ab-Stufen durchleben: „In der Jugend der Völker und Staaten blühen die Waffen und die Künste des Krieges; im reifen männlichen Alter der Völker und Staaten Künste und Wissenschaften; dann eine Zeit lang beide zusammen, Waffenkunst und Musenkünste; endlich im Greisenalter der Völker und Staaten Handel und Industrie, Luxus und Mode.“ (Francis Bacon, De dignitate et augmentis scientiarum, 1605; IV, 2, 114).
Der Philosoph und Mathematiker Christian Wolff (1679-1754), führend in der deutschen Aufklärung geworden, hatte das System des deutschen Rationalismus unter Verwendung aristotelischer, stoischer und auch scholastischer Gedanken zur höchsten Entfaltung gebracht und dadurch die von ihm umgestaltete Leibnizsche Philosophie zur herrschenden Philosophie seiner Zeit gemacht. Seine Schüler, die Wolffianer, hatten an fast allen deutschen Universitäten die philosophischen Lehrstühle inne. Zu Wolffs Schülern zählte in seinen jungen Jahren auch Kant. Später nannte er Wolff den gewaltigsten Vertreter des rationalen Dogmatismus: des Standpunktes des reinen ungebrochenen Vertrauens in die Macht der Vernunft. Die Titel der Schriften Wolffs beginnen fast alle mit „Vernünftige Gedanken … „, gewachsen waren sie in Leibniz. Beide wirkten außer auf die Leibniz-Wolffsche Schule u.a. auf Herder, Goethe, Schiller und den Deutschen Idealismus, später u.a. auf Herbart und Lotze, ja sogar noch auf die analytische Philosophie des 20. Jahrhunderts, auf die Logistik der Sprachphilosophie, wie überhaupt auf die Linguistische Wende und den Nativismus. (u.a. Chomsky), sodann auf den Konstruktivismus (Maturana, Luhmann u.a.).
Immanuel Kant (1724-1804) stammte aus einer Handwerkerfamilie mit 12 Kindern, studierte in Königsberg Mathematik und Naturwissenschaften, Philosophie bei dem Wolff-Schüler Martin Knutzen. Kant verbrachte sein ganzes Leben in Königsberg, wirkte ab 1756 als Privatdozent, ab 1770 als ordentlicher Professor der Logik und Metaphysik mit großem Lehrerfolg, und er lehrte auch Naturwissenschaften, insbesondere Geographie. 1794 wurde der Begründer des Kritizismus bzw. der Transzendentalphilosophie durch eine königliche Kabinettorder verwarnt: wegen Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums. Kant hat den Begriff der Metaphysik geändert, den der Erkenntnistheorie neu geschaffen, beides in der Kritik der reinen Vernunft (1781). Er sah in der Metaphysik nicht mehr die Wissenschaft vom Absoluten, wie noch die dogmatischen Philosophen, besonders die Wolff-Schule, sondern die Grenzen der menschlichen Vernunft. Die Erkenntnistheorie sollte die Grenzpolizei gegen alle Anmaßungen und Grenzüberschreitungen über das Erfahrbare hinaus sein. Erkenntnisse beruhen nach Kant einzig und allein auf Erfahrung, auf Sinneswahrnehmung. Die Sinne allein geben Kunde von einer realen Außenwelt. Kant begründet das in etwa so: Erkenntnis entspringt nicht vollständig aus der Erfahrung, vielmehr wird sie geformt durch die apriori bereitliegenden Anschauungsformen des Raumes und der Zeit und die Denk- bzw. Verstandesformen der Kategorien. Die Kategorien sind einerseits die allgemeinsten Wirklichkeits-, Aussage- und Begriffsformen, also die Stammbegriffe, von denen die übrigen Begriffe ableitbar sind (Erkenntniskategorien), andererseits die Ur- und Grundformen des Seins der Erkenntnisgegenstände (Seins- oder Realkategorien). Die Erforschung der Kategorien nannte Kant transzendental. Die Erkenntnistheorie als spezialisierte Untersuchung der Erkenntnis gliedert sich in Erkenntniskritik, die von einem vorher bestehenden Erkenntnistypus ausgeht, an dem sie die vorhandenen Kenntnisse kritisch mißt, so Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781), und die Erkenntnismetaphysik, die das Wesen der Erkenntnis erforscht. Kant erschütterte aber eine Art von Metaphysik, die wahrnehmungslos und bloß spekulativ-konstruktiv vorgeht, indem er ihr die Fähigkeit zu irgendeiner Wirklichkeitserkenntnis absprach. Freilich räumte er ein, daß auch die durch Erfahrung gegründete Erkenntnis nicht auf die Dinge an sich, sondern nur auf deren Erscheinungen (Phänomene) zurückgeht. Reine Gedankenkonstruktionen hinsichtlich der Dinge an sich aber sind nach Kant erst recht keine Erkenntnisse. Dies versuchte er zu beweisen an der psychologischen, kosmologischen und theologischen Idee der bisherigen scholastischen, ontologischen, rationalistischen, damit als dogmatische Scheinwissenschaft entlarvten Metaphysik und natürlichen Theologie: der Unsterblichkeit der Seele, der Entstehung der Welt, der Existenz Gottes. ().
Kritizismus heißt nach Kant das Verfahren, Möglichkeit, Ursprung, Gültigkeit, Gesetzmäßigkeit und Grenzen des menschlichen Erkennens festzustellen. Kant parallelisierte geistig das „Kindesalter“ mit dem „Dogmatismus“, das „Jünglingsalter“ mit dem „Skeptizismus“, das „reife Mannesalter“ mit dem „Kritizismus“. Systematisch hält der Kritizismus die Mitte zwischen Rationalismus und Sensualismus. Kants Kritizismus wendet sich

1.) gegen die Mißachtung der Wahrnehmung beim Erkennen,
2.) gegen die Behauptung, man könne aus bloßen Begriffen (Kategorien)
ohne Grundlegung durch wahrnehmung Erkenntnisse bilden,
3.) gegen die Behauptung, Gott, Seele, Welt seien erkennbare Gegenstände,
während sie in Wirklichkeit (systembildende) Ideen sind.
Der Hauptsatz des Kritizismus:
Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen leer.

Der transzendentale Idealismus Kants besagt, daß nicht die Dinge an sich, sondern die Dinge nur als Erscheinungen erfaßbar sind. Transzendent bedeutet demzufolge, daß Erfahrungen bzw. Erkenntnisse überstiegen werden, wenn sie jenseits des Bewußtseins liegen, dieses also überschreiten. Transzendental dagegen bedeutet nicht etwas, was über alle Erfahrung hinübersteigt (= transzendent), sondern was vor ihr (a priori) zwar hervorgeht, aber doch zu nichts weiterem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen. Der Begriff des Transzendentalen bezeichnet somit offenbar das Problem der Erkenntnislehre, aber auch die Erkenntnislehre selbst und ihrer Methoden. Die transzendentale Idee ist nach Kant ein Vernunftbegriff, ein Begriff, der nur in der Sehnsucht des Verstandes, das ihm Gegebene zu überschreiten, seinen Ursprung hat und die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, aber für die formale Anordnung der Begriffe und Erkenntnisse in einer vollständigen Wissenschaft unentbehrlich ist. Die 3 Ideen der Metaphysik sind nach Kant: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Platons Begriff der Ideen ist dagegen ein urtypischer (urkultureller), weil er methodisch in genau die andere Richtung zeigt: Ideen sind aufgrund vorgeburtlicher Erinnerung erfaßbare, Realität besitzende Urbilder der Dinge. Nach Platon sind sie nicht sinnlich, sondern nur geistig erfaßbar, und zwar mit eben jener Anamnese: der vorgeburtlichen Erinnerung. Anamnese sei, so Platon, eine Wiedererinnerung als Erkenntnis, weil jede Erkenntnis ein Sicherinnern der Seele an die Ideen sei, in deren Nähe sie vor ihrer Verbindung mit dem Körper weilte. Ideen sind nach Platon ewige und unveränderliche Urbilder. Das Ding bilde die Ideen ab und hat an der Idee teil. Somit ist die Idee in ihm gegenwärtig und demzufolge das Eigentlich-Seiende. Das Abendland hatte sich mit der platonischen Ideenlehre seit ihrem Bekanntwerden immer schon auseinandergesetzt, und mit Fichte, Schelling und Hegel erhielt sie jetzt erneut Bedeutung, aber an die eigentliche platonisch-antike Bedeutung kamen selbst diese 3 Hauptvertreter des Deutschen Idealismus und auch Goethes Urphänomene nicht heran. Keinem Menschen ist es möglich, kulturell gegensätzliche Seelenbilder und Ursymbole zu überwinden. Auch eine Synthese muß aufheben, wenn auch auf erhöhter Ebene. (Vgl. Aufheben und Dialektik).
Antinomie nennt man den Widerstreit zwischen mehreren Sätzen, deren jeder für sich Gültigkeit hat. Kant stellte 1781 in seiner Kritik der reinen Vernunft eine besondere Antinomienlehre auf, in der er 4 Antinomien – 2 mathematische und 2 dynamische – unterschied, die jeweils aus Thesis (Behauptung) und Antithesis (Gegenbehauptung) bestehen. Kant erblickte die Hauptleistung des Verstandes in der „Synthesis der transzendentalen Apperzeption“, wodurch empirische Anschauungen zur Einheit einer Erkenntnis werden.
Rationalismus und Empirismus zusammengebracht zu haben, ist das Verdienst der Kritik der reinen Vernunft (1781): Kants Buch wurde damit zum Buch der Bücher der neueren Philosophie (Spätdenker ). Kant definierte einerseits, was die Vernunft von sich her an Erkenntnis mitbringt (was a priori ist) – im Rationalismus schien das nahezu alles zu sein -, und andererseits, was die Vernunft sich durch die sinnliche Erfahrung geben lassen muß (was später als die Vernunft ist, oder a posteriori) – das schien dem Empirismus fast alles zu sein. Objektive Erkenntnis sei nämlich immer ein Zusammengesetztes aus beiden. Damit geht es allerdings der Metaphysik an den Kragen, denn ihre Gegenstände gehen ja nicht selten über alle sinnliche Erfahrung hinaus. Wenn es stimmt, daß von der Metaphysik seit Kant nichts anderes übrig geblieben ist als die theoretische Basis sicherer Naturwissenschaft und das Gewissen, dann hätten ja die metaphysischen Ideen – z.B. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit – nichts Antinomisches, Widersprüchliches, die Vernunft Zerbrechendes mehr an sich. (). Hier findet man Kants zündende Idee, die stark an Platon erinnert: er unterscheidet nämlich die Welt, wie sie unabhängig von unserer Anschauung und unserem Verstand ist (die Dinge an sich), von der Welt, die uns als räumlich-zeitlicher Geschehenszusammenhang erscheint (die Dinge als Erscheinungen). Dann ist jedes Ding zweierlei:
1) Gedankending oder Ding an sich selbst (noumenon)
2) Erscheinung oder Ding als Gegenstand der Erfahrung (phainomenon)
Kant konnte, anders als der skeptische Hume, der Naturwissenschaft Sicherheit verschaffen: die Realität ist Meßbares, Empfindbares, kausal Erfolgendes in Raum und Zeit, aber das Ganze, diese Realität, ist nur Erscheinungswelt, Vorstellungswelt des Ich. Sie richtet sich in ihrer Erkennbarkeit nach dem Ich. Das nennt man die kopernikanische Wende in der Philosophie durch Kant. Die Dinge an sich, die Welt ohne das vorstellende Ich mit seinen Kategorien (Quantität, Qualität und Kausalität) und Anschauungsformen (Raum und Zeit), sind unerkennbar, aber eben denkbar. Und nun kommt das Entscheidende: zu dieser Welt der Dinge an sich gehört auch das Ich, sofern es sich selbst nicht sinnlicher oder „intelligibler Gegenstand“ sein kann. Und das geschieht, wenn er spürt, daß er soll. Sollen kommt in der ganzen Welt nicht vor, so Kant, nur im Menschen. Hier also, in der Freiheit, im Sollen, in der Moral, ist der Punkt, wo sich das Ich hinein ins Jenseits rettet, in eine intelligible Welt. Unsterblichkeit ist Verdienst der sittlichen Anstrengung:

„Wir sind und jetzt durch die Vernunft schon als in einem intelligiblen Reiche befindlich bewußt,
nach dem Tode werden wir das anschauen und erkennen und dann sind wir in einer ganz anderen Welt,
die aber nur der Form nach verändert ist, wo wir nämlich die Dinge erkennen, wie sie an sich selbst sind.“
Kant, 1781
Kant äußerte sich natürlich auch, und zwar pflichtgemäß, zur Ethik, einem in dieser spätrationalistischen Phase zur Höchstform auflaufenden Charakteristikum (antik wie abendländisch). Pflicht ist die verbindliche Pflege, für etwas zu sorgen. Diese als inneres Erlebnis auftretende Nötigung muß er vor Augen gehabt haben, um den von ethischen Werten ausgehenden Forderungen entsprechen und das eigene Dasein diesen Forderungen gemäß gestalten zu können. Kant kam in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) zu einer autonomen Pflicht-Ethik, die als eine bedeutende philosophische Leistung gelten kann. Kants Gedankengang ist in etwa folgender: Der Vernunft ist es zwar unmöglich, Gegenstände rein apriori, d.h. ohne Erfahrung theoretisch zu erkennen, wohl aber den Willen des Menschen und sein praktisches Verhalten zu bestimmen. Seinem empirischen Charakter nach, d.h. als Person, steht der Mensch unter dem Naturgesetz, folgt er den Einflüssen der Außenwelt, ist er unfrei. Seinem intelligiblen Charakter gemäß, d.h. als Persönlichkeit, ist er frei und nur nach seiner (praktischen) Vernunft ausgerichtet. Das Sittengesetz, dem er dabei folgt, ist ein „Kategorischer Imperativ“. Nicht auf äußere Güter gerichtetes Streben nach Glück, nicht Liebe oder Neigung machen ein Tun moralisch, sondern allein die Achtung vor dem Sittengesetz und die Befolgung der Pflicht. Getragen ist diese Ethik der Pflicht von der nicht theoretischen, sondern praktischen Überzeugung von der Freiheit des sittlichen Tuns, von der Unsterblichkeit des sittlich Handelnden, da dieser in diesem Leben den Lohn seiner Sittlichkeit zu ernten nicht befugt ist, von Gott als dem Bürgen der Sittlichkeit und ihres Lohnes. Diese 3 Überzeugungen sind nach Kant die praktischen Postulate von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Von religiöser Heteronomie – Fremdbestimmung u.s.w. – ist nach Kant die Sittlichkeit frei, weil sie autonom ist. In diesem Zusammenhang sah Kant seine Auffassungen über Recht, Staat, Politik und Geschichte, deren Wirklichkeit er sehr skeptisch gegenüberstand, besonders der des von ihm als ethisch-politisches Ideal anerkannten Ewigen Friedens.
Mit der Kritik der Urteilskraft (1790) schloß Kant seine Darlegungen zu seinem System des Kritizismus ab. Nach Kant ist Urteilskraft
1) das Vermögen, unter Regeln zu subsummieren, d.h. zu unterscheiden, ob etwas
unter einer gegebenen Regel stehe oder nicht (subsummierende Urteile).
2) das Vermögen (die Fähigkeit), das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen
(Regel, Prinzip, Gesetz) zu denken (reflektierende Urteile).
Synthetisch heißt nach Kant ein Urteil, dessen Prädikats-Inhalt noch nicht im Subjekt-Inhalt enthalten ist, vielmehr durch den Urteilsvollzug erst neu hinzukommt. Synthetische Urteile, von Kant in synthetische Urteile a posteriori und synthetische Urteile a priori (z.B. mathematisch) eingeteilt, bringen also zu dem Begriff des Subjekts ein Prädiakt hinzu, welches in jenem noch gar nicht gedacht war (alle Körper sind schwer). Kant machte sie zu seinem sachlichen Ausgangspunkt für seine kritische Untersuchung der Erkenntnis. Daß sie möglich sind, ja vorhanden sind, wird dabei vorausgesetzt. Analytische Urteile dagegen sind nach Kant solche Urteile, deren Prädikat im Subjekt bereits enthalten ist (alle Körper sind augedehnt).
Kants Philosophie, in Fachkreisen seine theoretische, in weiteren Kreisen, z.B. bei Goethe und Schiller, seine praktische, rief schon zu seinen Lebzeiten eine starke Bewegung hervor. Auf Schiller wirkte Kant vor allem durch seine Sittenlehre, wenn auch Schiller die Härte der Kantschen Pflichtethik bekämpfte. Goethes anschauender Natur war zwar Kants Kritik der reinen Vernunft in ihrer Abstraktheit fremd, doch beeindruckte ihn Kants Kritik der praktischen Vernunft mit ihrer strengen Pflichtethik, und Kants Kritik der Urteilskraft habe ihm sogar die philosophische Grundlage für sein „Schaffen, Tun und Denken“ gegeben. Hamann, Herder und Jacobi traten als Gegner Kants auf. Fichte, Hegel, Schelling knüpften mit ihrer (aber nicht mehr kritizistischen!) spekulativ-idealistischen Metaphysik an Kant an. (Vgl. Idealismus).
Das Ganze der „Drei Kritiken“ – die Transzendentalphilosophie – besteht also aus den Bedingungen der Möglichkeit allgemeingültiger Naturerkenntnis (Wissenschaft), allgemeingültiger Willensbestimmung (Moral) und allgemeingültigen Geschmacks (Ästhetik). Neben dieser Durchführung seiner Philosophie betrieb Kant auch noch „Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung“. Darunter verstand er praktische Menschenkenntnis. Er publizierte sie 1798 unter dem Titel Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und in zahlreichen kleineren Schriften über die Menschheitsgeschichte, über Politik und Moral. Auf Kants Vernunftidee einer friedlichen Völkergemeinschaft (in der Schrift Zum ewigen Frieden, 1795) sollten sich später der Völkerbund (1919) und die UNO (1945) berufen.

Durch Kant wurde die abendländische Philosophie erwachsen.
Kant bildete den geistigen Übergang von jugendlicher zu erwachsener Kultur.
Dieser Denkpolizist fand den Grenzraum zwischen Hochdenkern und Spätdenkern.
Als jüngerer Vorkritiker war er Hochdenker, als älterer Nachkritiker war er Spätdenker.
Durch Kant erhielt auch das Abendland seine eigenen denkgeschichtlichen Fußnoten.

– Kulturphilosophisches Fazit –
Die Zeit der Hochdenker, der rationalistischen Philosophen, legte auf dem Gebiet der exakten Wissenschaften den Grund für eine Neu-Theologie, namentlich: Naturwissenschaft (und Technik). Hatte sich die Philosophie gerade von der Theologie getrennt, so bahnte sich schon die nächste Trennung an. Im Abendland war aus der gerade gekrönten Philosophie Wissenschaft geworden, aus dem „Siegerpokal“ ein „Wanderpokal“. In der Antike, wo sich die Philosophie gerade von der Theologie, dem theurgisch-mythologischen Mysterienkult, gelöst hatte, blieben Philosophie und Wissenschaft als Synonyme ein Einzelkörper, z.B. als die nach der Natur Forschenden. (). In einer die Statik bevorzugenden Kultur ist eine (abendländisch verstandene) Wissenschaft im Nachteil, aber die Antike war (und ist! ) in der Philosophie, im statischen Hochdenken, unschlagbar. Im Abendland, wo sich die Philosophie gerade von der Theologie, dem päpstlich-christologischen Bevormundungskult, gelöst hatte, blieben Philosophie und Wissenschaft in ihrem hyperonom-hyponomen Beziehungsraum, z.B. als die nach der Sprache zur technischen Naturbeherrschung Forschenden. (). In einer die Dynamik bevorzugenden Kultur ist eine (antik verstandene) Philosophie im Nachteil, aber das Abendland war (und ist! ) in der Wissenschaft, im dynamischen Hochdenken, unschlagbar. (). Hier wurden viele Philosophen und andere Forscher zu Wissenschaftlern, und auch nachdem sich die ersten wissenschaftlichen Disziplinen von der Philosophie getrennt hatten, blieben die Verbindungen größtenteils bis in die Spätdenkerzeit bestehen. (). Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die Wissenschaft selbst immer mehr zu einer Philosophie bzw. Neu-Theologie wurde (man glaubte fest an die Wissenschaft), während die Philosophie, die ja die abtrünnigen Wissenschafler zuvor selbst gestellt hatte, sich neue Aufgaben suchen mußte. Die neuen Aufgabenfelder entpuppten sich am Vorabend der Spätdenker als solche der Ethik und als solche der Suche nach endlich abschließenden Systemen im Unendlichen, d.h. nach dem (abendländisch) Unmöglichen im scheinbar Möglichen. Gleiches geschah in der Antike, nur suchte man hier lieber nach dem (antik) Möglichen im scheinbar Unmöglichen.

Der abendländische Denker kann nicht ein- und abgrenzen,
weil er immer wieder neue Unendlichkeiten entdeckt.
Der antike Denker will ein- und abgrenzen,
weil er den Kosmos liebt, aber das Chaos nicht erträgt
und alles Böse sogar auf die Unsterblichen projiziert. ().

Da die Philosophie in dieser rationalistischen Hochdenkerzeit so großartige Erfolge verbuchen konnte, brauchte sie den ehemaligen Konkurrenten auf der Denkbühne nicht mehr zu fürchten. Auf der machtpolitischen Bühne sah sie sich natürlich immer noch den Repressalien der herrschaftlichen Institutionen ausgesetzt. Die antike Polis verteidigte den mythologischen Polytheismus genauso vehement wie später die abendländische Kirche den christlichen Monotheismus. Die meisten Denker fanden gegen die Druckmittel auch die geeigneten Sprachmittel. Die Mächtigen mußten umdenken, wollte sie ihre Macht nicht ganz verlieren, und nicht wenige gingen diesen Weg auch, trotz der zu erwartenden Probleme aus dem eigenen Lager. Die Philosophie bzw. die Wissenschaft war in dieser Zeit einfach zu erfolgreich. Dazu kam im Abendland noch die Umlaufgeschwindigkeit des Wissens, die, seit Gutenberg im 15. Jh. die beweglichen Druckbuchstaben in Umlauf gebracht hatte, enorm anwuchs. Diese stark dynamisierten Druckmittel sorgten nicht nur für die Alphabetisierung (Schrifterwerb), diese stark dynamisierten Sprachmittel sorgten überhaupt für ein dynamischeres Klima, besonders beim Umdenken: beim Umschalten von Frühdenken auf Hochdenken. Ganz genau an diesem Punkt wird nämlich Philosophie frei und das trainiert, was man Langzeitgedächtnis oder Kulturgeschichtsgedächtnis nennen kann. Im Abendland schienen die ab jetzt sich häufenden Erfindungen und das durch die geographischen Entdeckungen enorm anwachsende Wissen unaufhörlich zu werden; sie ließen keinen Zweifel an Wissenschaft und Technik mehr zu, mochten noch so viele Starrsinnige gegen sie ankämpfen. Die Wissensschulung schien ins Unermeßliche zu wachsen, die Rationalisierung ins Unendliche zu steigen. Das Streben der rationalistischen Philosophie in Richtung auf eine Neu-Theologie war auch durch die Versuche gekennzeichnet, eine „weltliche“ oder „natürliche“ Religion zu begründen, die die tradierte Offenbarungsreligion ablösen sollte. Diese etaws übertreibene Kritik richtete sich auch gegen jede echte Metaphysik. Spätestens seit der Aufklärung glaubten also nicht wenige Menschen tatsächlich an eine Art Natur-Theologie, die für sie allerdings (und leider übertrieben) eher Natur-Religion oder Vernunft-Glaube hätte sein sollen. Diese aus der selbstverschuldten Unmündigkeit Erwachenden (Kant) verpflichteten sich dem Ziel, die auf religiöser oder politischer Autorität beruhenden Anschauungen durch solche zu ersetzen, die sich aus der Betätigung der menschlichen Vernunft ergeben und die der vernünftigen Kritik jedes einzelnen standhalten. Es mußte ja so kommen: als das Hochdenken langsam nachließ, mußte fatalerweise die Konkurrenz zur Theolgie wieder stärker und offener in den Blickpunkt rücken.
Kann der „Kategorische Imperativ“ einer erwachsen werdenden Kultur das ersetzen,
was sie einst als „Kleinkindkultur“ in der behüteten Kulturfamilie schon erworben hatte?
Konnte das „Höhlengleichnis“ einer erwachsen werdenden Kultur das ersetzen,
was sie einst als „Kleinkindkultur in der behüteten Kulturfamilie schon erworben hatte?
Auch Kulturen sind genetischen (intaruterinen) und familiären Prägungen ausgesetzt,
aber jugendliche und erwachsene Prägungen sind als Neu-Prägungen zu bewerten,
weil der Anteil der eigenen aktiven Beteiligung an solchen Prägungen überwiegt.
Kant und Platon, zwei Beispiele starker Nachwirkungen, waren neu-prägend,
prägend konnte der Platonismus nur werden, weil seine Kultur Vater wurde,
prägend kann der Kantianismus nur werden, wenn seine Kultur Vater wird.
Die kommenden Spätdenker sollten es also in vierfacher Hinsicht schwer haben: Technologie, Wissenschaft, Philosophie und Theologie – im Zusammenspiel: der Glaube an die – sollten die konkurrierenden Spätdenker dazu veranlassen, die durch die Hochdenker (vor allem die forschenden Philosophen und Wissenschaftler) dynamisch angestrebte Neu-Theologie zu einer Neu-Religion zu machen. Die Spätdenker sollten also als Neu-Theologen das Spätdenken starten und die als christliche Maxime ausgegebene Reihenfolge Theologie-Philosophie-Wissenschaft-Technologie umkehren, die die kirchlichen Vertreter einst festgelegt hatten () – in der Zeit der Frühdenker, als sich Scholastik und Mystik noch auf dem Weg von der Theologie zur Philosophie befanden. (). Jetzt, in der rationalistischen Hochdenkerzeit, blieb die protestantische Neuscholastik zwar auf der Strecke, aber die katholische Neuscholastik konnte sich behaupten. (). Auch die Neumystik behauptete sich in der gesamten Zeit der Rationalistik. (). Erst im großen Strom des Deutschen Idealismus und der deutschen Romantik sollte auch die Neumystik untergehen. Ihr Ende war auch das Ende der Rationalistik, das Ende der Hochdenker- und damit der Beginn der Spätdenkerzeit. ().

Tabelle
Analoge (Hoch-) Philosophien
antik von ca. 700 v. Chr. bis ca. 350 v. Chr.
abendländisch von ca. 1450 bis ca. 1800
(12-14, 14-16, 16-18)
1) Ionische Naturphilosophen Urstoff seit -650/-600
2) Eleaten Seinsphilosophie/Rationalismus seit -550
3) Pythagoräer Rel.-pol.-arist. Rationalismus seit -550
4) Subjektivisten Elemenekinetik; Heraklit u.a. seit -520
5) Atomisten Naturph.; Leukipp/Demokrit, .. seit -490/-460
6) Sophisten Anthropologie/Aufklärung seit -475/-450
7) Sokratiker Sokrates, Maieutiker seit -440
8) Megariker Eristiker (Streiter) Euklid v. Megara seit -430
9) Kyrenäiker Aristippos von Kyrene, Hedoniker seit -400
10) Kyniker (Autarkisten) Antisthenes, Diogenes seit -400
11) Platoniker Platon, Alte Akademiker seit -385 1) Naturwissenschaft/Heliozentrik seit 1500/1550
2) Empirismus/Rationalismus Mechanik seit 1600
3) Pol.-rel. Empirismus Polit. Rationalismus seit 1600
4) Subjektivismus Rationalismus; Descartes u.a. seit 1630
5) Atomismus Monaden/Infinitesimal., Leibniz seit 1660-90
6) Aufklärung seit 1685 (1700)
7) Naturalismus-Subjektivismus seit 1710
8) Naturalismus/Deismus Freidenker seit 1720
9) Sensualismus Positivisten/Materialisten seit 1750
10) Früh-Romantik Sturm-und-Drang seit 1760
11) Kantianer Transzendental-Idealismus, Kant seit 1770

Analoge Theologien
– PURITANISMUS –
24) Orientalistische Renaissance seit – 8. / – 7. Jh.; Wende
25) Reformation (Orphiker) Renaissance seit – 7 Jh.; Wende
26) Dionysos als „letzter Gott“ im Olymp; seit – 7. Jh.; Wende
27) Zeus-Götterwelt; Theogonie von Hesiod; seit – 7. Jh.; Wende
28) Gegenreformation (6) Zeus-Götterwelt seit – 7. / – 6. Jh. 24) Humanistische Renaissance seit 14. / 15. Jh.; Wende
25) Reformation (Luther) Renaissance seit 15. / 16. Jh.; Wende
26) Neuscholastik (5) Reformation seit 15. / 16.Jh.; Wende
27) Neumystik (4) Paracelsus, Franck u.a. seit 16. Jh.; Wende
28) Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.

WEITER

Hochdenker sind die denkenden Hochöfen der absoluten Kulturfabrik,
verdribbeln sich jedoch nicht selten im subjektiven Zentralmittelfeld.
Verabsolutierter Rationalismus ist Zentralgewalt der Denktyrannen.
Trotzdem ist die Rationalistik wie eine erste selbst eingeholte Ernte,
weshalb Hochdenker auch schon mit dem Ernte-Denk-Fest rechnen.
Diese Vorarbeit macht sie so zu den Vordenkern für die Spätdenker.
Von allen Denkern haben sie am wenigsten mit dem Abseits zu tun,
aber ihr Paß vor das Denkertor kann die Spätdenker veranlassen,
ins Abseits zu laufen, weil Spätdenker es oft zu „spät bedenken“.
(*)

Urdenker Vordenker Frühdenker Hochdenker Spätdenker Nachdenker Enddenker
WWW.HUBERT-BRUNE.DE

Anmerkungen:

Hylozoismus (von griech. ‚ule, Holz, Wald, Stoff, Material, Vorrat und zwh, Leben), auch Hylopsychimus, ist diejenige philosophische Richtung, welche alle Materie von Haus aus als belebt (besseelt) betrachtet; die Anschauung, „daß die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann“ (Goethe). Hylozoisten waren bereits die ionischen Naturphilosophen (Thales, Anaximander, Anaximenes, Diogenes von Apollonia u.a.). (Vgl. dazu: Hylemorphismus).
Hylemorphismus (von griech. ‚ule, Holz, Wald, Stoff, Material, Vorrat und morfh, Gestalt, Form) ist die neuscholastische Bezeichnung der von Aristoteles begründeten Lehre, daß alle körperlichen Substanzen aus dem Stoff (der an sich nur Möglichkeit ist) und der Wirklichkeit verleihenden Form bestehen. Hyle war für Aristoteles der noch nicht zu realen Dingen geformte „Urstoff“, der als bloße, noch nicht verwirklichte „Möglichkeit“ die einzige Eigenschaft der Formbarkeit besitzt. (Vgl. Hylozoismus).
Seelenbild der Antike und Seelenbild des Abendlandes sind gegensätzlich: apollinisch und faustisch; ihre Ursymbole ebenfalls: Einzelkörper und Unendlicher Raum. Wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung, gelten auch Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar, deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Beispiel „Parallelenaxiom“ deutlich werden kann: Euklid hat in seinen „Elementen“ (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung für das antike Beispiel gegeben und Gauß ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Sie stehen – wie unzählige andere Beispiele auch – für einen metaphysischen Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol angetrieben und angezogen wird. (Vgl. Oswald Spengler, 1917, S. 155, 227ff., 234, 390). Vgl. dazu auch das Germanentum.
Das Seelenbild der magischen Kultur ist ein dualistisches: Geist und Seele, ihr Ursymbol die Welthöhle. (Vgl. Spengler, 1922, S. 847f.).
Sfaira (griech: Kugel), Sphäre. Zu diesem Thema eine Literauturempfehlung: Peter Sloterdijk; „Sphären“, I) Blasen (1998), II) Globen (1999), III) Schäume (2004).
Die Zahl 1 als mathematischer Einzelkörper – ganz antik, ganz apollinisch! (Vgl. Ursymbol).
Maieutik (Geburtshilfe) ist die Hebammenkunst des Sokrates, durch geschicktes Fragen und Antworten die in einem Menschen liegende richtige Erkenntnis herauszuholen.
Eine abendländische Alternativ könnte lauten: KEIN DER NUMISMATIK UNKUNDIGER SOLL DIESEN ORT BETRETEN. (Es möge sich fernhalten, wer unwillig ist, die Geschichte wie eine Goldmünzezu hüten ). Eine Braunsche Röhre ist in meinem Bruneschen Sinne ein Gleichrichtereffekt und eine Erweiterung des kleinsten Zwanges mit bahnbrechender Entwicklung auf dem Gebiet der Funktechnik.
Zum Beispiel Aristoteles (383-322), der darauf hinwies, daß der das Wasser des Thales als Ursprung und Erklärungsgrund der Welt und ihrer Phänomene an den die Welt umfließenden mythischen Urstrom und an den Totenfluß Styx erinnere. Jedenfalls erlosch spätestens mit dem „Prinzip Wasser“ der alte, der vorige Glaube an die im Kosmos herrschenden Götter (heidnische Astrotheologie). Dazu leistete sicherlich auch die „orientalisierende (mesopotamische) Renaissance“ ihren Beitrag – und natürlich die vielen Reisen des Thales von Milet (650-570), der dadurch vielfältige Kenntnisse erwarb.
Aristoteles (383-322); vgl. Ältere und Jüngere Aristoteliker (Peripatetiker) und Aristotelische Stoa. Dieser antike Universalgelehrte bestimmte mit seinen Klassifikationen und Begriffsprägungen die gesamte nachfolgende Philosophie, dominierte insbesondere die Scholastik. (Vgl. auch: Früh-Denker). Die sich auf Aristiteles stützende Art des Philosophierens, der Aristotelismus, wurde später auch von den Arabern (z.B. Averroes, 1126-1198) und Juden (z.B. Maimonides, 1135-1204) gepflegt und beherrschte insbesondere seit dem 13. Jh. das philosophische Denken des Abendlandes, vermittelt vor allem durch Albert dem Deutschen (den Großen, 1193-1280) und Thomas von Aquino (1225-1274), allerdings mit wesentlichen, durch das Christentum bedingten Änderungen. Dieser oft auch „Thomismus“ genannte Aristotelismus wurde (als Neuthomismus) die Grundlage der katholischen Neuscholastik (bis heute!). In der Zeit der Renaissance wurde der Aristotelismus in unscholastisch-humanistischer Art von nach Italien gelangten byzantinischen Gelehrten neu belebt: in Deutschland fußten also sowohl die protestantische Neuscholastik (z.B. durch Melanchthon, 1497-1560) als auch die katholische Neuscholastik (z.B. durch Suárez, 1548-1617) auf dem Aristotelismus. Aristoteles, der für seinen Sohn Nikomachos die „Nikomachische Ethik“ geschrieben hatte, blieb für die Entwicklung der abendländischen philosophischen Ethik richtungsweisend bis Kant (!). (Vgl. Tabelle).
Johannes Faust (um 1480 – 1536 oder 1540), deutscher Arzt, Astrologe und Schwarzkünstler, war nach seinem Theologiestudium in Heidelberg u.a. in Erfurt (1513), in Bamberg (1520), in Ingolstadt (1528) und in Nürnberg (1532). Er stand in Verbindung mit humanistischen Gelehrtenkreisen und hatte anscheinend Kenntnisse auf dem Gebiet der Naturphilosophie der Renaissance (magia naturalis). Schon zu seinen Lebzeiten setzte die Sagenbildung ein, besonders durch Übertragung von Zaubersagen auf ihn, in denen er vor allem als Totenbeschwörer auftrat. Sein plötzlicher (gewaltsamer?) Tod gab Anstoß zu Legenden, der Teufel habe ihn geholt. Diese Stoffe wurden Grundlage eines Volksbuches. Das erste Faustbuch erschien 1587 bei J. Spies in Frankfurt (Main). Mit einer um 1575 niedergeschriebenen Wolfenbüttler Handschrift des Faustbuches geht diese Fassung auf eine gemeinsame, nicht erhaltene Vorlage zurück. Das Spies’sche Faustbuch wurde 1599 in Hamburg neu bearbeitet von G. Widmann, dessen Fassung später (1674) von J. N. Pfitzer gekürzt wurde. Das älteste überlieferte Faust-Drama ist The tragical history of Doctor Faustus (entstanden 1588) von C. Marlowe. Es schließt sich eng an das Spies’sche Faustbuch an. Den Anfang bildet der Faustmonolog, ein nächliches Selbstgespräch des Faust, in dem dieser die einzelnen Universitätswissenschaften, einschließlich der Theologie gegeneinander abwägt, sie alle verwirft und sich der Magie verschreibt. Dieser Faustmonolog wurde ein festes Bauelement fast aller späteren Faustdramen. Faustspiele waren bei den englischen Komödianten in Deutschland (zuerst 1608 in Graz bezeugt) und später den deutschen Wandertruppen beliebt, worauf dann das Puppenspiel vom Doktor Faust, das seit 1746 bezeugt ist, fußt. (Vgl. „Volksbuch vom Dr. Faust“ und z.B. auch Lessing und Goethe sowie Seelenbild).
Auf die Hominiden folgte der Homo sapiens sapiens, auf den Humanismus folgt der Hominismus. Damit schließt sich vorerst der Kreis. Schon im 13. Jahrhundert sollen Alchimisten erste Experimente unternommen haben, um einen künstlichen Menschen im Reagenzglas zu erzeugen. Goethe ließt im 2. Teil des Faust den Famulus Wagner einen Homunkulus nach Anleitung des Paracelsus erzeugen. Heute scheinen sich die Möglichkeiten zur Erschaffung des Menschen nach eigenen Wünschen konkretisiert zu haben. (Vgl. hierzu: 22-24).
Die Prädestination wurde vom Calvinismus, anfangs ein antischolastischer Humanismus, zu seinem Inhalt und Mittelpunkt gemacht. Diese Prädestination, die man auch Prädetermination nennt, meint die Vorbestimmung des Menschen schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschbaren Willen, und zwar entweder als Gnadenwahl zur Seligkeit ohne Verdienst oder als Prädamnation zur Verdammnis ohne Schuld. Sie wurde schon von Augustinus (354-430) gelehrt und nach ihm von Luther (1483-1546), Zwingli (1484-1531), Calvin (1509-1564) und dem Jansenismus (nach Cornelius Jansen, 1585-1638). Auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Calvinismus, besonders aber dem aus ihm entwickelten Puritanismus, und dem modernen Kapitalismus der abendländischen Kultur hat vor allem Max Weber (1864-1920) hingewiesen.
Die Prädestination, die man auch Prädetermination nennt, meint die Vorbestimmung des Menschen schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschbaren Willen, und zwar entweder als Gnadenwahl zur Seligkeit ohne Verdienst oder als Prädamnation zur Verdammnis ohne Schuld. Sie wurde schon von Augustinus (354-430) gelehrt und nach ihm von Luther (1483-1546), Zwingli (1484-1531), Calvin (1509-1564) und dem Jansenismus (nach Cornelius Jansen, 1585-1638). Prädestination wurde vom Calvinismus zu seinem Inhalt und Mittelpunkt gemacht. Auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Calvinismus, besonders aber dem aus ihm entwickelten Puritanismus, und dem modernen Kapitalismus der abendländischen Kultur hat vor allem Max Weber (1864-1920) hingewiesen.
Der Puritanismus ging aus der Reformation, insbesondere aus dem Calvinismus hervor. Der Calvinismus, anfangs ein antischolastischer Humanismus, machte die Prädestination zu seinem Inhalt und Mittelpunkt. Diese Prädestination, die man auch Prädetermination nennt, meint die Vorbestimmung des Menschen schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschbaren Willen, und zwar entweder als Gnadenwahl zur Seligkeit ohne Verdienst oder als Prädamnation zur Verdammnis ohne Schuld. Sie wurde schon von Augustinus (354-430) gelehrt und nach ihm von Luther (1483-1546), Zwingli (1484-1531), Calvin (1509-1564) und dem Jansenismus (nach Cornelius Jansen, 1585-1638). Auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Calvinismus, besonders aber dem aus ihm entwickelten Puritanismus, und dem modernen Kapitalismus der abendländischen Kultur hat vor allem Max Weber (1864-1920) hingewiesen. (). Die Puritaner (die „Reinen“) sind die Vertreter einer Reformbewegung, die besonders in England seit etwa 1570 die Reinigung der englischen Kirche von katholisierenden Elementen in Verfassung, Kultus und Lehre betrieben. Strenger Biblizismus, eine Gewissenstheologie und die konsequente Sonntagsheiligung beeinflußten das englische Geistesleben bis in die Gegenwart. Die Puritaner brachten eine ausgedehnte Erbauungs- und Predigtliteratur hervor. 1604 wurden sie durch die Ablehnung ihrer „Millenary Petition“ enttäuscht, wandten sich der politischen Opposition zu oder emigrierten in großer Zahl nach Nord-Amerika. Mit dem Sieg Oliver Cromwells (1599-1658) 1648 zur Herrschaft gelangt, beseitigten die Puritaner das „Common Prayer Book“ und das Bischofsamt, vertrieben anglikanische Pfarrer, entfernten die Orgeln aus den Kirchen u.a.. Nach der Restauration der Stuarts wurden die Puritaner ihrerseits rigoros aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt – bis zur Toleranzakte von 1689. Die englischen Puritaner waren und sind also Vertreter eines speziellen Puritanismus. Diesen „Insel-Puritanismus“ der Engländer kann man auch „Angelsachsen-Puritanismus“ nennen. Für den Puritaner ist das genaue Gegenteil der „Weltfreude“ charakteristisch. Die „Weltfremdheit“ gehört zu den wichtigsten Charakterzügen des Puritanismus. Max Webers Beispiele „zeigen alle das eine: »der Geist der Arbeit«, des »Fortschritts« oder wie er sonst bezeichnet wird, dessen Weckung man dem Protestantismus zuzuschreiben neigt, darf nicht, wie es heute zu geschehen pflegt, als »Weltfreude« oder irgendwie sonst im »aufklärerischen« Sinn verstanden werden. Der alte Protestantismus der Luther, Calvin, Knox, Voët hatte mit dem, was man heute »Fortschritt« nennt, herzlich wenig zu schaffen. Zu ganzen Seiten des modernen Lebens, die heute der extremste Konfessionelle nicht mehr entbehren möchte, stand er direkt feindlich. Soll also überhaupt eine innere Verwandtschaft bestimmter Ausprägungen des altprotestantischen Geistes und moderner kapitalistischer Kultur gefunden werden, so müssen wir wohl oder übel versuchen, sie … in seinen rein religiösen Zügen zu suchen.“ (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904, S. 37-38). Laut Weber ist im Abendland nämlich vor allem die Frömmigkeit (der Pietismus) das „rein religiöse“ Glied – als Berufung (Beruf) – zwischen dem alten Protestantismus bzw. Puritanismus und dem modernen Kapitalismus: Abendländischer Kapitalismus ist laut Weber nämlich eigentümlich, hat ein eigentümliches Ethos. Allgemein ist Kapitalismus kein Charakteristikum einzelner (Historien-)Kulturen, sondern der Menschen-Kultur überhaupt: „Aber eben jenes eigentümliche Ethos fehlte ihm … In der Tat: jener eigentümliche, uns heute so geläufige und in Wahrheit doch so wenig selbstverständliche Gedanke der Berufspflicht: einer Verpflichtung, die der Einzelne empfinden soll und empfindet gegenüber dem Inhalt seiner »beruflichen« Tätigkeit, gleichviel, worin sie besteht, gleichviel insbesondere, ob sie dem unbefangenen Empfinden als reine Verwertung seiner Arbeitskraft oder gar nur seines Sachgüterbesitzes (als »Kapital«) erscheinen muß: – dieser Gedanke ist es, welcher der »Sozialethik« der kapitalistischen Kultur charakteristisch, ja in gewissem Sinne für sie von konstitutiver Bedeutung ist. – … – Arbeit als Selbstzweck, als »Beruf«, wie sie der Kapitalismus fordert … Die kapitalistische Wirtschaftsordnung braucht diese Hingabe an den »Beruf« des Geldverdienens: sie ist eine Art des Sichverhaltens zu den äußeren Gütern, welche jener Struktur so sehr ädaquat, so sehr mit den Bedingungen des Sieges im ökonomischen Daseinskampfe verknüpft ist ….“ (Max Weber, ebd., 1904, S. 43, 45, 53, 61). Innerweltliche Askese bedeutet bei Max Weber die Verwendung der durch Ablehnung der religiösen Askese frei gewordenen Energie in der Berufsarbeit, wie eben besonders gefordert und gefördert durch den Puritanismus.
„Beruf“ (NHD; aus MHD: „beruof“, „Leumund“) – die neuhochdeutsche Bedeutung hat Martin Luther (1483-1546) geprägt! In der Bibel benutzte er es zunächst als „Berufung“ durch Gott für klesis (griech.) bzw. vocatio (lat.), dann auch für Stand und Amt des Menschen in der Welt, die schon Meister Eckhart (1250-1327) als göttlichen Auftrag erkannt hatte. Dieser ethische Zusammenhang von Berufung und Beruf ist bis heute wirksam geblieben, wenn das Wort jetzt auch gewöhnlich nur die bloße Erwerbstätigkeit meint. „Nun ist unverkennbar, daß schon in dem deutschen Worte »Beruf«, ebenso wie in vielleicht noch deutlichere Weise in dem englischen »calling«, eine religiöse Vorstellung: – die einer von Gott gestellten Aufgabe – wenigstens mitklingt und, je nachdrücklicher wir auf das Wort im konkreten Fall den Ton legen, desto fühlbarer wird. Und verfolgen wir nun das Wort geschichtlich und durch die Kultursprachen hindurch, so zeigt sich zunächst, daß die vorwiegend katholischen Völker für das, was wir »Beruf« (im Sinne von Lebensstellung, umgrenztes Arbeitsgebiet) nennen, einen Ausdruck ähnlicher Färbung ebenso wenig kennen wie das klassische Altertum, während es bei allen vorwiegend protestantischen Völkern existiert. Es zeigt sich ferner, daß nicht irgendeine ethnisch bedingte Eigenart der betreffenden Sprachen, etwa der Ausdruck eines »germanischen Volksgeistes« dabei beteiligt ist, sondern daß das Wort in seinem heutigen Sinn aus den Bibelübersetzungen stammt, und zwar aus dem Geist der Übersetzer, nicht aus dem Geist des Originals. Es erscheint in der lutherische Bibelübersetzung zuerst an einer Stelle des Jesus Sirach (11,20,21) ganz in unserem heutigen Sinn verwendet zu sein.“ (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904, S. 66). Seit Luther also gibt es das Wort „Beruf“ in der noch heute gültigen Bedeutung: die hauptsächliche Erwerbstätigkeit des Einzelnen, die auf dem Zusammenwirken von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten beruht (also auf Bildung bzw. Ausbildung) und durch die er sich in die Volkswirtschaft eingliedert. Der Beruf dient meist der Existenzbasis. Es war vor allem der Protetestantismus mit seiner Askese (vgl. Puritanismus), der die sittliche Leistung der Arbeit stark betonte und den Beruf zum Gebot der Pflichterfüllung steigerte. Diese Haltung hat sich als Berufsethos, als innere, enge Verbundenheit des abendländischen Menschen mit seinem Beruf erhalten. Moderne Antriebe zur Verweltlichung gingen vom Deutschen Idealismus aus, der im Beruf das Postulat der Persönlichkeitsentfaltung entdeckte.
„Es ist bewunderungswürdig, mit welcher Sicherheit der englische Instinkt aus der … ganz doktrinären und kahlen Lehre Kalvins sein eignes religiöses Bewußtsein formte. Das Volk als Gemeinschaft der Heiligen, das englische insbesondere als das auserwählte Volk, jede Tat schon dadurch gerechtfertigt, daß man sie überhaupt tun konnte, jede Schuld, jede Brutalität, selbst das Verbrechen auf dem Wege zum Erfolg ein von Gott verhängtes und von ihm zu verantwortendes Schicksal – so nahm sich die Prädestination im Geiste Cromwells und seiner Soldaten aus. Mit dieser unbedingten Selbstsicherheit und Gewissenlosigkeit des Handelns ist das englische Volk emporgestiegen.“ (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 41 ). Wenn in England die Tat oder die Arbeit „für sich“ und daher der persönliche Erfolg als göttliches Zeichen der Erlösung heilig ist, so in Preußen die Tat oder die Arbeit „für andere“. So formuliert es Ehrhardt Bödecker. „Die Bezeichnung Pietismus, ursprünglich ein akademischer Spitzname für Streber und Pedanten, haben die Calvinisten in Halle von den orthodoxen Lutheranern in Leipzig erhalten.“ (Ehrhardt Bödecker, Preußen und die Wurzeln des Erfolgs, 2004, S. 113). Halle fiel 1680 an Brandenburg-Preußen (), August Hermann Francke (1663-1727) wurde zum Hauptvertreter des Pietismus in Halle und dadurch auch in Brandenburg-Preußen – seit der Königskrönung (1701) hieß es nur Preußen. Nicht der englische Kapitalismus, sondern der preußische Pietismus – der soziale Gemeingeist – führte zur modernen Sozialversicherung. Nicht England mit seinem eigenbrötlerischen Parlamentarismus, sondern Deutschland mit seinem sozialen Gemeingeist hatte die weltweit erste soziale Versicherungsgesetzgebung. Was wir heute als Soziale Marktwirtschaft oder etwas ungenau als Rheinischen Kapitalismus bezeichnen, ist nur sekundär rheinisch und primär preußisch (), also insgesamt als deutsch zu bezeichnen: Deutscher Kapitalismus ist Deutsche Marktwirtschaft, weil sozial! Gerechtigkeit ohne Gemeingeist gibt es nicht.
Johann Wolfgang Goethe (1749-1832): „Urfaust“ (1772-1775); Faust (Teil I), 1806, S. 27, Faust (II), 1831, S.113ff.
„Explikationsbedingte Neueinführungen rufen tatsächlich oft den Eindruck hervor, als seien aggressive neue Mitbewohner ins »Haus des Seins« eingezogen, für die kein angemessener Raum zur Verfügung stand, woraufhin sie sich gleichsam mit Gewalt einquartierten. Kein Wunder, wenn dies zuweilen als »revolutionäre« Turbulenz beschrieben wurde. Es besteht, um an eines der grellsten Einführungsdramen zu erinnern, kein Zweifel daran, daß die Explikation der Schrift durch den Druck mit beweglichen Lettern die gesamte Ökologie der europäischen Zivilisation nach 1500 durcheinandergeworfen hat. Man kann so weit gehen zu sagen, die nach-Gutenbergsche Welt stelle den Versuch dar, die für den ersten Blick harmlosen Neuankömmlinge, die in den Setzereien unter der Gestalt kleiner Bleistücke auftraten, in eine erträgliche Kohabitation mit den übrigen Kulturtatsachen, insbesondere den religiösen Überzeugungen der Menschen, einzubeziehen – Beweis durch Gelingen: die neuzeitliche Literatur und das Schulwesen der Nationalstaaten; Beweis durch Mißlingen: die verhängnisvolle Rolle der Druckerpressen als Träger der nationalistischen Bewußtseinsdeformation, als Alliierte sämtlicher ideologischen Perversionen und als Verbreiter und Beschleuniger der kollektiven Hysterien. Gabriel Tarde bezeichnete die Wirkungen des Buchdrucks zu Recht als eine »erstaunliche Invasion«, die der Illusion Vorschub leistete, »Bücher seien die Quelle der Wahrheit«.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 212-213; vgl. Sloterdijks Deutung der „Vesal-Revolution“).
„Was eine »Revolution« wirklich bedeutet, läßt sich am ehesten im Blick auf die Durchbrüche der Anatomen im 16. Jahrhundert erläutern, die sich vorgenommen hatten, das menschliche Körperinnere durch Schnitte zu öffnen und mittels deskriptiv adäquater Abbildungen zu publizieren. Mag sein, daß die vesalische »Revolution« für die Selbstverhältnisse westlicher Menschen viel folgenreicher war als die seit langem überzitierte und mißdeutete kopernikanische Wende.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S.70; vgl. Sloterdijks Deutung der „Gutenberg-Revolution“).
Den eigenen Leib-Innenraum von der Möglichkeit seiner anatomischen Veräußerlichung her verstehen: dies ist das primäre kognitive »Revolutions«resultat der Neuzeit – vergleichbar nur mit der weltbildverändernden Gewalt der ersten Erdumsegelung durch Magellan und del Cano.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 72; vgl. Sloterdijks Deutung der „Gutenberg-Revolution“).
Mystik (zu Myste, zu [griech.] myein, sich schließen [Lippen und Augen schließen]) war ursprünglich ein in die kultischen Geheimnisse der antiken Mysterien Eingeweihter und durch Weihen Aufgenommener. Ansonsten bedeutet Mystik eine weitverbreitete Sonderform religiösen Verhaltens, die einen bestimmten Frömmigkeitstypus hervorbrachte. Vgl. Ur-Mystik, Früh-Mystik, Hoch-Mystik, Spät-Mystik und Neu-Mystik und ihre Mündung in Idealismus und Romantik.
Der Neuthomismus, der Kern der Neuscholastik seit Beginn der Gegenreformation bis heute, entwickelte sich aus dem Thomismus. Er gehört zu den bedeutendsten philosophischen Bewegungen der Gegenwart (Spätdenker), ist am stärksten in Frankreich und Belgien entwickelt, aber in fast allen Ländern vertreten. Das heute wichtigste Studienzentrum ist das von Kardinal D. Mercier (1851-1926) begründete Institut superiéur de philosophie an der UniversitäLöwen. Der Neuthomismus beschäftigt sich auch heute noch hauptsächlich nit Metaphysik (), Naturphilosophie (), Geist (), Erkenntnis (), Gott (), Ethik ().
Neuthomistische Metaphysik beinhaltet z.B. die „Akt-Potenz-Lehre“: passive Potenz besagt reale Begrenzung des Aktes. Das Dasein ist der Akt des Soseins. Fas Werden ist ein Übergang von Potenz zu Akt. (Vgl. Neuthomismus).
Neuthomistische Naturphilosophie beinhaltet z.B. den „Hylemorphismus“: die Hyle (Urstoff) verhält sich zur Form wie die Potenz zu Akt (); Ordnung des Seienden nach der Seinsfülle (tote Körper, Pflanze, Tier, Mensch). (Vgl. Neuthomismus).
Neuthomistisches Thema „Geist“, z.B. mit den beiden Grundfunktionen Erkennen und und Wollen. (Vgl. Neuthomismus).
Neuthomistisches Thema „Erkenntnis“: grundlegende Unterscheidung zwischen sinnlicher und geistiger Erkenntnis. (Vgl. Neuthomismus).
Neuthomistisches Thema „Gott“: das Dasein aller Dinge hängt vom freien Willen Gottes ab; endliches Sein ist auf Gott als Seinsfülle ausgerichtet. (Vgl. Neuthomismus).
Neuthomistisches Thema „Ethik“:: Glückseligkeit des Menschen ist nur durch letzte Hinordnung auf das reine und vollkommene Sein erreichbar. (Vgl. Neuthomismus).
Rationalismus ist der Verstandes- bzw. Vernunftsstandpunkt, die Gesamtheit der philosophischen Richtungen, die irgendwie die Vernunft (lat. ratio), das Denken, den Verstand subjektiv, die Vernünftigkeit, die logische Ordnung der Dinge objektiv in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen. Sowohl die Antike als auch das Abendland durchliefen eine Phase der Rationalisierung, des Rationalismus und der ihm völlig dienenden Aufklärung. Eine Systematisierung erfuhr der abendländische Rationalismus im 17. und 18. Jahrhundert durch Descartes (1596-1650), Spinoza (1632-1677), Leibniz (1646-1716) und Wolff (1679-1754). Für Rationalismus und Aufklärung gab es nur vorläufige Probleme, nicht aber grundsätzlich unlösbare Probleme. In der abendländischen Phase des Rationalismus entstand der neue Begriff der Wissenschaft, der gleichbedeutend wurde mit dem der Mathematik und der Naturwissenschaften. Wissenschaftlich heißt seither: in mathematisch-naturwissenschaftlicher Sprache darstellbar. Ferner entstand der Begriff der wertfreien Wissenschaft, die besagt, daß die Wissenschaft sich nicht darum zu kümmern habe, ob die Gegensätze und namentlich auch die Ergebnisse ihres Forschens ethisch wertvoll oder wertwidrig sind, ob sie Heil oder Unheil in sich tragen. Der Platz für die Metaphysik wurde durch den Rationalismus immer enger.
Subjektivismus (im abendländischen Sinne), die durch Descartes (1596-1650) eingeleitete „Wendung zum Subjekt“, bedeutet, daß das Bewußtsein das primär Gegebene sei und alles andere Inhalt, Form oder Schöpfung des Bewußtseins. Den Höhepunkt dieses Subjektivismus bewirkte George Berkeley (1684-1753). Als gemäßigter Subjektivismus kann der Kantianismus betrachtet werden. Im eigentlichen Sinn ist Subjektivismus die Lehre von der durchgängigen Subjektivität der intellektuellen Wahrheit sowie der sittlichen und ästhetischen Werte, die Leugnung absoluter Geltungen. Beispiel: Homo-mensura-Satz – Mensch-Maß-Satz – wird der Satz des Protagoras (480-410) genannt: Der Mensch, und zwar jeder einzelne, ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind oder nicht sind und wie sie sind. Im Extrem führt der Subjektivismus theoretisch zum Solipsismus, ethisch (praktisch) zum Egoismus.
Cartesianismus ist eine philosophische Richtung, die sich zwar an Descartes (latinisiert: Cartesius) orientierte, aber weniger seine Philosophie als die seiner Anhänger und Fortbildner (v.a. in Frankreich, Deutschland, Holland, Italien) bedeutet. Sie entwickelten sich in evrschiedene Richtungen, z.B. auch in den Okkasionalismus. Der Cartesianismus ist gekennzeichnet durch den Ausgang von der Selbstgewißheit des Bewußtseins([Ego] cogito, ergo sum), durch den strengen Dualismus von Leib und Seele und durch die rationalistische mathematische Methode.
Okkasionalismus ist die Lehre von den gelegentlichen Ursachen und geht aus von der Zweiheit zwischen Leib und Seele, weshalb Leib und Seele nicht wechselseitig aufeinander wirken können (wie Descartes annahm), sondern von Gott erzeugt werden, un zwar „bei Gelegenheit“ von leiblichen Bewegungen die seelischen Empfindungen, „bei Gelegenheit“ von Willensakten die Muskelbewegungen. (). Leibniz löste das Problem durch seine prästabilisierte Harmonie. (Vgl. auch: Psychophysischer Parallelismus).
Die Eleaten – z.B. Xenophanes (ca. 580-485), Parmenides (ca. 540-470), Zenon (ca. 490-430), Melissos (5. Jh.) u.a. -, sowie Pythagoras (ca. 580-500) und seine Pythagoräer – z.B. Alkmaion (6. Jh.), Philolaos (5. Jh.) u.a. -, aber auch die Einzelgänger-Philosophen, z.B. Heraklit (544-483), Anaxagoras (500-428), Empedokles (483-424) und Leukipp (5. Jh. v. Chr.), sind in etwa zu vergleichen mit den barocken Philosophen und Naturforschern des Abendlandes, z.B. Francis Bacon (1561-1626), Galileo Galilei (1564-1642), Johannes Kepler (1571-1630), Jakob Böhme (1575-1624), Thomas Hobbes (1588-1679), Renè Descartes (1596-1650), Otto von Guericke (1602-1686), Jacob Thomasius (1622-1684), Blaise Pascal (1623-1662), Christiaan Huygens (1629-1695), John Locke (1632-1704), Benedictus Spinoza (1632-1677), Isaac Newton (1643-1727), Gottfried Wihelm Leibniz (1646-1716), Christian Thomasius (1655-1728), Edmond Halley (1656-1742), Christian Wolff (1679-1754) u.a.. Von ihnen allen waren die meisten auch großartige Mathematiker und Naturwissenschaftler.
Das „Huygenssche Prinzip“ ist eine von Christiaan Huygens (1629-1695) 1690 formulierte, auf mechanischer Grundlage beruhende Theorie der Lichtausbreitung in einem von unvorstellbar kleinen Kügelchen erfüllten Äther. Das Licht breitet sich in Form einer räumlichen (Stoß-) Welle aus, die im Äther durch mechanische Stöße übertragen wird. Mit Hilfe des Hugensschen Prinzips lassen sich Brechung und Reflexion von Wellen anschaulich deuten. Unter Einbeziehung der Interferenz wurde später das Huygensche Prinzip so modifiziert, daß auch die Huygens noch unbekannten Beugungserscheinungen gedeutet werden konnten („Huygens-Fresnelsches Prinzip“). Mit dem von Thomas Young (1773-1829) aufgestellten „Youngschen Interferenzprinzip“ gelang es, verschiedene Beugungserscheinungen, die Farben dünner Plättchen sowie die Newtonschen Ringe zu deuten und damit die Wellentheorie des Lichtes zu erhärten. 1817 schlug Young die Transversalität der Lichtwellen zur Erklärung der Polarisation vor. Im 19. Jahrhundert schienen die Experimente zur Interferenz, Beugung und Polarisation des Lichtes und die von James Clerk Maxwell (1831-1879) und Ludwig Boltzmann (1844-1906) formulierte elektromagnetische Lichttheorie eindeutig die Wellenvorstellungen zu bestätigen. Boltzmann begründete 1884 zusätzlich das von seinem Lehrer Josef Stefan (1835-1893) auf empirischem Wege gefundene Gesetz über die Gesamtstrahlung des schwarzen Körpers („Stefan-Boltzmannsches Gesetz“). 1887 gelang Heinrich Hertz (1857-1894) die Erzeugung und damit der Nachweis der elektromagnetischen Wellen sowie deren Übertragung von einem Schwingkreis auf einen anderen. Weitere experimentelle Untersuchungen führten Hertz zu einer weiteren Entdeckung: den Photoeffekt. Die Situation zweier konkurrierender Vorstellungen über das Wesen des Lichtes entstand erneut zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die 1900 eingeführte Lichtquanten- oder Photonenhypothese von Max Planck (1858-1947) und (1905) Albert Einstein (1879-1955), mit der dem Licht wieder korpuskulare Eigenschaften zugesprochen wurden. Im Rahmen der Quantentheorie von Max Planck interpretierte Niels Bohr (1885-1962) 1927 beide Vorstellungen als komplementäre Seiten derselben physikalischen Realität. (Vgl. Chronik: Huygens bis Planck).
Ein Meridian ist (in der Astronomie) der Großkreis, der durch den Zenit, den Nordpunkt am Horizont, den Nadir, den Südpunkt am Horizont und wieder zurück zum Zenit verläuft. Ein Meridian geht durch den nördlichen und südlichen Himmelspol. Alle Gestirne erreichen im Meridian ihre größte Höhe (obere Kulmination) und niedrigste Höhe bzw. Tiefe unter dem Horizont (untere Kulmination). Durch Feststellung des genauen Zeitpunktes des Meridiandurchgangs eines Gestirns wird seine Rektaszension (auf dem Himmelsäquator gemessener Bogen zwischen dem Frühlingspunkt und dem durch ein Gestirn gehenden Deklinationskreis; allgemein von Westen nach Osten im Zeitmaß 0 h – 24 h, seltener von 0°-360°, gezählt) als die eine Koordinate im Äquatorsystem bestimmt. Die Deklination eines Gestirns, d.h. der Winkelabstand eines Gestirns vom Himmelsäquator, kann aus einer Winkelmessung der Höhe des Gestirns über dem Horizont bei bekannter Polhöhe des Beobachtungsorts abgeleitet werden. Für einen nördlich des Äquators gelegenen Himmelskörper wird die Deklination (d) positiv angegeben.
F = Betrag der Anziehungskraft, m1 und m2 = Masse der beiden Körper, r = Abstand der Massenmittelpunkte beider Körper, G = Gravitationskonstante 6,672 • 10 -11 m3 / kg s2 . In Worten bedeutet das Gravitationsgesetz: Zwei Körper ziehen sich mit einer dem Produkt ihrer Massen proportionalen Kraft und dem Quadrat ihres Abstandes umgekehrt proportionalen Kraft an. Das Newtonsche Gravitationsgesetz ist die Grundlage der Himmelmechanik. Streng gilt das Gesetz nur für Massenpunkte. In der Praxis können aber auch ausgedehnte Himmelskörper, wie Sterne und Planeten, mit diesem Gesetz erfaßt werden. Abweichungen ergeben sich in unmittelbarer Nähe dieser Himmelskörper, besonders bei einer deutlichen Abweichung von der Kugelgestalt. So muß für die Berechnung der Bahn eines Erdsatelliten z.B. auch die Abplattung der Erde berücksichtigt werden. Unsere Erde hat ja die Form oder Gestalt einer „Birne“. Gravitation (Schwerkraft) ist die universelle Eigenschaft aller materiellen Objekte, sich gegenseitig anzuziehen. Das oben erwähnte, von Isaac Newton (1643-1727) 1666 gefundene Gravitationsgesetz beschreibt die Kraft, mit der sich zwei Massen anziehen. Newton formulierte sein Gravitationsgesetz, wie auch seine 3 Axiome der Mechanik („Newtonsche Axiome“), in dem 1687 erschienenen Hauptwerk „Philosophiae naturalis principa mathematica“. Die Anwendung seiner theoretischen Mechanik und der allgemeinen Massenanziehung auf die Bewegung machten ihn zum Begründer der Himmelsmechanik. Die von Newton geschaffene Grundlage der Mechanik wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Quantentheorie (1900) vom Max Planck (1858-1947) – z.B läßt sich das „Plancksche Strahlungsgesetz“ nicht aus der klassischen Physik herleiten, sondern erfordert die Annahme quantenhafter Emission und Absorption elektromagnetischer Strahlungsenergie durch den „Schwarzen Strahler“ in Energiequanten der Größe hv – und durch die Relativitätstheorie (1905 bzw. 1916) von Albert Einstein (1879-1955) modifiziert. Einsteins Relativitätstheorie ist also, weil sie aus der Quantentheorie, d.h. aus der fundamentalen Innovation der Physik hervorging, primär Plancks Verdienst, denn Planck war es, der mit revolutionärer Kühnheit für den endgültigen Abschied der Physik von der Absolutheit des Wissens sorgte. (Vgl. Grenzdenken und Relativitätsprinzip).
Edmond Halley (1656-1742) beobachtete 1676 bis 1678 erstmals den Südhimmel und einen vollständigen Merkurdurchgang (woraus er die auf Venusdruchgänge ausgedehnte Methode zur Bestimmung der Sonnenparallaxe entwickelte). 1688 schuf er eine erste meteorologische Generalkarte, 1701 eine Karte der magnetischen Deklination. Halley war ein enger Freund von Isaac Newton (1643-1727), den er zur Ausarbeitung der „Principia“ anregte, die Newtons Hauptwerk wurde („Philosophiae naturalis principia mathematica“) und 1687 erschien (u.a. mit den 3 Axiomen der Mechanik, die auch „Newtonsche Axiome“ heißen). Auf deren Grundlage bestimmte Halley die Bahnelemente von 24 Kometen und entdeckte die Identität der Kometen von 1531, 1607 und 1682 („Halleyscher Komet“).
Epoche (Anhalten; Haltepunkt in der Geschichte) ist: 1.) ein bedeutender Abschnitt des hostorischen Entwicklungsablaufes. 2.) Teilperiode = Teil anthropiner Perioden (Prähominisierung, Hominisierung, Sapientisierung, Historisierung), die wiederum zu einer Periodik namens „Menschheitsperiodik“ (= Menschwerdung, Menschen-Kultur o.ä. Bezeichnungen) gehören. Vgl. dazu: Tafel und Text.
Otto von Guericke (Gericke; 30.11.1602 – 21.05.1686), Naturforscher und Staatsmann, wurde nach juristischen und mathematisch-technischen Studien 1626 Ratsherr und 1630 Bauherr der Stadt Magdeburg, trat 1631 nach ihrer Zerstörung als Ingenieur in schwedische, dann in kursächsische Dienste und war nach seiner Rückkehr 1646-78 einer der vier Bürgermeister von Magdeburg, dessen Interessen er zwischen 1642 und 1666 als Gesandter vertrat, z.B. bei den Friedensverhandlungen in Osnabrück (Westfälischer Friede) und auf dem Reichstag in Regensburg (1656). Seine öffentlichen physikalischen Demonstartionsversuche machten ihn weithin berühmt.
Spinozismus ist die Lehre und die philosophiesche Weiterbildung der Lehre Spinozas (1632-1677). In Deutschland entwickelten besonders im 18. Jahrhundert Lessing (1729-1781), Herder (1744-1803), Goethe (1749-1832), Jacobi (1743-1819), Schleiermacher (1768-1834) u.a. einen Spinozismus, dessen „Gott-Natur“-Symbol viel weniger rationalistisch gestaltet war, als Spinozas Deus-sive natura. Ähnliche Witerbildungen in emotional-voluntaristischer Richtung erfuhr der Spinozismus bei Fichte (1762-1814), Schelling (1775-1854), Schopenhauer (1788-1860), Fechner (1801-1887), Wundt (1879-1963) u.a.. Der Spinozismus war eine der wirkungsvollsten Strömungen in der Zeit der Deutschen Bewegung. Lichtenberg (1742-1799) sagte damals: „Wenn die Welt noch eine unzählbare Zahl von Jahren steht, so wird die Universal-Religion geläuterter Spinozismus sein“, womit er vornehmlich Spinozas Pantheismus meinte. Der Pantheismus war z.B. für Schleiermacher „die heimliche Religion der Deutschen.“
Schon Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), nach ihm Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Wilhelm von Humboldt (1767-1835) vertraten die Idee des Angeboren (Nativismus). An Leibniz‘ Rationalismus, Herders Sprachzentrierung, Humboldts Neu-Idealismus (Neuhumanismus) orientierte sich offenbar Noam Chomsky (*07.12.1928), um zu der Logistik eines angeborenen Spracherwerbsmechanismus zu kommen (Language Acqusition Device). Vgl. Noam Chomsky, Syntactic Structures, 1957, Besprechung von Skinner, 1959, Aspekte der Syntaxtheorie, 1965. (Vgl. 22-24 und Sprachphilosophie).
Sprachliche Arbitrarität oder Willkürlichkeit (auch: Beliebigkeit, Konventionalität, Unmotiviertheit) ist eine grundlegende Eigenschaft der sprachlichen Zeichen, die besagt, daß zwischen dem Bezeichnenden (Lautbild, Zeichengestalt) und dem Bezeichneten eine beliebige, nicht notwendigerweise, d.h. abbildende Beziehung besteht. Je nach sprachtheoretischen Ausgangspunkt bezieht sich diese Willkürlichkeit entweder auf das Verhältnis von sprachlichen Zeichen und außersprachlicher Realität oder auf das Verhältnis von sprachlichem Zeichen und seiner Bedeutung. Der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (26.11.1857 – 22.02.1913) bezog 1916 Arbitrarität auf das Verhältnis von Lautbild (image acoustique) und Vorstellung (concept) und belegte die Beliebigkeit dieser Verbindung durch die Tatsache, daß dasselbe Objekt der Realität von Sprache zu Sprache verschieden benannt wird. Arbitrarität bedeutet nicht, daß der einzelne Sprecher nach freier Wahl bei der Konstruktion sprachlicher Ausdrücke verfahren kann: unter dem Aspekt des Spracherwerbs und der Kommunikation erfährt der Sprecher den Zusammenhang zwischen Zeichen und Bedeutung als eine gewohnheitsmäßige, obligate Verbindung. Der Arbitrarität des sprachlichen Zeichens entspricht seine prinzipielle „Nichtmotiviertheit“, die allerdings in der Wortbildung, z.B. in Zusammsetzungen wie Schreibtisch, dreizehn sowie in onomatopoetischen Ausdrücken wie kikeriki und bums relativiert ist. Man spricht in diesem Zusammenhang von „sekundärer Motiviertheit“. (Vgl. Nativismus).
Der Geniekult und die Geniezeit waren ein typischer Ausdruck dieser Phase, des Perfektionismus und der Pedanterie, und zwar in dem schon oben beschriebenen Sinne, daß eine spätjugendliche Kultur endlich erwachsen sein will, aber, um es zu sein, noch ein wenig warten muß. (Vgl. 18-20).
Urphänomen ist nach Goethe das empirische Phänomen, das jeder Mensch in der Natur erkennen kann und das durch Versuche zum wissenschaftlichen Phänomen erhoben wird, indem man es unter anderen Umständen und Bedingungen und in einer mehr oder weniger glücklichen Folge darstellt, so daß zuletzt das reine Phänomen als Resultat aller Erfahrungen und Versuche dasteht. Es ist ideal als das letzte Erkennbare, real als erkannt, symbolisch identisch mit allen Fällen, weil es alle Fälle begreift. (Vgl. Urpflanze).
Urpflanze ist ein Begriff aus der Naturbetrachtung Goethes für das Urbild (Idee, begriffliche Urgestalt), nach dem alle anderen Pflanzenarten durch Abwandlungen entstanden sein sollen. Goethe suchte die Urpflanze in der Natur als eine noch unbekannte Art, oder auch etwa in der Grundgestalt eines Blattes oder eines Stammes zu finden, während Schiller in einem Gespräch mit ihm darüber auf den platonischen Ideencharakter der Urpflanze hinwies. (Vgl. Urphänomen).
Giovanni Battista Vico (1668-1744), Geschichts- und Rechtsphilosoph, war ab 1697 Professor der Rhetorik in Neapel und ab 1734 Historiograph des Königs Karl von Neapel. Vicos Werke u.a.: De antiquissima Italorum sapienta … (1710); Von dem einen Ursprung und Ziel allen Rechtes (1720); Grundzüge einer Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, original (ital.): Principi di una scienza nuova intorno alla commune natura delle nazioni, 1725 (Prima Scienza Nuova) und 1744 (Seconda Scienza Nuova). Das von Vico entworfene „Drei-Stadien-Gesetz“, die Aufeinanderfolge der drei Zeitalter – der Götter, der Heroen, der Menschen -, hat Ähnlichkeit mit vielen später entwickelten Modellen oder Theorien, z.B. mit den von Auguste Comte (1798-1857) behaupteten drei Stadien: der Theologie, der Metaphysik, des Positiven (Positivistischen, Erfahrungswissenschaftlichen). Die von Vico behauptete „Parallele“ zwischen Völkern spiegelt sich auch in der später von Comte angenommenen „Parallele“ zwischen den „Gesellschaften“ und den „Erkenntnissen“ wider, noch mehr jedoch in der von Oswald Spengler (1880-1936) behaupteten „Parallele“ zwischen den Kulturen. (). Man könnte auch ein „Drei-Stadien-Gesetz“ annehmen (wie ich es vorschlage), das die Entwicklung zum Leben meint und etwa aus den folgenden drei Zeitaltern besteht: Universum ohne Leben (meinetwegen auch Zeitalter der Götter genannt), Leben ohne Menschen (meinetwegen auch Zeitalter der Heroen genannt) und Leben mit Menschen (das einem „Vier-Stadien-Gesetz“ folgt: Prähominisierung bzw. Vor-/Urmenschen; Hominisierung bzw. Frühmenschen; Sapientisierung bzw. Altmenschen; Historisierung bzw. Jetztmenschen). Was die Zukunft bringen wird, ist nicht gewiß, aber es wird in Zusammenhang stehen mit der Frage, ob die Menschwerdung, die ja noch nicht beendet ist, auch zukünftig in verschiedenen Kulturen (ich nenne sie „Historienkulturen“) gespalten sein wird oder nicht. (). Was Vico wohl dazu gesagt hätte? Vier Vorbilder bestimmten sein Denken: „Mit Plato erkennt er in der Idee den Maßstab. Mit Tacitus schildert er in den beschränkten Zwecken des menschlichen Eigennutzes die Wirklichkeit. Mit Bacon besinnt er sich auf die Einheit der wissenschaftlichen Welt. Mit Grotius faßt er die gesamte Philosophie und Theologie in das System eines allgemeinen Rechtes, in eine Überphilosophie, in die »Neue Wissenschaft«: d.h. Bestand der reinen Idee und geschichtlicher Wandel verbunden im Ziel der Wahrheit und begriffen in einem System.“ (R. Wisser). Vico beeinflußte auch Herder, seinen Entdecker, Goethe und überhaupt die weitere Geschichtsphilosophie. Schon um 1600, also lange vor Vico, hatte schon Bacon festgestellt, daß Kulturen altern wie Menschen und Phasen bzw. Auf-und-Ab-Stufen durchleben: „In der Jugend der Völker und Staaten blühen die Waffen und die Künste des Krieges; im reifen männlichen Alter der Völker und Staaten Künste und Wissenschaften; dann eine Zeit lang beide zusammen, Waffenkunst und Musenkünste; endlich im Greisenalter der Völker und Staaten Handel und Industrie, Luxus und Mode.“ (Francis Bacon, De dignitate et augmentis scientiarum, 1605; IV, 2, 114).
Zum Zyklus von Aufstieg und Verfall sowie ewiger Wiederkehr vgl. darum auch: Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Karl Vollgraff (1792-1863), Ernst von Lasaulx (1805-1861), Heinrich Rückert (1823-1875), Friedrich Nietzsche (1844-1900), Oswald Spengler (1880-1936) und die „Spenglerianer“ – z.B. Arnold Joseph Toynbee (1889-1975), August Winnig (1878-1956), Fritz Schachermeyr (1895-1987), Henry Kissinger (*1923), Samuel Phillips Huntington (1927-2008), Patrick Buchanan (*1938) – sowie Peter Sloterdijk (*1947).
Begriff wird in der Logik verstanden als einbfachster Denkakt im Gegensatz zu Urteil und Schluß. Urteil meint einen Akt der Bejahung oder Verneinung, in dem 2 Begriffe (Subjekt und Prädikat) in Beziehung zueinander gesetzt werden. Im Urteil bezieht das Denken einen Begriff auf einen Gegenstand und setzt diesen zugleich mitsamt seinen Prädikaten, und zwar durch die Kopula „ist“, die stets auf absolute Geltung des behaupteten Sachverhalts abzielt. Der Schluß (conclusio) ist das formale logische Verfahren, aus mehreren Urteilen (als Voraussetzungen oder Prämissen) ein einziges Urteil, die Schlußfolgerung, begrifflich abzuleiten. (Vgl. Syllogismus bei Aristoteles).
Ding an sich ist das Ding, wie es unabhängig von einem erkennenden Subjekt für sich selbst besteht, das wahre Sein, dessen Erscheinungen die empirischen Dinge sind, auf welches eben die Erscheinungen hinweisen. Wir erkennen ein Ding als Gegenstand unserer Wahrnehmung nur so, wie es uns – eingekleidet in den Ausbauungsformen von Raum und Zeit, in den Kategorien und Verstandesgesetzen – so erscheint. Wie es an sich beschaffen ist, werden wir niemals erfahren. (Frei nach: Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781).
Beispiel „Freiheit“: der menschliche Wille als Ding, das in den Handlungen erscheint, ist nicht frei. Was erscheint, ist immer notwendige Wirkung von vorlaufenden Ursachen im Sinne von Naturkausalität. (Vgl. „Phainomenon“). Aber als Ding an sich könnte der Wille frei, d.h. nicht der Naturkausalität unterworfen sein. (Vgl. „Noumenon“).
Ethik meint hier die Sittenlehre als praktische Philosophie, die nach einer Antwort sucht auf die Frage: was sollen wir tun? Beide Kulturen – Antike und Abendland – suchten die Antwort zunächst im Selbst bzw. in der Selbsterkenntnis. Aber dieser Subjektivismus hatte in der Antike wegen des Seelenbildes (und Ursymbols) eine andere, entgegengesetzte, Richtung als im Abendland. Die Antike suchte auch ethisch die Antwort am Außen des Körpers (in der begrenzten Äußerung), weil es für sie kein Geheimnis im Innen geben durfte; das Abendland suchte im Innen des faustischen Willens und kategorischen Imperativs (im Raum der unendlichen Verinnerlichung), weil es hier nur Geheimnisse gab. In beiden Fällen stelle man sich in den Dienst einer sozialanthropologischen Ethik. Ein Angebot, das man auch Hilfe zur Selbsthilfe (Selbsterkenntnis) nennen könnte. Wie kann ich dienen? ist eine typische Frage der dienerischen Phase (16-18). (Vgl. auch: Kant).
Der kategorische Imperativ oder Imperativ der Sittlichkeit wurde von Kant folgendermaßen formuliert: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Ob ein Mensch als Persönlichkeit das prinzipiell wollen kann oder nicht auch (oder vielleicht eher) etwas Eigenes in seinem Verhalten liegt, sollten später die Kritikpunkte an Kants Imperativ sein, z.B. von N. Hartmann (1882-1950; vgl. 20-22).
Immanuel Kant (1724-1804), Werke ():
1) 1747-1758: Dominanz der Naturwissenschaften:

– Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1747)
– Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse einige
Veränderungen seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe (1754)
– Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755)

– Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens (1756)
– Von den Ursachen der Erderschütterungen (1756)
– Entwurf und Ankündigung eines Collegii über die physische Geographie
nebst … Betrachtung über die Frage, ob die Westwinde in unseren Gegenden
darum feucht sind, weil sie über ein großes Meer streichen (1757)
– Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe (1758)

2) 1758-1781: Von der Wollfschen zur kritischen Metaphysik:
– Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus (1759)
– Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren (1762)
– Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763)
– Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763)
– Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764)
– Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764)
– Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764)
– Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766)
– Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raume (1768)
– Über Form und Grundlagen der Wahrnehmungs- und der Vernunftwelt (1770)
– De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770)
– Rezension der Schrift von Moscati über den Unterschied der Struktur der Tiere und Menschen (1771)
– Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775)

3) 1781-1793: Kants kritische Philosophie:
– Kritik der reinen Vernunft (1781)
– Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783)
– Über Schulz‘ Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre (1783)
– Ideen zur einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784)
– Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784)
– Rezension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1785)
– Über die Bestimmung des Begriffes einer Menschenrasse (1785)
– Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
– Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786)
– Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786)
– Über Hufelands Grundsatz des Naturrechts (1786)
– Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786)
– Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788)
– Kritik der praktischen Vernunft (1788)
– Kritik der Urteilskraft (1790)
– Über Schwärmerei und die Mittel dagegen (1790)
– Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche der Theodizee (1791)
– Über die von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisaufgabe:
Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz‘ und Wolffs Zeiten gemacht hat? (1791)
– Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793)
– Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793)
4) 1793-1804: Kants nachkritische Phase (Bindeglied zwischen Kants Kritizismus [] und Deutschem Idealismus)
– Über Philosophie überhaupt (1794)
– Etwas über den Einfluß des Mondes auf die Witterung (1794)
– Das Ende aller Dinge (1794)
– Zum ewigen Frieden (1795)
– Zu Sömmering über das Organ der Seele (1796)
– Ausgleichung eines auf Mißverstand beruhenden mathematischen Streits (1796)
– Metaphysik der Sitten (1797):
I) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre
II) Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre
– Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen (1797)
– Der Streit der Fakultäten (1798)
– Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798)
– Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre (1799)
u.a.
Kants 3 Kritiken: Kritik der reinen Vernunft (1781), Kritik der praktischen Vernunft (1788), Kritik der Urteilskraft (1790).
Deutscher Idealismus meint die Entwicklung der deutschen Philosophie von Kant (um 1780) bis Hegel (um 1830), aber auch die philosophische Grundhaltung der deutschen Romantik (Jenaer Frühromantik-Kreis um die Brüder Schlegel und Heidelberger Romantik um Brentano, Görres, Grimm u.a.). Bei Schiller strahlte z.B. der Menschenbildungs-Idealismus ganz besonders – wie ein Stern. Schelling z.B. stand auf dem Boden des Deutschen Idealismus, war mit Fichte und Hegel zusammen dessen Hauptvertreter und bildete den Übergang des Idealismus zur Romantik. Er wurde wegen seiner steten Wandlung auch der Proteus der Philosophie genannt. Im Anschluß an Kant und Fichte entwarf Schelling eine spekulative Naturphilosophie der Hierarchie der Naturkräfte (Potenzen), die schließlich in eine Identitätsphilosophie mündete: Die Gegensätze von Subjekt und Objekt, von Realem und Idealem, Natur und Geist lösen sich für ihn im Absoluten auf als Identität von Idealem und Realem. Nach Schelling ist dieses Absolute unmittelbar erfaßbar durch die intellektuelle Anschauung und in der Kunst. (Vgl. Tabelle [Idealismus]).
Aufheben bedeutet in der Dialektik Hegels, der Mehrdeutigkeit des Wortes entsprechend, sowohl emporheben als auch bewahren, als auch vernichten (negieren). Das in der Thesis Gesetzte wird in der Antithesis aufgehoben, d.h. negiert, und dann durch Negation der Negation von neuem gesetzt, jetzt aber auf einem erhöhten, über den Ausgangspunkt der dialektischen Bewegung emporgehobenen Niveau. Daraus ergibt sich die Synthesis, die die Thesis in erhöhter Form in sich bewahrt, d.h. aufhebt. (Vgl. Dialektik).
Carl Friedrich Gauß (1777-1855) veröffentlichte seine nicht-euklidischen Geometrien nicht, weil er das Geschrei der denkfaulen, schwerfälligen und unkultivierten Menschen fürchtete. Er nannte sie Böoter, weil die Einwohner dieser antiken Landschaft (Hauptstadt: Theben) von den Einwohnern anderer Griechenstädte als denkfaul und schwerfällig beschrieben worden waren. Gauß meinte zu Recht, daß man die Menschen nicht wirklich würde überzeugen können. Die erste der nichteuklidischen Geometrien entdeckte Gauß nach Vollendung seines Hauptwerkes Disquisitiones arithmeticae (1801), durch deren in sich widerspruchslose Existenz bewiesen wurde, daß es mehrere streng mathematische Arten einer dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt, die sämtlich a priori gewiß sind, ohne daß es möglich wäre, eine von ihnen als die eigentliche Form der Anschauung herauszuheben. (Vgl. 18-20).
Die abendländische Philosophie sei eine Reihe von Fußnoten zu Platon, behauptete der Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead (1861-1947), einer der wichtigsten Vertreter des Neurealismus, auf den er eine kritische Naturphilosophie gründete, die er später durch eine konstruktive Metaphysik ergänzte.
Kant und Platon (vgl. Fußnoten) sind, wie Abendland und Antike, Gegensätze und nur auf analoge Weise zu vergleichen, denn auch antike abendländische Philosophie sind Gegensätze. Antike Philosophie ähnelte immer auch einem geschlossenen Einzelkörper (z.B. einer Kugel = sfaira, Sphäre), aber abendländische Philosophie eher einem offenen Unendlichkeitsraum. In der Antike schloß man sich einem philosophischen System auch mit dem ganzen Körper an; im Abendland schließt man sich einem philosophischen System allenfalls geistig an, ansonsten schließt man sich lieber von ihm aus: jeder verliert sich mit seiner eigenen Philosophie im Philosophie-Universum. Antike Philosophie war „Wissenschaft“ im Sinne einer eher statischen Liebe zur Weisheit oder Epistemologie (antike Wissenschaftslehre). Eine Wissenschaft, wie sie das Abendland kennt, spielte in der Antike kaum eine Rolle. Abendländische Wissenschaft ist „Philosophie“ im Sinne einer eher dynamischen Empiriologie oder Historiotechnik (abendländische Wissenskunst). Eine Philosophie, wie sie die Antike kannte, spielt im Abendland kaum eine Rolle. (). Aus diesen Gründen kann man Platon und Kant nicht gegeneinander aufrechnen. Die Philosophie ist eine antike Größe (wie der Name schon verrät) und deshalb von anderen Kulturen so kaum erreichbar. Die technologische Wissenschaft ist eine abendländische Größe und deshalb von anderen Kulturen so kaum erreichbar. Für das Abendland scheint folgender Satz Gültigkeit zu haben: „Was aus zwingenden Gründen von jedermann anerkannt wird, das ist damit eine wissenschaftliche Erkenntnis geworden, ist nicht mehr Philosophie, sondern bezieht sich auf ein besonderes Gebiet des Erkennens.“ (Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, 1950).
Zynismus (heute): Vgl. Sloterdijk, „Kritik der zynischen Vernunft“, 1983. Sloterdijk behandelt 6 Kardinalzynismen – militärisch, staatlich (vormachtlich), sexuell, medizinisch, religiös, wissenschaftlich – und 2 Sekundärzynismen – informativ (sensationsjournalistisch), tauschartig (kapitalgesellschaftlich). Für alle 8 Zynismen gibt es nach Sloterdijk auch korrespondierende „Kynismen“. Die Religion könne z.B. zynisch als Herrschaftsinstrument mißbraucht werden und zugleich kynisches Medium der Emanzipation sein.
Römisch-katholische Interpretationen attestieren dem Abendland zumeist, daß in ihm die Dominanz des Christlichen überwiege. Diese Meinung teilen vor allem kirchliche und vornehmlich christlich orientierte Vertreter. Theodor Heuss (31.01.1884 – 12.12.1963) soll einmal gesagt haben, daß Europa von 3 Hügeln ausgegangen sei: von der Akropolis, von Golgatha und vom Kapitol. Diese Sichtweise würde eher, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt, auf eine Dominanz der Antike verweisen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß aus einem antik-apollinischen Einzelkörper und einer magisch-seelengeistigen Welthöhle ein abendländisch-faustischer Unendlichkeitsraum entstehen kann, dann muß unbedingt ein dritter Faktor hinzukommen, den ich die Kulturpersönlichkeit nenne: das Germanentum. Ohne das Germanentum versteht man die Willensdynamik eines Faust nicht, und ohne das germanische Element ist die Raumtiefe, aber auch die in jeder Hinsicht sowohl ins Mikrokosmische als auch ins Makrokosmische gehende Unendlichkeit nicht als distinktives Merkmal der abendländischen Kultur zu identifizieren. Diese Merkmale treffen auf keinen antiken Menschen zu, aber insbesondere auf die Abendländer, die germanischen Ursprungs sind. Scharfe Gegensätze, wie die zwischen Antike und Abendland, sind zwar unbedingt ein Indiz für Verwandtschaft, weil beide Kulturen so auffallend gegensätzlich sind: aktiv und reaktiv. Offenbar hat die Antike auf das Abendland aber nicht persönlichkeitsstiftend gewirkt und konnte auch erzieherisch nicht tätig werden, weil sie so früh verstarb. Die Biogenetik und Sozialisation geraten nicht selten so weit auseinander, wenn ein Elternteil früh verstirbt, d.h. nicht wirklich erlebt wird. Dem Abendland scheint es auch so ergangen zu sein. Die Auseinandersetzungen mit der magischen Mutter hat beim Kind jedoch zu einer enormen, fast schon verdächtigen Erinnerung bis hin zur Vergötterung des antiken Vaters Beitrag geleistet. Aber liegt deshalb immer auch schon ein Vaterkomplex vor? Es bleibt zunächst festzuhalten, daß auch kulturell zwischen Genetik und Sozialisation, zwischen Anlage und Umwelt, zwischen angeboren und anerzogen ganz klar unterschieden werden muß. Dazwischen bewegt sich die Persönlichkeit. Man kann sie nicht isolieren, folglich auch nicht isoliert betrachten, aber man kann sie beschreiben, und ich beschreibe die Kulturpersönlichkeit des Abendlandes als germanisch, weil dieser Raum zwischen Anlage und Umwelt für die Kulturpersönlichkeit zwanghaft unendlich werden muß, wenn sie die verlorene Vaterkultur zurückholen will. Der unendliche Raum und Wille sind auch deshalb Ursymbol und Urwort des Abendlandes. Wenn der Mensch eine Grundlage von etwa 60 Billionen Zellen hat und einer Umwelt von praktisch unendlicher Vielfalt ausgesetzt ist, so gilt für eine Kultur, daß sie Völker, Staaten oder Nationen zur Grundlage hat und einer Umwelt von unendlichen Möglichkeiten, aber auch gähnender Leere gegenübersteht. Mit dem Germanentum fiel eine faustische Entscheidung zugunsten der unendlichen Möglichkeiten. Die Eltern des Abendlandes waren also antik-magisch, ihre gentragenden Chromosomen römisch-christlich, aber die Kontrollgene germanisch. (Vgl. 22-24).

Urdenker Vordenker Frühdenker Hochdenker Spätdenker Nachdenker Enddenker

Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

Früh-Denker

– Frühdenker sind Denker „kindlicher“ Art –
Wenn die ältere, die elterliche Theologie internalisiert ist, dann wird diese „eigene“ Theologie auch sogleich begleitet; sie führt zur „eigenen“ Philosophie. Bevor die Frühdenker beginnen, „sich zu denken“, müssen allerdings einige kultur-familiäre Rahmenbedingungen erfüllt sein. Was innerhalb einer Kultur auf geistig-seelischer Ebene die Frühdenker sind, das sind auf politisch-ökonomischer Ebene die Frühkämpfer. Für die frühe Antike übernahmen die Mykener, die auch schon bei den Vorkämpfern besonders wichtig gewesen waren, die Rolle der Frühkämpfer und die Rolle der Frühdenker insofern, als daß sie fähig waren, im Zusammenhang mit der nun entstehenden Zeus-Götterwelt, ihre Mythen weiterzugeben, die als Vorläufer der späteren homerischen Epen auch schon bei den Vordenkern besonders wichtig gewesen waren. (). Sie entwickelten die Zeus-Götterwelt von einer Feudal-Theologie über eine Monopol-Theologie zu einer Adels-Theologie. Letztere wurde z.B. von Homer (8. Jh. v. Chr.) beschrieben, aber nicht nur von ihm.
Die Geschichte der antiken Philosophie hat sehr viel zu tun mit der Geschichte der Alphabetschrift, ist fast sogar identisch mit ihr, wenn man von der Alphabetschrift-mit-Vokalen (!), der griechischen Schrift ausgeht. Zwar entwickelten die Phöniker (Phönizier) die erste Alphabetschrift – vollendet war sie sie gegen Ende des 14. Jahrhunderts v. Chr.-, doch diese erste Alphabetschrift bestand nur aus Konsonanten. Vielleicht noch im 14., aber wohl eher im 13. Jahrhundert v. Chr., als auch die Dorische Wanderung begann, übernahmen die Griechen die phönikische Schrift und erweiterten sie, denn die Griechen führten erstmals Vokale in das Alphabet ein, weil für sie einige der phönikischen Konsonanten überflüssig waren. Diese Redundanz war es also, die es den Griechen ermöglichte, das konsonantischeische Alphabet um Vokale zu erweitern, indem sie die überflüssigen Konsonanten nicht einfach eliminierten, sondern zu Vokalen erklärten und dadurch ein revoltionäres Alphabet einführten. Das griechische Alphabet ermöglichte durch die eingeführten Vokale erstmals eine lautgetreue Wiedergabe der Silben, Wörter, Sätze, des Textes. Das ist die griechische Schrift! Die griechische Schrift hatte enorme Auswirkungen, denn „allein durch das Ereignis der griechischen Schrift konnte sich die … Leser-Subjektivität entwickeln, deren starkes Merkmal in der Fähigkeit zum »Umgang mit Texten«, das heißt zum situationsunabhängigen Sinnverstehen, bestand. …. Dank aufgeschriebener Texte emanzipiert sich die Intelligenz vom Zwang des In-situ-Aufhalts () in mehr oder weniger verstehbaren Umständen. Das hat zur Konsequenz: Um eine Situation kognitiv zu bewältigen, muß ich nicht länger als ihr Teilnehmer in sie eintauchen und mit ihr in gewisser Weise verschmelzen, es reicht aus, ihre Beschreibung zu lesen – dabei steht es mir frei, zu bleiben, wo ich bin, und zu assoziieren, was ich will.“ (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 395). Die Schriftgeschichte ist in etwa identisch mit der Geschichte der Historiographie () und kann auch als eine Geschichte der Historienkultur beschrieben werden, doch muß berücksicht werden, daß diese eine Historienkultur aus mehreren Historienkulturen () besteht, und genau mitten in dieser Geschichte finden wir die antik-apollinische Kultur sowie das erste Alphabet und das revolutionäre Alphabet, das wir die griechische Schrift nennen. Dieser Einschnitt in die Schriftgeschichte war so gewaltig, daß man sogar sagen kann, er war für die von ihm betroffenen Menschen sogar ein Einschnitt in deren „In-der-Welt-Sein“ (), denn mit und nach diesem Einschnitt spaltete sich „das In-der-Welt-Sein explizit in erlebte und in vorgestellte Situationen – besser gesagt, es gelingt den vorgestellten Situationen dank ihrer Verschriftlichung, das Monopol des Verstehens-durch-in-der-Situation-Sein zu brechen. Mit der griechischen Schrift beginnt das Abenteuer der Dekontextuierung von Sinn.“ (Peter Sloterdijk, ebd., S. 395-396). Es geht hier also um den Aufstand des Texts gegen den Kontext, das bedeutet: die Losreißung des Sinns von den gelebten Situationen. Die griechische Schrift emanzipierte mit der ständigen Einübung des dekontextuierenden Denkens – üblicherweise als Lesen bezeichnet – den Intellekt vom Zwang zur Teilhabe an realen Konstellationen. Die griechische Schrift erzeugte erstmals den „rein theoretischen Menschen“, der später Philosoph heißen sollte.

– Delphi ein antikes Konzil? –
Zwei wichtige Einrichtung in der Antike, die auch schon in der Zeit der Vordenker eine wichtige Rolle gespielt hatten, waren die Mysterien und die Orakel. Das Orakel prophezeite weniger als es Rat gab und anordnete; es verkündete nicht so sehr, was geschehen wird, als was getan werden soll. Auch theoretische Belehrung bot es nur selten. Man befragte es in Kulturangelegenheiten, bei Städtegründungen, in Kriegen, bei Hungersnot, Seuchen, Erdbeben und anderen öffentlichen Unglücksfällen; aber auch die Alltagssorgen wurden ihm vorgetragen: Ehe, Adoption, Geschäfte, Landbau, Liebeskummer, Reisen u.s.w.. Auch viele törichte Fragen kamen natürlich vor: ob das erwartete Kind nicht von einem anderen Mann sei, wo man nach Schätzen graben solle, wer die Matratzen gestohlen habe, wo Homer geboren sei u.s.w.. Delphi (Delfoi, Delphoi) war Kolonialamt, indem es für die Ortswahl und Anlage der neuen Niederlassungen Anweisungen gab, meist ganz vorzügliche, auch eine Art Völkergerichtshof, ebenso parteiisch und ohnmächtig, wie alle späteren, und in religiösen Fragen vom Range eines Konzils. (Vgl. Konziliarismus). Doch es erteilte niemals Bescheide in Dogmensachen, denn dies alles war Sache eines Priesterkollegiums, die Pythia aber hat auch prophezeit: von den Ausdünstungen der dampfenden Erdspalte berauscht, verkündete sie mit „mit rasendem Munde“, was der Gott aus ihr sprach. Sonst weissagte man aus den Träumen, zumal der Tempelschläfer, aus der Tierleber, dem Vogelflug, dem Blitz, dem Schwitzen der Götterbilder, dem Wiehern der Pferde, dem Niesen, das meist ein schlechtes Omen war, dem Werfen der Lossteinchen; aber erst in der Spätzeit, von Chaldäern belehrt, aus den Sternen. Von der Rolle, die derlei Vorbedeutungen in der Ökonomie des antik-griechischen Lebens gespielt hahen, können wir uns heute kaum mehr einen Begriff machen.

In der Antike gab es keinen richtigen Klerus.
Der Priester bediente das Heiligtum, opferte für die Gläubigen,
verwaltete die Tempeleinkünfte und legte den Willen der Gottheit aus.
Er war ein gewöhnlicher Staatsbeamter oder auch ein Privatmann.

Die griechischen Dionysiker glaubten inbrünstig an die Wiederkehr der Seele, allerdings in Form einer Seelenwanderungslehre. Rauschtränke erhöhten die Ekstase, bis schließlich die Psyche aus dem Leibe trat und sich mit dem Gott vereinigte, dem thrakischen Fremdling Dionysos. Diese epidemischen Psychosen wiederholten sich mit großer Regelmäßigkeit alle zwei Jahre: an den trieterischen Dionysien, mitten im Winter. Verwandt mit der Religion der Dionysiker war die der Orphiker. Sie leitete sich von Orpheus her, der ebenfalls ein Thraker war. Von der Religion der Olympier unterschied sich die der Orphiker vor allem dadurch, daß diese eine feste Lehre entwickelt hatte, während jene im wesentlichen immer nur Kult und Mythologie blieb. Dennoch ging die olympische Religion auf eine Dogmatik zurück. Danach war die Seele zur Buße für eine früher begangene Schuld in den Kerker des Körpers gebannt, das Leben auf Erden der Tod der Seele. Vom Gläubigen wurde nicht Abkehr von diesen oder jenen irdischen Verfehlungen gefordert, sondern Absage an das irdische Dasein selbst: nur so konnte er dem tödlichen Kreislauf der Geburten entfliehen. Die Taten des abgelaufenen Lebens werden in der nächsten Reinkarnation vergolten. War die Seele völlig rein und aller Flecken ledig geworden, so würde sie eines Tages frei werden und nie mehr den Tod erleiden, in ewiger Seligkeit wie der Gott lebend, von dem sie stammte. Der Weg zur Läuterung ging durch Askese, sittlichen Wandel, Empfang der Mysterienweihen. Fleischgenuß war Brudermord. Dies alles mutet doch fast indisch an, oder? Das ganze Leben war von Zeichen und Winken förmlich umstellt und jeder Schritt hatte einen zweiten Sinn. Es gibt doch zu denken, daß so ein kluges und auch so realistisches Volk sein ganzes Leben lang im trüben Schlamm des Aberglaubens watete und auch seine erleuchtetsten Köpfe nichts dagegen vorzubringen hatten.
Wenn die Gestalten der Träume wirklich ein merkwürdiges Wissen um die Zukunft besitzen,“historisch transparent“ sind und nie etwas Falsches sagen, d.h. etwas, das nicht in ihre Psychologie paßt, dann ist das schon sehr sonderbar, da doch nicht jeder Mensch ein großer Dichter ist und selbst bei diesem gelegentlich Verzeichnungen vorkommen. Die Träume sind also allem Anschein nicht von uns. Ferner scheinen manche Personen die als „Psychoskopie“ bezeichnete Gabe zu besitzen, sowohl Menschen wie Gegenständen ihre Biographie abzulesen. Man muß wohl dabei von der Annahme ausgehen, daß alle Dinge ihre Geschichte permanent in sich tragen, sowohl ihre abgelaufene wie die erst auf sie zu rollende, da alles eine einzige ewige Gegenwart zu sein scheint, indem die Vergangenheit stehenbleibt und die Zukunft schon da ist, nur nicht für uns, und daß unsere Unfähigkeit, dies zu erblicken, nur von unserer Vergeßlichkeit kommt: in beiden Fällen, auch bei der Zukunft (!). Die antiken Menschen hielten dies für selbstverständlich (!). Daß es unter ihnen auch sehr viel krassen und kindischen Aberglauben gab, spricht ebenso wenig gegen ihre Theurgie wie die Tatsache, daß sie sehr viel rohe Tonpuppen besaßen, gegen ihre bildende Kunst. Zum Verkehr mit der Gottheit bedurfte es keines Vermittlers. Der König opferte für die Gemeinde, der Hausvater für die Familie. Das Wichtigste blieb überhaupt zu allen Zeiten der Hauskult. Die antike Religion muß man daher immer in Klammern und davor die Begriffe Mythologie und Fatalistik setzen, während man die Theologie eher als Theurgie beschreiben sollte. Am meisten verbittert wurden antike Menschen, wenn der Sterbliche sich vermaß, es den Göttern gleichzutun, und ihre weitaus stärkste Triebfeder war der Neid: man kann daraus schleißen, wie neidisch die griechisch-antiken Menschen selber waren. Das Grundverhältnis zu den Götterrn war daher das Mißtrauen, und wenn man ihren Geboten gehorchte, so tat man es nicht aus Ergebenheit, sondern aus Klugheit, um sie nicht zu reizen. Frevel war, wenn man sie beleidigte; anderes Unrecht erregte nicht ihren Unwillen. Prozesse wegen „Beleidigung der Götter“ waren ziemlich häufig. Aber man fragt sich natürlich gleich, was den an diesen Göttern zu beleidigen war. Mitleid, und oft ein sehr unangebrachtes, hatten sie nur mit ihren Lieblingen; sonst waren sie ganz erbarmungslos. Auch untereinander liebten sie sich nicht. In der Ilias (Homer) entspricht der Zustand im Himmel genau dem der menschlichen Gesellschaft: Zeus verhielt sich wie Agamemnon, die Götter wie bloße Titularvasallen, stets zur Renitenz bereit. Die Heimat der Götter, der Olymp, war eine Akropolis, und seine Bewohner Ritter und Rosse, beide gleich göttlich, gleich unvergänglich, von Nektar und Ambrosia genährt. In der homerischen „Theologie“ ist die Götterwelt eine gesteigerte Wiederholung der irdischen: verklärte Animalität und Physik. Die Olympier unterscheiden sich von den Erdenbewohnern lediglich dadurch, daß sie unsterblich sind, also in ihnen die menschliche Unvollkommenheit verewigt ist und daß kein Alter, keine Schwäche, kein Kummer, keine Krankheit sie berührt. Und die Orphik mit ihren Ansätzen zu einer wirklichen Theologie war niemals so etwas wie Nationalreligion. Die Religion war nur Kultus und nur dessen Verletzung Gottlosigkeit, „Abesie“. Man durfte denken, reden, schreiben, was man wollte, wenn man sich nur der „Kirche“ (= Polis), ihrer Macht und ihren heiligen Bräuchen unterwarf. Diese Rolle spielte eindeutig die Polis.
Schließlich war diese ganze Konzeption von finsterem, fühlosem Schicksal, wahllos würfelnder Tyche, eiteln und jähzornigen Göttern gerade wegen ihrer Irrationalität dazu da, damit irgend jemand die Schuld habe, wenn der Mensch sich nicht zu sienen Handlungen bekennen wollte, den Geburten seiner Leidenschaft und seiner Torheit. Die Gottheit war nicht das Lamm, das die Erbschuld der Menschen trägt, sondern der Bock, dem die Sünde aufgeladen wird. Unter einem sittlichen Gott wäre der antike Mensch – v.a. der Grieche – zusammengebrochen. Bei Homer war bekannlich alles göttlich. Kein Wunder, war ja das Göttliche nichts anderes als das Menschliche. Die Götter waren nur unsterblich, mehr nicht. Die Griechen waren Lehrer der Humanität, aber in einem ganz anderen Sinne, als der abendländische Humanismus und Neuhumanismus es meinten, nämlich der „Nurmenschlichkeit“, indem sie alles in rein anthropomorphen Formen und Dimensionen sahen. Deismus oder Atheismus ist zwar inhltlich nicht dasselbe wie Religion oder Theologie aber eben auch nur die andere Seite der Glaubensmedaille. Somit gab es also in der Antike, tiefenkulturell gesehen, die gleiche religiös-theologisch-philosophische Entwicklung wie später im Abendland, aber sie war inhaltlich bzw. referenzsemantisch genau die Gegenseite dazu.
Die antike Rechtsprechung lag in dieser „Frühdenkerzeit“ in den Händen der Geronten, älterer Adelspersonen, und beschränkte sich im wesentlichen auf schiedsgerichtliche Entscheidungen in Privatsachen. In allem übrigen war man auf Selbsthilfe und den Schutz der Sippe angewiesen. Die Reflexion über Recht und Unrecht spielte aber in dieser aristokratischen Welt überhaupt noch keine entscheidende Rolle. Die Helden der aristokratischen Welt waren sehr ritterlich, sehr tapfer und bisweilen auch sehr edelmütig, aber noch vollkommen jenseits von Gut und Böse. Die Zeit der Mykener hat sich Homer wohl primitiver vorgestellt, als sie in Wirklichkeit war. Doch auch der Dichter selber hielt sich ethischen Erwägungen im ganzen fern; er wollte ein großes Gemälde menschlicher Leidenschaften entrollen, nicht mehr. Aber die Welt ist nicht bloß zum Schauen da. Deshalb bildet Hesiod (um 700 v. Chr.) die notwendige Ergänzung zu Homer, und er wurde auch von den Griechen immer mit ihm zusammen genannt, obgleich er sich mit ihm als künstlerische Potenz gar nicht vergleichen läßt. Ein schwerlebiger grübler, von der dumpfen Luft Boiotiens genährt, war er das Typische Pendant zu dem amoralischen Sänger der ionischen Weltlust. Für Hesiod war Zeus das Recht, und alle Tugend lag für ihn in der Gerechtigkeit. Dies war der neue Gedanke, den er mit Inbrunst verkündete. Und das Leben des Menschen sei Arbeit, denn vor die Tüchtigkeit hätten die Götter den Schweiß gesetzt – dies lehrte er in seinem Gedicht „Werke und Tage“, zu dem ihm sein Bruder Perses den unfreiwilligen Anlaß gab, als er ein Faulenzerleben führte und ihn um das väterliche Erbe zu bringen suchte. So wurde der Gauner und Taugenichts Perses unsterblich. Hesiodos aber erwies sich darin als echter Dichter, daß seine Privatangelegenheit sich in seinem Hirn und Herzen sogleich zur Sache der Menschheit erweiterte und daß erlittene Unbill ihm zur Quelle der Weisheit wurde.
Der homerische Mensch wandelte schon hienieden in olympischem Glanz, der hesiodische diente zeitlebens den stillen und dunklen, aber nicht minder unvergänglichen Mächten der Erde. Schon hier fanden ewige (antike) Gegensätze ihre reine und starke Ausprägung: Pathos und Ethos, Heldentod und Pflichtenleben, Ritterstolz und Bürgerehre, Waffenglück und Arbeitssegen; Kunstdichtung und Volkspoesie, gestaltende Objektivität und lehrende Subjektivität. Die heiligen Schriften von Homer und Hesiod waren profane Gedichte, und dies ist sehr bezeichnend für den Charakter ihres Glaubens, im guten wie im schlechten Sinne. Die antike Religion war nicht minder ein Kunstwerk der Plastik als die griechische Sprache und das griechische Epos, und wie eine Genietat war sie plötzlich da. (Vgl. Ursymbol und Seelenbild der Antike). Aus Homer und Hesiod schöpfte die Antike seit ihrem „Übergang zur Neuzeit“ ihre theologischen Vorstellungen und das Abendland seine theologischen Vorstellungen seit seinem „Übergang zur Neuzeit“ aus Ockham und Kues. (Vgl. Ursymbol und Seelenbild des Abendlandes).

Frühes Frühdenken
– Das Reich ein abendländisches Delphi ? –
Karl der Große (747-814) förderte durch starke Zentralgewalt Kunst, Wissenschaft und Recht im Reich der Franken. (). Die Karolingische Renaissance steht auch für die Entwicklung, die aus dem asketisch-eremitischen Mönchtum eine Bildungsanstalt der Wissenschaften machte und, auf Anordnung Karls d. Gr., ein Träger klassisch-antiker und christlich-antiker Literaturtradition wurde. Die Palastschule wurde Vorbild für die im ganzen Frankenreich entstehenden Dom- und Klosterschulen. Die Bemühungen Karls d. Gr. um eine bessere Ausbildung der Geistlichen und eine Erneuerung des monastischen Lebens trugen entscheidend zum Aufschwung der Wissenschaft, der Kunstpflege und der allgemeinen Bildung bei. Die noch junge abendländische Kultur war auch in geistiger und künstlerischer Hinsicht ganz auf die elterlichen Kulturen fixiert, aber bereits eine von einem eigenen Wesen beseelte Kultur, also durchaus selbständig, d.h. steh- und verstehvermögend hinsichtlich ihrer „Eigenart“.
Die im 8. Jh. selbständige, d.h. steh und verstehvermögend gewordene abendländische Scholastik war deshalb eine Frühscholastik, weil sie sich als 2. Scholastik von der noch kirchenväterlichen 1. Scholastik (Ur-Scholastik) und durch den Franken-Papst-Pakt vom Osten (Byzanz) trennte, so daß sie schon bald auf ihre „eigenen“ Probleme stoßen konnte. Vorherrschend blieb Augustinus‘ neuplatonische Richtung der christlichen Philosophie (Augustinismus). Weil aber die Scholastik das von den griechischen Denkern überkommene Erbe durch Ordensgeistliche – wie z.B. die Frühscholastiker Alkuin (735-804) und Hrabanus Maurus aus Mainz (784-856) – verbreitete (später auch durch die Universitäten) und den scholastischen Gelehrten dieses Erbe nicht in seiner ursprünglichen Gestalt vorlag, war die Frühscholastik fast ganz auf die Werke des Boethius angewiesen, der von Aristoteles die Kategorien und die Schrift Peri hermeneias (Über die Fähigkeit, sich auszudrücken), von Euklid die schriftliche Stoicheia (Anfangsgründe, nämlich der Geometrie) ins Lateinische übersetzt hatte. Ein anderes Problem war, daß der irische Mönch Johannes Scotus Eriugena (800-877), eine führende Persönlichkeit in der Frühscholastik, der Kirche mißfiel, weil er sich weigerte, das Denken dem Glauben unterzuordnen. Notker der Deutsche (um 950-1022) philosophierte als erster deutscher Denker in deutscher Sprache und übersertzte u.a. einige philosophische Werke des Aristoteles, die zuvor von Boethius ins Lateinische übersetzt worden waren, sowie Boethius selbst und Martianus Capella aus dem Lateinischen ins Deutsche. (Vgl. Althochdeutsch). Notker der Deutsche verfaßte auch seine sich stark an antike und karolingische Vorbilder anlehnenden, aber eben „eigenen“ Abhandlungen – u.a. über die Rhetorik, über die Musik und über die Logik sowie über die Schlüsse – in deutscher Sprache. (Vgl. Althochdeutsch). Eine spätere führende Persönlichkeit der Frühscholastik, Anselm von Canterbury (1033-1109), forderte – im Gegensatz zum eben erwähnten Johannes Scotus Eriugena – die unbedingte Unterordnung des Denkens unter den Glauben. Die beiden zum Teil heftig umstrittenen inhaltlichen Hauptprobleme der Frühscholastik waren das Problem der Dialektik und das der Universalien. In der Frage der Dialektik, ob die Vernunft (ratio) über die Wahrheit zu entscheiden habe (z..B. Berengar von Tours, *um 1000) oder die kirchliche Autorität (z.B. Petrus Damiani, 1007-1072), fand Anselm von Canterbury mit seiner Formel Credo ut intelligam (Ich glaube, damit ich verstehe) eine vermittelnde Lösung. Im Universalienstreit, z.B. in der Frage, ob Allgemeinbegriffe nur „Laute“ (flatus vocis) oder physische Dinge seien, setzte sich schließlich ein gemäßigter Realismus durch, der den Begriffen insofern Realität zuerkannte, als sie Gottes Gedanken seien, nach denen die Dinge geschaffen seien. Jedenfalls blieb Augustinus‘ neuplatonische Richtung der christlichen Philosophie (Augustinismus) im Abendland vorherrschend, bis sie im 13. Jh. von Albert dem Deutschen (dem Großen). und Thomas von Aquino durch den christlichen Aristotelimus ersetzt werden sollte. ().
Ererbt von den Kirchenvätern, manchmal gnostisch gefärbt, wurde die Mystik auch weiterhin vor allem in den Klöstern gepflegt, wobei die Schriften des Pseudo-Dionysios aus dem 5. oder 6. Jh. besonders einflußreich blieben. Dieser Einfluß sollte sogar über die Hochmystik hinaus bis ins 14. Jh., also bis zur Spätmystik anhalten.

Hohes Frühdenken
Die Scholastik strebte, wie die Kirche und das Papsttum selbst, seit der salisch-staufischen Zeit, der romanischen Phase dem Höhepunkt, der Hochscholastik zu. Der kirchlich-scholastische Realismus kam mit seinem Rationalismus zuletzt zu derselben Erkenntnis wie das Papsttum: Theologie und Wissenschaft oder Philosophie sind genauso wenig eine Universaleinheit wie Kirche und Staat oder Welt. Schon Anselm von Canterbury (1033-1109) hatte ja im Universalienstreit nach rationalistischen Lösungen gesucht, und Abaelard (1079-1142), der größte französische Scholastiker, gab seiner Hauptschrift den Titel der delphischen Weisung „ERKENNE-DICH-SELBST“. Er löste das auf Aristoteles zurückgehende Problem der Universalien, indem er dem extremen Nominalismus seines Scholastik-Lehrers Roscelinus (um 1050-1125), der nur den empirisch wahrnembaren Einzeldingen Wirklichkeit zusprach, zum Konzeptualismus milderte. Abaelard wollte Glauben und Wissen versöhnen und vertrat die scholastische Methode besonders durch seine Schrift „Sic et non“ (Ja und Nein). Diese scholastische Methode war dadurch gekennzeichnet, daß bei jeder Frage zuerst die Autoritäten dafür (ja), dann dagegen (nein) und schließlich die Lösungen gegeben wurden. Die jeweiligen Antworten sollten über die Frage entscheiden, ob die Universalien (Allgemeinbegriffe, Ideen) vor den Dingen, in den Dingen, oder nach den Dingen sind. Antworten bzw. Gesinnungen sollten also darüber entscheiden, ob unsere Erkenntnis der Dinge eine Erkenntnis ihrer Urbilder oder Ideen sein kann, ob sie eine Erkenntnis der Dinge selbst (der Dinge an sich) ist, oder ob sie nur eine Erkenntnis der vernunft- und sprachabhängigen Erscheinungen der Dinge bleibt. Jedenfalls kann man den möglichen drei Antworten (vor, in, nach) die drei großen Philosophen zuordnen: Platon, Aristoteles und Kant, und der vierte große Philosoph, Hegel (für den „Alles Schluß“ war), stellte in seiner „Enzyklopädie“ und ihren drei Teilen (syllogistisch) die Dreieinigkeit von Logik, Natur und Geist dar, entsprechend der Dreieinigkeit von Gottvater, Gottsohn und Heiligem Geist. Die Einheit der drei ist ein Schluß. Die Logik wird der Natur entgegengesetzt und im Geist mir ihr verbunden. (). Die Universalien sind im Geiste Gottes vor den Dingen, in der Realität in den Dingen und im menschlichen Geist nach den Dingen – so sah es jedenfalls auch Abaelard: die Universalien sind für Gott als Urbilder seines Geistes vor den Dingen, in der Realität sind sie in den Dingen und für den Menschengeist sind sie als durch Abstraktion gewonnene Begriffe nach den Dingen.
Die Mystik (Hochmystik) verkörperte sich vor allem in den Werken von Bernhard von Clairvaux (1090-1153) und Hugo von St. Viktor (1096-1141), der aus Blankenburg am Harz stammte, aber auch in den Werken der sogenannten Frauenmystik, zu der z.B. Hildegard von Bingen (1098-1178) und Mechthild von Magdeburg (1212-1285) zu zählen sind. Durch Bernhard von Clairvaux kam im Anschluß an das Hohelied das Moment einer religiösen Erotik, einer Beziehung der Seele zu ihrem Bräutigam Christus, in die Mystik, das mit den anderen Elementen vor allem die Frömmigkeit in den Frauenklöstern und in der deutschen Mystik, auch noch in der Spätmystik prägte, die über die Frömmigkeitsgeschichte hinaus eine allgemeine geistesgeschichtliche Bedeutung durch ihren Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Sprache gewann. (Vgl. Früh-MHD, Klassisches MHD, Früh-NHD).
Als Geschichtsphilosophen, Staats-und Wissenschaftslehrer wirkten Otto von Freising (1114-1158) und Johann von Salisbury (1115-1180). Hatte die Frühscholastik noch auf dem Boden eines ziemlich ungegliederten Ineinanders von Wissenschaft, Philosophie und Theologie gestanden und mehr auf die scholastische Methode und den Universalienstreit geachtet, so war die Hochscholastik bereits gekennzeichnet durch die sich vollziehende Scheidung zwischen Wissenschaft und Philosophie (v.a. Naturphilosophie ) einerseits und Theologie andererseits, sowie durch die Aufnahme des freilich nur in lateinischer Übersetzung vorliegenden Aristoteles in das philosophische Denken des Abendlandes, denn Albert der Große (Albert der Deutsche, 1193-1280) und Thomas von Aquino (1225-1274) ersetzten Augustinus‘ neuplatonische Richtung der christlichen Philosophie (Augustinismus) durch den christlichen Aristotelismus. (). Albert der Große verhalf dem Studium des griechischen Philosophen und für die damalige Wissenschaft so wichtigen Aristoteles zum Durchbruch, wobei er in kritischer Auseinandersetzung mit dessen arabischen Kommentatoren die Vereinbarkeit von aristotelischem Denken, besonders der Naturphilosophie, und christlichem Glauben zu beweisen suchte. Indem er Aristoteles umfassend erläuterte, dabei auch das gesamte wissenschaftliche Material der Tradition bis in seine Zeit einarbeitete und insbesondere in den naturwissenschaftlichen Büchern durch eigene Beobachtungen ergänzte, führte Albert der Große das theologische, philosophische, naturwissenschaftliche und medizinische Wissen seiner Zeit zusammen. Thoams von Aquino erweiterte das Wissen seines Lehrers Albert um eine systematische Geschlossenheit, weshalb er sich denn auch wirkungsgeschichtlich durchgesetzt hat. Es bildeten sich also die Philosophien der großen Orden, insbesondere der Franziskaner und der Dominikaner heraus. Die besten Beispiele sind die großen Systeme von Albert dem Großen, der in Köln lehrte und als der umfassendste Gelehrte des Mittelalters gilt, seinem Schüler Thomas von Aquino, der in Köln, Bologna, Rom und Neapel lehrte, und Roger Bacon (1214-1294), den man den Begründer der experimentellen Naturforschung nennen darf. Albert der Große bekam den Ehrennamen doctor universalis, Thomas von Aquino den des doctor angelicus und Roger Bacon den des doctor mirabilis. Diese drei Philosophen wirkten auch über das Mittelalter hinaus.
„Glauben ist gut, wissen ist besser“, war auch die Devise des Duns Scotus (1266-1308). Sein Grab befindet sich in der Minoritenkirche in Köln. Er wurde auch doctor subtilis geanannt und war der Begründer der (scotistischen) führenden Schule des Franziskanerordens sowie scharfsinniger Kritiker des Thomismus, d.h. der Philosophie des Thomas von Aquino. Thomismus bedeutet Vereinigung von Aristotelimus mit christlicher (katholischer) Weltanschauung; er vertritt die Herrschaft des Intellekts über den Willen und Willensfreiheit innerhalb gewisser Grenzen. Duns Scotus lehrte, daß nicht der Wille von der Vernunft, sondern diese von jenem abhängig sei, beim Menschen wie bei Gott (Lehre vom Primat des Willens). Der Wille Gottes sei absolut frei: gut ist, was Gott will, dadurch, daß er es will. In seiner Metaphysik suchte Duns Scotus im Gegensatz zu Thomas dem Individuum mehr Bedeutung zu verleihen. Der Mensch brauche Klarheit über sein Lebensziel, den Sinn seines Lebens. Die Philosophie könne das mit ihrer Neutralität und Skepsis nicht; sie müsse sich an die sinnliche Erkenntnis halten. Auf einem nicht-sinnlichen Grund, wie auf den unbewegten Beweger im 1. Gottesbeweis des Thomas, könne sie nicht schließen. Aber Duns Scotus schränkte auch die Theologie ein, nämlich auf die streng bibelorientierte.
In der Hochscholastik änderten sich Theologie-, Autoritäts- und Schulgebundenheit:
1.) Die Textgrundlage der Scholastik erweiterte sich; neben den logischen waren jetzt
auch die naturwissenschaftlichen Texte des Aristoteles und Schriften der
arabischen und jüdischen Gelehrten bekannt.
2.) Durch Gründung der Universitäten wurde der Lehrbetrieb der Gesellschaft geöffnet.
3.) Die in das wissenschaftliche Leben eingetretenen Franziskaner und Dominikaner
lehrten nicht nur in ihren Klöstern, sondern „in der Welt“.
Diese drei Faktoren stellten die Scholastik vor die ungewohnte Aufgabe, die neuen
naturwissenschaftlichen und philosophischen Ansätze mit den theologischen Dogmen
in Einklang zu bringen. Dies wurde auf drei Wegen versucht:
1.) Durch die rationalistische Harmonisierung von Glauben und Wissen.
2.) Durch Verbindung institutioneller und empiristischer Erkenntnistheorie.
3.) Durch skeptischen Verzicht auf Harmonisierung von Glauben und Wissen.
Dieser geriet jedoch durch die Annanhme einer
„Doppelten Wahrheit“ in Konflikt mit der Kirche.
Der zweite Weg der Erkenntnistheorie, insbesondere eine Angelegneheit der jüngeren Franziskanerschule (Duns Scotus u.a.) und der Schule von Oxford, befreite die individuelle Willensbildung aus der Abhängigkeit einer universalen Autorität. Die Erkenntnislehre betonte die Selbsttätigkeit des Denkens, weil sie, im Gegensatz zu Thomas von Aquino, den Willen als dem Denken übergeordnet ansah.

Spätes Frühdenken
Ein Schüler des Duns Scotus war Wilhelm von Ockham (um 1285-1350), der in München lebte und dort auch starb. Er war der bedeutendste Vertreter des Nominalismus und wurde wegen seiner dialektischen Gewandtheit als doctor invincibilis bezeichnet. Er, als größter Logiker seiner Zeit, bestand darauf, Logik und Erkenntnislehre unabhängig von Metaphysik und Theologie studieren zu können. Verschiedene Ansichten teilte er nicht mit dem Papst; er forderte weniger weltliche Macht für die Kirche und wurde exkommuniziert. Wilhelm von Ockham gab dem Nominalismus die eigentliche metaphysisch-religiöse Begründung, die sich schon bei Duns Scotus, der selbst kein Nominalist war, anbahnte. Als Ockhamismus gewann der Nominalismus allmählich die Oberhand, bahnte der Philosophie der folgenden Jahrhunderte den Weg, war der Vorläufer des Empirismus und, neben den rationalen Systematisierungen, ein Kennzeichen der Spätscholastik. Diese Zeit war gekennzeichnet durch die endgültige Abspaltung der Mystik von der immer unduldsamer werdenden kirchlichen Theologie und durch die immer weitere Verselbständigung des naturwissenschaftlich-naturphilosophischen Denkens.
Johann Eckhart (1250-1327), auch Meister Eckhart genannt, lehrte in deutschen Schriften und Predigten die Entwerdung des Menschen, dessen Seelenfunke sich in Abgeschiedenheit einbildet in Gott. Meister Eckhart aus Hochheim (bei Gotha) war Dominikaner, von 1303 bis 1311 Ordensprovinzial in Sachsen, seit 1311 Prof. in Paris, seit 1313 in Straßburg und seit 1320 Lesemeister in Köln. Eckhart war einer der einflußreichsten deutschen Denker, starb während seines Prozesses wegen Häresie. Er praktizierte und predigte die mystische Gottesschau. Gott, Vater, Sohn und Hl. Geist, so lehrte Eckhart, leben nicht in einer anderen Sphäre als der Mensch. Es sind Zielpunkte, Sehnsüchte, Projektionen des Menschen. Die Kirche hatte ihn also wohl, von ihr aus gesehen, zu Recht angeklagt. Auf Betreiben der Franziskaner wurden nach Eckharts Tod 28 seiner Thesen durch päpstliche Bulle verurteilt. Eckharts Philosophie fußt auf Thomas von Aquino (), Dionysios Areopagita () und Johannes Scotus Eriugena (), d.h. er war in seinem Denken Scholastiker, obwohl in seinem mystischen Fühlen mit den ihm vorhergehenden Vertretern der deutschen Mystik eng verbunden. Die höchste Kraft der Seele ist nach Eckhart die Vernunft, die er auch Funke, Burg der Seele, Synterris nannte. Die vornehmste Tätigkeit der Seele war für ihn das Erkennen, dem die Sinne das Material liefern, aus welchem der Gemeinsinn die Wahrnehmungen gestaltet. Auf Grund der Wahrnehmung bildet der Verstand die Begriffe. Die Vernunft, durch die wir Gottes Willen vernehmen, der Wille und das Gedächtnis wurden von Eckhart in Beziehung gesetzt zu Sohn, Geist und Vater. Die Tätigkeit der Vernunft sei Tun Gottes. Die Seele stehe zwischen Gott und Kreatur. Gott sei das reine Sein, das Ureine. Das Wesen Gottes bestehe aus Ideen. Gott erschaffe die Dinge aus dem Nichts nach dem Vorbild der Ideen. Zweck des Lebens sei die Erkenntnis Gottes und die Rückkehr zu Gott, die ermöglicht werde durch tugendhaftes Leben, Askese und vor allem durch liebreiches Wirken unter den Mitmenschen; bloße Kontemplation genüge nicht. Durch die Gnade Gottes könne die Unio mystica mit Gott erreicht werden. Eckharts Werk beeinflußte Johannes von Ruysbroek (1293-1381), Johannes Tauler (1300-1361) und Heinrich Seuse (1295-1366), den Lyriker der deutschen Mystik. Ruysbroek war, von Meister Eckhart beeinflußt, als Augustinerprior ein früher Reformator sowohl des kirchlichen als auch des klösterlichen Lebens. Er wandte sich gegen alle bloß gefühlsmäßiege Mystik und versenkte sich in die gegenständlich-irrationale Ordnung des Kosmos. Tauler, Dominikaner und von Eckhart entscheidend beeinflußt, war ein gewaltiger Prediger, der auf Luther und sogar noch auf Schopenhauer, besonders aber auf den Verfasser der „Deutsch Theologia“ und auf Johann Sebastian Bach wirkte. Tauler unterschied genauer als Eckhart das Anerschaffene von dem durch Gnade Gewirkten im Menschen, ferner die Theologie von der praktischen Religiosität und Seelsorge. Seuse war Schüler Eckharts, in seiner Mystik jedoch viel zarter als sein Lehrer, für dessen Lehre er mit seinem „Büchlein der Wahrheit“ eintrat. Eine besonders weite Verbreitung erfuhr sein „Büchlein von der Ewigen Weisheit“, das Predigen und Erbauungsschriften enthält. Gegen den Verdacht des Pantheismus versuchte Seuse sich mit nur halben Erfolg zu schützen, indem er zwischen der Erschaffung der Kreatur durch Gott und der Gottoffenbarung in der Kreatur unterschied. Meister Eckhart beeinflußte aber neben diesen auch viele andere, viele spätere Denker und Philosophen. Überhaupt entstanden unter mystischem Einfluß immer mehr Bewegungen zur Verinnerlichung des Lebens: die Gottesfreunde (Mönche, Bürgerliche, Adelige am Oberrhein) beabsichtigten, sich unter Leitung von Tauler und dem Kaufmann Rulman Merswin in Gelassenheit und Stille von der Welt zu entbilden. „Deutsch Theologia“ war eine mystische Erbauungsschrift, die Ende des 14. Jahrhunderts in Sachsenhausen bei Frankfurt (Main) entstand und später auf Luther (1483-1546) einen großen Eindruck machte, von ihm unter dem Titel „Ein deutsch Theologia“ 1518 erstmalig veröffentlicht wurde. Am Niederrhein und im Gebiet um Deventer verbanden sich die Brüder vom Gemeinsamen Leben, Kleriker und Laien, auf Anregung von Geert Groote (1340-1384) zum Studium der Heiligen Schrift, zu Volksmission und Schularbeit. Das Hauptwerk des Kreises, De imitatione Christi, fand weite Verbreitung und war wohl verfaßt von Thomas von Kempen (1380-1471). Die Spätmystik ging nach der Reformation über in die Neumystik.
Da die Kirche schon seit Anfang des 14. Jahrhunderts den Thomismus eindeutig bevorzugte, wurde seitens der Kirche die Spätscholastik vorwiegend zur Geschichte des Thomismus. Die Spätscholastik endete in der Tat mit der Trennung von Glauben und Wissen (bzw. Naturwissenschaft). Man kann also ihre Geschichte als die Geschichte der Selbstüberwindug betrachten, wenn sie nicht dazu bestimmt gewesen wäre, nach der „Wiedergeburt“ in der Neuscholastik weiterzuleben. Hauptvertreter der Spätscholastik waren u.a. Albert von Sachsen (1316-1390), Johann Buridan (um 1320-1360), Nikolaus von Oresme (1320-1382) und Nikolaus von Kues (1401-1464). Nikolaus von Kues, zwischen Scholastik und Humanismus stehend, war beeinflußt durch die Mystik (v.a. Eckhart) und den Nominalismus (Ockhamismus). (). Er faßte alle geistigen Bewegungen seiner Zeit zusammen und war ein Denker zwischen den Zeiten, weder ganz dem Mittelalter noch der Neuzeit zuzuordnen. 1437 war er in Konstantinopel an den Verhandlungen über die Kirchenvereinigung beteiligt und hatte auf der Rückreise auf See eine Erleuchtung – die der „gelehrten Unwissenheit“ hinsichtlich des Begreifens des Unbegreiflichen, nämlich Gottes. Der Satz des Sokrates „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ erhielt dadurch eine positive vernunftkritische Erweiterung. Von Kues erklärte: „Je besser jemand weiß, daß man dies nicht wissen kann, um so wissender wird er sein“. In Gott, so meinte er, fallen die Gegensätze zusammen. Das aristotelische Widerspruchsprinzip, auf das die Scholastik noch fixiert war, sei für die Gotteserkenntnis zu suspendieren, aber nicht zugunsten einer mystischen Schau, sondern einer Dialektik, wie sie später von Hegel ausgebaut werden sollte. Mit Vorliebe bediente sich von Kues mathematischer Denk- und Ausdrucksweisen, besonders um die Probleme des unendlich Großen und des unendlich Kleinen zu bewältigen. Mit der „Unendlichkeit“ blickte ihn das abendländische Ursymbol an, denn von Kues wollte es deutlich vor Augen sehen, wollte es als Kultursymbol erwerben. Der Kultursymbolerwerb einer Kultur ist vergleichbar mit dem Spracherwerb eines Kindes; im Abendland war dieser Erwerb durchweg gotisch und wurde demzufolge spätgotisch bzw. spätscholastisch abgeschlossen, d.h. zur vorübergehenden Vollendung gebracht, denn von nun an war die „Kulturgrammatik“ – die Basisstruktur – erlernt und brauchte nur noch ausgeweitet, verfeinert und „reformiert“ zu werden. Daß dies auch „hyperkorrektiv“ geschah, sollte die auf die Gotik folgende Zeit der humanistisch gefärbten Renaissance und Reformation auch unter Beweis stellen. (Vgl. 10-12 und 12-14). Die Spätgotik bzw. Spätscholastik war also die Trennung von Glauben und Wissen, von Theologie und Philosophie (bzw. Naturwissenschaft). Sie war eine Trennung im Sinne einer Öffnung zu der vorher noch geheim und versteckt operierenden Naturwissenschaft, zu derjenigen Technik, die später in die Moderne münden sollte. Denkgeschichtlich fiel dieses Erreichen der ausgesprochen kultureigenen Philosophie in die Zeit des Übergangs und der „Nikoläuse“ – von Nikolaus (von Kues) bis Nikolaus (Kopernikus) -, also in die Zeit, in der nicht zufällig fast gleichzeitig die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg, der Beginn der atlantischen Seefahrt durch Heinrich den Seefahrer, der Konstantinopel-Fall, die doppelte Buchführung, die Frühkapitalisten (Medici, Fugger, Welser), die Herstellung des ersten Erdglobus durch den Seefahrer und Geographen Behaim, der Frühnationalismus und Machiavelli, der endgültige Erfolg der Reconquista, die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, die erste Weltumsegelung durch Magellan, die Reforamtion durch Luther und nicht zuletzt das Genie Leonardo da Vinci die Welt revolutionierten. Und es war (auch nicht zufällig!) die Zeit des abendländischen Faust, dessen Leben Literaturstoff für alle noch folgenden Jahrhunderte bot und dessen Eigenschaft zum abendländischen Seelenbild (!) erklärt werden sollte. Diese Zeit war also tatsächlich der Beginn der „Neuzeit“. Glaubens- bzw. geistesgeschichtlich war sie jedenfalls die Vollendung der Theologie oder ihre Überwindung zugunsten der Philosophie und der mathematisch fundierten Naturwissenschaft. Sie war die Geburt der technischen (Natur-) Wissenschaft.
Der Buchdruck mit beweglichen, gegossenen Lettern, den Johannes Gutenberg (1397-1468) um 1440 erfand, beschleunigte sämtliche großen historischen Entwicklungen der Neuzeit. Die Nationalsprachen erhielten den Zusatz „Neu“ (z.B. Neu-Hochdeutsch), und mit dem abgeschlossenen „Spracherwerb“ konnte der „Schrifterwerb“ beginnen: die Verbreitung der antiken Schriften in der Zeit des Humanismus wäre ohne Gutenbergs Buchdruck ebenso unmöglich gewesen wie der rasche Erfolg der protestantischen Reformation. Nicht weniger profitierten der Schul- und Universitätsunterricht, die Politik sowie die wissenschaftliche Diskussion von den Einzelblattdrucken, Flugschriften, Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, die einen lebhaften literarischen Markt entstehen ließen. Der Druck von Werken der schönen Literatur, der bildenden Kunst und der Musik ermöglichte die ästhetische Bidung breiter Volksschichten. Schon bald war es möglich, in nur einer Bibliothek in kurzer Zeit mehr Druckwerke zu studieren, als das zuvor einem umherreisenden Gelehrten während seines ganzen Lebens möglich gewesen war.
Nikolaus von Kues (eigtl. Krebs, 1401-1464), Theologe, Philosopph, Bischof und Kardinal. Er stand zwischen Scholastik und Humanismus und war beeinflußt durch die Mystik und den Nominalismus. (). Alle geistigen Bewegungen seiner Zeit faßte von Kues zusammen. Er war von der Mystik (bes. Meister Eckhart) und dem Nominalismus (Wilhelm von Ockham) beeinflußt. Den Umkreis des menschlichen Wissens suchte Nikolaus von Kues philosophisch als „Wissen vom Nichtwissen“ (im Hauptwerk De docta ignorantia) zu bestimmen und seine Möglichkeiten durch das „Prinzip des Zusammenfallens der Gegensätze“ (im Werk Coincidentia oppositorum) zu erweitern, das es im eigentlichen Sinne nur in Gott geben könne. Obwohl Nikolaus von Kues schon die räumlich-zeitliche Unendlichkeit empfand, war ihm doch die geschaffene Welt „Gott im Nichts“, woran auch keine „Schöpfungslehre“ etwas ändern könne. Bindeglied zwischen Gott sei Christus als Verkörperung des Logos. Der Mensch, überhaupt jedes Ding. sei Mikrkosmos, Abbild des Universums, in dem alles in einer stetigen Stufenfolge vom Höchsten bis zum Niedrigsten geordnet sei. Mit Vorliebe bediente sich von Kues mathematischer Denk- und Ausdrucksweisen, besonders um die Probleme des unendlichen Großen und Kleinen zu bewältigen. (Vgl. abendländisches Ursymbol).
Leonardo da Vinci (1452-1519) wurde beim Bildhauer und Maler Verrocchio (1436-1488) ausgebildet, kehrte nach langjähriger Tätigkeit (1482-99) am Mailänder Hof des Herzogs Ludwig von Mailand nach Florenz zurück, ging dann (1596) jedoch auf Einladung des französischen Satthalters wieder nach Mailand. 1513 begab er sich in Erwartung päpstlicher Aufträge nach Rom und folgte 1516 einer Einladung des ihn verehrenden Königs Franz I. nach Frankreich. Von der überraschenden Vielseitigkeit Leonardos legen v.a. seine Zeichnungen (in Silberstift, Feder, Kreide, Kohle, Rötel oder Tusche) Zeugnis ab. Sie beziehen sich nicht nur auf vollendete oder geplante Werke in Malerei, Plastik und Architektur, sondern weisen Leonardo als Wegbereiter einer anschaulichen Naturforschung auf dem Gebiet der Anatomie, Botanik, Zoologie, Geologie, Hydrologie, Aerologie, Optik und Mechanik aus. Als Naturforscher und Techniker war Leonardo ein typischer Empiriker. Er wird deshalb heute noch als Universalgenie der Renaissance bewundert, zumal er nicht nur die Disziplinen, denen er sich zuwandte, beherrschte, sondern sie oft zu Höhepunkten führte und darüber hinaus gerade im Bereich der Technik einen Weg wies, an dessen Ende diese erst in späteren Jahrhunderten gelangen sollte. Berühmt sind seine „Mechanischen Flügel“, aber auch die Konstruktionsentwürfe für ein fahrradähnliches Fahrzeug. Sind Leonardos „Mona Lisa“ und das „Abendmahl“ Glanzlichter der Malerei, so waren seine Zeichnungen in ihrer Anschaulichkeit wegbereitend für die didaktische wissenschaftliche Demonstrationszeichnung und einzigartig in ihrer künstlerischen Intensität.
Bekannt wurde der Staatsmann und Geschichtsschreiber Niccoló Machiavelli (1469-1527) durch seine Discorsi sopra la prima decade di Tito Livio und Il principe („Der Fürst“; 1513). Angeregt durch die Lektüre des Titus Livius (59 v. Chr – 19 n. Chr.), entwickelte Machiavelli eine Art Technik der Politik, dabei das Ethos und die Macht des stolzen, vorchristlichen römischen Imperiums preisend. Machiavelli bezeichnete nationale Selbständigkeit, Größe und Macht des Staates als das Ideal, das der Politiker durch die zweckentsprechendsten Mittel erstreben müsse, unbekümmert um private Moralität und bürgerliche Freiheit. Damit war die Staatsräson begründet, aber auch der Machiavellismus als skrupellose, zugleich konsequente Gewaltpolitik, die ihre Ziele auch mit moralisch verwerflichen Mitteln erstrebt und durchsezt, unter Berufung auf die Interessen und die Erhaltung des Ganzen. Etwas mehr als 200 Jahre später, im Jahre 1738, sollte eine Streitschrift gegen Machiavellis Il principe erscheinen (anonym): der Antimachiavell von Friedrich II. (1712-1786).
Der Deutsche Nikolaus Kopernikus (1473-1543), Astronom und Domherr in Frauenburg (Ostpreußen), studierte neben allgemeinen Fächern auch Medizin und Jura (er schrieb in lateinischer und deutscher Sprache [vgl. Quellen]). Seine Mutter hieß Barbara Watzenrode, sein Vater hieß Nicolai Koppernick (Kopernikus), der aus Köppernig bei Neiße (Schlesien) stammte, seine Geschwister hießen Andreas, Barbara und Katharina. Die Familie Kopernikus gehörte zur Bürgerschaft der Hansestadt Thorn an der Weichsel und wohnte dort in der St.-Annen-Gasse. Der Vater war ein wohlhabender Kupferhändler und Regierungsbeamter. Nikolaus war zehn Jahre alt, als sein Vater 1483 starb. Sein Onkel Lucas Watzenrode (1447-1512), der Bruder seiner Mutter Barbara Watzenrode, sorgte für die Ausbildung der vier Waisen und wurde 1489 Fürstbischof im Ermland. Der ältere Bruder Andreas schlug den gleichen Lebensweg wie Nikolaus ein, erkrankte aber um 1508 an Aussatz, wurde später ausgeschlossen und starb vermutlich um 1518. Die ältere Schwester Barbara wurde Äbtissin im Kulmer Kloster, die jüngere Katharina heiratete Barthel Gertner. Nikolaus Kopernikus hielt stets seine Familienkontakte aufrecht. So sorgte er später für Kinder des Reinhold Feldstett, der mit der Tochter eines Onkels von Kopernikus, Tilman von Allen, verheiratet war. Im Danziger Dokument erschien als gemeinsamer Vormundt der „Frauenburger Domherr vor Burgermeister und Rathman der stadt Dantzick … Hern Nicolai Koppernick, des wirdigen gstichts zur Frauenborck thumherrn im jare tawsent funfhundert sechs und dreysick.“ (Leopold Prowe, Nicolaus Copernicus, 1883-1884, S. 265). Nikolaus Kopernikus hatte als Administrator die Regierungsgeschäfte zu regeln. In den Verhandlungen über die Reform des preußischen Münzwesens erarbeitete er die Position der preußischen Städte. Er gab dazu ein Schreiben heraus, das noch Jahrhunderte später als wegweisend für die Geldtheorie angesehen wurde. Die Astronomie war seine private Hauptbeschäftigung. Er erkannte, daß das „geozentrische System“ für die Vorhersage der Planetenpositionen über längere Zeiträume ungeignet war. Etwa 1507 schon griff er deshalb auf die Idee des Aristarchos von Samos (ca. 310-230) zurück, statt der Erde die Sonne als ruhendes Zentrum des Planetensystems anzunehmen und erarbeitete das „heliozentrische System“, in dem er die jährliche Bewegung der Erde um die Sonne beschrieb und die tägliche Umdrehung des Fixsternhimmels als Rotation der Erde um die eigene Achse erklärte. Kopernikus veröffentlichte sein Hauptwerk („Von den Kreisbewegungen der Himmelskörper“, 1543) kurz vor seinem Tod. Ob es Zufall war, daß die Bücher von Vesal und Kopernikus im selben Jahr – 1543 – erschienen? Jedenfalls kam Kopernikus‘ Hauptwerk im Jahre 1616 auf den Index.
Martin Luther (1483-1546) rezipierte mit Augustinus (354-430) auch dessen Platonismus (Neuplatonismus) und stand deutlich unter dem Einfluß des Nominalismus und des Humanismus. „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ ist, als Heilsegoismus gesehen, typisch für den Individualismus der Renaissance. Doch dem Humanismus machte die Reformation ein Ende oder nahm ihn religiös in sich auf. Der Beginn der Reformation war zwar eindeutig durch Martin Luther zu einem Faktum geworden, doch genau datieren kann man ihn nicht. Es hatte auch schon vor 1517, vor Luthers Veröffentlichung der 95 Ablaßthesen, Bestrebungen zu kirchlichen Reformen gegeben. Sie waren eine vorbereitende Bewegung zur Reformation, besonders seit durch das 2. Große Schisma von 1378-1417 das Abendland in zwei Lager geteilt war. (). Luther überließ die Durchführung seines philosophischen Programms seinem Anhänger Melanchthon (1497-1560), der deshalb zum Begründer der protestantisch-lutherischen Neuscholastik wurde, d,.h. sie ging von Melanchthon und seinem Aristotelismus aus. Luther bekannte sich zur Lehre der Prädestination, seine Philosophie gipfelte in der Lehre vom unbekannten Willen in Gott, über den positiv nur der Glaube bzw. die Bibel auszusagen vermöge. Für Luther war nicht der Papst, sondern die Heilige Schrift höchste Autorität in Glaubensfragen. Gottes in der Bibel offenbartes Wort sollte allen Gläubigen zugänglich sein, nicht nur denen, die Latein, Griechisch oder Hebräisch beherrschten. Die bislang veröffentlichten Bibelübersetzungen waren unzulänglich und machten eine Neuübertragung erforderlich. 1522 erschien Luthers Übersetzung des Neuen Testaments, 1534 war die Arbeit am Alten Testament abgeschlossen. Noch zu Luthers Lebzeiten wurden 430 Teil- und Gesamtausgaben seiner Bibel in rund 500 000 Exemplaren gedruckt, was entscheidend zum Durchbruch des neuen Glaubens beitrug. Von nun an gab es endlich eine konkrete Alternative. Ebenso bedeutend war Luthers sprachlich-literarische Leistung. Auch wenn er nicht Schöpfer der einheitlichen neuhochdeutschen Sprache war, so bündelte und beschleunigte er doch in seinen Schriften sprachliche Entwicklungen, die vor ihm bereits eingesetzt hatten. (Vgl. Früh-NHD). Luthers von Bildkraft, Rhythmik und Wohlklang geprägte Sprache verlieh der deutschen Literatur über Jahrhunderte Impulse. (Vgl. NHD).

– Kulturphilosophisches Fazit –
Obwohl die Scholastik des christlichen Abendlandes dadurch gekennzeichnet war, daß die Grundlage für Wissenschaft und Philosophie von den christlichen, in den Dogmen niedergelegten Wahrheiten gebildet wurde, wurden unter dem Schutze der Lehre von der „Doppelten Wahrheit“ vielfach nichtchristliche Gedanken geäußert. Averroismus (seit 12.-13. Jh.) und Nominalismus (seit 14. Jh.) versuchten die Aporie durch die Behauptung aufzulösen, daß etwas philosophisch wahr, theologisch aber trotzdem falsch sein könne. Der Universalienstreit, der sich in der gesamten Zeit der Scholastik abspielte, wurde allerdings bis heute nicht geklärt. Er bleibt wohl das, was er schon damals war: eine Diskussion um die Wirklichkeit und Bedeutung oder Unwirklichkeit der Allgemeinbegriffe (Universalien) in ihrem Verhältnis zum konkreten Einzelnen, aus dem sie durch Abstraktion gewonnen wurden. Es ging um die Realität, weshalb der Universalienstreit auch Realienstreit genannt wurde. In der Hauptsache wurden bei dem – bis heute nicht befriedigend gelungenen – Versuch, diese Problem zu lösen, drei Positionen vertreten:

1.) der Idealismus (radikaler Begriffsrealismus), der den Allgemeinbegriffen
eine von der des Einzeldings verschiedene Realität (Idee) zusprach
(Vertreter: „Platoniker“ sowie Johannes Scotus Eriugena u.a.).
2.) der (gemäßigte) Realismus, der den Allgemeinbegriffen eine objektive Gültigkeit
zuerkannte, da durch sie das Wesen des Seienden erfaßt werde
(Vertreter; Albert der Deutsche, Thomas von Aquino u.a.).
3.) der Nominalismus (Konzeptualismus), der in den Allgemeinbegriffen bloße Worte und Laute
(Nomina bzw. flatus vocis) sah, durch die lediglich Ähnliches zusammengefaßt werde
(Vertreter: „Via moderna“, Wilhelm von Ockham, moderne Sprachphilosophie u.a.)

Die drei Hauptauffassungen (mit vielen Abarten), die im Universalienstreit mehr oder minder kontovers vertreten wurden, spiegeln sich in gewisser Weise in den drei Perioden der Scholastik (Früh-, Hoch-, Spät-). Das Problem aber wurde bis heute nicht wirklich gelöst. Die Frage nach der Daseinsweise der Universalien blieb also unbeantwortet, obwohl man diese von Aristoteles einst ins Leben gerufenen Allgemeinbegriffe immerhin teilweise in eine ähnliche Systematik pressen konnte, wie wir sie heute z.B. auch aus der Biologie kennen. (Vgl. zoologisch-botanische Systematik). Hier einige der Begriffe: „Klasse“ (ähnlich wie Kategorie; Gesamtheit der Einzelgegenstände), „Gattung“ (umfaßt eine Reihe von weniger allgemeinen Begriffen unter sich), „Art“ (ist ein Individual- und zugleich Allgemeinbegriff; ähnlich wie im zoologsch-botanischen System), „Eigenschaft“ (wesentlich, substantiell bzw. essentiell wie z.B. der Satz: Menschen sind sterblich), „unwesentliches Merkmal“ (akzidentiell wie z.B. der Satz: Menschen sind groß).
Im 13. und 14. Jahrhundert wurden nach den Vorbildern Bologna und Paris,
die für sich beanspruchen, schon am Ende des 12. Jahrhunderts entstanden zu sein,
Universitäten förmlich gegründet, darunter mit Prag die erste deutschsprachige Universität (1348)

Anatomische Kenntnisse beruhten fast ausschließlich auf Tiersektionen, die schon von der antiken griechischen Medizin entwickelt worden waren. Auch die Arbeiten des im 2. Jh. n. Chr. lebenden römischen Arztes Galen gründeten im anatomischen Bereich auf dem Studium von tierischen Körpern, wobei Galen oft irrtümlich von der Beschaffenheit tierischer Organismen auf den Menschen schloß. Galens (antike) Forschungen waren für Jahrhunderte verbindlich, doch innerhalb einer von Dogmen geleiteten und auf Autoritätsglauben basierenden Wissenschaft mußte z.B. die Anatomie rückständig bleiben, und mit dem Anwachsen der kirchenpolitischen Macht wurde sie von religiösen Tabus immer mehr behindert. Deshalb war z.B. der deutsche Stauferkaiser Friedrich II. mit seinem ausgeprägten Interesse für Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie seiner Zeit weit voraus: 1224 gründete er in Neapel die erste „Staatsuniversität“ des Abendlandes, wenig später richetete er an der berühmten Medizinschule von Salerno den ersten Lehrstuhl für Anatomie ein, 1238 verfügte er regelmäßige Obduktionen von Leichen. Hier bahnte also ein „weltlicher“ Herrscher den Weg in die „neuzeitliche“, erfahrungsgesättigte Anatomie, die dann der deutsche Mediziner Andreas Vesal (1514-1564) mit dem ersten vollständigen Lehrbuch der menschlichen Anatomie („Vom Bau des menschlichen Körpers“, 1543) auch publik machte. Im selben Jahr erschien auch das heliozentrische Weltbild: Kopernikus (1473-1543) veröffentlichte sein Hauptwerk („Von den Kreisbewegungen der Himmelskörper“, 1543) kurz vor seinem Tod. Ob es Zufall war, daß die Bücher von Vesal und Kopernikus im selben Jahr – 1543 – erschienen? (Vgl. „Früh-Hochdenker“ ).
Noch in der Gotik hatte sich, zumindest teilweise, auch die perspektivische Darstellung behauptet, um die Dreidimensionalität des Raumes in die Zweidimensionalität der Malerei zu überführen, wie z.B. bei Duccio di Buoninsegna (1255-1319) und Giotto di Bondone (1266-1337). Giotto und Duccio begannen um 1300 die mittelalterliche Bildfläche zu einem Kastenraum zu öffnen. Die gesetzmäßig konstruierte Zentralperspektive war aber eine Leistung der Frührenaissance, die durch die theoretische Begründung des künstlerischen Schaffens zum Zeugnis der seit dieser Zeit stattfindenden Verwissenschaftlichung der Weltsicht wurde. Der Überlieferung nach war es Filippo Brunelleschi (1377-1446), Bahnbrecher der italienischen Frührenaissance und Begründer ihrer Architektur, der die Gesetze der mathematisch exakten perspektivischen Darstellung für die Neuzeit (wieder) entdeckte. Schriftlich festgehalten wurde diese bahnbrechende Innovation von dem Architekturtheoretiker Leon Battista Alberti (1404-1472). Geistig gesehen leuchtete der Humanismus der Renaissance voran. Man wollte antigotisch sein, war antik orientiert, aber dennoch spätgotisch. (). Die Begegnung von Spätgotik und Renaissance vollzog sich in Albrecht Dürer (1471-1528) besonders sinnfällig. Wie vielen seiner Zeitgenossen, kam auch dem in Nürnberg geborenen Meister zugute, daß sein Leben in die Wende von der Spätgotik zur Renaissance fiel: indem er sich mit der italienischen Kunst schöpferisch auseinandersetzte, entwickelte er seine eigene Künstlerpersönlichkeit weiter zum deutschen Maler, Zeichner, Graphiker und Kunstschriftsteller.

In beiden Kulturen – Antike und Abendland – gab es auch hinsichtlich der denkerischen Entwicklungen ähnliche Phänomene, denn geistig-seelisch klingen geburtliche „Eigenart“, trotziges „Selbst“, symbolische „Muttersprache“ wie Früh-, Hoch-, Spät- der Scholastik und Mystik. Wenn die kulturellen Frühdenker zur Welt kommen, dann sind sie dabei, sich von der Mutterkultur abzunabeln und erhalten im Gegenzug ihr „eigenes“ Problem. Wenn sie sich ihr Selbst ertrotzen, dann sind sie dabei, im Machtstreit die eigene oder die gegnerische Sicht der Doppelwahrheit mit Nachdruck zu verteidigen. Wenn sie ihre Kultursymbolik metasprachlich erforschen, sind sie dabei, die eigene Philosophiekultur zu erkennen, primärmetasprachlich unwiderruflich festzulegen. Am Ende der Frühdenkerzeit hat jede Kultur ihre „Philosophiegrammatik“ so verinnerlicht, daß sie nicht mehr anders kann, als in dieser ihr zu „eigen“ gewordenen Philosophie zu denken und zu träumen. Statt dessen kann (und wird) es ab jetzt verstärkt darum gehen, Reformen und Gegenreformen für die einmal eingebrannte Denkart zu testen. Zunächst herrscht noch die Angst vor dem Verlust der Identität vor, so daß man mittels einer „Wiedergeburtsreform“ rückwärts nach vorne denken möchte. Auch deshalb gab es in der Antike am Ende der Frühdenkerzeit eine (orientalisierende) Renaissance und eine Reformation durch die Orphiker, die Dionysos als „letzten“ (weil „ersten“?) Gott in den Olymp brachten, sowie eine für die Welt der kleinen Bauern erstellte Theogonie von Hesiod (um 700 v. Chr.). Die Analogien im Abendland: (antikisierende) Renaissance, Reformation und Neumystik. Hierdurch wurde das „Hochdenken“ erreicht.
Tabelle
Analoge (Früh-) Philosophien
(Analoge Theologien)
antik von ca. 1400 v. Chr. bis ca. 650 v. Chr.
abendländisch von ca. 750 n. Chr. bis ca. 1500
(6-8, 8-10, 10-12)
16) . . (Vorläufer der homerischen Epen) . . seit ca. – 15. Jh. / – 14. Jh.
17) Zeus-Götterwelt als Feudal-Religion seit ca. – 14. Jh. / – 13. Jh.
18) ………………. … ……………….. seit ca. – 10. Jh. / – 9. Jh.
19) Zeus-Götterwelt als Monopol-Religion seit ca. – 10. Jh. / – 9. Jh.
20) ……………….. … ………………… seit ca. – 9. Jh. / – 8. Jh.
21) Zeus-Götterwelt als Adelsreligion, Homer seit ca. – 8. Jh.
22) ……. … ….. (u.a. Olymische Spiele; 776) seit ca. – 8. Jh.
23) ……. … ….. (u.a. Apollon-Kult in Delphi) seit ca. – 8. Jh.
24) Orientalisierende Renaissance seit – 8. / – 7. Jh.
25) Reformation (Orphiker) Renaissance seit – 7 Jh.; Neuzeit
26) Dionysos als „letzter Gott“ im Olymp; seit – 7. Jh.; Neuzeit
27) Zeus-Götterwelt; Theogonie von Hesiod seit – 7. Jh.; Neuzeit
28) Gegenreformation Zeus-Welt seit – 7. / – 6. Jh.; Neuzeit

– PURITANISMUS seit – 7. / – 6. Jh.; Neuzeit – 16) 2. Scholastik Früh-Scholastik (Universalienstreit) seit 8.Jh.
17) 1. Mystik Früh-Mystik seit 9. Jh.
18) 3. Scholastik Hoch-Scholastik (Aristotelismus) seit 13. Jh.
19) 2. Mystik Hoch-Mystik seit 13. Jh.
20) 4. Scholastik Spät-Scholastik seit 14. Jh.
21) 3. Mystik Spät-Mystik seit 14. Jh.
22) Nominalismus Früh-Naturwissenschaft seit 14. Jh.
23) Ockhamismus Früh-Empirismus seit 14. Jh.
24) Humanistische Renaissance (Petrarca u.a.) seit 14. Jh.
25) Reformation (Luther) Renaissance seit 15./16. Jh.; Neuzeit
26) Neuscholastik (5) Reformation seit 15. / 16. Jh. Neuzeit
27) Neumystik (4) Paracelsus, Franck u.a. seit 16. Jh.; Neuzeit
28) Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.; Neuzeit

– PURITANISMUS seit 16. Jh.; Neuzeit –

WEITER

Nicht nur, daß die Frühdenker die Vordenker für die Hochdenker sind,
von ihrer „Steilvorlage“ werden die Hochdenker lange profitieren,
selbst die Spätdenker werden sich noch zerreißen an der Denkart,
die die eigene Philosophie erdachte und Naturwissenschaft meinte.
Das Abendland erwarb hier sein Kultursymbol und seine Denkseele:
den bis ins Unendliche forschenden, sich stets weiterdenkenden „Faust“.
(*)

Urdenker Vordenker Frühdenker Hochdenker Spätdenker Nachdenker Enddenker
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Anmerkungen:

Seelenbild der Antike und Seelenbild des Abendlandes sind gegensätzlich: apollinisch und faustisch; ihre Ursymbole ebenfalls: Einzelkörper und Unendlicher Raum. Wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung, gelten auch Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar, deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Beispiel „Parallelenaxiom“ deutlich werden kann: Euklid hat in seinen „Elementen“ (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung für das antike Beispiel gegeben und Gauß ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Sie stehen – wie unzählige andere Beispiele auch – für einen metaphysischen Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol angetrieben und angezogen wird. (Vgl. Oswald Spengler, 1917, S. 155, 227ff., 234, 390). Vgl. dazu auch das Germanentum.
Das Seelenbild der magischen Kultur ist ein dualistisches: Geist und Seele, ihr Ursymbol die Welthöhle. (Vgl. Spengler, 1922, S. 847f.).
Zum Kultursymbol-Erwerb vgl. auch die Vor-/Urgeschichte (Feuergebrauch, Sprachgebrauch u.s.w.): Homo erectus und das Feuer im (Alt-) Paläolithikum sowie die Geschichte der Sprache und Religion während der Hominisierung. Vgl. dazu (und zwar in der weiteren Kulturentwicklung) das jeweilige Ursymbol der „Einzel“-Kulturen. Eine besondere Bedeutung, weil stark richtumgsveränderlich, spielen dabei die Phasen, die eine ganz besondere „Wende“ bewirken: „Befruchtung“ (22-24) und „Kultursymbol oder Kulturspracherwerb“ (10-12).
Zeus (lat. Jupiter), der höchste Gott der Griechen (der Antike), Sohn des Kronos und der Rhea, Bruder und Gemahl der Hera, stürzte mit seinen Brüdern Poseidon (Neptun) und Hades (Pluto) die Herrschaft der Titanen ( 6 Söhne und 6 Töchter des Uranos und seiner Frau Gäa), zu denen sein Vater Kronos (Saturn) zählte. Er teilte nach dem Sturz der Titanen die Welt mit seinen Brüdern. Wie bei keinem olympischen Gott sonst sind bei Zeus die indogermanische Etymologie und Bedeutung und damit bereits vormediterane, aus der indogermanischen Religion stammende Ursprungs- und Wesensmerkmale zweifelsfrei. Zeus, mit diphtongischem Wurzelnomen, geht etymologisch zurück auf das indogermanische Nomen agentis * dieu-s mit der Grundbedeutung „hell Aufleuchtender“, „Glänzer“, „Wetterleuchtender“. Zeus wurde zwischen 2300-1900 v. Chr. von den einwandernden Indogermanen bzw. Protogriechen (Achäer, Ionier) importiert. Er kann aber sogar noch früher von diesen indogermanischen Gruppen in den Nordwesten Griechenlands importiert worden sein (vielleicht als * Teus). Erst im Verlauf des 2. Jt. v. Chr. trat zu dieser indogermanischen Komponente die mediterane, und erst in der Mittelmeerwelt wurde Zeus zum Kroniden. (Vgl. Tabelle und Zeus‘ Sohn Apollon).
Kroniden (Hades, Neptun, Zeus sowie Hestia, Demeter, Hera) sind die 3 Söhne und die 3 Töchter des Kronos und der Rhea. Kronos entmannte seinen Vater Uranos (Himmel) und bemächtigte sich der Weltherrschaft. Um nicht von seinen Nachkommen ein ähnliches Schicksal zu erfahren, verschlang er alle Kinder, die ihm seine Gemahlin und Schwester Rhea gebar. Nur im Falle des jüngsten Sohnes Zeus gelang es Rhea, Kronos zu täuschen. An Stelle des Kindes verschluckte Kronos einen Stein. Später besiegte Zeus Kronos, zwang ihn, die Geschwister wieder auszuspeien, und verbannte ihn und die anderen Titanen in den Tartaros (Unterwelt, v.a. für den Aufenthalt von Dämonem und Büßern).
Apollon, Sohn des Zeus und der Leo und Zwillingsbruder der Artemis, war der griechische Gott, v.a. der Mantik (Seher- bzw. Wahrsagerkunst) und Musik, dessen umfassende Kompetenz sich jedoch auf alle Bereiche göttlichen Waltens erstreckte. Die apotropäischen (nach Art des abwehrenden Zaubers), schützenden und heilenden Eigenschaften gehörten hingegen wohl noch vor den daraus ableitbaren mantischen und karthartischen zur älteren Wesensschicht des Apollon. Der schreckliche Bogenschütze, mit den lautlosen Pfeilen „nach Belieben treffend“, schickte zwar Tod und Verderben über Menschen und Vieh, doch wurde der Pestbringer ganz folgerichtig auch um Abwehr des Übels angegangen. Es bleibt festzuhalten, daß an der vielschichtigen Gestalt des Gottes offenbar prähellenische bzw. indogermanisch-protohellenische und (kleinasiatisch-) mediterane Komponeneten beteiligt waren. Apollon war die Verkörperung des griechischen bzw. antiken Ideals der strahlenden „apollinischen Schönheit“. (Vgl. antikes Seelenbild und Apollonkult).
Mysterien (zu griech. muein, die Augen schließen; muew, [in die Mysterien] einweihen, schulen, unterrichten),“ was verschwiegen wird“, gemeint ist der in Kultfeiern erlebte unaussprechliche Heilsgehalt. (). Intellektuelle Belehrung gab es bei diesen populären Initiationen nicht. Auch wurden die heiligen Riten einer großen Menge ohne Rücksicht auf individuelles Verdienst gespendet. Deshalb wohl neigten die Philosophen dazu, die Mysterien gering zu schätzen. Diogenes meinte, es sei absurd anzunehmen, jeder Steuereintreiber könne, nur weil er eingeweiht sei, in der nächsten Welt am Lohn der Gerechten teilhaben, während Ungeweihte verdammt seien, dort im Schlamm zu liegen. Heraklit und Anaxagoras sowie Sokrates äußerten sich ähnlich negativ über die Mysterien. Auch Platon spottete über sie; aber er hielt auch seine Philosophie für eine andere und bessere Art der mystischen Inititiation. Die Philosophie, so meinte er, erreiche durch bewußtes Forschen für wenig Auserwählte dasselbe, was die Mysterien dem gemeinen Volk durch das Schüren von Emotionen vermittele: Läuterung der Seele, die freudige Begrüßung des Todes, die Kraft, mit dem Jenseits in Verbindung zu treten, die Fähigkeit, auf rechte Art zu rasen, d.h. verrückt zu sein. All diese Vorzüge, die Platon als übliche Leistungen mystischer Initiation anerkannte, sollten in seiner Philosophie durch geistige Schulung erreicht werden, durch Übung in der Kunst der Dialektik, deren Ziel es war, die Seele vom Irrtum zu reinigen. Die kultischen Initiationen und Rituale wurden von ihm durch intellektuelle oder geistige Mysterien ersetzt. Später, im Neuplatonismus, bei Plotin, wurde die Übernahme ritueller Terminologie systematisiert.
Apollon war der griechische Gott (wahrscheinlich kleinasiatischer Herkunft) und galt als Sohn des Zeus und der Leo, Zwillingsbruder der Artemis. Apollon war die Verkörperung des griechischen bzw. antiken Ideals der strahlenden „apollinischen Schönheit“ (Vgl. Apollonkult und das antike Seelenbild).
Orakel (zu lat. oraculum, eigtl. „Sprechstätte“) ist Weissagung, Aussage über Zukünftiges (z.B. als Handlungsanweisung), räumlich Entferntes, über den gebotenen Vollzug bestimmter Handlungen und herrscherliche Ansprüche, ferner auch Bezeichnung des Ortes, an dem diese „Wahrsagungen“ erteilt werden. In fast allen Kulturen und Religionen haben Orakel eine beträchtliche Rolle gespielt. Man unterscheidet zwischen einer kultischen Orakelgebung, die durch Medien und Priester erfolgt, und einer direkten Orakelerteilung durch charismatisch veranlagte Personen. Berühmte Orakelstätten waren das kanaanäische Kadesch und vor allem Delphi mit der Pythia, deren Äußerungen von Priestern gedeutet wurden. Das antike Orakel war ursprünglich ein Losorakel und beruhte erst später auf der Inspirationsmantik der Pythia. (Vgl. die mit Runen versehenen Buchenstäbe (Buchstaben) als „Lose“ bzw. Orakelform bei den Germanen).
Delphi war schon seit Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. Siedlung und Kultstätte (urspr. Verehrung der Erdmutter Gäa, seit dem 8. Jh. Apollonkult). Das Apollonheiligtum, die „Pythischen Spiele“, besonders aber das Orakel machten Delphi zu einer der bedeutendsten Kultstätten der Antike. Nach der griechischen Mythologie erschlug hier Apollon den Drachen Python. Im Apollontempel befanden sich der Omphalos (Nabel der Erde), ein Marmorblock, der als Mittelpunkt der Erde galt, und der Erdspalt, dem ein Luftstrom entstieg, der die Orakelpriesterin Pythia, auf ehernen Dreifuß über dem Erdspalt sitzend, zur Prophetie anregte. Das Orakel war ursprünglich ein Losorakel und beruhte erst später auf der Inspirationsmantik der Pythia, deren von Apollon eingegebene Äußerungen von der Priesterschaft in Form metrischer, meist mehrdeutiger Sprüche verkündet wurden.
Python (puqon) war nach der griechischen Mythologie ein erdgeborener Drache, der das Orakel seiner Mutter Gäa in Delphi behütete und von Apollon getötet wurde. Nach Python war die Apollonpriesterin Pythia am Orakel in Delphi benannt, führte der Gott den Beinamen Pythios und wurden die Spiele in Delphi „Pythischen Spiele“ (Pythien) genannt, die alle vier Jahre zu Ehren des Apollon gefeiert wurden.
Pythia (von puqon, Python) war Apollonpriesterin in Delphi, benannt nach dem erdgeborenen, das Orakel seiner Mutter Gäa behütenden, schließlich von Apollon getöteten Drachen Python.
Hippokrates (um 460-370), griechischer Arzt aus Kos, gilt als Begründer der Medizin als Erfahrungswissenschaft auf Grund unbefangener Beobachtungen und Beschreibung der Krankheitssymptome und einer kritischen, spekulationslosen Diagnostik. Die Hippokratiker verstanden Gesundheit und Krankheit als Gleichgewicht bzw. Ungleichgewicht von Körpersäften und Elementarqualitäten. (Humoralpathologie). Umweltfaktoren, Lebensweise und Ernährung wurden dabei besonders berücksichtigt. Sie beobachteten scharf die Krankheitssymptome, aber ihre Hauptanliegen waren die Prognose und die Prophylaxe, während sie sich in der Therapie zurückhielten und hauptsächlich die „Heilkraft der Natur“ wirken ließen bzw. unterstützten. Die historische Bedeutung der hippokratischen Medizin liegt einmal darin, daß sie das ärztliche Handeln einem hohen ethischen Verantwortungsbewußtsein unterstellte („Hippokratischer Eid“), zum anderen darin, daß sie bewußt von religiös-magischer Krankkheitsauffassung und Therapie abrückte und ein rational-natürliches Verständnis der Krankheit versuchte, allerdings (noch) nicht im Sinne modern-abendländischer Naturwissenschaft. Die Kanonisierung der hippokratischen Medizin durch Galen (um 129-199) machte diese zum Hauptfundament der Medizin – insbesondere auch der abendländischen (bis zum Ende des 18. Jahrhunderts).
Humoralpathologie ist die in mehreren Kulturen – v.a. in der Antike – ausgebildete Lehre von den „Körpersäften“ (Blut, Lymphe, Schleim, gelbe und schwarze Galle u.s.w.), deren rechte Mischung Gesundheit, deren Ungleichgewicht dagegen Krankheit bedeutet. (Vgl. Hippokrates und Galen).
Platon (eigtl. Aristokles, 427-347); vgl. Platons Philosophie der Weltverabschiedung und Einübung ins Sterben (), besonders seine Lehre von der Umkehr durch Ausstieg aus der Höhle („Höhlengleichnis“). Platon war zuerst Dichter, wandte sich von der Dichtung jedoch ab, weil sie seit 387 v. Chr. (Gesetz) ziemlich grausame Theaterstücke aufführen durfte (Götter-Blasphemie u.s.w.). Er gründete wahrscheinlich deshalb 385 v. Chr. eine Schule, die (dem altattischen Heros) Akademos gewidmet war. Die Ältere Akademie war stark pythagoräisch beeinflußt: das Problem von „Idee“ und „Zahl“ spielte erkenntnistheoretisch eine große Rolle. Später folgten die Mittlere Akademie (seit 315 v. Chr.) und die Neuere Akademie (seit 160 v. Chr.); vgl. die Akademien im Altplatonismus, den Mittleren Platonismus, die Auswirkungen auf die Gnosis, den Neuplatonismus, die Patristik. Alle Philosophie nach Platon scheint aus Fußnoten zu der seinigen zu bestehen. Er schrieb Dialoge, tatsächliche und fiktive Gespräche mit Sokrates (470-399), seinem Lehrer. Platon lehrte die Scheinhaftigkeit und Abkünftigkeit der Sinnenwelt von archetypischen Urbildern oder Ideen. Mit der Ideenlehre setzte er sich von Sokrates ab, obwohl er sie in den (mittleren und späteren) Dialogen seinem Dialoghelden Sokrates in den Mund legte. Für Platon waren die unveränderlichen Ideen die Urbilder der veränderlichen Dinge, ihr Programm, ihr Ziel und Zweck. Platon nahm bei seiner Ideenlehre die Mathematik (Geometrie) zum Vorbild aller anderen Wirklichkeit, wie schon vor ihm Pythagoras (580-500) und seine Schüler. (Vgl. Tabelle).
Das „Höhlengleichnis“ ist laut Platons „Staat“ (7.Buch) ein Vergleich des menschlichen Daseins mit dem Aufenthalt in einer unterirdischen Behausung. Gefesselt, mit dem Rücken gegen den Höhleneingang, erblickt der Mensch nur die Schatten der Dinge, die er für die alleinige Wirklichkeit hält. Löste man seine Fesseln und führte ihn aus der Höhle in die lichte Welt mit ihren wirklichen Dingen, so würden ihm zuerst die Augen wehtun, und er würde seine Schattenwelt für wahr, die wahre Welt für unwirklich halten. Erst allmählich, Schritt für Schritt, würde er sich an die Wahrheit gewöhnen. Kehrte er aber in die Höhle zurück, um die anderen Menschen aus ihrer Haft zu befreien und von ihrem Wahn zu erlösen, so würden sie ihm nicht glauben, ihm heftig zürnen und ihn vielleicht sogar töten. Vgl. Platon (427-347).
Aristoteles (383-322); vgl. Ältere und Jüngere Aristoteliker (Peripatetiker) und Aristotelische Stoa. Dieser antike Universalgelehrte bestimmte mit seinen Klassifikationen und Begriffsprägungen die gesamte nachfolgende Philosophie, dominierte insbesondere die Scholastik. Die sich auf Aristoteles stützende Art des Philosophierens, der Aristotelismus, wurde später auch von den Arabern (z.B. Averroes, 1126-1198) und Juden (z.B. Maimonides, 1135-1204) gepflegt und beherrschte insbesondere seit dem 13. Jh. das philosophische Denken des Abendlandes, vermittelt vor allem durch Albert dem Deutschen (den Großen, 1193-1280) und Thomas von Aquino (1225-1274), allerdings mit wesentlichen, durch das Christentum bedingten Änderungen. Dieser auch „Thomismus“ genannte Aristotelismus wurde (als Neuthomismus) die Grundlage der katholischen Neuscholastik (bis heute!). In der Zeit der Renaissance wurde der Aristotelismus in unscholastisch-humanistischer Art von nach Italien gelangten byzantinischen Gelehrten neu belebt: in Deutschland fußten also sowohl die protestantische Neuscholastik (z.B. durch Melanchthon, 1497-1560) als auch die katholische Neuscholastik (z.B. durch Suarez, 1548-1617) auf dem Aristotelismus. Aristoteles, der für seinen Sohn Nikomachos die „Nikomachische Ethik“ geschrieben hatte, blieb für die Entwicklung der abendländischen philosophischen Ethik richtungsweisend bis Kant (!). (Vgl. Tabelle).
Die Stoa, um 300 v. Chr. von Zenon (354-264) aus Kition gegründet, war eine weit verbreitete Strömung der griechischen Philosophie, die eine Alte, Mittlere, Neue und eine späte Aristotelische Stoa (vgl. Stoizismus) entwickelte. In der römischen Kaiserzeit war die Stoa so etwas wie eine ethische Religion des römischen Volkes geworden. Gott und Natur waren der Stoa eins, das Menschenwesen ein Teil der Gott-Natur. Die Stoa nahm nach Art des Globaleklektizismus bzw. Synkretismus die verschiedensten Lehren in sich auf. Andererseits übernahmen später Gnosis und Neuplatonismus Elemente auch aus der Stoa.
Claudius Galenus (ca. 129-199), römischer Arzt griechischer Herkunft, war Arzt und Schriftsteller in Rom und neben Hippokrates der bedeutendste Arzt der Antike. In seinem z.T. erhaltenen Werk vereinigte er die Humoralpathologie und die diagnostisch-klinische Kunst der Hippokratiker mit der Anatomie und Physiologie des Aristoteles und der alexandrinischen Ärzte zu einem umfassenden System der Medizin, das über Jahrhunderte die Heilkunde beherrschte. Seine Schriften galten v.a. der Anatomie, Physiologie, Pharmakologie und Pathologie als Grundlagen der ärztlichen Ausbildung und Tätigkeit. Galen verfaßte neben medizinischen auch mathematische und philosophische Schriften, wobei er die Lehren der Peripatetiker mit denen der Stoiker zu verbinden suchte. (Vgl. auch: Aristotelische Stoa).
Dionysios Areopagita (1. Jh. n. Chr.), angeblich erster Bischof Athens, war Mitglied des Areopagats (Areopag = Areshügel, ältester und berühmtester Gerichtshof in Athen, auf dem Areshügel, westlich der Akropolis) und wurde von Paulus bekehrt. Unter dem Namen Dionysios Areopagita und unter Berufung auf Apg. 17, 34 veröffentlichte ein griechisch schreibender christlicher Schriftsteller im 5. oder 6. Jh., der Pseudo-Dionysios Areopagita, eine Reihe theologisch-mystischer Schriften und Briefe und erlangte damit beinahe apostolisches Ansehen mit großem Einfluß insbesondere auf die Mystik.
Das auf Vergangenheit und Zukunft bezogene Bild eines Abendländers ist das exakte Gegenstück zu dem eines Antiken, für den nur die Gegenwart zählte. Selbst das Römische Reich war nicht primär aus bewußtem Antrieb durch identitätsstiftende Geschichten, also durch eine Mythomotorik gebildet worden, sondern aus sich selbst heraus. Im Gegenteil dazu suchte das Abendland von Anfang an seinen Antrieb durch Geschichten; und gerade die Geschichte des Römischen Reiches, die doch selbst durch Gegenwart, durch ständige Präsenz gekennzeichnet war, wurde (vielleicht auch deshalb!) zur Basis jeder Übertragung. Das „Reich“ wurde zur Grundlage jedes bildenden und einbildenden Projektes, d.h. jeder Projektion.“Die maßgeblichen europäischen Mächte unternahmen immer neue Anläufe, ein Reich nachzuspielen, das ihrer politischen Phantasie als unverlierbares Paradigma vorgeordnet blieb. So könnte man geradezu sagen, daß Europäer ist, wer in eine Übertragung des Reiches verwickelt wird. Dies gilt besonders für Deutsche, Österreicher, Spanier, Engländer und Fransosen ….“ (Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 34).
Mythomotorik bedeutet Antrieb durch formierende oder identitätsstiftende Geschichten. „Den Ausdruck Mythomotorik hat m.W. Jan Assmann … eingebracht. Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerungen und politische Identität in den frühen Hochkulturen, München, 1992.“ (Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 64).
Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence, 1994.
Plotinos (205, Lykopolis, † 270, Minturnae / Campanien) war in Alexandria Schüler des sagenhaften Ammonios Sakkas (um 175 – 242), danach, nach seiner Teilnahme an Kaiser Gordians persischen Feldzug, als Kaiser Gallienus‘ Schützling Vorsteher einer eigenen Schule in Rom. Plotin war sogar so sehr auf Vergeistigung bedacht, daß er sich schämte, einen Körper zu haben. (Vgl. Neuplatonismus).
Thomismus ist die Philosophie des Thomas von Aquino (1225-1274) und seiner Anhänger, der Thomisten. Er ist gegliedert in den älteren Thomismus vor der Reformation und in den neuren Thomismus (Neuthomismus) nach der Reformation, d.h. seit Beginn der Gegenreformation. Er besteht also heute noch (vgl. Tabelle). Der Thomismus bedeutet Vereinigung des Aristotelismus mit der christlichen (katholischen) Weltanschauung. Er vertritt die Herrschaft des Intellekts über den Willen und Willensfreiheit innerhalb gewisser Grenzen, den Aufbau der Welt in sinnvollen Stufen und die Erkennbarkeit Gottes nur aus seinen Wirkungen in der sichtbaren Schöpfung. Einer der ersten Gegner des Thomismus war Duns Scotus (1266-1308).
Mystik: vgl. Ur-Mystik, Früh-Mystik, Hoch-Mystik, Spät-Mystik und Neu-Mystik und ihre Mündung in Idealismus und Romantik.
„Doppelte Wahrheit“, das gleichzeitige Wahr-oder-Falsch-sein-Können einer Erkenntnis je nach der Grundlage dieser Erkenntnis, spielte im Mittelalter eine große Rolle, als die Glaubenswahrheiten rational gesichert werden sollten.
Aporie (aus griech. a „nicht“ und poros „Weg, Brücke“) ist die Weglosigkeit, die Ausweglosigkeit, d.h. die Unmöglichkeit, zur Auflösung eines Problems zu gelangen, weil in der Sache selbst oder in den verwendeten Begriffen Widersprüche enthalten sind. (Vgl. auch: „Doppelte Wahrheit“).
Bernhard von Clairvaux (1090-1153) trat 1112 in das Reformkloster Citeaux ein, gründete 1115 das Kloster Clairvaux, von dem zu seinen Lebzeiten 68 Filialgründungen ausgingen.. Der Orden der Zisterzienser wurde von ihm wesentlich mitgeprägt, seine Mystik bestimmend für das ganze Mittelalter, sein Einfluß auf Predigt und geistliches Leben nachwirkend bis weit in die Neuzeit. Von Bernhards Werken sind fast 900 Handschriften erhalten: Predigten, Abhandlungen; Hauptwerk: De consideratione (1149-1152).
Albert von Bollstädt (1193-1280), auch: Albert der Deutsche, Albert der Große (Albertus Magnus), trug den Ehrentitel „Doctor universalis“, wegen seiner Vielseitigkeit. Er war Philosoph, Naturwissenschaftler und Theologe und gehörte dem Dominikanerorden an. Als einziger Gelehrter hat er den sonst nur Staatsmännern vorbehaltenen Beinamen „Magnus“ (der Große) erhalten. Albert ist Schutzpatron der Naturwissenschaftler. (Vgl. auch: Aristoteles und Aristotelimus).
Unio mystica (lat.) bedeutet die mystische Vereinigung nit der Gottheit; sie wurde in den Mysterienkulten vollzogen. Von Platon und dem Neuplatonismus wurde die Unio mystica vergeistigt, noch mehr in der Mystik (besonders des deutschen Mittelalters), in der es um die Vereinigung des Einzelnen „Schauenden“ mit Gott ging. Vgl. z.B. Johann („Meister“) Eckhart.
„Via moderna“, seit dem 14. Jh. im Unterschied zur „Via antiqua“ (thomistischer oder gemäßigter Realismus) die Bezeichnung für die scholastische Position des Nominalismus, besonders für alle neueren Strömungen der Hoch-, vor allem aber der Spätscholastik. Es waren Wilhelm von Ockham (um 1285-1350) und die in seiner Nachfolge vertrenen philosophischen und theologischen Positionen, die dem Nominalismus zum Durchbruch verhalfen.
Konzil (lat. concilium, Zusammenkunft, Versammlung; verwandt mit der griech. Synode) ist die Versammlung von Bischöfen und anderen kirchlichen Amtsträgern zur Erörterung und Entscheidung theologischer und kirchlicher Fragen. Das ökumenische oder allgemeine Konzil, das im 1. Jt. vom Kaiser und seit Beginn des 2. Jt. vom Papst berufen wurde, repräsentiert die allgemeine Kirche und besitzt nach katholischem Verständnis in seinen Glaubensentscheidungen Unfehlbarkeit. (Vgl. Konziliarismus).
Konziliarismus ist die Bezeichnung für die Auffassung, daß das Konzil und nicht der Papst allein die höchste Instanz in der Kirche sei. Im Abendländischen Schisma erlangte der Konziliarismus praktische Bedeutung, die auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418) bestätigt wurde, obschon die Päpste den Konziliarismus immer wieder verurteilten. Auch der Philosoph Nikolaus von Kues (1410-1464), der Cusaner, vertrat die Ansicht, daß das Konzil über dem Papst stehe. Die Gedanken des Konziliarismus wurden bis zum 1. Vatikanischen Konzil (1869/1870) permanent vertreten.
Nikokaus von Kues (eigtl. Krebs, 1401-1464), Werke u.a.:
– De concordantia catholica (worin er das Baseler Konzil (1431-37) als Überordnung über den Papst und die
Einigung zwischen westlichem und östlichem Christentum befürwortete), 1434
– De docta ignorantia (De visione dei, Über die Schauung Gottes), (Hauptwerk), 1440
– De posset (Über Können-Ist, d.h. Gott), 1443
– Idiota de mente (Der Laie über den Geist), 1450
– De cribratione Alchoran (Über die Siebung, d.h. Sichtung des Koran), 1461
– De ludo globi (Über das Spiel, d.h. die Umdrehung der Erdkugel), 1464
So ergibt sich für das Abendland
folgende Quadratur des Denkkreises:

1) VORDENKER
(Gnostiker, Neuplatonisten, Ur-/Vorscholasten): PATRISTIK (Ergebnis: Scholastik als Theologie)
– 2) FRÜHDENKER
(Früh-, Hoch-, Spätscholasten): SCHOLASTIK (Ergebnis: Naturwissenschaft als Philosophie)
– 3) HOCHDENKER
(Reformatoren, Rationalisten, Aufklärer): RATIONALISTIK (Ergebnis: Industriemoderne als Neu-Theologie)
– 4) SPÄTDENKER
(Idealisten, Nihilisten, Globalisten): MODERNISTIK (Ergebnis: . . .? . . . als Neu-Religion)
Die Regel ist
„pentagonisch“, weil der GLAUBE
immer mitspielt:
GLAUBE wird Religion (), Religion wird Theologie (), Theologie wird Philosophie (),
Philosophie wird Neu-Theologie (), Neu-Theologie wird Neu-Religion (), Neu-Religion wird Neu-GLAUBE.
Theoretisch
war für Menschen also schon seit der Urgeschichte die Möglichkeit zu einer Moderne gegeben. Für die Säugetiere, also auch für uns Menschen war Jupiter bzw. der Meteorit, den er uns vor 65 Mio. Jahren schickte, ein Glücksbringer (natürlich nur optimistisch gesehen!).
Die Prädestination wurde vom Calvinismus, anfangs ein antischolastischer Humanismus, zu seinem Inhalt und Mittelpunkt gemacht. Diese Prädestination, die man auch Prädetermination nennt, meint die Vorbestimmung des Menschen schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschbaren Willen, und zwar entweder als Gnadenwahl zur Seligkeit ohne Verdienst oder als Prädamnation zur Verdammnis ohne Schuld. Sie wurde schon von Augustinus (354-430) gelehrt und nach ihm von Luther (1483-1546), Zwingli (1484-1531), Calvin (1509-1564) und dem Jansenismus (nach Cornelius Jansen, 1585-1638). Auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Calvinismus, besonders aber dem aus ihm entwickelten Puritanismus, und dem modernen Kapitalismus der abendländischen Kultur hat vor allem Max Weber (1864-1920) hingewiesen.
Die Prädestination, die man auch Prädetermination nennt, meint die Vorbestimmung des Menschen schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschbaren Willen, und zwar entweder als Gnadenwahl zur Seligkeit ohne Verdienst oder als Prädamnation zur Verdammnis ohne Schuld. Sie wurde schon von Augustinus (354-430) gelehrt und nach ihm von Luther (1483-1546), Zwingli (1484-1531), Calvin (1509-1564) und dem Jansenismus (nach Cornelius Jansen, 1585-1638). Prädestination wurde vom Calvinismus zu seinem Inhalt und Mittelpunkt gemacht. Auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Calvinismus, besonders aber dem aus ihm entwickelten Puritanismus, und dem modernen Kapitalismus der abendländischen Kultur hat vor allem Max Weber (1864-1920) hingewiesen.
Johannes Faust (um 1480 – 1536 oder 1540), deutscher Arzt, Astrologe und Schwarzkünstler, war nach seinem Theologiestudium in Heidelberg u.a. in Erfurt (1513), in Bamberg (1520), in Ingolstadt (1528) und in Nürnberg (1532). Er stand in Verbindung mit humanistischen Gelehrtenkreisen und hatte anscheinend Kenntnisse auf dem Gebiet der Naturphilosophie der Renaissance (magia naturalis). Schon zu seinen Lebzeiten setzte die Sagenbildung ein, besonders durch Übertragung von Zaubersagen auf ihn, in denen er vor allem als Totenbeschwörer auftrat. Sein plötzlicher (gewaltsamer?) Tod gab Anstoß zu Legenden, der Teufel habe ihn geholt. Diese Stoffe wurden Grundlage eines Volksbuches. Das erste Faustbuch erschien 1587 bei J. Spies in Frankfurt (Main). Mit einer um 1575 niedergeschriebenen Wolfenbüttler Handschrift des Faustbuches geht diese Fassung auf eine gemeinsame, nicht erhaltene Vorlage zurück. Das Spies’sche Faustbuch wurde 1599 in Hamburg neu bearbeitet von G. Widmann, dessen Fassung später (1674) von J. N. Pfitzer gekürzt wurde. Das älteste überlieferte Faust-Drama ist The tragical history of Doctor Faustus (entstanden 1588) von C. Marlowe. Es schließt sich eng an das Spies’sche Faustbuch an. Den Anfang bildet der Faustmonolog, ein nächliches Selbstgespräch des Faust, in dem dieser die einzelnen Universitätswissenschaften, einschließlich der Theologie gegeneinander abwägt, sie alle verwirft und sich der Magie verschreibt. Dieser Faustmonolog wurde ein festes Bauelement fast aller späteren Faustdramen. Faustspiele waren bei den englischen Komödianten in Deutschland (zuerst 1608 in Graz bezeugt) und später den deutschen Wandertruppen beliebt, worauf dann das Puppenspiel vom Doktor Faust, das seit 1746 bezeugt ist, fußt. (Vgl. „Volksbuch vom Dr. Faust“ und z.B. auch Lessing und Goethe sowie Seelenbild).
Johann Wolfgang Goethe (1749-1832): „Urfaust“ (1772-1775); Faust (Teil I), 1806, S. 27, Faust (II), 1831, S.113ff.
Carl Friedrich Gauß (1777-1855) veröffentlichte seine nicht-euklidischen Geometrien nicht, weil er das Geschrei der denkfaulen, schwerfälligen und unkultivierten Menschen fürchtete. Er nannte sie Böoter, weil die Einwohner dieser antiken Landschaft (Hauptstadt: Theben) von den Einwohnern anderer Griechenstädte als denkfaul und schwerfällig beschrieben worden waren. Gauß meinte zu Recht, daß man die Menschen nicht wirklich würde überzeugen können. Die erste der nichteuklidischen Geometrien entdeckte Gauß nach Vollendung seines Hauptwerkes Disquisitiones arithmeticae (1801), durch deren in sich widerspruchslose Existenz bewiesen wurde, daß es mehrere streng mathematische Arten einer dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt, die sämtlich a priori gewiß sind, ohne daß es möglich wäre, eine von ihnen als die eigentliche Form der Anschauung herauszuheben. (Vgl. 18-20).
Dies ist die dialektische Figur der von Fichte aufgestellten drei Grundsätze. Das System ist ein System aus Dreiecken, die sich durch selbstähnliche Abbildung, wie bei einem Fraktal, vermehren. Hegel hat das selbst in seiner Zeichnung vom „göttlichen Dreieck“ angedeutet. Hegels „Enzyklopädie“ endet und kulminiert in einem Zitat des Aristoteles. „Denn der Vernunft wirkliche Tätigkeit ist Leben, die Gottheit aber ist die Tätigkeit; ihre Tätigkeit ist … ewiges Leben“. Hegel meinte damit, die Entgegensetzung von Glauben und Wissen endgültig überwunden und zugleich alles begriffen zu haben – alles, bis ins kleinste Detail hinein. (Hegel: „Gott ist ein Schluß, der sich mit sich zusammenschließt“).
Die abendländische Philosophie sei eine Reihe von Fußnoten zu Platon, behauptete der Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead (1861-1947), einer der wichtigsten Vertreter des Neurealismus, auf den er eine kritische Naturphilosophie gründete, die er später durch eine konstruktive Metaphysik ergänzte.
Sprachphilosophie als Teildisziplin der Philosophie hat – vor allem heutzutage – zum Gegenstand den Ursprung und das Wesen, soziologische, kulturelle und geistige Funktion, Logik und Psychologie der Sprache sowie die Bedingungen der Möglichkeit von Philosophie und Wissenschaft und anderer sprachlich verfaßter Kulturleistungen (und das sind die meisten!). Ein wichtiges Problem bezüglich des Wesens der Sprache liegt in der Interpretation des traditionellen, heute sogenannten semantischen Dreiecks, bei dem die Gegenstände und Sprachzeichen nicht unmittelbar, sondern über ihre Universalien miteinander verknüpft sind (vgl. Universalienstreit). Daneben ist eine genetische, auf die grundsätzliche Vielfalt der Sprachen gerichtete Sprachbetrachtung heute nur im Rahmen bilologischer (und auch soziologisch-psychologischer) Untersuchungen Bestandteil der Sprachphilosophie. Die „Analytische Sprachphilosophie“ machte die Vernunftkritik von Kant (1724-1804) zur Sprachkritik. Der damit verbundene Neuansatz in der Sprachphilosophie versucht, Sprache ausdrücklich in den Lebensformen menschlicher Gemeinschaften zu verankern. Zentrale Frage der gegenwärtigen Sprachphilosophie ist der Zusammenhang zwiscehn wissenschaftlich-philosophischer Erkenntnis und Form und Struktur der Sprache, wie er besonders durch die Entwicklung der „Analytischen Philosophie“ und ihr Interesse an der logischen Analyse sprachlicher Ausdrücke thematisiert wurden; vgl. z.B. Philosophie der Alltagssprache (Wittgenstein, Austin Searle u.a.), Sprachkritik (Wittgenstein: „Alle Philosophie ist Sprachkritik“), Sprachursprungshypothesen (z.B. bei Herder, Lenneberg, Hockett, Schwidetzky u.a.). „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache, um aber Sprache zu erfinden, mußte er schon Mensch sein“ (Herder, Gesammelte Schriften, VII, 1, 47). Vgl. auch den Zusammenhang zwischen dem Gebrauch von Feuer und Sprache im Paläolithikum.
Römisch-katholische Interpretationen attestieren dem Abendland zumeist, daß in ihm die Dominanz des Christlichen überwiege. Diese Meinung teilen vor allem kirchliche und vornehmlich christlich orientierte Vertreter. Theodor Heuss (31.01.1884 – 12.12.1963) soll einmal gesagt haben, daß Europa von 3 Hügeln ausgegangen sei: von der Akropolis, von Golgatha und vom Kapitol. Diese Sichtweise würde eher, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt, auf eine Dominanz der Antike verweisen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß aus einem antik-apollinischen Einzelkörper und einer magisch-seelengeistigen Welthöhle ein abendländisch-faustischer Unendlichkeitsraum entstehen kann, dann muß unbedingt ein dritter Faktor hinzukommen, den ich die Kulturpersönlichkeit nenne: das Germanentum. Ohne das Germanentum versteht man die Willensdynamik eines Faust nicht, und ohne das germanische Element ist die Raumtiefe, aber auch die in jeder Hinsicht sowohl ins Mikrokosmische als auch ins Makrokosmische gehende Unendlichkeit nicht als distinktives Merkmal der abendländischen Kultur zu identifizieren. Diese Merkmale treffen auf keinen antiken Menschen zu, aber insbesondere auf die Abendländer, die germanischen Ursprungs sind. Scharfe Gegensätze, wie die zwischen Antike und Abendland, sind zwar unbedingt ein Indiz für Verwandtschaft, weil beide Kulturen so auffallend gegensätzlich sind: aktiv und reaktiv. Offenbar hat die Antike auf das Abendland aber nicht persönlichkeitsstiftend gewirkt und konnte auch erzieherisch nicht tätig werden, weil sie so früh verstarb. Die Biogenetik und Sozialisation geraten nicht selten so weit auseinander, wenn ein Elternteil früh verstirbt, d.h. nicht wirklich erlebt wird. Dem Abendland scheint es auch so ergangen zu sein. Die Auseinandersetzungen mit der magischen Mutter hat beim Kind jedoch zu einer enormen, fast schon verdächtigen Erinnerung bis hin zur Vergötterung des antiken Vaters Beitrag geleistet. Aber liegt deshalb immer auch schon ein Vaterkomplex vor? Es bleibt zunächst festzuhalten, daß auch kulturell zwischen Genetik und Sozialisation, zwischen Anlage und Umwelt, zwischen angeboren und anerzogen ganz klar unterschieden werden muß. Dazwischen bewegt sich die Persönlichkeit. Man kann sie nicht isolieren, folglich auch nicht isoliert betrachten, aber man kann sie beschreiben, und ich beschreibe die Kulturpersönlichkeit des Abendlandes als germanisch, weil dieser Raum zwischen Anlage und Umwelt für die Kulturpersönlichkeit zwanghaft unendlich werden muß, wenn sie die verlorene Vaterkultur zurückholen will. Der unendliche Raum und Wille sind auch deshalb Ursymbol und Urwort des Abendlandes. Wenn der Mensch eine Grundlage von etwa 60 Billionen Zellen hat und einer Umwelt von praktisch unendlicher Vielfalt ausgesetzt ist, so gilt für eine Kultur, daß sie Völker, Staaten oder Nationen zur Grundlage hat und einer Umwelt von unendlichen Möglichkeiten, aber auch gähnender Leere gegenübersteht. Mit dem Germanentum fiel eine faustische Entscheidung zugunsten der unendlichen Möglichkeiten. Die Eltern des Abendlandes waren also antik-magisch, ihre gentragenden Chromosomen römisch-christlich, aber die Kontrollgene germanisch. (Vgl. 22-24).

Urdenker Vordenker Frühdenker Hochdenker

Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

Vor-Denker

– Vordenker sind Denker „uteriner“ Art –
Wenn die „Älter’n“, die Eltern-Kulturen die kulturelle Schwangerschaft, die Pseudomorphose denken und die Gedanken auf die Kindes-Kultur übertragen, dann geschiehtdies aus einem Synkretismus heraus über die religiösen Vorstellungen der Vordenker. Prokognitionen und Präkognitionen stimmen hier überein. Natürlich führen immer beide elterlichen Kulturen die kulturelle Schwangerschaft herbei. Eine Zeit der anderen Umstände erleben Kulturen auch denkerisch wie eine synkretistische Pseudomorphose. Die synkretistisch sich entwickelnde Religion der Mutterkultur wird mit dem noch hüllenlosenKulturkeim über die missionarische Nabelschnur verbunden und gibt ihm anschließend die ersten Fruchthüllen: die neu enstandene Religion. Diese wächst bald mit der Gebärmutterschleimhaut zur Plazenta zusammen: zur Religionskultur. Danach entwickelt die Embronalkultur allmählich ihre seelenbildlich-ursymbolisch so wichtigen 2 Großhirnhemisphären und auch alle Organe, die schließlich die Fötalkultur erstmalig zur vollen Funktionalität bringt.

– Sumerisch-ägyptische Eltern und indogermanische Antike –
Die altmediteranen Religionen der sumerischen Kultur und der ägyptischen Kultur verschmolzen mit der Religion der Indogermanen, und aus diesem religiösen Synkretismus ging kultur-intrauterin die Antike hervor. Noch vor 2000 v. Chr. trafen indogermanische Stämme bei ihrer Einwanderung auf eine mit Kleinasien und den Inseln in enger Verbindung stehenden Bevölkerung. Hier entstanden Religion und Theologie der Protohellenen. (Vgl. Zeus). Von Beginn an waren in der Antike zwei Einrichtungen wichtig: die Orakel und die Mysterien. Ein Beispiel bieten die schon vor 2000 v. Chr. durchgeführten „Eleusinischen Mysterien“: ein volkstümliches Initiationsritual, in dem die Initianden (Neophyten = Neubekehrte) von der Furcht vor dem Tod gereinigt und in die Gemeinschaft der Seligen aufgenommen wurden. Dieses geheime Ritual wurde jedes Jahr, nach langen Vorbereitungen, im September durchgeführt. Die Menschenmassen zogen z.B. von Athen aus über die heilige Straße ins 22 km entfernte Eleusis, um eine Nacht („Weihnacht“) im Telesterion, einer etwa 3000 Pilger fassenden Initiationshalle, zu erleben. Die Kenntnis der griechischen Sprache war eine Bedingung für den Eintritt. Außerdem hatte man einige Gebühren für Priester und Führer zu bezahlen und ein Opferschwein mtzubringen. Mit Lärmen, Schreien und großem Gedränge scharte man sich zusammen, aber dann, wenn die heiligen Riten vollzogen und enthüllt wurden, verfielen die Menschen in ehrfürchtiges Schweigen. Was bei den Mysterien tatsächlich geschah, das durfte bei Androhung der Todesstrafe keiner verraten, der es erlebt hatte. Und zu sehen gab es etwas, denn der Pilger wurde zum Sehenden (Epoptes = Beschauer, Wächter, Augenzeuge). Diese Mysterien mit dem unaussprechlichen Heilsgehalt waren also ein geheimes Ritual. Sie beseelten den Mythos von der Erdmutter Demeter (lat. Ceres), Göttin der Fruchtbarkeit und des Getreides. Deren jungfräulich einzige Tochter Persephone war beim Blumenpflücken von ihrem Bräutigam, dem Herrn des Todes, geraubt worden. Die Amme Baubo brachte Demeter wieder zum Lachen, indem Baubo ihre Vulva zur Schau stellte. Mit Hilfe von Jackchos, dem sogenannten Vulvakind, kam Persephone dann tatsächlich ins Leben zurück. Bei der Beseelung dieses Mythos, durch die sexuelle Fruchtbarkeit, Tod und Wiedergeburt zu sinnlichen Erfahrungen wurden, spielten Rauschmittel und ekstatische Visionen erzeugende Halluzinogene eine Rolle, insbesondere das Gerstenmutterkorn. Die Blumen, die Persephone pflückte, waren Narzissen, d.h. (dem Namen nach) narkotisch wirkende Pflanzen, und Persephones Begleiterin hieß Pharmakaia, was Verwendung von Drogen bedeutet. In der Antike war Religion stets Mysterienkult. In ihrer Tiefe war diese Religion eher Mythologie und Fatalistik, die Theologie eher Theurgie. Uns heute noch bekannt sind die Mythen der Mykener, die Vorläufer der späteren homerischen Epen.

– Antik-magische Eltern und germanisches Abendland –
Im Vergleich zur werdenden Antike fallen die Quellen für das werdende Abendland viel deutlicher aus. Dies gilt auch für die drei Religionen, die für den Prozeß der abendländischen Kulturentwicklung entscheidend waren: die (urkulturelle) Religion der Germanen und die Religionen der abendländischen Eltern-Kulturen, d.h. die ältere erwachsene (zivilisierte) antike Kultur und die noch minderjährige magische Kultur. ().
Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die Pseudomorphose darin, daß alle Kirchen des Ostens in Kulte westlichen Stils überführt wurden. Das ist eine wesentliche Seite des Synkretismus. Seit Hadrian (117-138) verschwanden die echt antiken Stadtgötter im Hintergrund, auch wenn die östlichen Kulte noch sämtliche Merkmale des antiken Einzelkults trugen, jede Gemeinde für sich stand und örtlich begrenzt war: „alle diese Tempel, Katakomben, Mithräen, Hauskapellen sind Kultorte, an welche die Gottheit nicht ausdrücklich, aber gefühlsmäßig gebunden ist; aber trotzdem liegt magisches Empfinden in dieser Frömmigkeit. Antike Kulte übt man aus, und zwar in beliebiger Zahl, von diesen gehört man einem einzigen an. Die Mission ist dort undenkbar, hier ist sie selbstverständlich, und der Sinn religiöser Übungen verschiebt sich deutlich nach der lehrhaften Seite. Mit dem Hinschwinden der apollinischen und dem Aufblühen der magischen Seele seit dem 2. Jahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetzt Kulte des Westens, die zu einer neuen Kirche des Ostens werden. Aus der Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des Persertums und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische Nation.“ (Spengler, 1922, S. 801).

Die Germanen, in Wäldern lebend, verehrten „Höhere Kräfte“ in heiligen Hainen. „Übrigens glauben die Germanen, daß es mit der Hoheit der Himmlischen unvereinbar sei, Götter in Wänden einzuschließen und sie irgendwie menschlichem Gesichtsausdruck anzunähern: sie weihen Lichtungen und Haine und geben die Namen von Göttern jener Macht, die sie allein in frommem Erschauen erleben“. (Tacitus, ca. 55-120, Germania). Diese religiöse Schlichtheit schilderte der gebildete Römer Tacitus in seiner Germania mit Erstaunen und Bewunderung, denn er selbst lebte am Vorabend des Christentums in einer Weltstadt voller Tempel und Götterstatuen, die keine wahre Frömmigkeit mehr wecken konnte. Das Pathos des Autors prägte bis auf den heutigen Tag die Vorstellungen von germanischer Religiosität, denn die Germania blieb für Jahrhunderte die einzige einigermaßen zuverlässige Quelle. Grabungsfunde und Religionsforschung der letzten Jahrzehnte haben das Bild inzwischen bestätigt und zugleich korrigiert. Tacitus berichtete nicht nur von den germanischen „Buchenstäben“ (vgl. Buchstaben und Runen), sondern auch von jenen heiligen „Rossen“, aus deren Wiehern und Schnauben die Priester die Zukunft deuteten: „Die Tiere werden auf Kosten des Stammes in den bereits erwähnten Hainen und Lichtungen gehalten, weißglänzend und durch keinerlei irdischen Dienst entweiht.“ Tatsächlich vollzogen die Germanen in heiligen Eichenhainen kultische Handlungen. Aber auch Quellen und Moore waren heilige Stätten, weshalb man Verbrecher im Moor versenkte, d.h. opferte. Unser Volksmund spricht vom Froschteich, aus dem die Kinder kommen; hier hat sich eine Ahnung aus jener Frühzeit erhalten, ebenso in den Sagen von Wasser- und Waldgeistern, Erdmännchen und Irrlichtern. Jahrtausende hat sich deren Geschichte erhalten, vor allem in Sagen und Märchen. (Vgl. auch die Rückbesinnung in der deutschen Romantik, z.B. durch die Märchensammlungen der Gebrüder Grimm).
Wotan (Wodan bzw. Odin), in der späteren Sage der „unheimliche wilde Jäger“ der Lüfte mit kläffender Meute, ist der Gott des Windes, des Sturmes, des Atems und damit der Seelen, der Toten und des Jenseits („Walhalla“). Daß dieser Gott kulturell der jägerischen Frühzeit angehörte, zeigen seine schamanistischen Züge: die Erinnerung an schreckliche Prüfungen, die ein Schamane, ein Jagdzauberer, vor Ausübung seiner Macht durchstehen mußte, ist in dem Bericht der „Edda“ erhalten, der erzählt, wie Odin (Wotan) ans Stammholz der Weltesche „Yggdrasil“ geschlagen, die Runen findet. Der „Wodanstag“, von den Christen zum „mittleren Tag“ der Woche erklärt, ist der Mittwoch (ahd. Mettawech, engl. Wednesday); die Namen Godesberg (bei Bonn), aus Wodansberg entstanden, Gutmannshausen (bei Weimar), einst Wodanshusen, und Wodeneswege (bei Magdeburg), das heutige Gutenswegen, sind einige der vielen Beispiele, die auf die alten Kultstätten verweisen. Odin, wie ihn die nordgermanische Edda überliefert, und Wodan (Wotan), der im südgermanischen Raum verehrt wurde, bedeuten im Grunde die gleiche Gestalt. Wodan (Wotan) war allerdings nicht zunächst Gott, sondern der Zauberer, wie ihn auch noch der zweite Merseburger Zauberspruch (10. Jh.) überliefert, in dem Wodan (Wotan) zi holza fährt, ins Holz, in den Wald. Aus diesem Bereich dürfte die Runenfindung stammen, hier bietet die Archäologie die meisten runengeritzten Lanzenspitzen, so kommt der Mythos der Runenfindung wohl von Wodan (Wotan) auf Odin.
Donar (nordisch: Thor), den Tacitus mit Herkules gelichsetzte, war der zweitwichtigste Gott der Germanen, der den Hammer schwingt und Blitze schleudert. (). Begleitet von den Böcken „Zähneknirscher“ und „Zähneknisterer“ oder auf einem Ziegenwagen fahrend, deutet er auch in Richtung der Fruchtbarkeiskulte. Er wurde schon in der Jungsteinzeit verehrt, wie Felszeichnungen beweisen. Auch sein Hammer galt noch bis ins Mittelalter als Symbol der Fruchtbarkeit. Donar (Thor) bingt Regen, vertreibt den Frost, zerschmettert die Eisriesen, ist der zuverlässige Gott der Bauern. Wenn er mit seinem Wagen über den Himmel rollte, hörte man den Donar, den Donner; er schützt mit dem Hammer die heiligen Ordnungen, weiht Ehen wie der Schmied von Gretna Green, bekräftigte Verträge: noch heute kommt Versteigerungsgut „unter den Hammer“. Mit seiner gewaltigen Kraft war Donar (Thor) der Schrecken der Gegner. Diesem Gott ist die Eiche heilig. Orte wie Donnersberg, Donnern oder Donnersdorf u.s.w. erinnern am seinen Namen. Natürlich auch der Donnerstag, der Tag des Donar bzw. des Thor (engl. Thursday).
Auch einen echten Fruchtbarkeitsgott, den altorientalischen Göttern Adonis oder Dionysos vergelichbar, gab es bei den Germanen: Baldur, der lichte Frühlingsgott, dessen Sterben und Auferstehung im Mythos verklärt wurde. Die altnordischen Sagen berichten auch von Loki, dem Blutsbruder Odins (Wodans). Loki ist Gott des Feuers und der Unruhe, des Schöpferischen und der Zerstörung. Loki hütet das Herdfeuer, das er Freya, der Göttin der Liebe, Ehe und Fruchtbarkeit gestohlen hat. Er schmiedet Schwerter, sticht als Floh die hehre Freya, gebärt als Stute Wodans achtbeinigen Hengst Sleipnir – halb Kobold, halb Prometheus, häufig in Tiergestalt, ist er der witzige, eigenwillige Helfer. Freya, die Göttin der Fruchtbarkeit, und ihr Bruder Freyr (Fro), dem der Eber geweiht war und ebenso der Schimmelhengst, sind Fruchtbarkeits- und deshalb auch Liebesgötter. Freya rief man an, wenn man Liebesglück suchte (daher: freiern = werben, heiraten wollen). Und wenn zu Ehren des Freyr das Bild seiner mythischen Gattin auf dem heiligen Wagen durch das Gebiet eines Stammes rollte, feierte man diesen Kult mit sexuellen Praktiken wie in Griechenland den Dionysos: das war zwingende Sexualmagie. (Vgl. die antiken „Mysterien“). Freya und ihrem Bruder Freyr war natürlich der Freitag (engl. Fryday) gewidmet.
Die germanischen Kultgemeinschaften – z.B. die der Mannus-Stämme oder die Kulte um die Göttin Nerthus (Hertha) – sind mit den griechischen oder römischen Kultgemeinschaften durchaus vergleichbar. Bestimmte Heiligtümer durften nur Priester berühren, z.B. den geweihten Wagen, der mit einer Decke verhüllt war und sich auf einer Insel im Ozean im heiligen Hain befand. Freudig waren da die Tage, festlich geschmückt die Stätten, die der Gott oder die Göttin mit Ankunft und Besuch würdigte. Dann zog niemand in den Krieg, griff niemand zu den Waffen. Alles Eisen war eingeschlossen. Bekannt und geliebt waren jetzt nur Friede und Ruhe, bis der Priester der Gottheit des Umgangs mit den Menschen müde wurde. Den Gottesdienst verrichteten Sklaven, die danach von der See verschlungen wurden; daher auch: „Seele“ als „zur See gehörig“. Nur Todgeweihte durften hier schauen. ()

Frühes Vordenken
Gnosis, die griechische Bezeichnung für Erkenntnis, auch Gnostik oder Gnostizismus genannt, wurde seit dem 1. Jh. n. Chr., hauptsächlich aber erst seit dem 2. Jh. n. Chr. zu einer in der Schau Gottes erlebten Einsicht in die Welt des Übersinnlichen. Die gnostischen Philosophen und Theologen meinten, im Glauben verborgene Mysterien durch philosophische Spekulation zu erkennen. Dieser religiösen Bewegung, die sich in Ländern des Mittleren Ostens sogar schon zu Beginn unserer Zeitrechnung ausbreitete, ging es um eben jene Erkenntnis, die man auch mit Heils- oder Erlösungswissen umschreiben könnte. Erkenntnis im Sinne des Gnostizismus sollte nämlich dem Erkennenden nicht nur die Welt und sein Innerstes entschlüsseln, sondern ihm helfen, sich von der bösen Welt, in der die Mächte der Finsternis herrschten, zu befreien. Der Anfang jeder Gnosis ist das Gefühl der Fremdheit in der Welt und die Sehnsucht nach Heimkehr der Seele zu ihrem Ursprung: Gott. Er ist Licht und Geist (pneuma, Pneuma, Hauch, Atem, Wind, Klang, Feuer, Leben, Seele, Geist). Die Welt ist Finsternis und Materie (Hyle, Stoff). Nicht ein guter Gott, sondern ein böser Demiurg habe den Kosmos geschaffen. Der gute Gott aber sei die Heimat der Seele, die in dieser Welt aus ihrer Heimat verbannt wie in einem Gefängnis oder in der Fremde sei. Der böse Demiurg wolle, daß der Mensch bzw. die Seele die Heimat vergesse und ganz der Welt verfalle ohne noch zu wissen, daß er hier in der Fremde und seinem Ursprung entfremdet existiere. Dieses Gefühl der entfremdeten Existenz, so die Gnosis, sei der Anfang einer Wende zum Guten, sofern es zugleich Heimweh nach Gott oder dem Paradies sei. Das Heil müsse allerdings von außen kommen: durch den Retter, den Heilsboten oder Sohn Gottes, der vom Himmel herab zu den Menschen in der Finsternis komme, um sie aus dieser heraus und ans Licht zu führen. In der Gnosis vermischten sich christliche Vorstellungen und außerchristliche, d.h. solche aus den griechischen Mysterien, dem persischen Mithraskult, den apokalyptisch-esoterischen jüdischen Zirkeln sowie aus der ägyptischen Hermetik. Im ersten, aber insbesondere seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert wuchs die Zahl der Theologen bzw. Philosophen, die im Glauben verborgene Mysterien durch philosophische Spekulation erkannten. Die nicht-kirchlichen Gnostiker vereinigten die Gnosis mit altorientalischen, besonders persischen und syrischen Religionsvorstellungen, jüdischer Theologie, platonischer, stoischer und pythagoräischer Philosophie zu einer eklektizistischen Mystik, dagegen wollten die kirchlich-gläubigen Gnostiker nur den christlichen Glauben stützen, z.B. Clemens von Alexandria (um 150 – 215). Von Platon, der Stoa und Philon beeinflußt, war er Vordenker bzw. Vorkämpfer einer bewußt christlichen Philosophie und einer christlichen Gnosis; er sah das Wirken des göttlichen Logos überall, auch in der heidnischen Philosophie (besonders bei Platon), die als Hinlenkung zum Göttlichen unentbehrlich sei. Gott kann nach Clemens nur negativ bestimmt werden. Der gnostische Christ sei ausgezeichnet durch stoische Apathie: Freisein von Affekten und Leidenschaften, also das Ziel der seelischen Selbsterziehung. Durch Askese könne der gnostische Christ zu einem „im Fleische wandelnden Gott“ werden. Clemens‘ Wirken zielte auf die Schaffung einer christlichen Kultur und (letztendlich) auf die Überwindung der Gnosis. Fast allen gnostischen Systemen ist gemeinsam der Dualismus zwischen Gottheit und Materie, die Überbrückung der Kluft zwischen beiden durch eine Reihe von Mittelwesen, der Gedanke ihrer Emanation (Ausfluß, Ausströmung) in abnehmenden Seinsstufen und ihrer Rückkehr zum Ursprung auf dem Wege zur Erlösung. Ab dem 4. Jh. wurde der Gnostizismus von der römischen Kirche bekämpft und sein Schrifttum weitgehend vernichtet. Bald gab es von ihm kaum noch Spuren im Westen, d.h. im Abendland.

Hohes Vordenken
Urheber des Neuplatonismus war der in Alexandria lebende Ammonios Sakkas (um 175 – 242). Er hat nichts Schriftliches hinterlassen, seine Schüler um so mehr: Plotinos (205-270), der eigentliche Begründer des Neuplatonismus, und Origenes (185-254), der zuerst Lehrer an der ältesten christlichen Theologen-Bildungsanstalt (203-231) in Alexandria, dann Vorsteher der von ihm 232 gegründeten Anstalt in Caesarea (Palästina) war und von den Orthodoxen als Ketzer angegriffen wurde. Origenes vollendete die früheste christliche verteidigende (apologetische), vergleichende und systematische Theologie in Form einer Streitschrift gegen Celsus (2. Jh.), ein römisch-platonischer Philosoph, der starke Einwände gegen das Christentum hatte und meinte, Gott könne ohne Veränderung in das Schlechte gar nicht zu den Menschen gelangen; die christliche Lehre sei ohne Originalität, habe ihre Wurzeln in der orientalischen Mythologie und gefährde praktisch den Staat. Origenes benutzte die Gnosis und den Neuplatonismus, besonders seine Lehre vom Logos, zur Deutung der religiösen Urkunden. Gott sei wirkende Vorsehung, Christus nicht Erlöser, sondern Vorbild, der heilige Geist der eigentliche Mittler zwischen Christus und Welt bzw. Menschheit, der deren Rückwirkung zu Gott bewirke. Nachdem Clemens von Alexandria (150-215) noch unsystematisch zwischen Platon, Stoa und Philon, also platonisch, stoisch und gnostisch hin und her philosophiert hatte, schuf Origenes unter Verwendung griechischer Begriffe und starker Annäherung an neuplatonische Ideen ein theologisches System. Das Kernstück des Neuplatonikers Plotinos dagegen war die Ontologie als eine Art Hypostasenlehre. Die Vergegenständlichung oder Personifikation eines Begriffes und dieser selbst schienen ihm ein Ein-und-Alles zu sein. Und selbst das war ihm wahrscheinlich noch zu körperlich. Plotinos war so sehr auf Vergeistigung bedacht, daß er sich schämte, einen Leib zu haben. Er systematisierte den Neuplatonismus und ging vom All-Einen aus, welches das Ur-Gute sei, aber weder Vernunft noch Gegenstand der Vernunfterkenntnis. Das All-Eine sei die 1. Hypostase, die Grundlage, das höchste Prinzip. Es entlasse aus sich heraus durch Ausstrahlung (Emanation) den Weltgeist: Nous. Der Nous setze die Welt-Seele aus sich heraus; er fasse die Ideenwelt in sich, die wahre Welt, während die Sinnenwelt nur ein trügerisches Abbild dieser sei. Die Welt-Seele gliedere sich in Einzel-Seelen auf. Als niederste Stufe der Emanation entstehe die Materie, das Nicht-Seiende, Böse, die absolute Negation des Ein-Urwesens. Das letzte und höchste Ziel der vom All-Einen abgefallenen Seele sei ihre Wiedervereinigung mit ihm durch Ekstase, zu der die Erkenntnis nur eine Vorstufe sei. Ausstrahlung bzw. Emanation als Antwort auf die Frage, wie ein Gott aus dem Jenseits mit einer Welt im Diesseits in Verbindung treten könne, so meinte es Plotinos in seinen „Enneaden“ (Neunerreihen). Plotinos‘ Stufenschema der Emanation entspricht der Weltenstehungslehre in Platons Dialog „Timaios“, und Plotinos‘ Seelenrückkehr entspricht dem Höhlengleichnis in Platons „Staat“. Die Rückkehr der Seele zur ursprünglichen Einheit soll wie bei Platon durch Abwendung von der Sinnlichkeit erfolgen und die verschiedenen Stufen des Bewußtseins durchlaufen: die sinnliche Wahrnehmung, das diskursive Denken, die anschauende, intuitive Vernunft und schließlich die kontemplative Einsicht – letztere mit einer mystischen Ekstase verbunden, wie in Platons Symposion das Zeugen im Schönen und Guten. Diese Ekstase erlebte Plotin tatsächlich mehrfach, so berichtete es jedenfalls sein Schüler Porphyrios (233-304).
Platons Philosophie der Weltverabschiedung und Einübung ins Sterben, insbesondere seine Lehre von der Umkehr durch Ausstieg aus der Höhle weltlicher Verfallenheit ließen sich mit dem gnostischen Mythos gut zu einer philosophischen Gnosis verbinden, zu einem Seelenheilswissen: Rückkehr zum Einen, Einswerdung (henosis). Für den in Körper, Seele und Geist geteilten Menschen würde dies bedeuten: Eins werden und mit dem Einen sich vereinen. Das Eine strahlt nach neuplatonischer Vorstellung als solares Zentrum, das die Vielheit von Geist, Seele und Körperwelt nacheinander entstehen läßt. Rückkehr zum Einen aus der Körperwelt oder Finsternis ist daher Befreiung der Seele aus dem Leib und Befreiung des Geistes aus der Seele, bedeutet den individuellen und kosmischen Tod. Henosis als Einswerdung oder Rückkehr zum Einen kann auch mitten im Leben als mystisches Erlebnis der Heimkehr, die den Tod antizipiert, auftreten.

Spätes Vordenken
Die christliche Philosophie, die die Kirchenväter (Patristen) immer mehr durchsetzten, war zunächst eine alexandrinische, d,h, eine mehr und mehr von spätgriechischen, jüdischen und christlichen Elementen bestehende Philosophie gewesen. In dieser Alexandrinischen Schulewurde der Versuch gemacht, aus der spätgriechischen Philosophie eine christliche zu machen. Wenn die Patristik die Nabelschnur für das Abendland im Uterus bedeutet, dann repräsentiert die christliche Religion die versorgenden Fruchthüllen, die zusammen mit der Gebärmutterschleimhaut zur Plazenta werden. Das Christentum wurde tatsächlich so etwas wie ein Mutterkuchen für das werdende Abendland, weil dieses ja auch mit magischen Kulturgenen ausgestattet ist. Die magische Kultur stellte die weiblichen, die antike Kultur die männlichen Gene zur Verfügung. Aus dem Gengemisch entwickelten sich kulturhistorische Faktoren, die man als kirchenväterlich bezeichnen kann. Man bezog sich auf Jesus, auf seine Gesandten, die Apostel, auf das Reich – auch auf das römische (!) – und vor allem auf den missionarischen „Boten“ Paulus, um das Kirchenväterliche durchzusetzen. Die Patristik als Philosophie und Theologie der Kirchenväter, d.h. der geistig-religiösen Führer des Christentums vom 1. / 2. Jh. bis ins 8. Jh., pflegt man wie folgt zu gliedern („Patrologie“):

(1) Apostoliker (an die Apostel und Paulus unmittelbar anschließende Väter seit 1. / 2. Jh.). „Früh-Urpatristik“.
(2) Apologetiker (griechisch-philosophisch das Christentum verteidigende Väter seit 2. Jh). „Hoch-Urpatristik“.
(3) Systematiker (erstmals theologisch systematisierende Väter seit 3. / 4. Jh.). „Spät-Urpatristik“.
(4) Dogmatiker (sich erstmalig geschichtlich betrachtende Väter seit 4. Jh.). „Früh-Patristik“.
(5) Kirchenpolitiker (praktisch-theologisch orientierte Väter seit 4. / 5. Jh.). „Hoch-Patristik“.
(6) Scholastiker (theologisch-philosophisch-wissenschaftsschulische Väter seit 5. / 6. Jh.). „Spät-Patristik“.

Apostolische Väter waren laut altchristlicher Literatur die nachapostolischen Schriftsteller (bis etwa 150) und dennoch nur teilweise unmittelbare Schüler der Apostel. Die Apologetischen Väter suchten besonders die Vereinbarkeit der Lehre des Christentums mit der griechischen Philosophie zu beweisen, wobei sie mitunter eine neue Philosophie einführten (z.B. Justinus, 100-167). Hierbei kam es im 2. Jh. zu Konflikten mit der Gnosis, zu der z.B. Tatian (2. Hälfte 2. Jh.) überging. Der scharfsinnige Tertullian (ca. 150-220) steht für das Ende dieses Abschnitts und Origenes (185-254) für den Übergang in den nächsten Abschnitt der Patristik. Im 3. und beginnenden 4. Jh. standen die Systematiker, d.h. ihre ersten theologischen Systematisierungen und die in den mannigfachsten Lösungsversuchen beantwortete Christusfrage im Vordergrund, deren Gegensätze die Göttlichkeitsthese des Athanasios (295-373) und die die Göttlichkeit leugnende These des Arius (ca. 250-336) hinsichtlich Christus verkörpern. Schon zuvor hatte ja Origenes unter Verwendeung griechischer Begriffe und starker Annäherung an neuplatonische Ideen ein theologisches System des Christentums geschaffen. (Vgl. Neuplatonismus). Dies wurde allerdings später verworfen. Im 4. und beginnenden 5. Jh. fing das Christentum an, und zwar über seine Dogmatiker, sich erstmalig geschichtlich zu betrachten. Das Trinitätsdogma näherte sich seiner endgültigen Festlegung. Eusebius von Cäsarea (260-340), dem Arianismus zuneigend, verfaßte die erste Kirchen- und Dogmengeschichte; er lehrte eine Beeinflußung Platons, überhaupt der griechischen Philosophie, durch das Alte Testament. Mit der weitgehenden Vollendung der Dogmenbildung und der Erstarkung der Kirche, besonders seit der staatlichen Anerkennung 313 durch Kaiser Konstantin d. Gr., traten noch im 4. Jh. die Kirchenpolitiker und mit ihnen der kirchenpolitische Charakter der Patristik auffällig hervor. Nach Hilarius von Poitiers (310-367), dem „Athanasius des Abendlandes“, und dem unter Philons Einfluß stehenden, aus Trier stammenden Ambrosius von Mailand (340-397), dem „Philon des Abendlandes“, stellte Augustinus (354-430) mit seiner praktischen Theologie die Kirche und ihre Ansprüche auf Seelenwirkung und Heilsvermittlung in den Vordergrund, geschichtsmetaphysisch unterbaut durch die von ihm vollendete Lehre vom Gottesstaat. Die Opposition dagegen unterlag, z.B. die durch Pelagius († um 420) und Julian von Aeclanum († 454). Auch Hieronymus (um 345-420), der nach dem Studium in Rom von 375 bis 378 als Einsiedler in der Wüste lebte und seit 385 in Bethlehem Klöster leitete, war einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit. Er bearbeitete die lateinische Bibel neu (Vulgata), verfaßte viele wichtige theologische und historische Werke und übersetzte zahlreiche griechische Werke ins Lateinische. Schon eindeutig geographisch zu unterscheiden, sozusagen in zwei Kultursphären zu trennen sind die Scholastiker. Im Osten zählten zur Scholastik z.B. die nicht sehr christlichen, dem Neuplatonismus stark zuneigenden Synesios von Kyrene (370-450) und Nemesios von Emesa (1. Hälfte 5. Jh.). Bedeutsam im 5. und 6. Jh. wurde die nun wirklich christliche Gelehrtenschule von Gaza. Leontios von Byzanz (485-543), der „erste Scholastiker“, sowie Maximus Confessor (580-662) und Johannes Damascenus (700-750) leiteten endgültig über in die (byzantinische) Scholastik. Im Westen trat bei Boethius (480-524) und dem Historiker Cassiodorus (490-538) das Christliche zurück. Stark hervor trat es, besonders auch kirchenpolitisch, bei Isidor von Sevilla (560-636). Martin von Bracar († 580) und Beda Venerabilis (674-735), der „letzte Kirchenvater“, waren bereits ausgesprochene Vertreter der (abendländischen) Scholastik.

Unsere Vordenker nach elterlicher Art denken vor allem
antik-griechisch, magisch-christlich und abendländisch-scholastisch

Was die platonisierende Patristik betrifft, diese oft „mittelalterlich“ genannte Zeit seit dem 2. Jh., so war das Motiv für das Festhalten an der Philosophie das Interesse am Hauptgegenstand der platonischen Philosophie: an der Seele und ihrem Verhältnis zum Ewigen und Göttlichen. In der Religion geht es ja auch um das Verhältnis der Seele zu Gott, um Seelenerlösung, Seelenrettung durch Heimkehr zu Gott. Was also ist die Seele, wie ist sie beschaffen? Das war die Frage bei Platon und in der christlichen Religion. Das griechische „ERKENNE-DICH-SELBST“ kann also für eine christliche Philosophie übernommen und weiterverfolgt werden. Eine von Religion freie Seelenphilosophie – eher muß man sie „Neu-Theologie“ oder „Neu-Religion“ nennen – sollte sich erst viel später ankündigen. (). Seit Clemens von Alexandria, der mit der Harmonisierung von Vernunft und Glauben begann, gibt es für das christliche Denken „2 Alte Testamente“: das biblische Alte Testament und die griechische Philosophie. Diese 2 Alten Testamente stellen die alte Erbschaft dar, und das Neue Testament wurde zur neuen Erbschaft, zur neuen Botschaft:
Die Philosophie des jungen Abendlandes war Vor-Philosophie und religiöse Philosophie, insbesondere christliche gemäß der ab 313 anerkannten und 345 alleinigen Staatsreligion des römischen Reiches, das zu dieser Zeit, obwohl letzter antiker Bestandteil, schon längst kein Reich der antiken Kultur mehr war (!). Hier war aus einer alten Religion längst eine neue Religion, eine Neu-Religion, entstanden. Der Glaube versetzt Berge, sagt man; in Wirklichkeit entstehen durch ihn per Mission und Botschaft erst Religionen, die per Rechtfertigung und Verteidigung zur Theologie systematisch, dogmatisch, kirchenpolitisch, scholastisch ausgebaut und über die Philosophie und Neu-Theologie am Ende des Zyklus sterben oder erneuert, d.h. zu Neu-Religionen werden. (). Anders als in der Philosophie geht es in der Religion nicht um Wissen oder Weisheit, sondern grundsätzlich um Glauben, nicht um prinzipiell beweisbare Wahrheit, sondern um Dogmen oder Offenbarungswahrheit, die keinerlei Wert auf Beweise legt, wohl aber auf Politik und Schulung. Deshalb folgten in der christlichen Religionsgeschichte auf die ersten Gesandten (Apostel), auf den missionarischen Boten (Paulus) und auf die weiteren Gesandten (1) deren Rechtfertigung oder Verteidigung (2), eine theologische Systematik (3), eine kirchengeschichtliche Dogmatik (4), eine staatliche Kirchenpolitik (5) und eine Scholastik (6), d.h. eine interne Schulung mit Aussicht auch auf einen erweiterbaren Schulbetrieb.
Was an der noch-nicht-scholastischen Patristik philosophisch für das Abendland am bedeutsamsten wurde, stammt von Augustinus (354-430). Er stand Platon näher als der für die spätere Scholastik maßgebliche Aristoteles. Über Manichäismus und Skeptizismus sowie Neuplatonismus kam Augustinus zum Christentum. Bevor er den Manichäismus heftig bekämpfte, war er also ein Anhänger dieser zur Konkurrentin der alten Zarathustra-Religion gewordenen Lehre gewesen. Seine Skepsis bezog sich auch auf den Verfall der Sitten im Römischen Reich, das für ihn offenbar zum Inbegriff des Gegenreiches zum Gottesreich geworden war. An der christlichen Religion beeindruckte ihn besonders stark die Sünden- und Gnadenlehre. In diesem Sinne vertrat er insbesondere die Lehre von der Prädestination: daß der Mensch zur Seligkeit oder zur Verdamnis von Gott vorausbestimmt sei. Gegen Augustinus konnte sich auch der Pelagianismus letztendlich nicht durchsetzen. Augustinus war der wohl einflußreichste Kirchenvater und Kirchenpolitiker der katholischen Kirche. Seine neuplatonische Richtung der christlichen Philosophie (Augustinismus) sollte im Abendland vorherrschend und erst im 13. Jh. von Albert dem Deutschen (dem Großen) und Thomas von Aquino durch den christlichen Aristotelismus ersetzt werden. (). Augustinus sah in der Menschengeschichte den Krieg zweier Reiche, die sich bekämpfen: das Reich der irdisch gesinnten Gottesfeinde (Weltreich = civitas terrena oder diaboli) und das Gottesreich (civitas dei). Augustinus lehrte die Selbstgewißheit des menschlichen Bewußtseins – letzter Gewißheitsgrund sei Gott – und die Erkenntniskraft der Liebe. Sein Thema ist rein religiös: Gott und die Seele, Gotteserkenntnis und Gotteserlebnis. Es handelt sich hierbei auch um einen Rückgriff auf die griechische Philosophie, sofern sie unter dem delphischen Programm des „ERKENNE-DICH-SELBST“ steht und in Platons Lehre von der Rückkehr der Seele zum Göttlichen kulminiert. Allerdings war Augustinus in seiner Hemmungslosigkeit seiner Selbstbeschauung und Selbstrkritik völlig ungriechisch. Augustinus war ja auch kein Vertreter der antiken oder magischen Kultur, sondern eines aus beiden sich ergebenden Synkretismus, einer der vielen Arten der Pseudomorphose. (). Augustinus und die anderen Kirchenpolitiker bahnten den Weg von den Fruchthüllen zur Plazenta für die noch embryonale Kultur des Abendlandes. (). Augustinus‘ Bekenntnisse(Confessiones) gaben z.B. diesem jungen Abendland bereits einen Vorgeschmack auf Freuds spätere Psychoanalyse. (). War es in Platons Höhlengleichnis die Vernunft, welche die Seele aufs Unsterbliche hin ausrichtete, und der Philosoph, der die Heimführung leitete, so wurde es bei Augustinus die reuige Zerknirschung, welche die Seele auf Gott hin ausrichten solle, und die nie sündige Kirche, welche die Heimführung zu besorgen habe. Der Kirche galt das eine Hauptwerk des Augustinus (De civitate dei), der Seele galt das andere (Confessiones). Nach Augustinus bereitet die Kirche den Gottestaat vor, indem sie die nach Gottes Willen zum Heil Berufenen sammelt. Außerhalb der Kirche gab es für Augustinus kein Heil. Die Geschichte sah er als Heilsgeschichte: Ringen des Gottesstaates mit dem Erdenstaat, zwei Reiche der Liebe, der bis zur Selbstverachtung reichenden Gottesliebe und der bis zur Gottesverachtung reichenden Selbstliebe. Zwar trennte Augustinus zwischen Kirche und Staat, aber nach seinen Worten kann der Staat am Gottestaat nur teilhaben, wenn er sich der Kirche in allen religiösen Angelegenheiten unterordnet. Die Idee einer linearen Geschichtszeit beinflußte alle spätere Geschichtsphilosophie.

– Kulturphilosophisches Fazit –
Besondere Bedeutung für die Philosophie der ersten nachchristlichen Jahrhunderte erlangte Philon durch seine allegorische, platonisch-stoizistische Bibelauslegung. Er begründete die von Clemens von Alexandria und Origenes weitergeführte Alexandrinische Schule – die Keimzelle einer christlichen Philosophie -, die allmählich die abendländische Philosophie mehr und mehr bestimmte. In der Alexandrinischen Schule wurde der Versuch gemacht, an die Stelle der spätgriechischen Philosophie eine christliche Philosophie treten zu lassen. Die Eltern, die Älter’n, d.h. die noch-nicht-scholastischen Patristen gaben dem noch hüllenlosen abendländischen „Keim“, mit dem sie über die Nabelschnur () verbunden waren, die ersten Fruchthüllen, die bald mit der Gebärmutterschleimhaut zur Plazenta zusammenwachsen konnten; danach entwickelten sich im abendländischen „Embryo“ nach und nach die nötigen 2 Hemisphären des Großhirns und alle Organe (), die schließlich beim abendländischen „Fötus“ zur vollen Funktionalität () gelangen sollten.

Aus der pseudomorphen Nichtverbundenheit entstand die synkretistische Patristik (Nabelschnur),
aus einer Christenreligion (Fruchthülle) das Christentum (Mutterkuchen / Plazenta),
aus einem christlichen Organ (Mönch- und Klostertum),
während die zwei Hemisphären des Großhirns (Ursymbol und Seelenbild) mitwuchsen,
die Organ-Funktionalität (verbindliche Klosterregel): „ORA ET LABORA“
im Unendlichkeitsraum der faustischen Forschung und Mission. ().

Die religiösen Wahrheiten sind Machtworte Gottes: „Gott hat gesprochen, damit ist die Sache erledigt“. Religiöse Wahrheiten gelten mehr als die Wahrheiten der natürlichen Vernunft. Denn sie allein bringen das Heil, die Erlösung, den Lebenssinn, den neuen Menschen. Durch den Glauben wird die Seele so verändert, daß sie durch Gottes Gnade in den Himmel kommen kann. Warum dann überhaupt Philosophie? Mit Aristoteles geantwortet: weil der Mensch von Natur aus nach Wissen strebt. Und nicht nach Erlösung, so könnte man ergänzen. Vielleicht wurden ja die religiösen Wahrheiten als irrationale geoffenbart, um rational zu werden? Dann wäre Philosophie der Versuch, die religiösen Wahrheiten nachträglich zu rationalisieren, d.h. zu begründen und als mit der natürlichen Vernunft vereinbar erscheinen zu lassen. Aber wie sollte man z.B. Wunder, also die Durchbrechung der Naturgesetze vernünftigerweise für möglich halten? Die christlichen Philosophen – besonders solche Kirchenväter wie Augustinus – waren geschickt genug, gewisse rationalisierbare Lehrstücke der Bibel auszuwählen und bei anderen die Bibel allegorisch auszulegen. Und für das christliche Denken gibt es ja seit Clemens von Alexandria „2 Alte Testamente“: das biblische Alte Testament und die griechische Philosophie. Wie ging es aber weiter mit den zwei Alten Testamenten und dem einen Neuen Testament, der neuen Erbschaft, der neuen Botschaft? Wie ging es weiter mit dem mütterlichen und väterlichen, wie ging es weiter mit dem kindlichen Erbe? (). Wie wurden aus Vordenkern Frühdenker? (). Bald sollten unter dem Schutz der Lehre von der „Doppelten Wahrheit“ vielfach nichtchristliche Gedanken geäußert werden, obwohl die Scholastik des christlichen Abendlandes dadurch gekennzeichnet war, daß die Grundlage für Wissenschaft und Philosophie von den christlichen, in den Dogmen niedergelegten Wahrheiten gebildet wurde.
Die Vordenker entwickelten auch eine christliche Ur-Mystik – z.B. im Neuen Testament (u.a. bei Paulus und Johannes) als Christusmystik -, deren Ziel die unmittelbare Einheit mit Christus als dem göttlichen Logos oder dem Menschen Jesus war. (Vgl. auch: Neuplatonismus). Sie sollte später abgewandelt werden, oft zu einer Form der Passionsmystik als Mitleiden mit Jesus Christus. Die von den Kirchenvätern aufgegriffene (manchmal gnostisch gefärbte) Mystik wurde weiterhin vor allem in den Klöstern gepflegt, wobei sich besonders der Einfluß der Schriften des Pseudo-Dionysios (vgl. Dionysios Areopagita) aus dem 5. oder 6. Jh. bemerkbar machte, der dann für fast ein Jahrtausend, bestimmend werden sollte. (Vgl. Früh-Mystik).

Tabelle
Analoge (Vor-) Philosophien
(Analoge Theologien)
antik von ca. 2100 v. Chr. bis ca. 1400 v. Chr.
abendländisch von ca. 50 n. Chr. bis ca. 750
(0-2, 2-4, 4-6)
1) …. Indogermanische … seit ca. – 2100
2) …………. ZEUS – ……… seit ca. – 2100 / – 2050
3) ……….. Religion ………. seit ca. – 2100 / – 2050
4) ………….. und ………….. seit ca. – 2100 / – 2050
5) ……. altmediterane …… seit ca. – 2000
6) ……….. Religion ………. seit ca. – 2000
7) ……. verschmelzen …… seit ca. – 1990 / – 1970
8) …. (Antike Religion) … seit ca. – 1950 / – 1900
9) …. (Zeus-Theologie) …. seit ca. – 1930 / – 1900
10) ….. Protohellenen ….. seit ca. – 20. Jh. / – 17. Jh.
11) ………. Mythen ………. seit ca. – 20. Jh. / – 17. Jh.
12) ………….. der …………. seit ca. – 19. Jh. / – 17. Jh.
13) ……… Mykener ……… seit ca. – 19. Jh. / – 17. Jh.
14) . . . (Atriden, Perseus, Ödipus) . . . seit ca. – 18. Jh. / – 16. Jh.
15) (7 gegen Theben, Helena, Menelaos) . . seit ca. – 18. Jh. / – 16. Jh.
16) . . (Vorläufer der homerischen Epen) . . seit ca. – 15. Jh. / – 14. Jh. 1) 1. Gnostizismus Alexandrinische Schule seit 20 (50)
2) 1. Patristik Apostolische Kirchenväter seit 70
3) 5. Kyniker seit 70 (80)
4) Mittlerer Platonismus (Plutarch u.a.) seit 70 (80)
5) 2. Gnostizismus Alexandrinische Schule seit 150
6) 2. Patristik Apologetische Kirchenväter seit 150
7) Aristotelischer Stoizismus seit 160 (180)
8) 3. Skeptizismus Letzte Skeptiker seit 200 (250)
9) Neu-Platonismus (Plotinos u.a.) seit 220 (250)
10) Arianismus (Arius, Wulfila u.a.) seit 3. / 4. Jh.
11) 3. Patristik Systematisierende Kirchenväter seit 3. / 4. Jh.
12) 4. Patristik Dogmatisierende Kirchenväter seit 4. Jh.
13) 5. Patristik Kirchenpolitische Kirchenväter seit 4. / 5. Jh.
14) 6. Patristik Ur-Scholastische Kirchenväter seit 5. / 6. Jh.
15) 1. Scholastik Ur-Scholastik (z.T. 6. Patristik) seit 5. / 6. Jh.
16) 2. Scholastik Früh-Scholastik (Universalienstreit) seit 8.Jh.

WEITER

Heute noch in den Genuß der abendländischen Vordenker zu kommen heißt, sich in
die antik-griechischen, magisch-christlichen und abendländisch-scholastischen Denkweisen
zu versetzen. Die wichtigsten Denkweisen und denkenden Weisen verlangen
die Berührung mit dem Göttlichen über die Begriffe,
das Heil durch Gott über die christliche Kirche,
das Bildungsgut durch Geschichte über die Chronistik.
(*)

Urdenker Vordenker Frühdenker Hochdenker Spätdenker Nachdenker Enddenker
WWW.HUBERT-BRUNE.DE

Anmerkungen:

Zeus (lat. Jupiter), der höchste Gott der Griechen (der Antike), Sohn des Kronos und der Rhea, Bruder und Gemahl der Hera, stürzte mit seinen Brüdern Poseidon (Neptun) und Hades (Pluto) die Herrschaft der Titanen (6 Söhne und 6 Töchter des Uranos und seiner Frau Gäa), zu denen sein Vater Kronos (Saturn) zählte. Er teilte nach dem Sturz der Titanen die Welt mit seinen Brüdern. Wie bei keinem olympischen Gott sonst sind bei Zeus die indogermanische Etymologie und Bedeutung und damit bereits vormediterane, aus der indogermanischen Religion stammende Ursprungs- und Wesensmerkmale zweifelsfrei. Zeus, mit diphtongischem Wurzelnomen, geht etymologisch zurück auf das indogermanische Nomen agentis * dieu-s mit der Grundbedeutung „hell Aufleuchtender“, „Glänzer“, „Wetterleuchtender“. Zeus wurde zwischen 2300-1900 v. Chr. von den einwandernden Indogermanen bzw. Protogriechen (Achäer, Ionier) importiert. Er kann aber sogar noch früher von diesen indogermanischen Gruppen in den Nordwesten Griechenlands importiert worden sein (vielleicht als * Teus). Erst im Verlauf des 2. Jt. v. Chr. trat zu dieser indogermanischen Komponente die mediterane, und erst in der Mittelmeerwelt wurde Zeus zum Kroniden. (Vgl. Tabelle und Abbildung).
Kroniden (Zeus [], Poseidon, Hades, Hera, Hestia, Demeter) sind die 3 Söhne und die 3 Töchter des Kronos und der Rhea. Kronos entmannte seinen Vater Uranos (Himmel) und bemächtigte sich der Weltherrschaft. Um nicht von seinen Nachkommen ein ähnliches Schicksal zu erfahren, verschlang er alle Kinder, die ihm seine Gemahlin und Schwester Rhea gebar. Nur im Falle des jüngsten Sohnes Zeus gelang es Rhea, Kronos zu täuschen. An Stelle des Kindes verschluckte Kronos einen Stein. Später besiegte Zeus Kronos, zwang ihn, die Geschwister wieder auszuspeien, und verbannte ihn und die anderen Titanen in den Tartaros (Unterwelt, v.a. für den Aufenthalt von Dämonem und Büßern).
Apollon, Sohn des Zeus und der Leo und Zwillingsbruder der Artemis, war der griechische Gott, v.a. der Mantik (Seher- bzw. Wahrsagerkunst) und Musik, dessen umfassende Kompetenz sich jedoch auf alle Bereiche göttlichen Waltens erstreckte. Die apotropäischen (nach Art des abwehrenden Zaubers), schützenden und heilenden Eigenschaften gehörten hingegen wohl noch vor den daraus ableitbaren mantischen und karthartischen zur älteren Wesensschicht des Apollon. Der schreckliche Bogenschütze, mit den lautlosen Pfeilen „nach Belieben treffend“, schickte zwar Tod und Verderben über Menschen und Vieh, doch wurde der Pestbringer ganz folgerichtig auch um Abwehr des Übels angegangen. Es bleibt festzuhalten, daß an der vielschichtigen Gestalt des Gottes offenbar prähellenische bzw. indogermanisch-protohellenische und (kleinasiatisch-) mediterane Komponeneten beteiligt waren. Apollon war die Verkörperung des griechischen bzw. antiken Ideals der strahlenden „apollinischen Schönheit“. (Vgl. antikes Seelenbild und Apollonkult).
Mysterien (zu griech. muein, die Augen schließen; muew, [in die Mysterien] einweihen, schulen, unterrichten),“ was verschwiegen wird“, gemeint ist der in Kultfeiern erlebte unaussprechliche Heilsgehalt. (). Intellektuelle Belehrung gab es bei diesen populären Initiationen nicht. Auch wurden die heiligen Riten einer großen Menge ohne Rücksicht auf individuelles Verdienst gespendet. Deshalb wohl neigten die Philosophen dazu, die Mysterien gering zu schätzen. Diogenes meinte, es sei absurd anzunehmen, jeder Steuereintreiber könne, nur weil er eingeweiht sei, in der nächsten Welt am Lohn der Gerechten teilhaben, während Ungeweihte verdammt seien, dort im Schlamm zu liegen. Heraklit und Anaxagoras sowie Sokrates äußerten sich ähnlich negativ über die Mysterien. Auch Platon spottete über sie; aber er hielt auch seine Philosophie für eine andere und bessere Art der mystischen Inititiation. Die Philosophie, so meinte er, erreiche durch bewußtes Forschen für wenig Auserwählte dasselbe, was die Mysterien dem gemeinen Volk durch das Schüren von Emotionen vermittele: Läuterung der Seele, die freudige Begrüßung des Todes, die Kraft, mit dem Jenseits in Verbindung zu treten, die Fähigkeit, auf rechte Art zu rasen, d.h. verrückt zu sein. All diese Vorzüge, die Platon als übliche Leistungen mystischer Initiation anerkannte, sollten in seiner Philosophie durch geistige Schulung erreicht werden, durch Übung in der Kunst der Dialektik, deren Ziel es war, die Seele vom Irrtum zu reinigen. Die kultischen Initiationen und Rituale wurden von ihm durch intellektuelle oder geistige Mysterien ersetzt. Später, im Neuplatonismus, bei Plotin, wurde die Übernahme ritueller Terminologie systematisiert.
Orakel (zu lat. oraculum, eigtl. „Sprechstätte“) ist Weissagung, Aussage über Zukünftiges (z.B. als Handlungsanweisung), räumlich Entferntes, über den gebotenen Vollzug bestimmter Handlungen und herrscherliche Ansprüche, ferner auch Bezeichnung des Ortes, an dem diese „Wahrsagungen“ erteilt werden. In fast allen Kulturen und Religionen haben Orakel eine beträchtliche Rolle gespielt. Man unterscheidet zwischen einer kultischen Orakelgebung, die durch Medien und Priester erfolgt, und einer direkten Orakelerteilung durch charismatisch veranlagte Personen. Berühmte Orakelstätten waren das kanaanäische Kadesch und vor allem Delphi mit der Pythia, deren Äußerungen von Priestern gedeutet wurden. Das antike Orakel war ursprünglich ein Losorakel und beruhte erst später auf der Inspirationsmantik der Pythia. (Vgl. die mit Runen versehenen Buchenstäbe (Buchstaben) als „Lose“ bzw. Orakelform bei den Germanen).
Delphi war schon seit Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. Siedlung und Kultstätte (urspr. Verehrung der Erdmutter Gäa, seit dem 8. Jh. Apollonkult). Das Apollonheiligtum, die „Pythischen Spiele“, besonders aber das Orakel machten Delphi zu einer der bedeutendsten Kultstätten der Antike. Nach der griechischen Mythologie erschlug hier Apollon den Drachen Python. Im Apollontempel befanden sich der Omphalos (Nabel der Erde), ein Marmorblock, der als Mittelpunkt der Erde galt, und der Erdspalt, dem ein Luftstrom entstieg, der die Orakelpriesterin Pythia, auf ehernen Dreifuß über dem Erdspalt sitzend, zur Prophetie anregte. Das Orakel war ursprünglich ein Losorakel und beruhte erst später auf der Inspirationsmantik der Pythia, deren von Apollon eingegebene Äußerungen von der Priesterschaft in Form metrischer, meist mehrdeutiger Sprüche verkündet wurden.
Python (puqon) war nach der griechischen Mythologie ein erdgeborener Drache, der das Orakel seiner Mutter Gäa in Delphi behütete und von Apollon getötet wurde. Nach Python war die Apollonpriesterin Pythia am Orakel in Delphi benannt, führte der Gott den Beinamen Pythios und wurden die Spiele in Delphi „Pythischen Spiele“ (Pythien) genannt, die alle vier Jahre zu Ehren des Apollon gefeiert wurden.
Pythia (von puqon, Python) war Apollonpriesterin in Delphi, benannt nach dem erdgeborenen, das Orakel seiner Mutter Gäa behütenden, schließlich von Apollon getöteten Drachen Python.
„Und aus der Gottheit des Ortes wird, ohne daß jemand sich der Schwere dieser Wendung bewußt wäre, die am Orte gegenwärtige Gottheit.“ Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. II, 1922, S. 801.
Seelenbild der Antike und Seelenbild des Abendlandes sind gegensätzlich: apollinisch und faustisch; ihre Ursymbole ebenfalls: Einzelkörper und Unendlicher Raum. Wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung, gelten auch Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar, deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Beispiel „Parallelenaxiom“ deutlich werden kann: Euklid hat in seinen „Elementen“ (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung für das antike Beispiel gegeben und Gauß ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Sie stehen – wie unzählige andere Beispiele auch – für einen metaphysischen Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol angetrieben und angezogen wird. (Vgl. Oswald Spengler, 1917, S. 155, 227ff., 234, 390). Vgl. dazu auch das Germanentum.
Das Seelenbild der magischen Kultur ist ein dualistisches: Geist und Seele, ihr Ursymbol die Welthöhle. (Vgl. Spengler, 1917-1922, S. 847f.).
„Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes (2. Band), 1922, S. 784). Auch eine junge Kultur kann so mächtig sein, daß sie eine alte dort, wo sie zu Hause ist, überlagert. Das Beispiel zwischen der (alten) apollinischen Kultur, auch kurz „Antike“ genannt, und der (jungen) magischen Kultur, auch „Persien/Arabien“ genannt, macht es deutlich: „Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die Pseudomorphose darin, daß alle östlichen Kirchen zu Kulten westlichen Stils wurden. Dies ist eine wesentliche Seite des Synkretismus. … Mit dem Hinschwinden der apollinischen und dem Aufblühen der magischen Seele seit dem zweiten Jahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetzt Kulte des Westens, die zu einer neuen Kirche des Ostens werden. Aus der Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des Persertums und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische Nation.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 800-801).
Der Synkretismus kristallisierte sich als eine der vielen Arten der Pseudomorphose heraus, als die Kirchen des Ostens in Kulte des Westens verwandelt wurden und in umgekehrter Richtung die Kultkirche entstand. Die Formenbildung ging also erst von West nach Ost und dann von Ost nach West. Das 2. Jahrhundert war die Zeit der Umkehrung: die Kulte des Westens wurden zu einer neuen Kirche des Ostens. Es entstand ein neues Griechentum als magische Nation.
Platon (eigtl. Aristokles, 427-347); vgl. Platons Philosophie der Weltverabschiedung und Einübung ins Sterben (), besonders seine Lehre von der Umkehr durch Ausstieg aus der Höhle („Höhlengleichnis“). Platon war zuerst Dichter, wandte sich von der Dichtung jedoch ab, weil sie seit 387 v. Chr. (Gesetz) ziemlich grausame Theaterstücke aufführen durfte (Götter-Blasphemie u.s.w.). Er gründete wahrscheinlich deshalb 385 v. Chr. eine Schule, die (dem altattischen Heros) Akademos gewidmet war. Die Ältere Akademie war stark pythagoräisch beeinflußt: das Problem von „Idee“ und „Zahl“ spielte erkenntnistheoretisch eine große Rolle. Später folgten die Mittlere Akademie (seit 315 v. Chr.) und die Neuere Akademie (seit 160 v. Chr.); vgl. die Akademien im Altplatonismus, den Mittleren Platonismus, die Auswirkungen auf die Gnosis, den Neuplatonismus, die Patristik. Alle Philosophie nach Platon scheint aus Fußnoten zu der seinigen zu bestehen. Er schrieb Dialoge, tatsächliche und fiktive Gespräche mit Sokrates (469-399), seinem Lehrer. Platon lehrte die Scheinhaftigkeit und Abkünftigkeit der Sinnenwelt von archetypischen Urbildern oder Ideen. Mit der Ideenlehre setzte er sich von Sokrates ab, obwohl er sie in den (mittleren und späteren) Dialogen seinem Dialoghelden Sokrates in den Mund legte. Für Platon waren die unveränderlichen Ideen die Urbilder der veränderlichen Dinge, ihr Programm, ihr Ziel und Zweck. Platon nahm bei seiner Ideenlehre die Mathematik (Geometrie) zum Vorbild aller anderen Wirklichkeit, wie schon vor ihm Pythagoras (580-500) und seine Schüler. (Vgl. Tabelle).
Das „Höhlengleichnis“ ist laut Platons „Staat“ (7.Buch) ein Vergleich des menschlichen Daseins mit dem Aufenthalt in einer unterirdischen Behausung. Gefesselt, mit dem Rücken gegen den Höhleneingang, erblickt der Mensch nur die Schatten der Dinge, die er für die alleinige Wirklichkeit hält. Löste man seine Fesseln und führte ihn aus der Höhle in die lichte Welt mit ihren wirklichen Dingen, so würden ihm zuerst die Augen wehtun, und er würde seine Schattenwelt für wahr, die wahre Welt für unwirklich halten. Erst allmählich, Schritt für Schritt, würde er sich an die Wahrheit gewöhnen. Kehrte er aber in die Höhle zurück, um die anderen Menschen aus ihrer Haft zu befreien und von ihrem Wahn zu erlösen, so würden sie ihm nicht glauben, ihm heftig zürnen und ihn vielleicht sogar töten. Vgl. Platon (427-347).
Aristoteles (383-322); vgl. Ältere und Jüngere Aristoteliker (Peripatetiker) und Aristotelische Stoa. Dieser antike Universalgelehrte bestimmte mit seinen Klassifikationen und Begriffsprägungen die gesamte nachfolgende Philosophie, dominierte insbesondere die Scholastik. (Vgl. auch: Früh-Denker). Die sich auf Aristiteles stützende Art des Philosophierens, der Aristotelismus, wurde später auch von den Arabern (z.B. Averroes, 1126-1198) und Juden (z.B. Maimonides, 1135-1204) gepflegt und beherrschte insbesondere seit dem 13. Jh. das philosophische Denken des Abendlandes, vermittelt vor allem durch Albert dem Deutschen (den Großen, 1193-1280) und Thomas von Aquino (1225-1274), allerdings mit wesentlichen, durch das Christentum bedingten Änderungen. Dieser oft auch „Thomismus“ genannte Aristotelismus wurde (als Neuthomismus) die Grundlage der katholischen Neuscholastik (bis heute!). In der Zeit der Renaissance wurde der Aristotelismus in unscholastisch-humanistischer Art von nach Italien gelangten byzantinischen Gelehrten neu belebt: in Deutschland fußten also sowohl die protestantische Neuscholastik (z.B. durch Melanchthon, 1497-1560) als auch die katholische Neuscholastik (z.B. durch Suarez, 1548-1617) auf dem Aristotelismus. Aristoteles, der für seinen Sohn Nikomachos die „Nikomachische Ethik“ geschrieben hatte, blieb für die Entwicklung der abendländischen philosophischen Ethik richtungsweisend bis Kant (!). (Vgl. Tabelle).
Die Stoa, um 300 v. Chr. von Zenon (354-264) aus Kition gegründet, war eine weit verbreitete Strömung der griechischen Philosophie, die eine Alte, Mittlere, Neue und eine späte Aristotelische Stoa (vgl. Stoizismus) entwickelte. In der römischen Kaiserzeit war die Stoa so etwas wie eine ethische Religion des römischen Volkes geworden. Gott und Natur waren der Stoa eins, das Menschenwesen ein Teil der Gott-Natur. Die Stoa nahm nach Art des Globaleklektizismus bzw. Synkretismus die verschiedensten Lehren in sich auf. Andererseits übernahmen später Gnosis und Neuplatonismus Elemente auch aus der Stoa. (Vgl. Tabelle).
Jesus (7 / 4 v. Chr. – 26 / 30 n. Chr.) ist Urheber und zentrale Gestalt des Christentums. Das Christentum umfaßt die Auswirkungen des Glaubens an Person und Wirken Jesu Christi, wie er von den christlichen Kirchen und Gemeinschaften in der Auseinandersetzung mit fremden Religionen, den geistigen und weltanschaulichen Strömungen der verschiedenen Zeiten sowie mit den politischen Mächten entwickelt worden ist. In Rom galt die christliche Gemeinde zunächst als jüdische Sekte. Der römische Staat entzog dieser schnell wachsenden Gemeinschaft bald die religiösen und rechtlichen Privilegien, die er dem Judentum gerade eingeräumt hatte. Die Auseinandersetzung mit dem Römischen Reich wurde intensiv seit der Mitte des 3. Jahrhunderts geführt. Auf das Toleranzedikt des Galerius und Licinius, 311, folgte die Bekehrung Konstantins und mit dem Toleranzedikt von Mailand (313) die Einstellung der Christenverfolgungen. Konstantin der Große machte das Christentum zu der mit allen zeitgenössischen Kulten gleichberechtigten und schließlich zur allein berechtigten Religion im Reich (Konzil von Nicaea, 325). Damit hatte er eine Entwicklung eingeleitet, die zur Entstehung der Reichskirche als einer vom Reich letztlich abhängigen Einrichtung führte. Durch den oströmischen Kaiser Theodosius I. wurde 380 mit dem Edikt von Thessalonike der Athanasianismus (Katholizismus) begründet, im 1. Konzil (= 2. Ökumenisches Konzil, 381) von Konstantinopel das (konstantinopolitanische) Glaubensbekenntnis formuliert und das Nizänum bestätigt, 391 das Christentum überhaupt Staatsreligion, damit alle heidnischen Kulte verboten. 395 teilte sich das Reich in West- und Ostrom, 455 eroberten die Wandalen Rom und 476 erlosch das Weströmische Reich endgültig mit der Absetzung des Romulus Augustus durch den Germanen Odowaker (Odoaker), aber die römische Kultur wurde von den Eroberern nicht zerstört, die arianische Christen waren und mit der unterworfenen Bevölkerung, die römisch-katholisch war, die erste und für die Christen-Geschichte wichtigste Verschmelzung eingingen. Für die geschichtliche Erkenntnis Jesu ist man nahezu ausschließlich auf die Evangelien des Neuen Testaments angewiesen. Derjenige, der das Christentum erst zur Weltreligion machte, war Paulus. (Vgl. 22-24 und für die weitere kulturgeschichtliche Entwicklung 0-2 und 2-4 sowie 4-6).
Paulus († 29.06.66 oder 67; enthauptet), christlicher Heidenapostel, machte das Christentum durch Überwindung der nationalen und traditionellen Bedingtheiten seitens des Judenchristentums zur Weltreligion, indem er den übernationalen Charakter der durch den Glauben an Christus begründeten Heilsgemeinschaft betonte. Im Jahre 36 wurde der Christenverfolger Saulus wird durch eine Christusvision vor Damaskus zum Apostel Paulus, im Jahre 45 begann er mit seinen Missionsreisen. Er war Verfasser zahlreicher neutestamentlicher Schriften. Als Quellen zur Rekonstruktion seines Lebens dienen vor allem die wirklich von ihm verfaßten Briefe an die Gemeinden in Rom, Korinth, Galatien, Philippi, Thessalonike und an Philemon, die alle aus der Zeit zwischen 50 und 56 stammen. Bei der spekulativen Durchdringung des Christentums verwendete er Elemente der stoischen und jüdisch-hellenistischen Philosophie. Seine vielen Missionsreisen führten am Ende zur Verhaftung in Jerusalem, zur Überführung nach Rom und dort zur Enthauptung (Märtyrertod). (Vgl. Mission und Apostelkonzil). Paulus gilt als der bedeutendste Missionar des Urchristentums. In seiner mehrjährigen Missionstätigkeit auf Zypern, in Kleinasien, Syrien, Griechenland, Makedonien u.a. Regionen verkündete er kompromißlos das Evangelium frei von Gesetzesbindungen und trat dadurch natürlich in Gegensatz zum Judenchristentum der Urgemeinde. Er knüpfte besonders an die nachösterliche Verkündigung des gekreuzigten und auferstandenen Herrn und seine Bedeutung für das Heil der Menschheit an. Die durch den Tod und die Auferstehung Christi eingetretene Wende der Heilsgeschichte zeigt sich nach Paulus vor allem darin, daß der jüdische Heilsweg, der in der Erfüllung der Gesetzgebung als der Verpflichtung gegenüber dem Bund mit Jahwe steht, aufgehoben ist (!), die Rechtfertigung* ausschließlich aus dem Glauben erlangt werden kann (!). (*Rechtfertigung ist ein Begriff der christlichen Theologie, mit dem der Vorgang reflektiert wird, daß das durch die Sünde gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Gott in einen als „heil“ geglaubten Zustand überführt wird). Der Glaube kann auch nicht als Werk des Menschen aus sich selbst verstanden werden, sondern als Gabe und als Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Der Mensch ist in allen seinen Aspekten („Geist“, „Seele“, „Leib“) aufgerufen, das in Christus geschenkte neue Leben zu verwirklichen. In seinem Verhalten ist der Mensch jedoch nicht auf sich allein gestellt, sondern ist Mitglied der Gemeinde des auferstandenen Herrn. Diese ist schon gegenwärtig der Leib Christi, wird aber gleichzeitig von der Hoffnung auf die endgültige Wiederkunft (Parusie) des Herrn geleitet und ist in dieser Spannung von „schon“ und „noch nicht“ Träger seines Geistes.
48 fand das Apostelkonzil in Jerusalem statt, an dem auch Petrus und Paulus teilnahmen. Anlaß des Apostelkonzils war die Frage, ob „Heiden“, die zum Christentum übertreten, sich der Beschneidung und dem jüdischen Gesetz unterwerfen müssen. Das Apostedekret ist der vom Apostelkonzil (Apg. 15; Gal. 2, 1-10) den Christen Antiochias, Syriens und Kilikiens (heute: Südanatolien) mitgeteilte Beschluß, daß sie zur Beobachtung (Befolgung) des mosaischen (israelitisch-jüdischen) Gesetzes nicht verpflichtet seien (!). Also war das Apostelkonzil ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Universalkirche.
Hadrian (Publius Aelius Hadrianus, 24.01.76 – 10.07.138 ), Verwandter Trajans, zweiter adoptierter Kaiser (117-138), war seit 116 Statthalter in Syrien und schloß unter Verzicht auf die eroberten Gebiete mit den Parthern einen Frieden. 117 wurde er nach umstrittener Adoption zum Kaiser ausgerufen. Seine Politik des Verzichts auf kostspielige Reichsexpansion und verstärkter Grenzsicherung entspricht dem Bemühen im Innern, v.a. Straßen-, Städte- Wasserleitungsbau im ganzen Reich zu betreiben. Die Euphratgrenze wurde wieder hergestellt, der Ausbau des germanischen Limes an Rhein und Donau intensiviert, wie auch andere Befestigungsanlagen, z.B. in Britannien und am Euphrat. Hadrian verbesserte und verstärkte den Verwaltungsapparat durch Ausbau der Kanzleibürokratie und machte ausgedehnte Reisen zur Überwachung der Reichsverwaltung (Reisekaiser). Unter ihm gab es Neueinrichtungen von Provinzen und eine Heeresreform. Hadrian war Griechenfreund und Philosoph und im Osten göttlich verehrt. Er war erfüllt vom Ziel der Verwirklichung der Pax Augusta im ganzen Imperium. Der Wiederaufbau Jerusalems als Kolonie Aelia Capitolina entfachte den Aufstand der Juden unter Bar Kochba (132-135), der mit der Eroberung Jerusalems durch Hadrian endete. Hadrian adoptierte 137 den späteren Kaiser Antonius Pius, verfaßte eine Biographie und ließ u.a. das Mausoleum (Engelsburg) in Rom, die Villa Adriana bei Tivoli und in Athen die Stoa – mit Bibliothek – bauen. Hadrian wurde in dem monumentalen Rundgrab, dem Mausoleum Hadriani (Engelsburg) beigesetzt. (Vgl. Tabelle ).
Clemens von Alexandria; eigtl. Titus Flavius Clemens Alexandrinus (um 150, Athen, † 215, Alexandria), griechischer Philosoph, Kirchenschriftsteller und Lehrer in Alexandria. Als Vordenker war er, von Platon, der Stoa und Philon beeinflußt, Vorkämpfer einer bewußt christlichen Philosophie und einer christlichen Gnosis; er sah das Wirken des göttlichen Logos überall, auch in der heidnischen Philosophie (besonders bei Platon), die als Hinlenkung zum Göttlichen unentbehrlich sei. Gott kann nach Clemens nur negativ bestimmt werden. Der gnostische Christ sei ausgezeichnet durch stoische Apathie: Freisein von Affekten und Leidenschaften, also das Ziel der seelischen Selbsterziehung. Durch Askese könne der gnostische Christ zu einem „im Fleische wandelnden Gott“ werden. Clemens‘ Wirken zielte auf die Schaffung einer christlichen Kultur und (letztendlich) auf die Überwindung der Gnosis. (Vgl. Tabelle).
Tertullian (Quintus Septimus Florens Tertullianus; ca. 150, Karthago, † ca. 220, Karthago) war zunächst Rhetor in Rom, bevor er um 195 zum Christentum übertrat und nach Karthago zurückkehrte. „Wie hart die Eschatologie der Väterzeit die verdammungswürdigen Nichtchristen anfaßte, ist unter anderem den polemischen Schriften des kathagischen Kirchenvaters Tertullian zu entnehmen, namentlich seiner Abhandlung Über die Schauspiele (De spectaculis). Als ein für Dogmenhistoriker eher peinliches Zeugnis folgerichtigen christlichen Denkens ist sie für die externe Deutung metaphysischer Zornverarbeitungsstrategien von hohem Zeugniswert. In De spectaculis liegt der Nexus zwischen irdischem Verzicht und jenseitiger Satisfaktion geradezu obszön offen – nicht ohne Grund haben Nietzsche und Scheler in ihren Analysen des Ressentiments auf diese Schrift expressis verbis hingewiesen. Nachdem Tertullian noch einmal die Gründe aufgezählt hat, derentwegen Christen bei den heidnischen Darbietungen nichts zu suchen haben (vor allem weil Theater Tummelplätze für Dämonen sind), kommt er unverblümt auf die himmlischen Kompensationen für irdische Abstinenz zu sprechen. Er weiß, daß es römische Christen eine gewisse Entwöhnung kostet, auf die »Spiele« zu verzichten. Viel zu sehr sind die Wagenrennen im Circus, die Obszönitäten auf dem Theater, die schwachsinnigen Übungen der gemästeten Athleten im Stadion, vor allem aber die faszinierenden Grausamkeiten in der Arena Teil des spaßgesellschaftlichen Alltags geworden, als daß sich der Nichtbesuch solcher Darbietungen ganz von selbst verstehen könnte. Tertullian hat jedoch eine Entschädigung für das Fernbleiben von den römischen Schauspielen parat. Den irdischen Darbietungen wird eine göttliche Komödie gegenübergestellt, die nicht nur der Schaulust Genüge tut, sondern auch dem performativen Charakter der Herrlichkeit Gottes mittels expliziter Rachedemonstrationen Rechnung trägt. Was nämlich wird den erlösten Seelen im Himmel die höchste Genugtuung gewähren? Sie können sich dem Anblick eines exquisiten Strafvollzugs widmen:»Was für ein Schauspiel aber steht uns demnächst bevor – die Wiederkehr des nunmehr nicht mehr in Frage gestellten, des nunmehr stolzen, nunmehr triumphierenden Herrn! … es kommen gewiß noch andere Schauspiele, jener letzte und endgültige Tag des Gerichts … Was soll ich da bestaunen? Worüber soll ich lachen ? Worauf soll sich meine Freude, soll sich mein Jubel richten, wenn ich dabei zuschaue, wenn so viele Könige. ..in tiefster Finsternis laut aufstöhnen ? … Wen sehe ich außerdem? Jene weisen Philosophen, wie sie rot werden in Gegenwart ihrer Schüler, die gemeinsam mit ihnen brennen. … Dann werden die Tragödien noch vernehmlicher zu hören sein, weil sie (die Dichter) natürlich bei ihrem eigenen Unglück noch stimmgewaltiger sind; dann wird man die Schauspieler gut erkennen können – sie werden durch das Feuer noch viel lockerer sein; dann wird der Wagenlenker zu sehen sein, wie er am ganzen Körper rot auf seinem lodernden Wagen steht … es sei denn, ich will diese Leute nicht einmal dann sehen, weil es mir lieber ist, meinen Blick unersättlich auf diejenigen zu richten, die gegen den Herrn gewütet haben … Welcher Praetor oder Consul … wird dir das mit seiner Freigiebigkeit bieten können? Und doch haben wir das alles schon in gewisser Weise bildlich vor Augen, da es sich der Geist dank des Glaubens vorzustellen vermag« (Tertullian, De Spectaculis [Über die Schauspiele], S. 83-87).
Tertullians Aussage wiegt schwer, weil sich in ihr der Prozeß der Zornverarbeitung nachapokalyptischen Stils in einem Frühstadium zeigt, bei dem noch nicht die innere Zensur gegen offen gezeigte Befriedigung durch vorgestellte Greuel eingegriffen hat. … – Die Überlegungen zur Herkunft, Bestimmung und Wirkungsweise des göttlichen Zorns haben uns auf einen eher selten beachteten Sachverhalt aufmerksam gemacht: Es gibt eine fieberhafte Heiterkeit, wie sie allein die apokalyptische Theorie gewährt. Sie entzündet sich an der Erwartung, alles werde letztlich völlig anders kommen, als die zur Zeit Erfolgreichen meinen. Der Blick des Apokalyptikers verwandelt die Zustände und Geschehnisse in unverkennbare Hinweise auf das nahende Ende der unhaltbaren alten Welt. Da aber dieses Ende intensiv ersehnt wird, tragen noch die dunkelsten Zeichen der Zeit eine evangelische Ladung. Während die griechische Theorie sich durch die Vorstellung erheitert, am zeitlosen Weltbild der Götter teilzuhaben, berauscht sich die apokalyptische Theorie an der Idee, daß dies alles von jetzt an nur noch Teil einer letzten Vorstellung sei. – Wenn Tertullian nach seiner Polemik gegen die römischen Schauspiele auf die Unterhaltungen der Erlösten zu sprechen kommt und sich fragt: »Worüber soll ich lachen? Worauf soll sich meine Freude, soll sich mein Jubel richten, wenn ich dabei zuschaue, wenn so viele Könige … in tiefster Finsternis laut aufstöhnen? …« (Tertullian, ebd., S. 83), so zeigt sich in dieser Verbindung von Bild und Affekt das wahre psychopolitische Gesicht jener Positionsumkehrungen (oder eines ihres wahren Gesichter), die man später als Revolutionen beschreiben wird. Die unter religiösem Vorzeichen geforderte Totalumwälzung greift über die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits hinaus und klagt eine strikt symmetrische Vertauschung zwischen den aktuellen und den künftigen Lagen ein. Wer den Begriff Revolution in einer geometrischen Bedeutung ausgelegt sehen möchte, kann sein Interesse bei diesem metaphysischen Manöver befriedigen – und nur bei diesem. Tertullian läßt keinen Zweifel daran, daß die von Gottes Allmacht bewirkte finale Wende die Affektbilanzen der menschlichen Existenz auf den Kopf stellt: »Laßt uns also traurig sein (lugeamus), solange sich die Heiden freuen, damit wir uns freuen können (gaudeamus), wenn sie begonnen haben, traurig zu sein …« (Tertullian, ebd., S. 81). Die Symmetrie der Umkehrung wird garantiert durch die bei Gott akkumulierten Zornguthaben, mit deren Fälligwerden am Tag des Gerichts der kosmische Leidensausgleich zum Vollzug kommt. Leide in der Zeit, genieße in der Ewigkeit; genieße in der Zeit, leide für ewig. Die Satisfaktion des Ressentiments wird hier noch ausschließlich durch die Vorwegnahme der künftigen Positionsvertauschung gesichert.“ (Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 164-165, 170-171).
Origenes (185, Alexandria, † 254, Tyrus) war zunächst Lehrer (203-231) an der ältesten Theologenbildungsanstalt zu Alexandria, die von Philon im 1. Jh. gegründet worden war (Alexandrinische Schule). Danach war Origenes Vorsteher der von ihm 232 gegründeten Anstalt in Caesarea (Palästina). Er wurde von den Orthodoxen als Ketzer angegriffen. Noch auch vergleichend und verteidigend (apologetisch), vollendete er die früheste christliche systematische Theologie in Form einer Streitschrift gegen Celsus (2. Jh.), durch Bibelforschung und indem er die Gnosis und den Neuplatonismus, besonders seine Lehre vom Logos, zur Deutung der religiösen Urkunden benutzte. Gott sei wirkende Vorsehung, Christus nicht Erlöser, sondern Vorbild, der heilige Geist der eigentliche Mittler zwischen Christus und Welt bzw. Menschheit, der deren Rückführung zu Gott bewirke. (Vgl. Patristen)
Plotinos (205, Lykopolis, † 270, Minturnae / Campanien) war in Alexandria Schüler des sagenhaften Ammonios Sakkas (um 175 – 242), danach, nach seiner Teilnahme an Kaiser Gordians persischen Feldzug, als Kaiser Gallienus‘ Schützling Vorsteher einer eigenen Schule in Rom. Plotin war sogar so sehr auf Vergeistigung bedacht, daß er sich schämte, einen Körper zu haben. (Magische Geistesdominanz; vgl. Seelenbild).
Spätestens jetzt müßte man hier erkennen, wie weit auch die römische Antike sich bereits von ihrem körperlichen Seelenbild gelöst hatte. Plotinos hatte das magische Seelenbild, das ich Seelengeist nenne, offenbar längst verinnerlicht. So gesehen hatte der Neuplatonismus tatsächlich nicht mehr viel mit dem alten und mittleren Platonismus zu tun. Für Platon selbst spielten Körper, Formen und Substanzen eine sehr große Rolle. Auch das antike Bild des Körpers ist hier bereits, zur Zeit des Plotinos (205-270), durch das magische Bild der Welthöhle absorbiert worden. (Vgl. 22-24).
Manichäismus bedeutet die Lehre des Persers Mani (216, Mardinu [Babylonien], † 273, gesteinigt in Gandeschapur [Babylonien] auf Betreiben der Zarathustra-Priester). Der Manichäismus entwickelte sich aus iranischen (zarathustrischen), gnostischen, babylonisch-chaldäischen, jüdischen und christlichen Vorstellungen. Zarathustrisch ist Manis Lehre vom Kampf des Lichtes und der Finsternis, des Guten und des Bösen. Die durch die Gnosis beeinflußte Sittenlehre des Manichäismus gebot strengste Enthaltsamkeit, besonders hinsichtlich Ernährung, Geschlechtsleben, Handarbeit. Da Mani als „Gesandter des wahren Gottes“ die bisherige Zarathustra-Religion verdrängen wollte, fiel er deren Priesterschaft zum Opfer. Der Manichäismus gewann trotzdem über das Sassanidenreich und später das Abbasidenreich hinaus östlich bis nach China, westlich bis nach Spanien und Gallien Einfluß. Augustinus (354-430), der den Manichäismus später heftig bekämpfte, war eine Zeitlang sein Anhänger gewesen.
Arianismus ist die Christologie des alexandrinischen Priesters Arius (ca. 250 – 336). Nach ihr ist Christus mit Gott nicht wesensgleich, sondern nur dessen vornehmstes Geschöpf. Arius wurde von seinem Bischof Alexander exkommuniziert, seine Lehre, die der griechische Kirchenlehrer Athanasios (295-373) aufs heftigste bestritt, wurde 325 unter Einfluß des Kaisers Konstantin d. Gr. auf dem Konzil von Nizäa verurteilt. Bei Goten (vgl. Wulfila), Wandalen und Langobarden lebte sie jedoch bis zum 6. Jh. fort. Der Arianiismus war auch deshalb von sehr großer Bedeutung für das werdende Abendland, weil er mit dem römischen Katholizismus die erste und wichtigste Verschmelzung einging.
Athanasios (hl., Athanasius, Alexandria um 295, † 2. Mai 373) war griechischer Kirchenlehrer und Patriarch von Alexandria, seit 328 Bischof von Alexandria. Die Machtposition dieser kirchlichen Stellung nutzte er geschickt in seinen theologischen Kämpfen gegen den Arianismus aus. Mit seinen Schriften erklärte und verteidigte Athanasios hauptsächlich das Konzil von Nizäa (325). In seinem „Leben des Heiligen Antonius“ entwarf er ein Programm christlichen Mönchslebens. Fest: 2. Mai.
Wulfila (Ulfila, Ulfilas, Gulfilas, um 310 – um 383 in Konstantinopel), westgotischer Bischof, 341 für die Goten zum Bischof geweiht. Wulfila mußte sich 348 hinter die Reichsgrenze zurückziehen wegen der Verfolgung durch Athanarich , den damaligen Führer der Westgoten, der mehere Christenverfolgungen, z.B. in den Jahren 348, 369 aus Römerhaß (!), unternahm und durch Kaiser Valens nach mehrjährigem Krieg 369 zum Vertragsverhältnis mit Rom gezwungen und gegen Lebensende von Kaiser Theodosius ehrenvoll aufgenommen wurde. Wulfila wirkte trotzdem weiter als Missionsbischof und weltlicher Führer (Primas). Theologisch gehörte er zu den gemäßigten Arianern. Seine bedeutendste Leistung war die Bibelübersetzung ins Gotische. War er also ein Luther am Übergang Spätantike/Mittelalter oder war Luther ein Wulfila am Übergang Mittelalter/Neuzeit?
Hilarius von Poitiers (hl., 310-367, Kirchenlehrer und Bischof von Poitiers (seit etwa 350), war ein entschiedener Verteidiger des Glaubensbekenntnisses von Nizäa und trat mutig gegen den arianischen Kaiser Konstantius auf. Sein theologisches Hauptwerk sind die 12 Bücher „Über die Dreifaltigkeit“. Hilarius wurde auch bedeutsam für das Bekanntwerden der Hymnodie in der abendländischen Kirche.
Ambrosius von Mailand (hl., Trier um 339, † 4. April 397, Mailand), Bischof von Mailand, war einer der vier großen abendländischen Kirchenväter. Er wurde 374 zum Bischof gewählt und trat für die Rechtgläubigkeit und die Einheit der Kirche ein. In der Kirchenpolitik strebte er eine enge Verbindung von Kirche und Staat an. Ambrosius griff als Prediger und Interpretet der Heiligen Schrift auf die allegorische Schriftdeutung zurück. Die Reden und Predigen wurden zur Grundlage seiner Werke (Genesis-Kommentar,Lukas-Kommentar und die 5 Bücher „De fide ad Gratianum“). Ambrosius führte den aus dem Osten (wohl Syrien) stammenden hymnischen Chorgesang in der abendländischen Kirche ein und dichtete selbst mehrere heute noch im Brevier gebrauchte Hymnen. Unter seinem Einfluß wurde 387 Augustinus bekehrt und von ihm getauft. Fest: 7. Dezember.
Pelagius (* in Britannien oder Irland, vor 380, † 418 oder 422), Mönch und Kirchenschriftsteller, führte ab etwa 400 ein Leben als Asket und Laienmönch in Rom und gelangte 410 auf der Flucht vor dem Westgoten-Führer Alarich († 410), der sich zum oströmischen Magister ernannt hatte, nach Karthago und Palästina, wo es wegen seiner Lehren (Pelagianismus) zu Rivalitäten mit Hieronymus (um 345-420) kam. Auf Betreiben Augustinus‘ (354-430) verurteilten ihn die Synoden von Mileve (416) und Karthago (418). Papst Zosimus folgte dem Urteil, Pelagius wurde von Kaiser Honorius verbannt. – Der Pelagianismus bezieht sich auf die von Pelagius und Julian von Aeclanum († 454) gegen Augustinus vertretenen Anschaungen über Freiheit und Gnade, Erbsünde und Sünde: Der Mensch hat die sittliche Freiheit zum Guten wie zum Bösen, die Sünde ist immer eine einzelne Tat, daher wird die Erbsünde abgelehnt; der Mensch kann, kraft der Gnade, durch eigene Bemühungen zum Heil gelangen. Nach der Verurteilung und Verbannung des Pelagius trat seit etwa 420 Julian von Aeclanum als Haupt des Pelagianismus hervor. Das Konzil von Ephesus (431) verurteilte den Pelagianismus; der Osten verharrte bei der Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens; im Abendland entzündete sich sich nach der Verurteilung des Pelagianismus die Auseinandersetzung erneut im Semi-Pelagianismus, der seitdem den Widerspruch gegen die Gnaden- und Prädestinationslehre des Augustinus führte. Zwar hielt der Semi-Pelagianismus an der Lehre von der Erbsünde fest, aber der Fall Adams habe den menschlichen Willen zum Guten nur geschwächt, nicht getötet; Wille und Gnade wirken zusammen. 529 verurteilte die Synode von Orange unter dem Einfluß des Cäsarius von Arles den Semi-Pelagianismus. – Mit dem Pelagianismus beschäftigt sich auch Sloterdijk, der meint, „daß man eine Kultur der Erbsünde im direkten Vergleich mit einer Kultur der diskreten Verteilung von Schuld und Unschuld hätte beobachten können“, wenn schon zu dieser Zeit durch ein „Schisma neben dem augustinischen ein pelagianisches Europa entstanden wäre.“ Dank der „US-amerikanischen Sezession von Europa“, so Sloterdijk, sei der Kontrast zwischen einer eher augustinischen und einer eher pelagianischen „Evolution“ zumindestens indirekt beobachtbar. „Während in der Alten Welt sich am Ende des 20. Jahrhunderts, insbesondere durch die Erfahrungen der Totalitarismen, eine von Skepsis und Normenpluralismus mitbestimmte Kulturgroßwetterlage eingespielt hat, haben die USA … in breiten Schichten an einem von puritanischen Prämissen geprägten Klima festgehalten, in dem kulpabilistische, viktimologische (), inquisitorische Mechanismen in voraufklärerischer Naivität und psychologischer Raffiniertheit ineinandergreifen. Es kann kein Zufall sein, daß das Strafvollzugssystem der USA das intensiv und extensiv umfassendste der Welt ist und proportional zu den Bevölkerungszahlen nahezu zehnmal soviel Delinquenten in amerikanischen Gefängnissen einsitzen wie in europäischen, bei weiter steigender Tendenz“. Sloterdijk ist sich sicher, daß sich die Individuen im neueuropäischen Denk- und Verhaltensraum mit ihren „helleren Intuitionen“ auf eine neupelagianische Ausgangssituation einstellen werden, „in der es nicht mehr zu Überbeschuldigungen a priori gegen Personen und Umstände kommt, ohne daß deswegen ein rousseauistischer Rückfall größeren Umfangs zu befürchten wäre“. Und was ihre „dunkleren Intuitionen“ angeht, so „werden sie sich eher als Katastrophenbürger präsentieren, die Großrisiken oder Gesamtverhängnisse überblicken, die nicht auf Täterbosheiten zurückzuführen sind. Dieses Schwanken zwischen einem Neo-Pelagianismus im Hinblick auf den Menschen und einem Rechnen mit systembedingten Katastrophen, die man um so weniger ihren Verursachern wird zurechnen können, je globaler sie ausfallen, bestimmt heute schon das Bild in den Subkulturen anspruchsvollerer Zeitgenossenschaft“.(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, 2001; S. 120-123).
Die Prädestination wurde anfangs am wirksamsten von Augustinus (354-430), später auch von Luther (1483-1546), Zwingli (1484-1531), Calvin (1509-1564) und dem Jansenismus (nach Cornelius Jansen, 1585-1638) gelehrt. Vor allem aber der Calvinismus, anfangs ein antischolastischer Humanismus, machte die Prädestination, die man auch Prädetermination nennt, zu seinem Inhalt und Mittelpunkt. Sie bedeutet die Vorbestimmung des Menschen schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschbaren Willen. und zwar entweder als Gnadenwahl zur Seligkeit ohne Verdienst oder als Prädamnation zur Verdammnis ohne Schuld. Auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Calvinismus, besonders aber dem aus ihm entwickelten Puritanismus, und dem modernen Kapitalismus der westlichen Demokratien hat vor allem Max Weber (1864-1920) hingewiesen. (Vgl. Religionssoziologie).
A. M. T. Severinus Boethius (480-524) verfaßte vor seiner Hinrichtung, aber nach der Verurteilung durch den Ostgoten-König Theoderich d. Gr. aus politischen Gründen, sein Hauptwerk Trost der Philosophie, eine der meistgelesenen philosophischen Schriften bis ins 17. Jh.. Obwohl Christ, machte Boethius hier vom Christentum keinen Gebrauch. Die Philosophie tritt in seinem Buch als Person auf, als Psychotherapeutin sozusagen, die Boethius zum Einverständins mit seinem Schicksal führte – gemäß der stoischen Weisheit des Kleanthes von Assos: „Das Schicksal führt den mit ihm Einverstandenen; den nicht Einverstandenen schleppt es mit“. Vgl. Patristen (6): Scholastiker im Westen).
Beda Venerabilis (hl., 674-735), der „Ehrwürdige“ (lat.), gilt als Begründer der englischen Philosophie. Er war Lehrer an der Klosterschule in Jarrow (bei Newcastle upon Tyne) und übermittelte das griechisch-lateinische Bildungsgut an die Angelsachsen. Er schrieb für den Schulgebrauch Abhandlungen über Metrik, Rhetorik, Orthographie und Naturlehre. Zwei Handbücher über Chronologie, denen eine Chronik angehängt ist, waren grundlegend für die mittelalterliche Zeitrechnung. Auf ihm basiert die gesamte englische Chronistik im Mittelalter. Seine theologischen Werke – Bibelkommentare – beruhen auf der allegorisch-moralisierenden Methode. Beda, zu den geistigen Vätern der Karolingischen Renaissance gehörig, wurde 1899 zum Kirchenlehrer erklärt. Mit seiner „Historia ecclesastica gentis Anglorum“ begann sich die germanische Chronistik endgültig durchzusetzen. (). Fest: 27. Mai.
Innerhalb der Gliederung ist die Aufteilung in eine (Früh-,Hoch-,Spät-) „Urpatristik“ und eine eigentliche (Früh-,Hoch-,Spät-) „Patristik“ sinnvoll, denn die Patristik stellt nicht einfach nur eine chronologische Aneinanderreihung der Kirchenväter dar, sondern folgt einer inneren Logik der Kulturgeschichte – hier der Pseudomorphose und des Synkretismus. Gemäß der Kulturgeschichte ist deshalb eine Patrologie nötig, die auch die politischen Rahmenbedingungen berücksichtigt, denn in den für unser Thema (Abendland) relevanten Gebieten des Westens war bis ins 4. Jh. überhaupt noch nicht sicher, ob sich das Christentum hier behaupten könnte. Erst durch Konstantin d. Gr. (280-337), der seit 306 römischer Kaiser (seit 324 auch einziger) änderten sich die Bedingungen, z.B. durch ein erstes Edikt (311), durch die staatliche Anerkennung der Christen im Toleranzedikt von Mailand (313) und der damit endgültigen Einstellung der Christenverfolgungen. (Vgl. auch: 1. Konzil von Nizäa, 325). Frühestens seit dieser Zeit wurde es für Christen politisch und damit auch juristisch möglich, sich auch im Westen langfristig zu etablieren. Die Gebiete im Osten, wo sich die Christen zu dieser Zeit schon etabliert hatten und seit dem Ende der Reichseinheit (395) das Oströmisches Reich (Byzanz) eigene Wege ging, gehören der magischen und nicht der abendländischen Kultur an. Die Vordenker der abendländischen Kultur, auch wenn sie sich auf die Patristen des Ostens bezogen, konnten erst Dogmatiker und Kirchenpolitiker, dann Scholastiker werden, nachdem die entsprechenden politischen Rahmenbedingungen für die christliche Religion auch im Westen geschaffen worden waren. Erst dadurch konnte das Abendland auch zu seiner Form finden, d.h. eine Kultur werden: eine faustisch und vom Bild der Vergangenheit und Zukunft angetriebene, im Unendlichkeitsraum forschende und im Sinne einer eigenen „Mythomotorik“ nach dem „Reich“ suchende Kultur. Die gesamte Patristik (Ur-Patristik und Patristik i.e.S.) war maßgebend, aber ihr „zweiter Teil“ für das Abendland unerläßlich. Ein wirkliches Zurück, eine zweite „Einnistung“ war nach dem Beginn der Kirchenpolitik nicht mehr möglich! (Vgl. 0-2). Die Ergebnisse der germanischen Völkerwanderung, die Germanenreiche sollten es beweisen! (Vgl. 2-4).
Patrologie ist hier kulturhistorisch gemeint. Im katholischen Bereich ist die Patrologie die Bezeichnung für die Patristik bzw. für die Lehrbücher der Patristik.
Das auf Vergangenheit und Zukunft bezogene Bild eines Abendländers ist das exakte Gegenstück zu dem eines Antiken, für den nur die Gegenwart zählte. Selbst das Römische Reich war nicht primär aus bewußtem Antrieb durch identitätsstiftende Geschichten, also durch eine Mythomotorik gebildet worden, sondern aus sich selbst heraus. Im Gegenteil dazu suchte das Abendland von Anfang an seinen Antrieb durch Geschichten; und gerade die Geschichte des Römischen Reiches, die doch selbst durch Gegenwart, durch ständige Präsenz gekennzeichnet war, wurde (vielleicht auch deshalb!) zur Basis jeder Übertragung. Das „Reich“ wurde zur Grundlage jedes bildenden und einbildenden Projektes, d.h. jeder Projektion.“Die maßgeblichen europäischen Mächte unternahmen immer neue Anläufe, ein Reich nachzuspielen, das ihrer politischen Phantasie als unverlierbares Paradigma vorgeordnet blieb. So könnte man geradezu sagen, daß Europäer ist, wer in eine Übertragung des Reiches verwickelt wird. Dies gilt besonders für Deutsche, Österreicher, Spanier, Engländer und Fransosen ….“ (Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 34).
Mythomotorik bedeutet Antrieb durch formierende oder identitätsstiftende Geschichten. „Den Ausdruck Mythomotorik hat m.W. Jan Assmann … eingebracht. Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerungen und politische Identität in den frühen Hochkulturen, München, 1992.“ (Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht, 1994, S. 64).
Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht – Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence, 1994.
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, 2001 (S. 120f. und 122f.).
Mystik: vgl. Ur-Mystik, Früh-Mystik, Hoch-Mystik, Spät-Mystik und Neu-Mystik und ihre Mündung in Idealismus und Romantik.
Dionysios Areopagita (1. Jh.), angeblich erster Bischof von Athen, war Mitglied des Areopagats (Areopag = Areshügel, ältester und berühmtester Gerichtshof in Athen, auf dem Areshügel, westlich der Akropolis) und wurde von Paulus bekehrt. Unter dem Namen Dionysios Areopagita und unter Berufung auf Apg. 17, 34 veröffentlichte ein griechisch schreibender christlicher Schriftsteller im 5. oder 6. Jh., der Pseudo-Dionysios Areopagita, eine Reihe theologisch-mystischer Schriften und Briefe und erlangte damit beinahe apostolisches Ansehen mit großem Einfluß insbesondere auf die Mystik.
„Doppelte Wahrheit“, das gleichzeitige Wahr-oder-Falsch-sein-Können einer Erkenntnis je nach der Grundlage dieser Erkenntnis, spielte im Mittelalter eine große Rolle, als die Glaubenswahrheiten rational gesichert werden sollten. (Vgl. Frühdenker).
Carl Friedrich Gauß (1777-1855) veröffentlichte seine nicht-euklidischen Geometrien nicht, weil er das Geschrei der denkfaulen, schwerfälligen und unkultivierten Menschen fürchtete. Er nannte sie Böoter, weil die Einwohner dieser antiken Landschaft (Hauptstadt: Theben) von den Einwohnern anderer Griechenstädte als denkfaul und schwerfällig beschrieben worden waren. Gauß meinte zu Recht, daß man die Menschen nicht wirklich würde überzeugen können. Die erste der nichteuklidischen Geometrien entdeckte Gauß nach Vollendung seines Hauptwerkes Disquisitiones arithmeticae (1801), durch deren in sich widerspruchslose Existenz bewiesen wurde, daß es mehrere streng mathematische Arten einer dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt, die sämtlich a priori gewiß sind, ohne daß es möglich wäre, eine von ihnen als die eigentliche Form der Anschauung herauszuheben. (Vgl. 18-20).
Die abendländische Philosophie sei eine Reihe von Fußnoten zu Platon, behauptete der Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead (1861-1947), einer der wichtigsten Vertreter des Neurealismus, auf den er eine kritische Naturphilosophie gründete, die er später durch eine konstruktive Metaphysik ergänzte.
Etienne Gilson (Paris, 13.06.1884 – 19.09.1978, Gravant [Yonne]), L’esprit de la philosophie médiéviale, 1932. Gilson war 1913 Prof. in Lille, 1919 in Straßburg, 1921-32 an der Sarbonne, seit 1932 am Collège de France; Mitglied der Académie française. Er war einer der wichtigsten Vertreter des Neuthomismus. Der Neuthomismus ist schon seit Beginn der Gegenreformation der Kern der Neuscholastik. (Vgl. Tabellen: „Hoch-Denker“ und „Spät-Denker“).
Römisch-katholische Interpretationen attestieren dem Abendland zumeist, daß in ihm die Dominanz des Christlichen überwiege. Diese Meinung teilen vor allem kirchliche und vornehmlich christlich orientierte Vertreter. Theodor Heuss (31.01.1884 – 12.12.1963) soll einmal gesagt haben, daß Europa von 3 Hügeln ausgegangen sei: von der Akropolis, von Golgatha und vom Kapitol. Diese Sichtweise würde eher, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt, auf eine Dominanz der Antike verweisen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß aus einem antik-apollinischen Einzelkörper und einer magisch-seelengeistigen Welthöhle ein abendländisch-faustischer Unendlichkeitsraum entstehen kann, dann muß unbedingt ein dritter Faktor hinzukommen, den ich die Kulturpersönlichkeit nenne: das Germanentum. Ohne das Germanentum versteht man die Willensdynamik eines Faust nicht, und ohne das germanische Element ist die Raumtiefe, aber auch die in jeder Hinsicht sowohl ins Mikrokosmische als auch ins Makrokosmische gehende Unendlichkeit nicht als distinktives Merkmal der abendländischen Kultur zu identifizieren. Diese Merkmale treffen auf keinen antiken Menschen zu, aber insbesondere auf die Abendländer, die germanischen Ursprungs sind. Scharfe Gegensätze, wie die zwischen Antike und Abendland, sind zwar unbedingt ein Indiz für Verwandtschaft, weil beide Kulturen so auffallend gegensätzlich sind: aktiv und reaktiv. Offenbar hat die Antike auf das Abendland aber nicht persönlichkeitsstiftend gewirkt und konnte auch erzieherisch nicht tätig werden, weil sie so früh verstarb. Die Biogenetik und Sozialisation geraten nicht selten so weit auseinander, wenn ein Elternteil früh verstirbt, d.h. nicht wirklich erlebt wird. Dem Abendland scheint es auch so ergangen zu sein. Die Auseinandersetzungen mit der magischen Mutter hat beim Kind jedoch zu einer enormen, fast schon verdächtigen Erinnerung bis hin zur Vergötterung des antiken Vaters Beitrag geleistet. Aber liegt deshalb immer auch schon ein Vaterkomplex vor? Es bleibt zunächst festzuhalten, daß auch kulturell zwischen Genetik und Sozialisation, zwischen Anlage und Umwelt, zwischen angeboren und anerzogen ganz klar unterschieden werden muß. Dazwischen bewegt sich die Persönlichkeit. Man kann sie nicht isolieren, folglich auch nicht isoliert betrachten, aber man kann sie beschreiben, und ich beschreibe die Kulturpersönlichkeit des Abendlandes als germanisch, weil dieser Raum zwischen Anlage und Umwelt für die Kulturpersönlichkeit zwanghaft unendlich werden muß, wenn sie die verlorene Vaterkultur zurückholen will. Der unendliche Raum und Wille sind auch deshalb Ursymbol und Urwort des Abendlandes. Wenn der Mensch eine Grundlage von etwa 60 Billionen Zellen hat und einer Umwelt von praktisch unendlicher Vielfalt ausgesetzt ist, so gilt für eine Kultur, daß sie Völker, Staaten oder Nationen zur Grundlage hat und einer Umwelt von unendlichen Möglichkeiten, aber auch gähnender Leere gegenübersteht. Mit dem Germanentum fiel eine faustische Entscheidung zugunsten der unendlichen Möglichkeiten. Die Eltern des Abendlandes waren also antik-magisch, ihre gentragenden Chromosomen römisch-christlich, aber die Kontrollgene germanisch. (Vgl. 22-24).

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Ur-Denker

Menschliche Urdenker haben ihre Wurzeln in der Prähominisierung, ihre konkreteren Leistungen wurden aber erst als Frühformen sichtbar, also während der Hominisierung, im Altpaläolithikum. Dies bedeutet vornehmlich Geröllsteinkultur mit ersten Nebenprodukten, aber eben auch Entwicklung eines primären Sprachkulturgutes, also Feuergebrauch und rein kulturelle (früh-) menschliche Sprache. Das Tier mit dem Glauben („Fürwahrhalten“ ) kommt zum Wissen
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In weiterer Konsequenz mußte eine solche Primärsprachkultur, die ja Grundausstattung jeder menschlichen Kultur ist, zur Religion führen. Sicherlich gab es religiöse Vorstellungen bereits im Altpaläolithikum, z.B. Jagdzauber und Magie (); spätestens aber im Mittelpaläolithikum gab es Ur-Reiligionskulturen, z.B. die der Neandertaler (Grab, Grabbeigaben). Religiöse Weltanschauungen setzen aber nicht nur eine rein kulturelle Sprache und eine typisch menschliche Sprachentwicklung voraus, sondern auch eine kulturell-natürliche Sprache als Metasprache. Deshalb erreichte die Sprachentwicklung die Stufe der Metasprache sehr wahrscheinlich schon mit dem Höhepunkt (1. Kultursymbol) der Hominisierung, also noch im Altpaläolithikum und lange vor der Sapientisierung. Menschliche Sprache gehört natürlich-kulturell zur Sprache aller Lebewesen, rein kulturell jedoch ist sie nat(ion)al erworbene Sprache eines Volkes, und kulturell-natürlich ist sie Metasprache: „Sprache-über-Sprache“ (Sprache höherer Ebene), mit der die Sprache (Objektsprache als Sprache niederer Ebene) beschrieben wird, z.B. auch als Sprachtheorie, im weiteren Sinne aber sogar überhaupt als Theorie (ursprüngliche Bedeutung: Gottesanschauung) bzw. Theologie, Philosophie, Mathematik, Weltanschauung u.ä..

Welterzeugungen
Schon die ersten Religionen erzeugten Welten, denn das, was sie geistig entwickelten, waren Kosmogonien (Welterzeugungen), bei denen auch die Herkunft der Menschen eine Rolle spielt. (Vgl. ). Diese Schöpfungsmythen sind natürlich noch vorrationale, vorwissenschaftliche mythisch-religiöse Lehren von Weltenstehung und Weltentwicklung. Man kann mindestens drei Hauptarten der Kosmogonien unterscheiden: sie ist Schöpfungsgeschichte, wenn sie die Welt in ihrer Gesamtheit als das Produkt eines göttlichen Willens betrachtet; Bildungsgeschichte, wenn die Gottheit einen als vorhanden gedachten, nicht erschaffenden Stoff zur Welt bildet; Entwicklungsgeschichte, wenn ein als ewig angenommener Stoff als sich aus einen Kräften zur Welt in ihrer Mannigfaltigkeit bildend gedacht wird. Kosmogonie ist also die Bezeichnung für die Entstehung der Welt nach mythischer Auffassung sowie für den Mythos, der von ihr berichtet. Diese Berichte geben die religiös intendierte Versicherung einer Ordnung, durch die die Mächte des Chaos gebannt sind. Meist liegt den Kosmogonien die Vorstellung von einem vorzeitlichen Urstoff oder Urwesen zugrunde, aus dem oder durch deren Umbildung die Welt entstanden sei. Von dieser Annahme ist die Anschauung von der „Schöpfung aus dem Nichts“ zu unterscheiden, nach der die Kosmogonie zunächst als Gedanke einer Gottheit konzipiert und dann durch deren Wort verwirklicht wird.

Die Provinz des Göttlichen
Thanatotop (Theotop)
Das Thanatotop ist ein Ort der Heimsuchung durch abgelebtes Leben. Wo Menschen beisammen sind, sind auch die Zeichen der Abwesenden und der Transzendenz beharrlich und subtil zugegen.
„Das Böse und Furchtbare, das von außen kommt, ist für das Verständnis der Menschensphären so bedeutsam, weil es auf doppelte Weise in die Konstitution der kulturellen Kapseln einbezogen ist: Zum einen haben Menschen zu den ontologischen Insulanern (), die sie sind, erst werden können, weil es ihnen in einer langen evolutionären Drift gelungen war, sich von der schädlichen Umwelt freizumachen und sich auf die anthropogene Insel – die klingende Verwöhnungskapsel – zurückzuziehen; zum anderen führt dieser Rückzug nie bis zur völligen Unbelangbarkeit; die kulturelle Einkapselung gewährt den Sapienten nie mehr als eine partielle Freiheit von Nöten und Verletzungen. Die Überwältigung durch das Außen bleibt als Möglichkeit ständig gegenwärtig – erst recht durch die Gewalt, die aus dem Gruppeninneren kommt. Das heißt: das Prinzip Distanz wird durch das Prinzip Invasion unterwandert, das Ringen zwischen beiden Tendenzen bestimmt die Geschichte der Organismen wie der Kulturen. Man kann zeigen, wie der Humanraum durch die Anstrengung geformt wird, den Vorgang der Distanzierung vor der Invasion zu behaupten oder diese auch nach Niederlagen wiederherzustellen. Der typische Invasionsstreß verkörpert sich in drei Kategorien von Eindringlingen; zum einen in den Ahnen und Wiedergängern, mit deren Eindringen in die Gruppenpsyche regelmäßig zu rechnen ist; zum anderen in den natürlichen Aggressionen und Katastrophen, die aus der Umwelt in die Physis der Gruppe einfallen; und schließlich in den Neuwahrheiten, die aus den Erfindungen und Entdeckungen der Neuerer hervorgehen. Weil der menschliche Raum trotz seiner Abrundung in sich selbst unvermeidlich auch Invasionsraum bleibt, nimmt er die Züge eines kulturellen Immunsystems an. … Durch Immunsysteme bauen lernende Körper ihre regelmäßig wiederkehrenden Stressoren in sich selbst ein. Genau dies entspricht der Funktion des Theotops (das aus dem Thanatotop emergiert): Die primitiven Götter sind die nach innen gezogenen Kategorien von Invasoren und Verletzern, mit denen eine gegebene Kulturgruppe chronisch rechnet.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004; S. 447-449).
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In zahlreichen Gegenden der Welt hat sich bis heute die Auffassung vom medialen Verkehr ausgewählter und gezeichneter Menschen mit der anderen Seite gehalten. „Manche afrikanische »Gesellschaften« kennen bis heute die Vorstellung, daß Kinder, die entweder nicht sprechen lernen oder zu einem bestimmten Zeitpunkt zu sprechen aufhören, es verzögen, mit den Ahnen zusammen zu bleiben – weswegen die Überredung solcher Jungen zur Koexistenz mit den Lebenden nur dadurch geschehen kann, daß man sie vom Vorteil, geboren zu sein, zu überzeugen versucht. In den Augen ihrer Eltern oder Heiler sind solche »Toten Kinder« nicht »autistisch«; sie leben im Anderswo dichter eingebürgert als unter Menschen, so daß es, um sie hier anzusiedeln, darauf ankommt, das Band zu lockern, das sie an die andere Seite bindet.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004; S. 457).

Der Urdenker ist erster und letzter Denker.
Sobald er aber über das Denken nachdenkt,
ist er kein ursprünglicher Nachdenker mehr,
aber ein in das U(h)rtümliche vorgedrungener
Nachdenker: u(h)rdenkend erster Vordenker.
(*)

Urdenker Vordenker Frühdenker Hochdenker Spätdenker Nachdenker Enddenker
WWW.HUBERT-BRUNE.DE

Anmerkungen:

(I) Natürliche Sprache ist die Sprache, die der Kosmos (oder das Universum) spricht: „Feuer“ (z.B. Energie, Strahlung, Licht, Wärme, Sonne, „Leben und Tod“ u.s.w.). Feuer birgt jede Art von Symbolik in sich. Jedes Symbol ist ein Teil des Feuers – auch der Feuergebrauch (= Feuer als 1. Kultursymbol ).

(II) Natürlich-kulturelle Sprache ist die Sprache aller Lebewesen (allgemein auch „Sprachverhalten“ genannt). Sie beruht auf der Genetik (), ist also bereits intrauterin festgelegt. Ihre Funktion besteht v.a. darin, die Voraussetzungen, den Anteil des „Angeborenen“ (vgl. Nativismus ) an der rein kulturellen Sprache () zu schaffen.

(III) Kulturelle Sprache ist die natale und zugleich nationale Sprache, also: eine nat(ion)ale Sprache. Als nationalelektrische oder nationalneurologische Bibliothek im Menschen ist sie die Grundlage menschlichen Denkens. Nationen sind sozusagen politische Mutterinstanzen (daher auch der Zusammenhang zwischen Natalität und Nationalität). Weil im Uterus ein Sprachtraining nur im Rahmen der natürlich-kulturellen Sprache () möglich ist, kann ein Kind es erst in der geeigneten „Atmosphäre“ praktizieren und erst nach dem Verlassen des Uterus eine kulturelle Sprache erlernen (erwerben).

IV) Kulturell-natürliche Sprache ist die Sprache, die den Menschen am meisten charakterisiert, aber selbst dem Menschen noch die größten Rätsel aufgibt, weil sie eine „Metasprache“ und rein theoretisch ist. Sie ist kulturell insofern, als daß sie nur durch kulturelle Konventionen darstellbar ist; sie strebt ins Natürliche insofern, als daß sie den Versuch darstellt, Kultur und Natur komplett zu verstehen (z.B. durch eine „Weltformel“ oder eine „Universalsprache“).

Vgl. Peter Sloterdijk, Das Thanatotop, in: Sphären III – Schäume, 2004; S. 441-468.

Weil frühe Menschen großen Raubtieren zum Opfer fielen, wurden vielleicht auch blutrünstige Tiere und blutrünstige Götter in Zusammenhang gebracht, faszinierende Tiere zu kultureigenen Göttern gemacht (was einer symbolischen Zähmung der Raubtiere durch ihre potentielle Beute gleichkommt), Naturkatastrophen als Astroterror mit Götterterror gleichgesetzt sowie das Fasziniert-sein-Wollen durch befremdliche Götter befriedigt. Demanach wäre die Domestikation der Tiere der Domestikation der Götter vorausgegangen. (Vgl. Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, 1890, S. 303 und ff. ). Fern wie ein Himmelskörper und schrecklich wie ein Gott zu sein: dies könnten schon damals Bedingungen gewesen sein, die „ein heiliger Gegenstand erfüllen muß, um im affektiven Register des religiösen Masochismus erfolgreich zu wirken. … Um die archaischen revierbewußten Götter auf Distanz zu halten, entsteht in den frühen Theotopen die Funktion des Priesters: Als Grenzpolizist der Sphäre der Lebenden ist er mit der Aufgabe betraut, die Razzien der anderen Seite einzuschränken. Die sicherste Methode zur Abfindung der Jenseitigen, die ihren Teil fordern, scheint das Opfer gewesen zu sein, das quasi einen Elementargedanken der frühen Theotopier ausdrückt. Sie alle waren gewohnt zu glauben, daß die Zahlung einer Toten- und Fremdensteuer zu ihren anerschaffenen Pflichten gehörte – die ersten Finanzämter waren zweifellos die paläolithischen Opfersteine (), an denen die ahnungsvolle Angst ihre Abgaben entrichtete.“ (Peter Sloterdijk, Das Thanatotop, in: Sphären III – Schäume, 2004; S. 451 und S. 453).

Seelenbild der Antike und Seelenbild des Abendlandes sind gegensätzlich: apollinisch und faustisch; ihre Ursymbole ebenfalls: Einzelkörper und Unendlicher Raum. Wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung, gelten auch Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar, deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Beispiel „Parallelenaxiom“ deutlich werden kann: Euklid hat in seinen „Elementen“ (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung für das antike Beispiel gegeben und Gauß ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Sie stehen – wie unzählige andere Beispiele auch – für einen metaphysischen Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol angetrieben und angezogen wird. (Vgl. Oswald Spengler, 1917, S. 155, 227ff., 234, 390). Vgl. dazu auch das Germanentum.
Das Seelenbild der magischen Kultur ist ein dualistisches: Geist und Seele, ihr Ursymbol die Welthöhle. (Vgl. Spengler, 1917-1922, S. 847f.).
„Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes (2. Band), 1922, S. 784). Auch eine junge Kultur kann so mächtig sein, daß sie eine alte dort, wo sie zu Hause ist, überlagert. Das Beispiel zwischen der (alten) apollinischen Kultur, auch kurz „Antike“ genannt, und der (jungen) magischen Kultur, auch „Persien/Arabien“ genannt, macht es deutlich: „Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die Pseudomorphose darin, daß alle östlichen Kirchen zu Kulten westlichen Stils wurden. Dies ist eine wesentliche Seite des Synkretismus. … Mit dem Hinschwinden der apollinischen und dem Aufblühen der magischen Seele seit dem zweiten Jahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetzt Kulte des Westens, die zu einer neuen Kirche des Ostens werden. Aus der Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des Persertums und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische Nation.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 800-801).
Der Synkretismus kristallisierte sich als eine der vielen Arten der Pseudomorphose heraus, als die Kirchen des Ostens in Kulte des Westens verwandelt wurden und in umgekehrter Richtung die Kultkirche entstand. Die Formenbildung ging also erst von West nach Ost und dann von Ost nach West. Das 2. Jahrhundert war die Zeit der Umkehrung: die Kulte des Westens wurden zu einer neuen Kirche des Ostens. Es entstand ein neues Griechentum als magische Nation.
Römisch-katholische Interpretationen attestieren dem Abendland zumeist, daß in ihm die Dominanz des Christlichen überwiege. Diese Meinung teilen vor allem kirchliche und vornehmlich christlich orientierte Vertreter. Theodor Heuss (31.01.1884 – 12.12.1963) soll einmal gesagt haben, daß Europa von 3 Hügeln ausgegangen sei: von der Akropolis, von Golgatha und vom Kapitol. Diese Sichtweise würde eher, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt, auf eine Dominanz der Antike verweisen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß aus einem antik-apollinischen Einzelkörper und einer magisch-seelengeistigen Welthöhle ein abendländisch-faustischer Unendlichkeitsraum entstehen kann, dann muß unbedingt ein dritter Faktor hinzukommen, den ich die Kulturpersönlichkeit nenne: das Germanentum. Ohne das Germanentum versteht man die Willensdynamik eines Faust nicht, und ohne das germanische Element ist die Raumtiefe, aber auch die in jeder Hinsicht sowohl ins Mikrokosmische als auch ins Makrokosmische gehende Unendlichkeit nicht als distinktives Merkmal der abendländischen Kultur zu identifizieren. Diese Merkmale treffen auf keinen antiken Menschen zu, aber insbesondere auf die Abendländer, die germanischen Ursprungs sind. Scharfe Gegensätze, wie die zwischen Antike und Abendland, sind zwar unbedingt ein Indiz für Verwandtschaft, weil beide Kulturen so auffallend gegensätzlich sind: aktiv und reaktiv. Offenbar hat die Antike auf das Abendland aber nicht persönlichkeitsstiftend gewirkt und konnte auch erzieherisch nicht tätig werden, weil sie so früh verstarb. Die Biogenetik und Sozialisation geraten nicht selten so weit auseinander, wenn ein Elternteil früh verstirbt, d.h. nicht wirklich erlebt wird. Dem Abendland scheint es auch so ergangen zu sein. Die Auseinandersetzungen mit der magischen Mutter hat beim Kind jedoch zu einer enormen, fast schon verdächtigen Erinnerung bis hin zur Vergötterung des antiken Vaters Beitrag geleistet. Aber liegt deshalb immer auch schon ein Vaterkomplex vor? Es bleibt zunächst festzuhalten, daß auch kulturell zwischen Genetik und Sozialisation, zwischen Anlage und Umwelt, zwischen angeboren und anerzogen ganz klar unterschieden werden muß. Dazwischen bewegt sich die Persönlichkeit. Man kann sie nicht isolieren, folglich auch nicht isoliert betrachten, aber man kann sie beschreiben, und ich beschreibe die Kulturpersönlichkeit des Abendlandes als germanisch, weil dieser Raum zwischen Anlage und Umwelt für die Kulturpersönlichkeit zwanghaft unendlich werden muß, wenn sie die verlorene Vaterkultur zurückholen will. Der unendliche Raum und Wille sind auch deshalb Ursymbol und Urwort des Abendlandes. Wenn der Mensch eine Grundlage von etwa 60 Billionen Zellen hat und einer Umwelt von praktisch unendlicher Vielfalt ausgesetzt ist, so gilt für eine Kultur, daß sie Völker, Staaten oder Nationen zur Grundlage hat und einer Umwelt von unendlichen Möglichkeiten, aber auch gähnender Leere gegenübersteht. Mit dem Germanentum fiel eine faustische Entscheidung zugunsten der unendlichen Möglichkeiten. Die Eltern des Abendlandes waren also antik-magisch, ihre gentragenden Chromosomen römisch-christlich, aber die Kontrollgene germanisch. (Vgl. 22-24).

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S k e p t i z i s m u s Jüngerer Skeptizismus
NEUE LEBENSPHILOSOPHIE
LEBENSPHILOSOPHIE Alte Schule Mittlere Schule Junge Schule

Die Lebensphilosophie () fragt nach Sinn, Ziel und Wert des Lebens, besonders dann, wenn sie sich vom theoretischen Wissen abwendet und der unverfälschten Fülle des unmittelbaren Lebens zuwendet. Sie will das Leben aus ihm selber verstehen und steht auf der Seite des Schöpferischen, der Anschauung, der Mystik, des Gefühls, des Instinkts, also weniger auf der Seite des Intellekts oder des Rationalismus, aber nicht gegen sie (obwohl der Begriff des Irrationalen dies fälschlicherweise oft vermuten läßt ), sondern eher mit ihnen – sozusagen als Ergänzung, als Komplement. Als Begründer der modernen Lebensphilosophie, die zum Teil auch den Arationalismus betont, gilt ein Denker, der ausging vom Rationalisten Immanuel Kant (), weil er ihn, der am Ende des 18. Jahrhunderts die Moderne (das bürgerliche Zeitalter als Zivilisation, also die „moderne Welt“ ) eingeläutet hatte, ergänzen und vor allem überbieten wollte: Arthur Schopenhauer.

„Alte Schule“ der Lebensphilosophie
Arthur Schopenhauer (1788-1860) formulierte 1818 im Titel seines Hauptwerks programmatisch seine Philosophie: „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Seine übrigen Werke sind hierzu Kommentar und Detailergänzung. Schopenhauer ging von zwei Sätzen aus: 1.) Die Welt ist an sich Wille. 2.) Die Welt ist für mich Vorstellung. Schopenhauers Hauptwerk beginnt mit dem Satz: „Die Welt ist meine Vorstellung“. Also ist die Welt nach Schopenhauer (im Anschluß an Kant ) „meine“ Vorstellung oder „von mir“ abhängig, als Erscheinung bedingt durch die Anschauungsformen Raum und Zeit und durch die Kategorie der Kausalität. Alles, was Objekt ist, kann dies nur in bezug auf ein Subjekt sein. Gerade deshalb aber kann die Welt nicht nur Vorstellung sein: Das Subjekt erkennt wegen der Tatsachen dieser seiner Welt die eigene Bedingtheit als Subjekt. Der Welt als Vorstellung muß also noch etwas als „Ding an sich“ () zugrunde liegen. Jeder ist sich selbst in zweifacher Hinsicht gegeben, als „Leib“ und als „Wille“. Zwischen Wille und Leib besteht nach Schopenhauer kein Ursache-Wirkung-Verhältnis, weil Willensakte und Leibesveränderungen ein Vollzug in zwei Bereichen sind: Der Leib (und analog die gesamte Welt) ist die Objektivation des Willens, das heißt: der Leib (und analog die gesamte Welt) ist der zur Vorstellung gewordene Wille, wobei den Entwicklungsstufen der Welt als Vorstellung Objektivationsstufen des Willens entsprechen. Alle Erscheinungen sind nichts als Objektivationen des einen Willens, der als unerkennbares „Ding an sich“ der Welt zugrundeliegt. Dieser Wille ist ein vernunftloser und blinder Drang (vgl. Evolutionstheorie).

‹— Arthur Schopenhauer —›
1. Stadium („Winter“) 2. Stadium („Frühling“) 3. Stadium („Sommer“) 4. Stadium („Herbst“)
Vor-/Urdenken: Schopenhauers
„Vor-/Urphilosophie“ Frühdenken: Schopenhauers
„Frühphilosophie“ Hochdenken: Schopenhauers
„Hochphilosophie“ Spätdenken: Schopenhauers
„Spätphilosophie“
(Dauer: 21 Jahre) (Dauer: 10 Jahre) (Dauer: 22 Jahre) (Dauer: 19 Jahre)
1788 bis 1809 1809 bis 1819 1819 bis 1841 1841 bis 1860
Geburt
(22.02.) „DIE WELT ALS WILLE
UND VORSTELLUNG“ Tod
(21.09.)
Übergang
Schule / Studium | „Grundprobleme
der Ethik“
Frühe
Kindheit Grund-
Schule Lehre,
Gymnas. 1809
– 1813 1813
– 1816 1816
– 1819 1819
– 1826 1826
– 1834 1834
– 1841 1841
– 1847
1847
– 1854 1854
– 1860

„Das Wichtigste, was Schopenhauer geleistet hat, entdeckte er bereits sehr früh. Schon mit 30 Jahren veröffentlichte er sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, von dem aber zunächst kaum jemand Notiz nahm. Doch er hatte etwas gefunden, das bei Kant, bei Hegel und auch sehr vielen anderen Philosophen unberücksichtigt geblieben war. Fast alle gingen sie davon aus, daß der Verstand oder die Vernunft dem Menschen sagt, was er zu tun hat. Und daß die ganze Aufgabe des Menschen nur darin bestehe, sich möglichst nach dem zu richten, was die Vernunft diktiert. Doch Schopenhauer mißtraute dem zutiefst. Und er stellte eine der spektakulärsten Fragen der Philosophie. Sie hieß: »Kann ich wollen, was ich will?« Die Frage war eine große Provokation, denn es hing sehr viel daran. Wenn es so sein sollte, daß ich nicht wollen kann, was ich will, dann war eigentlich alles im Eimer! Dann war der Wille des Menschen nicht frei. Und wenn es keinen freien Willen gab, dann spielte die Vernunft eigentlich gar keine Rolle mehr. Und was war dann mit dem kategorischen Imperativ (), dem »moralischen Gesetz« meines Verstandes? Er würde völlig belanglos, denn die Gesetze meines Handels bestimmte ja gar nicht die Vernunft, sondern der unvernünftige Wille! Und Schopenhauer zog seine Behauptung gnadenlos durch: Die Kommando-Zentrale im Gehirn ist nicht die Vernunft, sondern der Wille. Er ist das Unbewußte, das unser Dasein und unseren Charakter bestimmt. Der Wille ist der Herr, und der Verstand ist sein Knecht. Von den eigentlichen Entscheidungen und geheimen Beschlüssen des Willens bleibt der Verstand ausgeschlossen, er hat gar keine Ahnung von dem, was längst ohne ihn abläuft. Nur der Wille sagt mir, was zu tun ist, und der Verstand folgt ihm. Denn »was dem Herzen widerstrebt, das läßt der Kopf nicht rein« – das ist der springende Punkt. Alles andere ist Geschwätz!“ (Richard D. Precht, Wer bin ich und wenn ja, wie viele?, 2007, S. 148-149).
Die dem Willen gehorchenden Stufen der Objektivation, von den allgemeinsten Kräften der Natur bis zum Tun des Menschen, setzte Schopenhauer mit den Urbildern (Ideen) der Einzeldinge im platonischen Sinne gleich. (Vgl. Platon ). Die Ideen selbst sind Gegenstand der Künste, die die Objektivationsstufen des Willens zur Anschauung bringen. Die Verdrängung des Willens zum Leben ist der Ursprung des Leidens. Dessen endgültige Überwindung erfordert, den Willen zum Leben durch Abtötung der Bedürfnisse in der Askese zur Ruhe zu bringen, wodurch der Eingang ins „Nirwana“, das bewußtseinslose „Nichts“ erreicht wird. Dieser vom Buddhismus (Schopenhauer ist für Sloterdijk der „1. Patriarch des Eurobuddhismus“ ) übernommenene und auf das Individuum bezogene Erlösungsgedanke ist nach Schopenhauer Ausdruck eines allgemeinen Pessimismus: Die Weltgeschichte hat keinen Sinn, da sie die Objektivation eines blinden Willens ist, dessen Freiheit Schopenhauer aber gleichwohl verteidigte.
Schopenhauer bestand darauf, die gegenwärtige erfahrbare Welt mit einem einzigen Satz erklären zu können: Die Welt ist Wille und Vorstellung. Schopenhauer begann mit der Vorstellung und einer Negation. Kant () hatte gelehrt, daß die von unseren Sinnen aufgenommene Welt nur Erscheinung ist, und daß die Erscheinung nichts aussagen kann von dem eigentlichen Seienden, dem Ding an sich (); daß dies also unerkennbar bleibt. Schopenhauer gab dies zu: die ganze Körperwelt ist ideal, d.h. unsere Wahrnehmung ist dem Denkgesetz unseres Intellekts unterworfen, ist nur innerlich dieses Gesetzes möglich. Subjekt und Objekt bedingen einander. Ohne das Subjekt kann das Objekt nicht gedacht werden. Mit dem Subjekt muß es fallen. Der Intellekt vermag nur aufzunehmen unter der Vorstellung von Zeit und Raum, und in kausalen Verbindungen, undurchbrechlichen Relationen. Zeit und Raum bedingen Nacheinander und Nebeneinander, also die Vielfalt der Erscheinungen; sie sind darum das principium individuationis, Grund des Einzelnen. Schopenhauer schrieb 1813 „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“. Unberührt von den Stürmen dieses Befreiungsjahres schrieb er im Hotel „Ritter“ in Rudolstadt diese Abhandlung als Grundlegung seiner Erkenntniskritik, ja seiner ganzen Philosophie. Der Satz vom Grunde (principium rationis sufficientis, Satz vom zureichenden Grunde ) besagt: „Nichts ist ohne Grund warum es sei“. Für alles Bestehende stellt der Satz des Grundes einen Grund fest, aus dem es rechtmäßigerweise abgeleitet oder gefolgert werden kann. In allen seinen Gestalten ist der Satz vom Grunde das alleinige Prinzip und der alleinige Träger aller und jeder Notwendigkeit. „Die Notwendigkeit kommt also nicht dem Dinge an sich zu, sondern der Vorstellung. Nur Notwendiges kann vorgestellt werden.“ Der Satz, daß nichts ist ohne zureichenden Grund seines Seins, wurzelt in folgenden 4 Bereichen: I.) den anschaulichen empirischen Vorstellungen; II.) den Begriffen, also abstrakten Vorstellungen; III.) der a priori gegebenen Anschauung von Raum und Zeit (die also für Schopenhauer nicht absolut sind); IV.) im menschlichen Willen, der, innerhalb der Erscheinungswelt, streng kausal unter der Wirkung der Motive handelt. Eine jede Handlung ist die unausbleibliche Folge des Zusammentreffens eines Motivs mit einem bestimmten Willen. Der Intellekt also baut die ganze Vorstellungswelt auf. Sie ist an die Vergänglichkeit des Subjekts gebunden. Über das eigentlich Seiende, das Unveränderliche, Ungeteilte, Unbedingte, Freie sagt sie nichts. Bis dahin glaubte Schopenhauer mit Kant einig zu sein. Nun aber machte er die Entdeckung des Dinges an sich, und zwar in seinem eigenen Wollen. Ein jeder hat die Erfahrung, die Erkenntnis seines eigenen Wollens. Sie ist unmittelbare Realität, nicht Anschauung, nicht leere Form, nicht als Gesetz der Vorstellung a priori gegeben. Der Wille ist das unmittelbar Bekannte; und von ihm ausgehend – nicht umgekehrt – ist der Weg zu suchen zum mittelbar Bekannten, der in der Vorstellung erscheinenden Körperwelt. Der Wille ist der „Schlüssel zu allem Andern“, die „enge Pforte zur Wahrheit“. Die ganze vom Intellekt aufgebaute Welt ist Objektivierung des Willens in ihm. Das ist die kühne Verknotung höchst verschiedener Erfahrungen, Schopenhauers einziger Gedanke, absurd für die Einen, genial für die Anderen, vielleicht eine geniale Absurdität. Diese Verknotung ist nicht zu erklären: er verzichtet darauf. Sie ist eben der „Weltknoten“, die Tatsache, die angenommen werden muß. Laut Schopenhauer ist der Wille das Seiende, unabhängig von Raum, Zeit, Kausalität, jeglicher Relation. Er ist das Wesen des Subjekts und der Welt, in der und mit der wir sind. Der Wille hat den Intellekt als sein Instrument geschaffen, aufnehmendes, vergängliches, dem principium individuationis (als dem Grund des Einzelnen) unterworfenes Bewußtsein – während der Wille unsterblich ist und, als Absolutum, unteilbar, das unauslöschliche Feuer, in das alle Erscheinungen zurückstürzen; aus dem neue in Ewigkeit aufsteigen werden. Die Individuen sind für den Willen nichts. Innerhalb der Erscheinungswelt zerteilt er sich in sie ohne Unterlaß, opfert er sie rücksichtslos. Tod ist ja nicht Tod, ist nur eine Phase sich fortgebärenden, unersättlichen Lebens.
Wie bereits gesagt: Alles, was für die Erkenntnis da ist, also diese ganze Welt, ist Objekt in Beziehung auf ein Subjekt, ist Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort: Vorstellung. Also: kein Subjekt ohne Objekt, kein Objekt ohne Subjekt. Doch diese Erkenntnis genügte Schopenhauer nicht. Wir fragen, ob diese Welt nichts weiter als Vorstellung sei, und was, wenn sie noch etwas anderes ist. Wir erkennen nun: das als Individuum erscheinende Subjekt des Erkennens findet als sein innerstes Wesen den Willen, und zwar aus der Erfahrung seines Leibes; er ist auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: als Vorstellung, als Objekt unter den Objekten, zugleich aber auch als das jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet. Also: Der Leib ist die Objektivation des Willens: der Wille ist das Ansich des Leibes. Diese Erkenntnis ist der Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur; alle Objekte müssen ihrem inneren Wesen nach dasselbe sein, was wir an uns Wille nennen. Der Wille ist das „Ding an sich“ (), also ist er auch das innerste Wesen des Menschen. Der Wille als Ding an sich liegt außer aller Zeit und allem Raum, wie auch außer aller Kausalität: er ist grundlos, ursachlos, ziellos und erkenntnislos. Sobald er sich der objektiven Erkenntnis darstellt, zeigt er sich in Raum und Zeit dem principium individuationis unterworfen und wird dadurch Wille zum Leben. Die durch Raum und Zeit bestimmten Objekte (Vorstellungen) betrachtet die Wissenschaft () am Leitfaden der Kausalität. Darüber hinaus vermag allein das Genie in der Kunst durch reine Kontemplation und ungewöhnliche Kraft der Phantasie die ewigen Ideen aufzufassen und darzustellen, in der Poesie, der bildenden Kunst, der Musik. Die Musik nimmt eine besonders hohe Stellung ein, da sie nicht wie die anderen Kunstgattungen die Ideen abbildet, sondern die unmittelbare Objektivation des Weltwillens in uns ist.
Der Wille muß immer streben, weil Streben sein alleiniges Wesen ist, dem kein erreichtes Ziel ein Ende macht, das daher keiner endlichen Befriedigung. d.h. keines Glückes, fähig ist. Laut Schopenhauer ist jede Lebensgeschichte Leidensgeschichte: „Der Lebenslauf des Menschen“ besteht darin, „daß er, von der Hoffnung genarrt, dem Tod in die Arme tanzt.“ Die ganze Natur ist ein unbarmherziger Kampf ums Dasein. Sie ist ein „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist“. Was alles Wirkliche kennzeichnet, ist „der endlose, aus dem Leben wesentlich entspringende Schmerz, davon die Welt übervoll ist.“ So zeigt sich: Diese ist „an allen Enden bankrott“. Sie ist, entgegen Leibniz (), der sie für die bestmögliche hielt, die schlechteste aller möglichen Welten. In summa: Die Welt ist etwas, was nicht sein sollte. Mitleid ist nach Schopenhauer das Fundament der Moral. Das Gefühl des Mitleids bezieht sich nicht nur auf Menschen, sondern, was für Schopenhauer besonders wichtig war, ebenso auf Tiere. Aus Egoismus entspringt das Böse, aus Mitleid das Gute. Das ist das Grundprinzip der Ethik Schopenhauers. Ihr gemäß wird der das Leiden schaffende Wille durch die Tat des Mitleids verneint. Die Verneinung des Willens zum Leben kann also in letzter Konsequenz nichts anderes sein als die Aufhebung des Individuationsprinzips oder gar der Übergang ins Nichtsein, ins Nichts (Nirwana).
Diese radikale Skepsis – ein Nihilismus () – ist eine Reaktion auf die Ideale bzw. auf den Idealismus (). Der faustische Nihilist flüchtet vor den (alten) Idealen bis ins Unendliche, der apollinische Nihilist enthält sich ihnen bis zur Unerschütterlichkeit. Alle Kulturen folgen der Notwendigkeit eines Skeptizismus (radikal: eines Nihilismus). Die Richtungen des „Entgegengesetzten“ in Antike und Abendland sind jedoch ebenfalls gegensätzlich, weil auch diese beiden Kulturen gegensätzlich sind: Faustisch versus apollinisch und Unendlichkeitsraum versus Einzelkörper kommen auch in der „Selbstverneinung“ deutlich zum Ausdruck. Für Schopenhauer war der Tod der Musaget der Philosophie, ein Musenanführer, Freund, Förderer, d.h. rettende Verneinung des Willens zum Leben, die zur Aufhebung des Individuationsprinzips führt, also zum Übergang ins Nichtsein (Nirwana).
Schopenhauers Nihilismus ist buddhistisch gebrochen: sein Nichts ist Erlösung. Es bedeutet schon zu Lebzeiten Klarsicht, Einsicht ins Wesen der Welt durch Kontemplation. Denn Kontemplation ist Stillegung des auf Leben und Fortzeugung drängenden Willens, welcher nach Schopenhauer der Grund der Welt ist. Auf diese Weise wußte Schopenhauer alles, ähnlich wie Hegel (). Und er insistiert mit Penetranz und Polemik auf der absoluten Wahrheit seiner Weltsicht. Kant (), d.h. Kants Wahrheit – „die Welt ist meine Vorstellung“ – wurde zu Schopenhauers Ausgangspunkt. Schopenhauer fand sie in der indischen Philosophie bestätigt, in der Lehre vom Schleier der Maja, die die Welt der Vielheit, der Individuation in Raum und Zeit, zum Schein erklärt. Hinter den Schleier der Erscheinungswelt „blicken“ wir, wenn wir des Weltwillens gewahr werden, dessen Objektivation wir, wie jede andere Kreatur, sind. Dieses Gewahrwerden ist das Gefühl des Mitleids beim Leid anderer. Und Leben ist wesentlich Leiden, Verbrauch der Individuen beim Kampf ums Dasein und um Fortzeugung. Nur Mitleiden ermöglicht unegoistisches oder selbstloses und das heißt: moralisches Handeln, so Schopenhauer. Damit stellte er den eigenen, egoistischen Willen ab. Die Urbilder (oder Ideen) der Willensobjektivation erkennen wir kontemplativ, d.h. bei mediativ abgestelltem Willen, in der Kunst, besonders in der Musik.
„Philosophie und Kunst lagen für Schopenhauer auf dem halben Weg zur Erlösung,
sie verwirklichen einen Weltabstand durch Kontemplation.“ (). Seinen eigenen
Gedanken gegenüber erschien Schopenhauer, was von allen früheren Philosophen
– außer Platon, Aristoteles, Kant und vielleicht noch einigen englischen Philosophen –
gedacht worden war, als „flach“. Er war „der heimlicher Kaiser der Philosophie“.
Schopenhauers einfache übersichtliche Konzeption der „Welt als Wille und Vorstellung“ hatte erst spät, nach dem Scheitern der 1848er Revolution, ihre größte Wirkung, besonders auf Künstler und Literaten. Die berühmtesten Beispiele: Richard Wagner (1813-1883), Thomas Mann (1875-1955) und selbstverständlich Schopenhauers Schüler Friedrich Nietzsche (1844-1900), der auch in seinen Schriften von seinem Lehrer Schopenhauer als Erzieher sprach (vgl z.B.: Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, in: 1874) sowie dessen Schüler Sigmund Freud (1856-1939 ), der im „Willen“ Schopenhauers sein „Unbewußtes“ entdecken konnte. (). Als nachhaltig, nämlich die heutige evolutionäre Erkenntnistheorie hervorbringend, erwies sich auch die naturalistische Wende, die Schopenhauer der Kantschen Erkenntnistheorie () gab. Die „Schopenhauersche Wende“ bestand darin, daß Schopenhauer das Kantsche Erkenntnisvermögen (das transzendentale Ich) mit dem Gehirn als Erkenntnisapparat identifizierte. Die Welt, wie wir sie sehen, die sogenannte Vorstellungswelt, ist demnach ein Gehirnerzeugnis. Dann stehen wir aber vor einem Paradox, das Schopenhauersche Gehirnparadox: die Vorstellungswelt ist ein Produkt des Gehirns und das Gehirn zugleich ein Teil der vorgestellten Welt. Man kann sich vor diesem Paradox nur in einen hypothetischen Realismus flüchten, wie es unsere heutige evolutionäre Erkenntnistheorie macht. Man nimmt dann an, es gäbe eine reale Welt, nämlich das Weltall mit seinen Galaxien, Sternen und ihren Planetensystemen sowie unserem Planeten Erde mit seiner Evolution der Lebewesen bis hin zum Menschen, in dessen Bewußtsein sich nun vermöge seines Gehirns die Welt gewissermaßen selbst abbildet. Die sinnliche Abbildung durch die Wahrnehmung ist dabei nur eine beschränkte, z.B. verschieden von der Wahrnehmungswelt eines jeden anderen Menschen, eines Elefanten oder einer Maus, eines Fisches oder einer Zecke u.s.w.; aber die Naturwissenschaft mit ihrer Erweiterung unserer Erfahrungsmöglichkeit durch Instrumente, die dann auch z.B. Ultraschall registrieren, liefert dem Menschen eine stetig wachsende Erfahrung von Realität – sie scheint immer vollständiger zu werden, aber sie ist eben (immer noch) nicht vollständig.
Schopenhauer ging es überhaupt nicht um Popularität. Der „Beifall der Menge“ hatte für ihn, wie er in seinen Werken oftmals betonte, „keinen Wert“. Irgendwelche billige Effekthascherei war ihm völlig fremd. Er legte zwar größten Wert darauf, seine Philosophie verständlich und anschaulich darzustellen, machte aber dabei, was ihren Inhalt betrifft, keine Kompromisse. Medizin, die hilft, schmeckt – das kann jeder aus eigener Erfahrung bestätigen – zumeist bitter. Süße Verlockungen hingegen sind zwar wohlschmeckend, haben aber nicht selten bittere Folgen. Der Erlösungsgedanke, der in der Tiefe der Philosophie Schopenhauers (wie übrigens auch im Buddhismus) enthalten ist, liegt nicht an der Oberfläche und verspricht daher nicht den schnellen Trost, der von manchen anderen Lehren und deren Heilspropheten angeboten wird (ob solche – mitunter fast marktschreierisch aufgedrängten – Verheißungen den Menschen auf Dauer wirklich helfen, sei doch dahingestellt). Popularität ist noch kein Beweis für den geistigen Rang einer Person und die Bedeutung ihres Werkes, die mitunter weit über ihre Zeit hinausreichen kann. Schopenhauer ist hierfür wohl das beste Beipiel: Er mag zwar nicht besonders populär sein, dennoch darf sein Einfluß auf das europäische Geistesleben nicht unterschätzt werden. So hat Arthur Hübscher (1897-1985), langjähriger Präsident der Schopenhauer-Gesellschaft, hierzu in seinem Buch, das – auf Schopenhauer bezogen – den bezeichnenden Titel „Denker gegen den Strom“ trägt, auf die weitreichende Wirkung Schopenhauers hingewiesen. Schopenhauers unmittelbare und mittelbare Nachfolger bzw. Schüler sowie Theodor Fontane (1819-1898) und Wilhelm Busch (1832-1908) sind hierfür wenige unter vielen Persönlichkeiten, deren Denken und Werke von Schopenhauer erheblich beeinflußt wurden. Selbst dort, wo Schopenhauers Name nicht erwähnt, ja vielleicht sogar bewußt verschwiegen wird, sind oft deutliche Spuren Schopenhauerscher Philosophie nachzuweisen. Und nicht zufällig begründete Schopenhauer die Lebensphilosophie als eine der modernen Schule der abendländischen Philosophie.

Tatsächlich wurde die von Schopenhauer begründete Lebensphilosophie wie seine Willensmetaphysik nicht nur zur Modephilosophie des 19. Jahrhunderts, sondern auch ein Wegbereiter für Nachfolger und Nachahmer. Solch einer war wohl tendenziell bereits Sören Kierkegaard (1813-1855 ) mit seinem Existenz-Subjektivismus. Man darf gerade Kierkegaards Lebensphilosophie auch Existenzphilosophie nennen. (). Seine Lebensphilosophie ist Nachahmung und Seitenlinie der Schopenhauer-Philosophie; der Schopenhauer-Nachfolger Kierkegaard begründete einen „Zweiten Schopenhauer-Bildungsweg“ (eine „Abendschule der Alten Schule“ ): eine „Zweite Bildungschance für besonders Traurige“! Er nahm es mit dem Pessimimus besonders ernst, denn sein Leben war ein besonders unglückliches Leben. Aufgewachsen in häuslicher Atmosphäre christlichen Schuldbewußtseins und mit einem starken Hang zur Melancholie, den er wohl von seinem Vater geerbt hatte, begann er sehr früh, diese Melancholie hinter Sarkasmus und Ironie zu verstecken. Wie später Nietzsche (), vermochte er es nicht, „ein Mädchen glücklich zu machen“. Das schrieb er 1841 an seine Braut Regine Olsen und löste damit die Verlobung. Im selben Jahr war er Hörer Schellings (); wandte sich später jedoch schroff gegen ihn und Hegel () und bekämpfte die Unangemessenheit der Philosophie als reiner Theorie des absoluten Geistes zur existierenden Wirklichkeit und zur wirklichen Existenz des Menschen. Kierkegard hatte sich gegen Hegel gewandt, weil in dessen vom Weltgeist regierten System für den Einzelnen kein Platz und kein Sinn war. Diese Wendung hatte aber auch schon der späte Schelling gemacht, dessen Vorlesungen Kierkegaard in Berlin gehört hatte. Schelling sprach auch erstmals von „Existenz“ und dem „reinen Daß“, von dem seine positive Philosophie ausgeht.»Wenn Gott nicht selber die Wiederholung gewollt hätte, dann wäre die Welt nie entstanden …, deshalb besteht die Welt und besteht dadurch, daß sie eine Wiederholung ist, das ist die Wirklichkeit und der Ernst des Daseins.« (Sören Kierkegaard, Die Wiederholung, 1843, S. 8 ).
Auf der Wiederholung ruht offenbar der „Bestand der Welt – womit gegen das Einmalige nichts gesagt ist, außer daß man es mißbraucht, wenn man nur um das Goldene Kalb »Ereignis« tanzt. Es liegt in der Natur der naturen, Wiederholungssysteme für das Bewährte zu sein, und für Kulturen gilt das in nahezu gleichem Maß. Gott selbst muß das meiste durch die Routinen der Natur tun lassen und kann nur hin und wieder von seiner ontologischen Waffe Gebrauch machen.“ (Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 505). Mit dem oben zitierten Satz spricht Kierkegaard vom Reflexionswissen der Modernen her, und dem sollte später Nietzsche () hinzuzfügen, daß der Stil der Mensch selbst ist – vorausgesetzt, man weiß, daß Stil eine Kulturgestalt der Wiederholung bezeichnet.
Kierkegaards einziger Gegenstand war sein Leben, seine Existenz. Seine Philosophie ist Autobiographie – wie bei Nietzsche auch. Kierkegaard war der Meinung, daß man auch durch eine lebenslange Beschäftigung mit Logik nicht selbst zur Logik wird, sondern man „existiert selbst in anderen Kategorien“. Kierkegaard unterschied drei Existenzweisen: die ästhetische, die ethische und die religiöse, je nachdem man nach Genuß strebe, oder unabhängig vom Äußeren nach moralischen Maßstäben lebe, oder im Glauben. – Später sollte Heidegger () in seiner Existenzphilosophie solche Kategorien des Existierens „Existenziale“ nennen und sein Denken dann bereits „Hermeneutik des Daseins“ heißen. (). Kiergegaard schrieb, daß der Denker, der vergißt, ein Existierender zu sein, den Versuch mache, mit dem Menschsein aufzuhören und selbst zu einem Buch oder einem objektiven Etwas zu werden. Das Dasein spottet dessen, der im Begriff ist, rein objektiv werden zu wollen. Die einzige Wirklichkeit, um die ein Existierender nicht bloß weiß, ist seine eigene Wirklichkeit, daß er da ist.
In Kierkegaards Schriften geht es fast immer um das Zerbrochen- und Sinnlos-Sein der Welt, auf das Angst und Verzweiflung die Antwort sein muß. (Vgl. Kierkegaard, Der Begriff der Angst, 1844). Kierkegaard war gegen jedes Sichstützen auf die Außenwelt, die er lediglich als „ästhetisch“ ansah, und mißtraute auch der selbstverantworteten Innerlichkeit, d.h. dem Ethischen. Kierkegaard war für die gänzliche Preisgabe des Selbst an Gott, denn das war für Kierkegaard Leben im „Religiösen“, freilich auch im „Paradoxen“. (Vgl. Kierkegaard, Chrisliche Reden, 1848). Dabei bekundete Kierkegaard schärfste Ablehnung des offiziellen Christentums der Christenheit, das die klare Forderung des wahren Christentums verleugne: „existentiell“ zu denken, ganz dem Absoluten zu leben, in rückhaltloser Hingabe an die christliche Wahrheit, selbst bis zum Martyrium. Deshalb knüpfte auch die dialektische Theologie an Kierkegaard an, dessen Verdienst aber eigentlich mehr darin liegt, die „Alte Schule“ (Schopenhauer-Schule ) um eine weitere Komponente, die durchaus noch zu dieser „Alten Schule“ zu zählen ist (vielleicht als „B-Klasse“?), bereichert zu haben – eine Variante der Lebensphilosophie: Existenzphilosophie.

„Mittlere Schule“ der Lebensphilosophie
Friedrich W. Nietzsche (1844-1900 ) wollte von der Philosophie nicht mehr lassen, als ihm Schopenhauers Werk (Die Welt als Wille und Vorstellung ) in die Hände kam. „Er hatte im Oktober 1865 in einem Leipziger Antiquariat die beiden Bände der »Welt als Wille und Vorstellung« entdeckt, gekauft und sogleich durchgelesen und war danach, wie er in einer seiner Autobiographien berichtet, einige Zeit wie im Rausch herumgetappt: die von der Vernunft, dem historischen Sinn und der Moral zurechtgemachte Welt sei nicht die eigentliche Welt, las er dort. Dahinter oder darunter braust das wirkliche Leben: der Wille.“ (). Nietzsches Philosophie ist von Schopenhauers Willensmetaphysik und vom Kampf-ums-Dasein-Prinzip seiner Zeit stark beeinflußt. Der „Kampf ums Dasein“ stammt also ursprünglich von Schopenhauer und nicht von Darwin, der Schopenhauer nur kopierte – 40 Jahre später. (). Nietzsche wollte von dieser Basis aus den neuen Menschen, den „Übermenschen“, schaffen, dessen Aufgabe es sein sollte, alles Verlogene, Krankhafte, Lebensfeindliche zu vernichten. In seiner 1874 „verfaßten Abhandlung über Schopenhauer spricht Nietzsche deutlich aus, daß ihm Schopenhauer nicht nur ein Lehrer, sondern vor allem ein Erzieher gewesen ist. Den wahrhaften Erzieher definiert er dort als Befreier (Schopenhauer als Erzieher, 1,341), der einer jungen Seele dabei hilft, das Grundgesetz des eigentlichen Selbst zu entdecken.“ ().

‹— Friedrich Nietzsche —›
1. Stadium („Winter“) 2. Stadium („Frühling“) 3. Stadium („Sommer“) 4. Stadium („Herbst“)
Vor-/Urdenken: Nietzsches
„Vor-/Urphilosophie“ Frühdenken: Nietzsches
„Frühphilosophie“ Hochdenken: Nietzsches
„Hochphilosophie“ Spätdenken: Nietzsches
„Spätphilosophie“
(Dauer: 20 Jahre) (Dauer: 12 Jahre) (Dauer: 7 Jahre) (Dauer: 17 Jahre)
1844 bis 1864 1864 bis 1876 1876 bis 1883 1883 bis 1900
Geburt
(15.10.) INNERLICHER „BRUCH“
MIT RICHARD WAGNER Tod
(25.08.)
Übergang
Schule / Studium | „Also sprach
Zarathustra“
Frühe
Kindheit Grund-
Schule Gym-
nasium 1864
– 1868 1868
– 1872 1872
– 1876 1876
– 1878 1878
– 1880 1880
– 1883 1883
-1885 1885
-1889 1889
– 1900

– 3 große Denkstadien in Nietzsches Leben –
1.) Nietzsches geistiger Weg begann mit einer Verehrung all dessen, was als kulturelle Schöpfung aus der Vergangenheit
an die Gegenwart überliefert war. Diese 1. Stadium endete damit, daß der Glaube an die Kultur zerbrach.
2.) Nietzsche entdeckte die „Zeit eines großen inneren Verfalles und Auseinanderfalles“, kurz: des Nihilismus. Nietzsche
begriff es als seine Aufgabe, den Nihilismus in sich selbst auszutragen. So, wie er sich sah, war er
„der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon zu Ende gelebt hat“.
Nietzsche wollte enthüllen, entlarven und zeigen, daß und wie die Gegenwart nihilistisch war.
Nihilismus bedeutete für Nietzsche zum ersten: Es ist nichts mit der Wahrheit. Alles ist falsch.
Nihilismus bedeutete für Nietzsche zum zweiten: Es ist nichts mit der Moral. Sie ist zweifach.
Nihilismus bedeutete für Nietzsche zum dritten: Es ist nichts mit der Religion. Gott ist tot!
Er fragte sich am Ende dieses 2. Stadiums, ob man beim Nihilismus stehen bleiben kann und
stellte fest: Nihilismus ist nichts Endgültiges. Das Positive an ihm ist, daß er ein Übergang ist.
Durch ihn „ist in Europa eine so prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen. Mit einem so
gespannten Bogen kann man nach den fernsten Zielen schießen.“ Das war die Wende zum 3. Stadium.
3.) Im 3. Stadium kam es Nietzsche darauf an, allem weiter wirkenden Nihilismus zum Trotz das Leben zu bejahen. Darum
erblickte er jetzt im Nihilismus „das hoffnungsvollste aller Schauspiele“. Neu zu schaffen war vor allem die
zerbrochene und entlarvte Moral. Der Philosoph mußte „neue Werte auf neue Tafeln schreiben“. Das heißt:
„Umwertung aller Werte“. Dies solle aber nicht aus einem Glauben an eine Transzendenz heraus geschehen,
sondern ausschließlich vom Menschen her. Das „schaffende, wollende, werdende Ich“ wurde nun das Maß
und der Wert aller Dinge; der Grundwert der neuen Wertordnung: das Leben. Die Bestimmung, über sich
hinaus zu drängen, kommt nicht nur dem menschlichen Dasein zu, denn Nietzsche verstand sie als Grundzug
des Lebens, des Seins überhaupt. Alles, was ist, hatte für Nietzsche den Charakter des „Willens zur Macht“.
„Was mir die Welt ist? Ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, die sich nicht verbraucht, sondern
nur verwandelt – vom Nichts umschlossen ….“ Dieses Leben in Schaffen und Zerstören hat nichts, worauf es
zugeht, keinen Zweck und kein Ziel. Darum ist es im tiefsten Wesen nihilistisch. Bejahung des Lebens heißt
also zuletzt Bejahung des nihilistischen Charakters des Lebens. Das höchste Symbol dafür war für Nietzsche
der Gedanke der „ewigen Wiederkehr“: Alles, was je gewesen ist, kommt wieder. Damit ist das Äußerste des
Nihilismus erreicht: „Das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein
Finale ins Nichts: ›die ewige Wiederkehr‹. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das Sinnlose)
ewig.“ Die Rettung aus dem Nihilismus sah Nietzsche darin, eben dieses sinnlose Dasein zu bejahen und so in der
Mitte der Sinnlosigkeit Sinn zu schaffen. „Ein frei gewordner Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden
Fatalismus mitten im All, im Glauben, daß nur das Einzelne verwerflich ist, daß im Ganzen sich alles erlöst und
bejaht – er verneint nicht mehr.“ Darum war der tiefste Ausdruck der Haltung Nietzsches die Liebe zum Schicksal:
„ A M O R F A T I “ .

Galt Nietzsches Buch Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) zum nicht geringen Teil als stilistisch beschwörend und zum geringen Teil als orakelhaft, so operierte er mit seinen im Februar und im März 1872 gehaltenen Vorträgen »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten« mit dem „Versuch platonisierender Dialoge. Hier trat Nietzsche erstmals als Kritiker der deutschen Kultur an die Öffentlichkeit: Das Ideal der strengen Wissenschaft mit seiner Spezialisierung verringere Bildung, vernichte sie sogar, da die Arbeitsteiligkeit das Wissen um Zusammengehörendes aufsprenge. Der Journalismus werde zur Kommunikationsform der Industriegesellschaft, die dieses Defizit aufzufangen versuche, dabei aber nur einen Zerrspiegel wahrer Bildung produziere. Der Journalist werde zum Diener des Augenblicks, er trete an die Stelle des großen Genius. Nietzsche zeichnete in diesen Vorträgen künftige Bildungsdebatten vor.“ (Bernd Kettern, in: BBKL ). Nietzsche erfaßte die Schwächen des Kulturbetriebes sehr hellsichtig. Auch Nietzsche wollte – jedenfalls während seines frühphilophischen Stadiums () -, daß am deutschen Wesen und besonders am deutschen Geist die Zeit, Europa und die Welt genesen sollte. Anders als heutige Verantwortliche aus Politik, Lobby, Medien, Bildung u.ä., die nachweislich wollen, daß vom deutschen Wesen namens „Sozialamt“ aus die Welt geneseen soll, wollten Nietzsche und fast alle seiner Zeitgenossen, daß deutschen Wesen und besonders am deutschen Geist die Welt genesen soll, weil Deutschland nachweislich mit weitem Abstand führend in der Welt war (und geblieben ist)!
In seinem Buch Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) sah Nietzsche die Welt an sich, also das, was Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) den „Willen“ () nannte,, in Dionysos, dem griechsichen Gott des Rausches, der Auflsöung von Individuation und Irrationalem, und die Erscheinungswelt, die Schopenhauer „Vorstellung“ () nannte, in Apollon, dem griechischen Gott des Traumes, der Individuation und des Rationalen, repräsentiert. Nietzsche plädierte für die Wiederkehr der dionysischen Weltsicht, der Tragödie – aus dem Geiste der Wagnerischen Musik. Zu dieser Zeit stand Nietzsche ganz im Banne der Persönlichkeit Richard Wagners, der ein Anhänger Schopenhauers war.
Nietzsches „Lehrer“ und „Erzieher“ Schopenhauer hatte den Willen zum Leben noch verneint, sein „Schüler“ und „Zögling“ Nietzsche bejahte ihn jetzt. Aber Nietzsche glaubte fest an Schopenhauer und seine 2 Grundideen: I.) die Idee, „der zufolge die Welt ihrer inneren Natur nach nicht etwas Vernunft- und Geistartiges ist, sondern Drang und dunkler Trieb, dynamisch und sinnlos, gemessen am Maßstab unserer Vernunft“ (), II.) die Idee als „die von Schopenhauer unter dem Titel der Willensverneinung beschriebene Möglichkeit einer transzendierenden Erkenntnis. Keine Transzendenz im religiösen Sinne, kein jenseitiger Gott sind hier im Spiel, aber es soll eine Gelassenheit möglich sein, die das gewöhnliche egoistische Verhalten überwindet. Ein Freiwerden von der Macht des Willens, ein ans Wunder grenzender Vorgang, der von Schopenhauer auch als eine Art Ekstase beschrieben wurde. An dieser Mystik der Verneinung fasziniert Nietzsche nicht so sehr das »Nein«, sondern die Kraft eines Willens, der sich gegen sich selbst, also gegen seine gewöhnlichen Antriebe wendet. Diese souveräne Steigerung des Willens bis zu jenem Punkt, wo er sich gegen sich selbst kehrt, wird Nietzsche später in der dritten »Unzeitgemäßen Betrachtung« über Schopenhauer … als die Emanzipation von der Thierheit bezeichnen. Sie gelingt den Nicht-mehr-Thieren, es sind die Philosophen, Künstler und Heiligen, bei denen das Ich ganz zusammengeschmolzen ist und dessen leidendes Leben nicht oder fast nicht mehr individuell empfunden wird, sondern als tiefstes Gleich- Mit- und Eins-Gefühl in allem Lebendigen: des Heiligen, an dem jenes Wunder der Verwandlung eintritt, auf welches das Spiel des Werdens nie verfällt, jene endliche und höchste Menschwerdung, nach welcher alle Natur hindrängt und -treibt, zu ihrer Erlösung von sich selbst (in: Unzeitgemäße Betrachtungen, 1,380 und 1,382). Später wird Nietzsche diese Inversion des Willens als Askese deuten und als Triumph eines Willens, der noch lieber das Nichts will als nicht zu wollen. Dieses »Nichts«, das da gewollt wird, versteht Nietzsche als Negation der nützlichen, lebensdienlichen, auf Selbstbehauptung fixierten Einstellungen.“ (). Nietzsches Denken war aufs innigste mit seinem Leben verbunden. Darum waren die Wandlungen, die bei ihm der Gedanke durchmachte, immer auch Stadien seines Existierens. Von ihm selber gilt, was er Zarathustra sagen läßt: „Drei Wandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.“ (in: Also sprach Zarathustra, S. 25). Das Kamel meint das Stadium der Ehrfurcht, des Glaubens an Ideale, des geduldigen Tragens des Überlieferten. Der Löwe symbolisiert das Zerbrechen dieses Glaubens, die Zeit des freien Geistes, des Durchlebens des Nihilismus. (). Das Kind schließlich weist auf das Suchen nach der Überwindung des Nihilismus hin; es ist das Stadium des unschuldigen Jasagens zum Leben, die Zeit einer neuen Gläubigkeit.
Schopenhauers Willensverneinung war also für Nietzsche nicht Verneinung, sondern gesteigerte Bejahung, verstanden als Sieg des geistigen Willens über den naturhaften Willen. Nietzsches Philosophie sollte an die Stelle eines philosophischen Nihilismus treten, den er überall sah und durchlebte. Sein Kampf richtete sich gegen das Christentum, von dem er behauptete, es erzeuge eine „Sklavenmoral“, gegen das Bürgertum, dessen Moral er für verlogen hielt, und gegen den Pöbel, der alles Edle und Hohe bedrohe. Sklavenmoral (oder: Herdenmoral) und Herrenmoral sind nach Nietzsche zwei Grundtypen der Moral. Der Schwache und Unterdrückte bilde, als Ausgleich seines Ressentiments gegen seinen „Herrn“ eine Moral aus, in der Schwache und Unterdrückte Höchstwerte sind; z.B. sind nach Nietzsche (in: Genealogie der Moral, 1887 ) die christlichen Werte der Demut und des Mitleids so entstanden und müßten deshalb durch entsprechende Werte einer Herrenmoral ersetzt werden, durch Distanzgefühl, Machtbewußtsein u.s.w.. Nietzsches Modell des Übermenschen ist der Herrenmensch. Nietzsches metaphysische These lautet: Alles, was ist, auch das menschliche Erkennen, ist Erscheinungsform des Willens zur Macht; es gibt kein absolutes Sein, sondern Sein ist Werden, aber kein endloses Neuwerden, sondern „ewige Wiederkehr“ dessen, was schon unendlich oft dagewesen ist – „die ewige Sanduhr wird immer wieder umgedreht“ () -; das identische Ich ist eine Fiktion ebenso wie das wahre Sein. Mehr noch als in seiner Metaphysik liegt Nietzsches Bedeutung in dem Beitrag, den er für die Bekämpfung des spekulativen Denkens und vor allem für die Einbeziehung des Denkens in das Leben geleistet hat. Er lehrte einen resignierten „ A M O R F A T I “: „Schicksal ich folge dir freiwillig, denn täte ich es nicht, müßte ich es ja doch unter Tränen tun!“ Für die spätere Existenzphilosophie sollte auch die folgende Stelle (aus: Schopenhauer als Erzieher, 1874, S. 6 ) wichtig werden: „Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: »Sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst«. Jetzt bist du nur ein »öffentlich meinender Scheinmensch«.“ Dieser öffentlich meinende Scheinmensch, den Nietzsches „Sei-du-selbst“ überwinden sollte, läßt sich als eine Vorwegnahme des „Man“ bei Martin Heidegger (1889-1976 ) deuten.
Nietzsches „Amor fati“ ergibt sich natürlich auch aus der „ewigen Wiederkehr“, denn sie beinhaltet auch die geforderte Anerkennung der Tatsache, daß alle höhere Kultur auf Sklaverei beruht (also: auf Entlastung der Herren zu höheren Tätigkeiten; vgl. Herrenmoral) und daß es Sieger und Verlierer gibt; hieraus ergibt sich ja das unbedingte Streben danach, zu den Siegern zu gehören (also: Wille zum Sieg; vgl. „Wille zur Macht“) und das Credo des Fatalismus (also: der Glaube an die Schicksalsmächte; vgl. „Amor fati“). Für Nietzsche war klar, daß wegen der „ewigen Wiederkehr“ auch der Fatalismus wiederkehrt. Nietzsche sah das Ende des Christentums voraus – oder er wollte es voraussehen, weil nämlich gerade das Christentum genau dieser Unterwerfung unter das Schicksal bzw. die Mächte von Glück und Unglück widersprochen und letztlich auch mit seiner Orientierung an der Erlösungsbedürftigkeit aller und am Mitleid mit den Verlierern dem Fatalismus der antiken Kultur ein Ende bereitet hatte. Die Antike begründete ihren Inegalitarismus mit der Überzeugung, daß die Götter selbst – ungerecht, wie sie sind – die Schicksalslose der Sterblichen verteilen. Für Christen jedoch ist vor dem wahren Gott der weltliche Unterschied zwischen Siegern und Verlierern bedeutungslos, denn der christliche Gott ist ein Gott der Überlegenheit über irdische Unterschiede; er unterscheidet nach Heiligkeitsaspekten, wählt die Seinen nach unweltlichen und überweltlichen Kriterien aus, und seine Urteilskraft ist ein Ausfluß der Gnade. Nietzsche aber kam zu dem Schluß, daß diese Einschränkungen und Umkehrungen immer mehr zurückgenommen worden wären und verneinte die Möglichkeit, daß die Unterschiede in der Welt durch die Unterschiede Gottes annulliert werden könnten.
„Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“ (Friedrich Nietzsche, Der Genesende, in: Also sprach Zarathustra [III], 1883-1885, S. 268-269).
Nietzsches Lehre beinhaltet 3 große Lehrstücke: (1) „Übermensch“; (2) „ewige Wiederkunft des Gleichen“; (3) „Wille zur Macht“.
„An … der Verknüpfung der drei Lehrstücke vom Übermenschen, von der ewigen Wiederkehr und vom Willen zur Macht wird er weiter arbeiten mit dem Bewußtsein, das Entscheidende immer noch nicht zureichend getroffen und formuliert zu haben.“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 286).
Nicht Freud (), sondern Nietzsche erfand die Psychoanalyse, die deshalb eigentlich Nietzsche-Psychologie genannt werden muß. Auch alle aus der Psychoanalyse hervorgegangenen Psychotherapie-Arten gehen somit auf Nietzsche zurück. Nietzsche lebte im 19. Jahrhundert und als Psychologe bereits im 20. Jahrhundert, denn er und sonst niemand war der Begründer der für das 20. Jahrhundert typischen Psychotherapie (ob das auch noch für spätere Jahrhunderts gelten wird, wird man erst in Zukunft beurteilen können). Die Tatsache, daß Freud von Nietzsche abgeschaut und abgeschrieben und dabei auch noch viele Fehler gemacht hat, bestätigt die Regel, daß das Original besser ist als seine Kopien. Nietzsche war Philosoph (Lebensphilosoph), Philologe, Dichter, Psychologe, Psychagoge, Psychoanalytiker, Psychotherapeut und insofern ein „Genie des Egoismus“ (Rüdiger Safranski), als mit einen Egoisten „nur“ derjenige gemeint ist, der „mit sich selbst gut befreundet sein kann“ und das „Ressentiment“, den Neid und den Haß aus einer Selbstverfeindung heraus nicht (mehr) nötig hat, und genau dieser Egoismus ist auch Ziel der Psychonalyse und jeder der aus ihr hervorgegangenen Psychotherapie-Arten. Egoismus bedeutet für die meisten Psychotherapeuten wie schon viel früher für ihren Übervater Nietzsche etwas Positives, Anzustrebendes, Gesundes.
„Wenn ich dem Christenthum den Krieg mache, so steht dies mir zu, weil ich von dieser Seite aus keine Fatalitäten und Hemmungen erlebt habe, – die ernstesten Christen sind mir immer gewogen gewesen. Ich selber, ein Gegner des Christenthums de rigueur, bin ferne davon, es dem Einzelnen nachzutragen, was das Verhängniss von Jahrtausenden ist. – Darf ich noch einen letzten Zug meiner Natur anzudeuten wagen, der mir im Umgang mit Menschen keine kleine Schwierigkeiten macht? Mir eignet eine vollkommen unheimliche Reizbarkeit des Reinlichkeits-Instinkts, so daß ich die Nähe oder – was sage ich ? – das Innerlichste, die »Eingeweide« jeder Seele physiologisch wahrnehme – rieche …. Ich habe an dieser Reizbarkeit psychologische Fühlhörner …. Das macht mir aus dem Verkehr mit Menschen keine kleine Gedulds-Probe; meine Humanität besteht nicht darin, mitzufühlen, wie der Mensch ist, sondern es auszuhalten, daß ich ihn mitfühle …. Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung. – Aber ich habe Einsamkeit nöthig, will sagen, Genesung, Rückkehr zu mir, den Athem einer freien leichten spielenden Luft …. Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf die Reinheit …. – Der Ekel am Menschen, am »Gesindel« war immer meine grösste Gefahr …. Will man die Worte hören, in denen Zarathustra von der Erlösung vom Ekel redet? ….“ (Friedrich Nietzsche, Warum ich so weise bin, in: Ecce homo, 1889, S. 21-22).
„Die Skeptiker, der einzige ehrenwerthe Typus unter dem so zwei- bis fünfdeutigen Volk der Philosophen!
…. Ich selbst habe irgendwo gesagt: was war der grösste Einwand gegen das Dasein bisher? Gott …. Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen Musik. Er besass jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommene nicht zu denken vermag …. Alles erwogen, hätte ich meine Jugend nicht ausgehalten ohne Wagnerische Musik. …. Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man Haschisch nöthig. Wohlan, ich hatte Wagner nöthig. …. Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug des Tristan gab …, war ich Wagnerianer. Die älteren Werke Wagner’s sah ich unter mir – …. Aber ich suche heute noch nach einem Werke von gleich gefährlicher Fascination, von einer gleich schauerlichen und süssen Unendlichkleit, wie der Tristan ist, – ich suche in allen Künsten vergebens. Alle Fremdheiten Lionardo da Vinci’s entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan. Dies Werk ist durchaus das non plus ultra Wagner’s …. Ich nehme es als Glück ersten Ranges, zur rechten Zeit gelebt und gerade unter Deutschen gelebt zu haben, um reif für dies Werk zu sein: so weit geht bei mir die Neugierde des Psychologen. Die Welt ist arm für den, der niemals krank genug für diese »Wollust der Hölle« gewesen ist: es ist erlaubt, es ist fast geboten, hier eine MyStoiker-Formel anzuwenden. – Ich denke, ich kenne besser als irgend Jemand das Ungeheure, das Wagner vermag, die fünfzig Welten fremder Entzückungen, zu denen Niemand ausser ihm Flügel hatte; und so wie ich bin, stark genung, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vortheil zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich Wagner den grossen Wohltäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, daß wir tiefer gelitten haben, auch an einander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsre Namen ewig wieder zusammenbringen ….“ (Friedrich Nietzsche, Warum ich so klug bin, in: Ecce homo, 1889, S. 30, 32, 35-36).„Dass aus meinen Schriften ein P s y c h o l o g e redet, der nicht seines Gleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter Leser gelangt – ein Leser, wie ich ihn verdiene ….“ (Friedrich Nietzsche, Warum ich so gute Bücher schreibe, in: Ecce homo, 1889, S. 51).
„Ich kenne mein Loos, es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen g e g e n Alles, was bis dahin geglaubt und geheiligt war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. – Und mit Alledem ist Nichts in mir von einem Religionsstifter – Religionen sind Pöbel-Affairen, ich habe nöthig, mir die Hände nach der Berührung mit religiösen Menschen zu waschen. …. Ich w i l l keine »Gläubigen«, ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen. …. Ich habe eine schreckliche Angst davor, dass man mich eines Tages h e i l i g spricht: man wird errathen, weshalb ich dies Buch v o r h e r herausgebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mir treibt. …. Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst. …. Vielleicht bin ich ein Hanswurst. … Und trotzdem oder vielmehr n i c h t trotzdem – denn es gab nichts Verlogeneres als Heilige – redet aus mir die Wahrheit. – Aber meine Wahrheit ist f u r c h t b a r : denn man hiess bisher die Lüge Wahrheit. – U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e : das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist. Mein Loos will, dass ich mich gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden im Gegensatz weiss. …. Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadruch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand – roch. …. Mein Genie ist in meinen Nüstern. …. Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes. Ich bin ein f r o h e r B o t s c h a f t e r , wie es keinen gab. Ich kenne Aufgaben von einer Höhe, dass der Begriff dafür bisher gefehlt hat; erst von mir an giebt es wieder Hoffnungen. Mit Alledem bin ich nothwendig auch der Mensch des Verhängnisses. Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Kampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Thal, wie dergleichen nie geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt – sie ruhen allesamt auf der Lüge: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebtes auf Erden g r o s s e P o l i t i k . – Will man eine Formel für ein solches Schicksal, d a s M e n s c h w i r d? – Sie steht in meinem Zarathustra. – U n d w e r e i n S c h ö p f e r s e i n w i l l i m G u t e n w i e i m B ö s e n , d e r m u s s e i n V e r n i c h t e r e r s t s e i n u n d W e r t h e z e r b r e c h e n .
A l s o g e h ö r t d a s h ö c h s t e B ö s e z u r h ö c h s t e n G ü t e : d i e s e a b e r i s t d i e s c h ö p f e r i s c h s t e .
Ich bin bei weitem der furchtbarste Mensch, den es bisher gegeben hat; dies schliesst nicht aus, dass ich der wohltätigste sein werde. Ich kenne die Lust am V e r n i c h t e n in einem Grade, die meiner Kraft zum vernichten gemäss ist, – in Beidem gehorche ich neiner dionysischen Natur, welche das Neinthun und das Jasagen zu trennen weiss. Ich bin der erste I m m o r a l i s t : damit bin ich der erste V e r n i c h t e r par excellence. -“ (Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 111-112).
„Die E n t d e c k u n g der christlichen Moral ist ein Ereigniss, das nicht seines Gleichen hat, ein wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist … ein Schicksal, – er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt v o r ihm, man lebt n a c h ihm. …. Der Blitz der Wahrheit traf gerade das, was bisher am Höchsten stand: wer begreift, w a s da vernichtet wurde, mag zusehn, ob er überhaupt noch Etwas in den Händen hat. Alles, was bisher »Wahrheit« hiess, ist als die schädlichste, tückischste, unter irdischste Form der Lüge erkannt; der heilige Vorwand, di, Menschheit zu »verbessern« als die List, das Leben selbst a u s z u s a u g e n , blutarm zu machen. Moral als V a m p y r i s m u s . …. Wer die Moral entdeckt, hat den Unwerth aller Werthe mit entdeckt, an die man glaubt oder geglaubt hat; er sieht in der verehrtesten, in den selbst h e i l ig gesprochnen Typen des Menschen nichts Ehrwürdiges mehr, er sieht die verhängnissvollste Art von Missgeburten darin, verhängnissvoll, w e i l s i e f a s c i n i r t e n …. Der Begriff »Gott« erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben, – in ihm alles Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft gegen das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht! Der Begriff »Jenseits«, »wahre Welt« erfunden, um die e i n z i g e Welt zu entwerthen, die es giebt, – um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe für unsre Erden-Realität übrig zu behalten! Der Begriff »Seele«, »Geist«, zuletzt gar noch »unsterbliche Seele«, erfunden, um den Leib zu verachten, um ihn krank – »heilig« – zu machen, um allen Dingen, die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen! Statt der Gesundheit das »Heil der Seele« – will sagen eine folie circulaire zwischen Busskrampf und Erlösungs-Hysterie! Der Begriff »Sünde« erfunden sammt dem zugehörigen Folter-Instrument, dem Begriff »freier Wille«, um die Instinkte zu verwirren, um das Misstrauen gegen die Instinkte zur zweiten Natur zu machen! Im Begriff des »Selbstlosen«, des »Sich-selbst-Verleugnenden« das eigentliche decadence-Abzeichen, das G e l o c k t-werden vom Schädlichen, das Seinen-Nutzen-nicht-mehr-finden-k ö n n e n , die Selbst-Zerstörung zum Werthzeichen überhaupt gemacht, zur »Pflicht«, zur »Heiligkeit«, zum »Göttlichen« im Menschen! Endlich – es ist das Furchtbarste – im Begriff des g u t e n Menschen die Partei alles Schwachen, Kranken, Missrathnen, An-sich-selber-Leidenden genommen, alles dessen, w a s z u G r u n d e g e h n s o l l -, das Gesetz der S e l e k t i o n gekreuzt, ein Ideal aus dem Widerspruch gegen den stolzen und wohlgerathenen, gegen den jasagenden, gegen den zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen gemacht – dieser heisst nunmehr d e r B ö s e …. Und das Alles wurde geglaubt als Moral!“ (Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 119-120).
„— Hat man mich verstanden? — D i o n y s o s g e g e n d e n G e k r e u z i g t e n .…“ (Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 120).
Untergangserwartung (!!!): „Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. …. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden, denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“ (Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, Hrsg.: Elisabeth Förster-Nietzsche & Peter Gast, S. 3).

Das „Moralisieren“, das sogenannte „Verbessern“ u.ä. waren und sind Lügen, wie Nietzsche meinte.
Es gibt „keine moralischen Tatsachen“ (Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425 bzw. 979). „Sowohl die Zähmung der Bestie Mensch, als die Züchtung einer bestimmten Gattung Mensch ist »Besserung« genannt worden …. Die Zähmung eines Tieres seine »Besserung« nennen ist in unsern Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiß, was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, daß die Bestie daselbst »verbessert« wird. Sie wird geschwächt, sie wird weniger schädlich gemacht, sie wird durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur krankhaften Bestie. – Nicht anders steht es mit dem gezähmten Menschen, den der Priester »verbessert« hat. Im frühen Mittelalter, wo in der Tat die Kirche vor allem eine Menagerie war, machte man allerwärts auf die schönsten Exemplare der »blonden Bestie« Jagd – man »verbesserte« zum Beispiel die vornehmen Germanen. Aber wie sah hinterdrein ein solcher »verbesserter«, ins Kloster verführter Germane aus? Wie eine Karikatur des Menschen, wie eine Mißgeburt: er war zum »Sünder« geworden, er stak im Käfig, man hatte ihn zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt… Da lag er nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig; voller Haß gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen alles, was noch stark und glücklich war. Kurz, ein »Christ«… Physiologisch geredet: im Kampf mit der Bestie kann Krankmachen das einzige Mittel sein, sie schwach zu machen. Das verstand die Kirche: sie verdarb den Menschen, sie schwächte ihn – aber sie nahm in Anspruch, ihn »verbessert« zu haben.“ (Ebd., S. 425-426 bzw. 979-980).
„Verbessern“ bedeutet, wenn Moralisten und andere Priester davon sprechen, stets das Gegenteil: „Verschlechtern“, „erniedrigen“, „krankmachen“ u.s.w.. Moralisch argumentieren nur Unmoralische! Unmoralisch ist, wer vorgibt, moralisch „gut“ zu sein. „Gutmemnschen“ sind also „Schlechtmenschen“, also böse Menschen!
Die Sozis (Egalitaristen, Kommunisten, Links-Sozialisten, Links-Feministen, Links-Ökos u.ä.) bemühen die Soziologie, um zu „beweisen“, daß es „moralisch »richtig«“ sei, aus der Unterschicht bzw. den Schlechtweggekommenen mittels Diktatur (des „Proletariats“) eine Ober- bzw. Herrenschicht zu machen, damit die „»klassenlose« Gesellschaft“ (das „Paradies“) geschaffen werden könne. Die Nazis (Nationalsozialisten, Faschisten, Fraternitaristen, Rechts-Sozialisten, Rechts-Feministen, Rechts-Ökos u.ä.) bemühen die Biologie, besonders die Evolutionsbiologie (den Darwinismus, Sozialdarwinismus), um zu „beweisen“, daß es „moralisch »richtig«“ sei, aus einem Volk (einer Nation), einer Volksgruppe oder Rasse eine Ober- bzw. Herrenschicht oder Herrenrasse (Herrscher der Welt) zu machen, damit sie die Welt „»verbessern«“ könne.

In der Natur gilt, daß für alle Lebewesen die Umwelt entscheidend ist für deren Evolution (Geschichte). In der Kultur gilt, daß für alle Kulturangehörigen die Welt dieser Kultur entscheidend ist für deren Geschichte (Evolution).
Alle nichtmenschlichen Lebewesen sind abhängig von ihrer Umwelt, doch der Mensch nur bedingt, weil er es geschafft hat, sich aus seiner Umwelt herauszulösen. Der Mensch hat seitdem seine Welt.

Züchtung findet immer statt – auch und gerade dann, wenn Moralisten und andere Priester (z.B. unsere Politiker) das Gegenteil behaupten, also lügen.
Ein Sozi züchtet nach unten, ein Nazi nach oben.
Ein Sozi züchtet so lange, bis alle Züchtlinge gleich arm, gleich dumm und gleich krank sind. Ein Nazi züchtet so lange, bis die Ungleichheit zementiert ist, d.h. bis seine Herrenrasse unangreifbar die Welt beherrscht.
Beide – Sozis und Nazis – züchten!
Der Sozi läßt die Intelligenten verkümmern, sie ohne (Zeit für) Kinder so lange für die Dummen mit vielen Kindern arbeiten, bis kein Intelligenter mehr übrig ist. (Sprichwort: Gleichheit macht dumm und arm!). Ähnlich wie der Sozi verfährt auch der Liberale, jedenfalls der Links-Liberale. Sie betreiben negative Bevölkerungspolitik, Negativ-Eugenik, d.h. Dysgenik, also: Verschlechterung der Menschen (obwohl sie selbstverständlich das Gegnteil behaupten, also: lügen!), eine „Survival-of-the-Unfittest“-Politik.
Der Nazi tut genau das Gegenteil.

Tiere zähmen oder züchten sich nicht oder nur bedingt selbst. Sie werden von ihrer Umwelt „selektiert“, also letztendlich gezüchtet und vielleicht auch, falls sie „Objekt“ der Menschen werden, gezähmt. Weil Menschen wegen ihrer relativen Unabhängigkeit gegenüber ihrer Umwelt darauf angewiesen sind, sich verhältnismäßig selbst zu „selektieren“, zu züchten und zu zähmen, sind sie dazu verurteilt, zwischen Umwelt und Welt, zwischen Natur und Kultur hin und her zu manövrieren. Deshalb sind sie zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedlich stark auf Umwelt und Welt spezialisiert; sind sie mehr in ihre Umwelt eingebettet, ist ihre Kultur primitiv oder nur schwach ausgeprägt; sind sie mehr in ihre Welt eingebettet, ist ihre Kultur stark ausgeprägt. In diesem Sinne gilt: schwache Kultur bedeutet starke Natur; starke Kultur bedeutet schwache Natur. Eine schwache Kultur hat sich nicht (vgl. Primitvkultur, sogenannte „Naturvölker“) oder noch nicht sehr (vgl. sehr junge Kultur) von der Natur gelöst oder sich ihr wieder angenähert (vgl. ältere, vergreisende und vergreiste Kultur: „Zivilisation“); eine starke Kultur hat sich dagegen von der Natur weit entfernt. Der Mensch züchtet um so mehr selbst (im Rahmen seiner Kultur), je mehr er „Welt“, je mehr er Kultur hat und je weniger er sich zähmt. Umgekehrt gilt also: Der Mensch züchtet sich um so weniger selbst (im Rahmen seiner Kultur), je weniger er „Welt“, je weniger er Kultur, je mehr er (noch oder wieder) „Umwelt“je mehr er Natur hat und je mehr er sich zähmt.
Wenn ein Tier Haustier wird, hat der Mensch den Vergleich zu sich selbst, wenn er („Hausmensch“) zivilisiert wird. Das Tier wird vom Menschen zum Haustier gemacht (gezüchtet/gezähmt), der Mensch vom Menschen zum Zivilisationsangehörigen. Während also die Zucht die Kultur allgemein betrifft betrifft, betrifft die Zähmung nur die Zivilisation (= ältere, vergreisende und vergreiste Kultur). Die Zivilisation ist Teil einer Kultur (das gilt logischerweise nicht umgekehrt!); die Zähmung ist Teil einer Züchtung (das gilt logischerweise ebenfalls nicht umgekehrt!). Das Zähmen kann nicht vor der Züchtung beginnen! Man kann nicht erst zähmen und dann züchten, sondern nur züchten und dann zähmen. Zähmung ohne Züchtung ist deshalb nicht möglich, weil ein zahm werdendes und mehr noch ein schon zahm gewordenenes Lebewesen auf seinen Züchter angewiesen ist, d.h. seiner natürlichen Umwelt beraubt worden ist. Wer mit dem Zähmen beginnt, hat immer schon zuvor gezüchtet. Eine Zivilisation kann nicht vor ihrer Kultur beginnen. Man kann nicht erst zivilisieren und dann kultivieren, sondern nur kultivieren und dann zivilisieren (nämlich im Rahmen der dafür dann alt genug gewordenen Kultur). Zivilisierung ohne Kultivierung ist deshalb nicht möglich, weil ein zivilisiert werdendenr Mensch und mehr noch ein schon zivilisiert gewordener Mensch auf seinen Kultivierer angewiesen ist, d.h. seiner noch-nicht-ziviliserten kulturellen Welt beraubt worden ist Wer mit dem Zivilisieren beginnt, hat immer schon zuvor kultiviert. Die Zivilisierten hat man genauso wie das zahme Tier „geschwächt, … weniger schädlich gemacht, sie wird durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur krankhaften Bestie.“ (Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 425-426 bzw. 979-980). Also: „wir dürfen als obersten Satz hinstellen, daß, um Moral zu machen, man den unbedingten Willen zum Gegenteil haben muß. …. In Formel ausgedrückt dürfte man sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch.“ (Ebd, S. 428 bzw. 982).
„Nietzsche war, seit er Aphorismen schrieb, unbewußt ein Schüler Darwins …. Und so stammt die »Herrenmoral« dieses letzten Romantikers auf einem merkwürdigen, aber für den Sinn der Zeit bezeichnenden Wege aus der Quelle aller geistigen Modernität, der Atmosphäre der englischen Maschinenindustrie. Der Macchiavellismus, den Nietzsche als Renaissance-Erscheinung pries und dessen Verwandtschaft mit Darwins Begriff der mimicry man nicht übersehen sollte, war tatsächlich der im »Kapital« von Marx – dem andern berühmten Jünger von Malthus – behandelte, und die Vorstufe dieses seit 1867 erscheinenden Grundbuches des politischen (nicht des ethischen) Sozialismus, die Schrift »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, erschien gleichzeitig mit Darwins Hauptwerk. Das ist die Genealogie der Herrenmoral. Der »Wille zur Macht«, ins Reale, Politische, Nationalökonomische übersetzt, findet seinen stärksten Ausdruck in Shaws »Major Barbara« (1905). Sicherlich ist Nietzsche als Persönlichkeit der Gipfel dieser Reihe von Ethikern, aber hier reicht Shaw, der Parteipolitiker, als Denker an ihn heran. Der Wille zur Macht ist heute durch die beiden Pole des öffentlichen Lebens, die Arbeiterklasse und die großen Geld- und Gehirnmenschen, viel entschiedener vertreten als je durch einen Borgia. Der Milliardär Undershaft in dieser besten Komödie Shaws ist Übermensch. Nur hätte Nietzsche, der Romantiker, sein Ideal nicht wiedererkannt. Er sprach stets von einer Umwertung aller Werte, von einer Philosophie der Zukunft, also doch zunächst der westeuropäischen und nicht chinesischen oder afrikanischen Zukunft, aber wenn seine immer in dionysischer Ferne verschwimmenden Gedanken sich wirklich einmal zu greifbaren Gebilden verdichteten, so erschien ihm der Wille zur Macht unter dem Bilde von Dolch und Gift und nicht von Streiks und der Energie des Geldes.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 477-478). Aber (!): Nietzsche schrieb auch seinen „Anti-Darwin. – Was den berühmten »Kampf ums Leben« betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesamt-Aspekt des Lebens ist nicht die Notlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichtum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung – wo gekämpft wird, kämpft man um Macht …. Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln. – Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf – und in der Tat, er kommt vor –, so läuft er leider umgekehrt aus, als die Schule Darwins wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte: nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen nicht in der Vollkommenheit: die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr – das macht, sie sind die große Zahl, sie sind auch klüger …. Darwin hat den Geist vergessen (– das ist englisch!), die Schwachen haben mehr Geist …. Man muß Geist nötig haben, um Geist zu bekommen – man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nötig hat. Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes (– »laß fahren dahin!« denkt man heute in Deutschland »– das Reich muß uns doch bleiben« …). Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die große Selbstbeherrschung und alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein großer Teil der sogenannten Tugend).“ (Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 444-445 bzw. 998-999). Interessant! Vgl. hierzu weitere Nietzsche-Zitate ()und besonders auch z.B. meine Abhandlungen Kulturelle Evolution als Komplement zur natürlichen Evolution () und Evolution birgt in ihrer Ziellosigkeit auch die Möglichkeit zur Zielhaftgkeit ([besonders: Anpassung und Distanz]) sowie den Beitrag von Peter Mersch: Die Prinzipien der Evolutionstheorie wirken eugenisch, moderne menschliche Gesellschaften reproduzieren sich dagegen dysgenisch (). Solche Widersprüche lassen sich nicht leugnen!
Was das Politische betrifft, so hatte Nietzsche tatsächlich ein eher romantisches Bild vor Augen, war diesbezüglich tatsächlich eher Romantiker, „der letzte Romantiker“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 477). Da die Romantiker durchweg Nationalgesinnte waren und Nietzsche dem zuletzt Gesagten zufolge auch Romantiker war, kann man ihn zwar auch deshalb Romantiker nennen, jedoch war er insbesondere seit dem Bruch mit Richard Wagner (um 1876) gegen die Neugründung des Deutschen Reiches (sie erfolgte bekanntlich in Versailles am 18.01.1871), weshalb man ihn eher einen der Romantik auf widersprüchliche Weise verhafteten Neo-Romantiker nennen könnte. Nietzsche war vor allem deshalb gegen die Gründung dieses 2. Deutschen Reiches, weil er – fälschlicherweise – annahm, daß es das Freigeistige im Nationalen ersticken wolle, und davor hatte er, der Freigeist, Angst. Nietzsche war gegen das Deutsche Reich, weil er – und hier irrte er – glaubte, daß es an der Neugründung des Deutschen Reiches gelegen habe, daß die abendländische Kultur noch schneller unterginge, als sie es ohnehin schon tat, und diese Beschleunigung an einer von ihm fälschlicherweise angenommenen Unterdrückung des freien Geistes durch das Reich läge. Was Nietzsches Beziehung zu allem Deutschen angeht, so ist festzustellen, daß er seit seinem Bruch mit Wagner immer mehr zu einer völlig übertriebenen, überflüssigen, ja völlig falschen Kritik und zu einem völlig megalomanischen, ja völlig paranoiden Spott überging. Er schätzte die Sitaution Deutschlands völlig falsch ein bzw. hatte gegenüber Deutschland, das sowieso Weltmeister in Wissenschaft und Technik und nachweislich mit weitem Abstand führend in der Welt war (und geblieben ist), unrealistische Erwartungen. Das Land der Dichter und Denker sollte gemäß Nietzsches Wunsch nicht national, sondern freigeistig bleiben – auch auf die Gefahr hin, daß es dadurch wirtschaftliche und also wohlstandsmäßige Einbußen hinzunehmen hätte. Auch diesbezüglich blieb er der Romantik auf widersprüchliche Weise verhaftet. Nietzsche war kein Politiker und von der zeitgenössischen Politik, Politologie und Soziologie u.s.w. nicht sehr überzeugt. Außerdem war er gegen Martin Luthers Protestantismus, die Reformationm, weil Luther die Renaissance, die Nietzsche verehrte und wörtlich nahm (er glaubte und wollte unbedingt die Wiedergeburt der Antike, weil er die Antike vergöttlichte) und – nebenbei gesagt – auch die Einigung Deutschlands verhindert hatte, denn gemäß Nietzsche: „liegt das Verhängnis der neueren deutschen Geschichte in den Tagen jener Disputation von Regensburg: der friedliche Ausgang der kirchlichen und sittlichen Dinge, ohne Religionskriege, Gegenreformation, schien gewährleistet, ebenso die Einheit der deutschen Nation ….“ (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1878-1880, S. 438). Luther hatte auch sie verhindert, so Nietzsche vorwurfsvoll ().
Für Nietzsche war das, „was groß ist im Sinn der Kultur, war unpolitisch, selbst antipolitisch“ (Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 431 bzw. 985), und deshalb alles Politische ihm ein Dorn im Auge, und zwar um so mehr, je größer die Politik und je realpolitischer die Politiker (man denke nur an Bismarck, den wohl größten Realpolitiker, den Europa je hervorgebracht hat). „Dem ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache abhanden gekommen: Zweck sowohl als Mittel zum Zweck. Daß Erziehung, Bildung selbst Zweck ist – und nicht »das Reich« –, daß es zu diesem Zweck der Erzieher bedarf – und nicht der Gymnasiallehrer und Universitäts-Gelehrten – man vergaß das …. Erzieher tun not, die selbst erzogen sind, überlegne, vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, süß gewordene Kulturen – nicht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und Universität der Jugend heute als »höhere Ammen« entgegenbringt. Die Erzieher fehlen, die Ausnahmen der Ausnahmen abgerechnet, die erste Vorbedingung der Erziehung: daher der Niedergang der deutschen Kultur.“ (Ebd., S. 432 bzw. 986). Daß eine solche Feststellung von Tatsachen viel mehr auf alle anderen abendländischen Staaten als auf Deutschland zutraf, brauche ich wohl nicht zu erwähnen – die Geschichte hat es bewiesen!
„Was die »höheren Schulen« Deutschlands tatsächlich erreichen, das ist eine brutale Abrichtung, um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für den Staatsdienst nutzbar, ausnutzbar zu machen.“ (Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 432 bzw. 986). Diese Aussage Nietzsches trifft viel mehr auf das heutige Deutschland (die sogenannte „Bundesrepublik“) zu als auf das damalige, das – wie gesagt – weltweit führend war (und geblieben ist). Nietzsche erkannte einfach nicht, daß der Untergang des Abendlandes sich keineswegs in Deutschland schneller ereignete als in anderen Ländern des Abendlandes und daß die Nutzbarmachnung für den Staatsdienst in anderen abendländischen Ländern viel rücksichtsloser im Gange war als in Deutschland. Und die Tatsache, daß Nietzsche vom Staatsdienst überhaupt nichts hielt, ehrt ihn zwar sehr, zeugt aber auch wiederum davon, daß er Romantiker – „der letzte Romantiker“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 477) bzw. ein (der Romantik auf widersprüchliche Weise verhafteter) Neo-Romantiker () – war, denn: wem nützt es, wenn alle Nationalstaaten mittels Staatsdienst ihre Bürger nutzbar machen und nur der deutsche Staat nicht? Antwort: Den Nationalstaaten außerhalb Deutschlands! Hier zeigt sich in Nietzsches Denken das Micheltum (), das man nicht zufällig besonders den Romantikern und ganz besonders den Biedermeiern unter ihnen nachsagte und nachsagt. Das hätte er wissen können, ja müssen, und wahrscheinlich hat er es auch gewußt, aber wie schon gesagt: das Politische und insbesondere das Realpolitische, wie es Bismarck praktizierte, war ihm ein Dorn im Auge (). „Was bedingt den Niedergang der deutschen Kultur? Daß »höhere Erziehung« kein Vorrecht mehr ist – der Demokratismus der »allgemeinen«, der gemein gewordnen »Bildung«.“ (Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 433 bzw. 987). Dies ist völlig richtig, doch dieser Prozeß betraf damals nicht nur Deutschland allein, sondern den gesamten europäischen Norden und Westen. Es ist schon sehr bezeichnend, daß Nietzsche Deutschland „Demokratismus“ vorwirft – und nicht Frankreich, das doch angeblich damals so „demokratisch“ war, während Deutschland laut unserer heutigen Propaganda es nicht gewesen sein soll. Die Wahrheit ist doch, daß Deutschland als das 2. Deutsche Reich durchaus demokrat(ist)isch war, in vielerlei Hinsicht sogar mehr als diejenigen Staaten, die gemäß heutiger Propaganda mit dieser Eigenschaft bestückt gewesen sein sollen. Nietzsche wollte Deutschland – als die deutsche Kultur – durch Zurückversetzung in frühere Zeiten retten. Wieder ein Indiz mehr für sein Verhaftet(geblieben)sein in der Romantik. Für die Art von Erziehung bzw. Bildung, wie sie Nietzsche vorschwebte, mochte die Zeit vor der 2. Reichsgründung besser geeignet gewesen sein (Freizügigkeit gegenüber dem Ausland u.s.w.), aber politisch war sie nicht besser, sondern schlechter, weil die Entwicklung insgesamt so weit fortgeschritten war, daß eine einheitliche Politik gemacht werden mußte und zu dieser Zeit nur national gemacht werden konnte, und eine nationale Politik hat doch auch viele positive Seiten, z.B. den, daß durch Konkurrenz bzw. Wettbewerb die Entwicklung – auch und besonders die von Erziehung und Bildung (!) – beschleunigt wird. Doch diese Art von Entwicklung war für Nietzsche eher schädlich als nützlich – auf ähnliche Weise wie Goethe sah er in ihr das zu bekämpfende „Veloziferische“ (). Bezüglich der Freigeisterei, die Nietzsche voschwebte, war Politik nur hinderlich und lediglich in der Lage, Erziehung und Bildung mehr zu schaden als zu nützen. Daß die Politik sich in Erziehung und Bildung nicht einmischen soll, ist auch meine feste Überzeugung. So gesehen ist es auch konsequent und richtig, daß für Nietzsche der politische Gedanke hierbei nur eine eher untergeordnete Rolle spielte (ähnlich wie heute für Sloterdijk). Nietzsche verstand schon das Politische, aber seine Träumerei, seine Michelei, seine Romantiziererei – ich meine eben: sein der Romantik auf widersprüchliche Weise Verhaftet(geblieben)sein – stieß ihn immer wieder auf die Politik und besonders die Realpolitik (siehe: Bismarck) ablehnende „Ideale“, obwohl er Ideale doch eigentlich ebenfalls rigoros bekämpfte, jedenfalls: „die bisherigen Ideale, die allesamt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind“ (ebd., Zur Genealogie der Moral, 1887, S. 282 bzw. 836). „Es steht niemandem mehr frei, im jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme Erziehung zu geben: unsre »höheren« Schulen sind allesamt auf die zweideutigste Mittelmäßigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht »fertig« ist, noch nicht Antwort weiß auf die »Hauptfrage«: welchen Beruf? – Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht »Berufe«, genau deshalb, weil sie sich berufen weiß …. Sie hat Zeit, sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, »fertig« zu werden – mit dreißig Jahren ist man, im Sinne hoher Kultur, ein Anfänger, ein Kind. – Unsre überfüllten Gymnasien, unsre überhäuften, stupid gemachten Gymnasiallehrer sind ein Skandal: um diese Zustände in Schutz zu nehmen, wie es jüngst die Professoren von Heidelberg getan haben, dazu hat man vielleicht Ursachen – Gründe dafür gibt es nicht.“ (Ebd., Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 433 bzw. 987). Man hat den unwiderstehlichen Eindruck, daß Nietzsche nicht das Deutschland des späten 19., sondern das des frühen 21. Jahrhunderts beschreibt.
Nietzsche wehrte sich gegen einen Zeitgeist, dem er selbst zumindest teil- bzw. zeitweise noch anhing und der sowieso schon zu der Zeit, als Nietzsche seine Werke schrieb, in seinen letzten Atemzügen lag: die Romantik! Die Revolte oder Revolution gegen einen Zeitgeist kommt fast immer dann, wenn er sowieso schon dabei ist, sich zu verändern oder ganz aufzugeben. Dies war Nietzsche wohl nicht ganz klar. Trotz oder wegen der Tatsache, daß er teil- bzw. zeitweise der Romantik verhaftet blieb, und wegen der Tatsache, daß er ebenfalls teil- bzw. zeitweise ein Anhänger Schopenhauers sowie ununterbrochen bis zum Schluß ein Anhänger Goethes blieb, wurde Nietzsche für die Lebensphilosophie so bedeutend, daß ich ihn den Begründer der Mittleren Schule der Lebensphilosophie nennen muß.

„Der Mensch ist ein Raubtier. Ich werde es immer wieder sagen.“
1917 dankte Oswald Spengler (1880-1936 ) Goethe und Nietzsche: „Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen, und wenn ich mein Verhältnis zu diesem in eine Formel bringen soll, so darf ich sagen: ich habe aus seinem Augenblick einen Überblick gemacht. Goethe aber war in seiner ganzen Denkweise, ohne es zu wissen, ein Schüler von Leibniz gewesen.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. IX ).
In der „westeuropäischen Modernität von Schopenhauer an“ () ist laut Spengler „der Schwerpunkt des Philosophierens aus dem Abstrakt-Systematischen ins Praktisch-Ethische“ gerückt und „an Stelle des Problems der Erkenntnis das Problem des Lebens (des Willens zum Leben, zur Macht, zur Tat)“ getreten: „Hier wird nicht mehr das ideale Abstraktum »Mensch« wie bei Kant (), sondern der wirkliche Mensch, wie er in historischer Zeit, als primitiver oder als Kulturmensch völkerhaft gruppiert die Erdoberfläche bewohnt, der Betrachtung unterworfen, und es ist sinnlos, wenn auch da noch die Struktur der höchsten Begriffe durch das Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit () und die damit verbundene örtliche Beschränkung bestimmt wird. Aber das ist der Fall.“ (Oswald Spengler, 1917, S. 32 ).

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1. Stadium („Winter“) 2. Stadium („Frühling“) 3. Stadium („Sommer“) 4. Stadium („Herbst“)
Vor-/Urdenken: Spenglers
„Vor-/Urphilosophie“ Frühdenken: Spenglers
„Frühphilosophie“ Hochdenken: Spenglers
„Hochphilosophie“ Spätdenken: Spenglers
„Spätphilosophie“
(Dauer: 19 Jahre) (Dauer: 18 Jahre) (Dauer: 12 Jahre) (Dauer: 7 Jahre)
1880 bis 1899 1899 bis 1917 1917 bis 1929 1929 bis 1936
Geburt
(29.05.) „DER UNTERGANG DES
ABENDLANDES“ (1. Band) Tod
(08.05.)
Übergang
Schule / Studium | Hamburger
Vortrag
Frühe
Kindheit Grund-
Schule Gym-
nasium 1899
– 1903 1903
– 1911 1911
– 1917 1917
– 1922 1922
– 1927 1927
– 1929 1929
– 1933 1933
– 1934 1934
– 1936

Spenglers Weltgeschichte – (Die Welt als Geschichte) – Goethes Methode
„Betrachten wir den geschichtlichen Horizont Nietzsches. Seine Begriffe der Dekadenz, des Nihilismus (), der Umwertung aller Werte (), des Willens zur Macht (), die tief im Wesen der abendländischen Zivilisation begründet liegen und für ihre Analyse schlechthin entscheidend sind – welches war die Grundlage ihrer Schöpfung? Römer und Griechen, Renaissance und europäische Gegenwart, einen flüchtigen Seitenblick auf die indische Philosophie eingerechnet, kurz: Altertum-Mittelalter-Neuzeit. Darüber ist er, streng genommen, nie hinausgegangen und die andern Denker seiner Zeit so wenig wie er. Aber in welcher Beziehung steht denn sein Begriff des Dionysischen zum Innenleben der hochzivilisierten Chinesen aus der Zeit des Konfuzius oder eines modernen Amerikaners? Was bedeutet der Typus des Übermenschen für die Welt des Islam? Oder was sollen die Begriffe Natur und Geist, heidnisch und christlich, antik und modern als gestaltende Antithese im Seelentum des Inders und Russen bedeuten? Was hat Tolstoi, der aus seiner tiefen Menschlichkeit heraus die ganze Ideenwelt des Westens als etwas Fremdes und Fernes ablehnte, mit dem »Mittelalter«, mit Dante, mit Luther, was hat ein Japaner mit dem Parsifal und dem Zarathustra, was ein Inder mit Sophokles zu schaffen ? Und ist die Gedankenwelt Schopenhauers, Comtes, Feuerbachs, Hebbels, Strindbergs etwa weiträumiger? Ist ihre gesamte Psychologie trotz aller Absichten auf Weltgeltung nicht von rein abendländischer Bedeutung? (). Wie komisch wirken Ibsens Frauenprobleme, die ebenfalls mit dem Anspruch auf die Aufmerksamkeit der ganzen »Menschheit« auftreten, wenn man an die Stelle der berühmten Nora, einer nordwesteuropäischen Großstadtdame, deren Gesichtskreis etwa einer Mietwohnung von 2000 bis 6000 Mark und einer protestantischen Erziehung entspricht, Cäsars Frau, Madame de Sévigné, eine Japanerin oder eine Tiroler Bäurin setzt? Aber Ibsen selbst besitzt den Gesichtskreis der großstädtischen Mittelklasse von gestern und heute. Seine Konflikte, deren seelische Voraussetzungen etwa seit 1850 vorhanden sind und 1950 kaum überdauern werden, sind weder die der großen Welt noch die der unteren Masse, geschweige denn die von Städten mit nichteuropäischer Bevölkerung.“ (Oswald Spengler, 1917, S. 32-33 ).
„Alles das sind episodische und örtliche, meist sogar auf die augenblickliche Intelligenz der Großstädte von westeuropäischem Typus beschränkte, nichts weniger als welthistorische und »ewige« Werte, und wenn sie der Genereation Ibsens und Nietzsches noch so wesentlich sind, so heißt es eben doch dem Sinn des Wortes Weltgeschichte – die keine Auswahl, sondern eine Totalität darstellt – mißverstehen, wenn man die außerhalb des modernen Interesses liegenden Faktoren ihnen unterordnet, sie unterschätzt oder übersieht. Und das ist in einem ungewöhnlicheh hohem Grade der Fall. Was im Abendlande bisher über die Probleme des Raumes, der Zeit, der Bewegung, der Zahl, des Willens, der Ehe, des Eigentums, des Tragischen, der Wissenschaft gesagt und gedacht worden ist, blieb eng und zweifelhaft, weil man immer darauf aus war, die Lösung der Frage zu finden, statt einzusehen, daß zu vielen Fragenden viele Antworten gehören, daß jede philosophische Frage nur der verhüllte Wunsch ist, eine bestimmte Antwort zu erhalten, die in der Frage schon beschlossen liegt, daß man die großen Fragen einer Zeit gar nicht vergänglich genug fassen kann und daß demnach eine Gruppe historisch bedingter Lösungen angenommen werden muß, deren Übersicht erst – unter Ausschaltung aller eigenen Wertmaßstäbe – die letzten Geheimnisse aufschließt. Für den echten Menschenkenner gibt es keine absolut richtigen oder falschen Standpunkte. Es genügt nicht, angesichts so schwerer Probleme wie dem der Zeit oder der Ehe die persönliche Erfahrung, die innere Stimme, die Vernunft, die Meinung der Vorgänger oder Zeitgenossen zu befragen. So erfährt man, was für den Frager selbst und seine Zeit wahr ist, aber das ist nicht alles. Die Erscheinung andrer Kulturen redet eine andre Sprache. Für andere Menschen gibt es andere Wahrheiten. Für den Denker sind sie alle gültig oder keine.“ (Oswald Spengler, 1917, S. 33-34 ).
„Man begreift, welcher Erweiterung und Vertiefung die abendländische Weltkritik fähig ist und was alles über den harmlosen Relativismus Nietzsches und seiner Generation hinaus in den Kreis der Betrachtung gezogen, welche Feinheit des Formgefühls, welcher Grad von Psychologie, welche Entsagung und Unabhängigkeit von praktischen Interessen, welche Unumschränktheit des Horizonts erreicht werden muß, bevor man sagen darf, man habe die Weltgeschichte, die Welt als Geschichte, verstanden.“ (Oswald Spengler, 1917, S. 34 ).
„Diesem allem, den willkürlichen, engen, von außen gekommenen, von eigenen Wünschen diktierten, der Historie aufgezwungenen Formen, stelle ich die natürliche, die »kopernikanische« Gestalt des Weltgeschehens entgegen, die ihm in der Tiefe innewohnt und sich nur dem nicht voreingenommenen Blick offenbart. (). Ich erinnere an Goethe. (). Was er die lebendige Natur genannt hat, ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Geschichte genannt wird. (). Goethe, der als Künstler wieder und immer wieder das Leben, die Entwicklung seiner Gestalten, das Werden, nicht das Gewordne, herausbildete, wie es der »Wilhelm Meister« und »Wahrheit und Dichtung« zeigen, haßte die Mathematik. Hier stand die Welt des Mechanismus der Welt als Organismus, die tote der lebendigen Natur, das Gesetz der Gestalt gegenüber. Jede Zeile, die er schrieb, sollte die Gestalt des Werdenden, »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«, vor Augen stellen. Nachfühlen, Anschauen, vergleichen, die unmittelbare innere Gewißheit, die exakte sinnliche Phantasie – das waren seine Mittel, dem Geheimnis der bewegten Erscheinung nahe zu kommen. Und das sind die Mittel der Geschichtsforschung überhaupt. Es gibt keine andern. Dieser göttliche Blick ließ ihn am Abend der Schlacht von Valmy (* 20. September 1792) am Lagerfeuer jenes Wort aussprechen: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Kein Heerführer, kein Diplomat, von Philosophen zu schweigen, hat Geschichte so unmittelbar werden gefühlt. Es ist das tiefste Urteil, das je über einen großen Akt der Geschichte in dem Augenblick ausgesprochen wurde, als er sich vollzog.“ (Oswald Spengler, 1917, S. 34-35 ).
„Und so wie er die Entwicklung der Pflanzenform aus dem Blatt, die Entstehung des Wirbeltiertypus, das Werden der geologischen Schichten verfolgte – das Schicksal der Natur, nicht ihre Kausalität – soll hier die Formensprache der menschlichen Geschichte, ihre periodische Struktur, ihre organische Logik aus der Fülle aller sinnfälligen Einzelheiten entwickelt werden.“ (Oswald Spengler, 1917, S. 35 ).
Spenglers Geschichtsphilosophie – (Philosophie der Geschichte) – historischer Skeptizismus
„Die systematische Philosophie war mit Ausgang des 18. Jahrhunderts vollendet. Kant () hatte ihre äußersten Möglichkeiten in eine große und – für den westeuropäischen Geist – vielfach endgültige Form gebracht. (). Ihr folgt eine … spezifisch großstädtische, nicht spekulative, sondern praktische, irreligiöse, ethisch-gesellschaftliche Philosophie. Sie beginnt … im Abendlande mit Schopenhauer, der zuerst den Willen zum Leben (»schöpferische Lebenskraft« ) in den Mittelpunkt stellte, aber, was die tiefere Tendenz seiner Lehre verschleiert hat, die veralteten Unterscheidungen von der Erscheinung und dem Ding an sich (), von Form und Inhalt der Anschauung, von Verstand und Vernunft unter dem Eindruck einer großen Tradition noch beibehielt. Es ist derselbe schöpferische Lebenswille, der im Tristan schopenhauerisch verneint, im Siegfried darwinistisch bejaht wurde, den Nietzsche im Zarathustra glänzend und theatralisch formulierte, der durch den Hegelianer Marx () der Anlaß einer nationalökonomischen, durch den Malthusianer Darwin () der einer zoologischen Hypothese wurde, die beide gemeinsam und unvermerkt das Weltgefühl des westeuropäischen Großstädters verwandelt haben, und der von Hebbels »Judith« bis zu Ibsens Epilog eine Reihe tragischer Konzeptionen von gleichem Typus hervorrief, damit aber ebenfalls den Umkreis echter philosophischer Möglichkeiten erschöpft hat.“ (Oswald Spengler, 1917, S. 63 ).
„Die systematische Philosophie liegt uns heute unendlich fern; die ethische ist abgeschlossen. Es bleibt noch eine dritte, dem antiken Skeptizismus () entsprechende Möglichkeit innerhalb der abendländischen Geisteswelt, die, welche durch die bisher unbekannte Methode der vergleichenden historischen Morphologie bezeichnet wird. Eine Möglichkeit, das heißt eine Notwendigkeit. Der antike Skeptizismus ist ahistorisch: er zweifelt, indem er einfach nein sagt. Der des Abendlandes muß, wenn er innereNotwendigkeit besitzen, wenn er ein Symbol unseres dem Ende sich zuneigenden Seelentums sein soll, durch und durch historisch sein. Er hebt auf, indem er alles als relativ, als geschichtliche Erscheinung versteht. Er verfährt physiognomisch. Die skeptische Philosophie tritt im Hellenismus als Negation der Philosophie auf – man erklärt sie für zwecklos. Wir nehmen demgegenüber die Geschichte der Philosophie als letztes ernsthaftes Thema der Philosophie an. Das ist Skepsis. (). Man verzichtet auf absolute Standpunkte, der Grieche, indem er über die Vergangenheit seines Denkens lächelt, wir, indem wir sie als Organismus begreifen.“ (Oswald Spengler, 1917, S. 63-64 ).
„In diesem Buche (* Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte ) liegt der Versuch vor, diese »unphilosophische Philosophie« der Zukunft – es würde die letzte Westeuropas sein – zu skizzieren. (). Der Skeptizismus ist Ausdruck einer reinen Zivilisation; er zersetzt das Weltbild der voraufgegangenen Kultur. (). Hier erfolgt die Auflösung aller älteren Probleme ins Genetische. (). Die Überzeugung, daß alles, was ist, auch geworden ist, daß allem Naturhaften und Erkennbaren ein Historisches zugrunde liegt, … auch Ausdruck eines Lebendigen sein muß. Auch Erkenntnisse und Wertungen sind Akte lebender Menschen. Dem vergangenen Denken war die äußere Wirklichkeit Erkenntnisprodukt und Anlaß ethischer Schätzungen; dem künftigen ist sie vor allem Ausdruck und Symbol. Die Morphologie der Weltgeschichte wird notwendig zu einer universellen Symbolik. (). Damit fällt auch der Anspruch des höheren Denkens, allgemeine und ewige Wahrheiten zu besitzen. Wahrheiten gibt es nur in bezug auf ein bestimmtes Menschentum. Meine Philosophie selbst würde demnach Ausdruck und Spiegelung nur der abendländischen Seele, im Unterschiede etwa von der antiken und indischen, und zwar nur in deren heutigem zivilisierten Stadium sein, womit ihr Gehalt als Weltanschauung, ihre praktische Tragweite und ihr Geltungsbereich bestimmt sind.“ (Oswald Spengler, 1917, S. 64 ).
„Als Nietzsche das Wort »Umwertung aller Werte« () zum ersten Male niederschrieb, hatte endlich die seelische Bewegung dieser Jahrhunderte, in deren Mitte wir leben (* Spengler schrieb dies 1911 bis 1917), ihre Formel gefunden. Umwertung aller Werte – das ist der innerste Charakter jeder Zivilisation. Sie beginnt damit, alle Formen der voraufgegangenen Kultur umzuprägen, anders zu verstehen, anders zu handhaben. Sie erzeugt nicht mehr, sie deutet nur um. Darin liegt das Negative aller Zeitalter dieser Art. Sie setzen den eigentlichen Schöpfungsakt voraus. Sie treten nur eine Erbschaft von großen Wirklichkeiten an. …. Die Kultur wird dialektisch vernichtet. Lassen wir die großen Namen des 19. Jahrhunderts vorüberziehen, an die sich für uns dies mächtige Schauspiel knüpft: Schopenhauer, Hebbel, Wagner, Nietzsche, Ibsen, Strindberg, so überblicken wir das, was Nietzsche in dem fragmentarischen Vorwort zu seinem unvollendeten Hauptwerk beim Namen nannte, die Heraufkunft des Nihilismus. (). Sie ist keiner der großen Kulturen fremd.“ (Oswald Spengler, 1917, S. 448-450 ).

„Es besteht die Möglichkeit einer dritten und letzten Stufe westeuropäischer Philosophie:
die eines physiognomischen Skeptizismus. ( ). Das Geheimnis der Welt erscheint
nacheinander als Erkenntnisproblem, Wertproblem, Formproblem. Kant () sah die Ethik als
Erkenntnisgegenstand, das 19. Jahrhundert sah die Erkenntnis als Gegenstand der Wertung.
Der Skeptiker () würde beides lediglich als historischen Ausdruck einer Kultur betrachten.“
(Oswald Spengler, 1917, S. 481 )

„Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. ….
Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und Dichten eine
Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang.“
(Martin Heidegger im Gespräch mit Rudolf Augstein, in: Der Spiegel, # 10, 1966)

Die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts kennt 3 Arten: I.) die Existenzial-Ontologie () von Martin Heidegger (1889-1976 ), deren Leitfrage die nach dem Sinn des Seins ist; II.) die Existenzerhellung von Karl Jaspers (1883-1969 ), die jene Frage als unmöglich ablehnt und sich auf die Erhellung der Seinsweise der menschlichen Existenz und ihrer Beziehungen zur Transendenz konzentriert; III.) der Existentialismus von Jean-Paul Sartre (1905-1980 ), der, von Heidegger ausgehend, einen realistischen Standpunkt im Bezug auf Sinn und Zweck des Daseins vertritt. Als Begriff wird Existenzphilosophie also unterschiedlich gebraucht; den stärksten Ausdruck verlieh ihm aber Martin Heidegger. An seiner Biographie läßt sich übrigens auch gut ablesen, daß es sinvoll sein kann, persönliche wie auch historische Entwicklungen in Analogie zu setzen mit den natürlichen Entwicklungen, vor allem mit dem Klima (das man ja natürlich und kultürlich verstehen darf ) und darum mit den Jahreszeiten:

‹— Martin Heidegger —›
1. Stadium („Winter“) 2. Stadium („Frühling“) 3. Stadium („Sommer“) 4. Stadium („Herbst“)
Vor-/Urdenken: Heideggers
„Vor-/Urphilosophie“ Frühdenken: Heideggers
„Frühphilosophie“ Hochdenken: Heideggers
„Hochphilosophie“ Spätdenken: Heideggers
„Spätphilosophie“
(Dauer: 20 Jahre) (Dauer: 18 Jahre) (Dauer: 18 Jahre) (Dauer: 31 Jahre)*
1889 bis 1909 1909 bis 1927 1927 bis 1945 1945 bis 1976 *
Geburt
(26.09.) „SEIN UND ZEIT“ Tod
(26.05.)
Übergang
Schule / Studium | Verbindung
nach Frankreich
Frühe
Kindheit Grund-
Schule Gym-
nasium 1909
– 1913 1913
– 1919 1919
– 1927 1927
– 1933 1933
– 1939 1939
– 1945 1945
– 1949 1949
– 1953 1953
– 1976 *

* 11 Jahre „Winter“ (1965-1976)
(5. Stadium)
Martin Heidegger wurde am 26.09.1889 in Meßkirch geboren, war als Kind auch ein Läuterbub der dortigen katholischen Kirche, besuchte das Gymnasium in Konstanz, wo er im katholischen Internat (Konradihaus) wohnte, und in Freiburg, hier im erzbischöflichen Konvikt. 1909 begann er mit dem Studium der Theologie und Philosophie in Freiburg, brach 1911 die Priesterausbildung ab, studierte weiterhin Philosophie sowie Geistes- und Naturwissenschaften in Freiburg. Heidegger promovierte 1913 mit der Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus und habilitierte sich 1915 mit der Arbeit Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus. (). Im Wintersemester 1918-1919 erhielt er in Freiburg eine Stelle als Privatdozent und Assistent. Den endgültigen Bruch mit dem Katholizismus vollzog er 1919. Von da an begann Heidegger mit seiner eigenen „Gotik“. Und die gipfelte bekanntlich 1927 in: SEIN UND ZEIT.
Die philosophische Situation der ersten 3 Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch ein Zurücktreten der methodologisch-erkenntnistheoretischen Problematik (Wilhelm Dilthey, 1833-1911 ), durch eine Wende zum Objekt (Edmund Husserl, 1859-1938 ), durch eine Erneuerung der Metaphysik (Nicolai Hartmann, 1882-1950 ) und durch die Idee einer „Philosophischen Anthropologie“ (Max Scheler, 1874-1928 ). – Die Einsamkeit des Menschen vor Gott, die Kierkegaard (existentiell !) erkannt hatte, wurde jetzt in der Existenzphilosophie zur Einsamkeit des Menschen vor dem Nichts, aus der sich die Grundbefindlichkeit der Angst ergibt, die jedoch allein zum Offenbarwerden des Seins, zum Selbstsein und zur Freiheit führt. Deshalb muß diese Angst bewußt übernommen und ertragen werden. Die Existenz bedeutet jenen innersten Kern im Menschen, der auch dann noch unberührt übrig bleibt, wenn alles, was der Mensch in dieser Welt besitzen und an das er zugleich sein Herz hängen kann, ihm verlorengeht oder sich als trügerisch erweist. – Die Existenzphilosophie hält den Verstand (bzw. Rationalismus) für ein untaugliches Werkzeug zur Erforschung der Wahrheit und mißt dem Erkenntnisvorgang nur dann einen Wert bei, wenn er als eine natürliche Verhaltensweise der Gesamtpersönlichkeit (z.B. als „Besorgen“ ), nicht aber als eine Funktion der Geisteskräfte allein aufgefaßt werden kann. Existentielles Denken ist ein Denken, an dem jeweils der ganze körperlich-seelisch-geistige Mensch mit seinen Erfahrungen und Hoffnungen, seinen Sorgen und Nöten beteiligt ist. Nur einem solchen „Denker“ erschließt sich die Wahrheit, das Wesentliche an den Dingen. Die Existenzphilosophie ist also der Versuch, die Weise des ursprünglichen existentiellen Denkens aufzuzeichnen und seine Ergebnisse darzustellen. Die Grundverfassung des menschlichen Daseins ist das „In-der-Welt-Sein“ ( vgl. „Existenzialien“ ).
Die Seinsfrage und die Entfaltung dieser Frage, so Heidegger, setzt ja gerade eine Interpretation des Daseins voraus, das heißt: des Wesens des Menschen. „Der Grundgedanke meines Denkens ist ja gerade der, daß das Sein beziehungsweise die Offenbarkeit des Seins den Menschen braucht und daß umgekehrt der Mensch nur Mensch ist, insofern er in der Offenbarkeit des Seins steht.“
Es gibt kein Sosein ohne Dasein und kein Dasein ohne Sosein. Alles Sosein von etwas „ist“ selbst auch Dasein von etwas, und alles Dasein von etwas „ist“ selbst auch Sosein von etwas. Nur das Etwas ist hierbei nicht ein und dasselbe. Beispiel: das Dasein des Baumes an seiner Stelle ist selbst ein Sosein des Waldes, denn ohne ihn wäre der Wald anders, also von anderer Beschaffenheit; das Dasein eines Astes am Baum ist ein Sosein des Baumes; das Dasein eines Zweiges am Ast ist das Sosein des Astes; das Dasein eines Blattes am Zweig ist das Sosein des Zweiges u.s.w.. Immer ist das Dasein des einen zugleich das Sosein des anderen. Diese Reihe läßt sich nach beiden Seiten verlängern und auch umkehren. In der Existenzphilosophie wird das Dasein des Menschen, da es unserer Erkenntnis am leichtesten zugängig ist, mittels einer Daseinsanalytik (Existenzialanalytik) dazu benutzt, das Wesen und den Sinn des (im menschlichen Dasein anwesenden) Seins zu erschließen. Die in Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit () 1927 niedergelegten Ergebnisse seiner Untersuchungen bilden die Grundlage und somit auch die Grundlehre vom Sein, die Fundamentalontologie heißt. (). Heideggers Untersuchungen betreffen das (menschliche) Dasein zu dem Zwecke, das Sein (als ein auch im Dasein, einer sich selbst verstehenden Seienden Anwesendes) und den Sinn von Sein zu erschließen. Die Fundamentalontologie zeigt, wie das Sein sich im Dasein kundgibt. Sie will die Grundlage für alle Erfahrungswissenschaft sein. Existenz ist Dasein in seiner einfachen Tatsächlichkeit. Das Sein ist die „Lichtung“ (), die das Seiende „entbirgt“, es erfaßbar macht. In dieser entbergenden Funktion besteht nach Heidegger der „Sinn vom Sein“. Dieser Sinn kann nur erscheinen in dem „Da“ des menschlichen Daseins, d.h. in der Erschlossenheit des Daseins durch die „Stimmungen“. „Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe“. (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 105 ). Der Sinn des Daseins aber ist es, das Sein als Lichtung alles Seienden als Möglichkeit zu nutzen bzw. es geschehen zu lassen. In einem solchen Raum wird die Möglichkeit der „Zuhandenheit“ () gewonnen.
Das Sein entspringt aus dem „Nichten“ des „Nichts“, indem das Nichts das Seiende versinken läßt und dadurch das Sein enthüllt. Laut Heidegger ist Existenz „das Seiende desjenigen Seienden, das offen steht für die Öffentlichkeit des Seins, in der es steht, indem es sie aussteht“. (Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, 1929). Dieses Seiende ist der Mensch, und „etwas ausstehen“ hat die Bedeutung von „sich um etwas sorgen“. In der Beziehung zur Umwelt ist das Dasein „Besorgen“, in der Beziehung zu den Mitmenschen ist das Dasein „Fürsorge“. In der Sorge selbst sind die drei Strukturmomente des Daseins zusammengefaßt: 1.) das „Sich-vorweg-sein“, das „Über-sich-hinaus-sein“ des Daseins zu seinem Seinkönnen, so, wie die Angst es erschließt, 2.) die „Geworfenheit“ (Faktizität, das unentrinnbare Überantwortetsein des Daseins an sein eigenes „In-der-Welt-Sein“, d.h. an sich selbst, das „Wovor“ der Angst), 3.) das Verfallen. – Sein ist ein Vernehmen von Sein. Der Ruf der Sorge ist das Gewissen. Es ruft den Menschen aus der Verlorenheit an das „Man“ (Seinsart des Alltäglichen – wir essen, wie man ißt, wir wohnen, wie man wohnt, u.s.w. ) zurück in die Freiheit auf dem Grunde des Nichts. Und genau dieser Ruf ist es, der die Bewegung des eigentlichen Selbstwerdens ermöglicht. Das Gewissenhabenwollen konstituiert das eigentliche Seinkönnen des Daseins.
Das In-der-Welt-Sein (oder: Inderweltsein) ist die tjranszendentale Grundverfassung des Daseins. An ihm sind erkennbar: a) das In-Sein als solches – wobei Sein bedeutet „wohnen bei“ (), „vertraut sein mit“ -, b) die Welt als die Wirklichkeit des Daseins – insofern zum Sein des Daseins die Angewiesenheit auf eine begegnende Welt wesenhaft gehört -, c) das Mitsein der Anderen. Das Dasein als Existenz, dem es um sein eigenes Seinkönnen geht, hat als In-der-Welt-Sein immer schon eine Welt entdeckt. Durch den Begriff des In-der-Welt-Seins werden der Bewußtseinsbegriff und der Subjekt-Objekt-Gegensatz ausgeschaltet.
Den Begriff Physis deutete Heidegger anders als die Tradition, denn Heidegger leitete ihn nicht mehr – wie üblich – von phyein („wachsen lassen“) ab, woraus sich die Bedeutung „Natur“, Körper“ ergibt, sondern von phaeinein: ans Licht bringen“. Dann wäre Physis „das leuchtende Offene“, in diesem Sinne sprach Heidegger von der „ursprünglichen Offenheit des Seienden“. (Vgl. Lichtung ). Gegen das „Entleben“ () als den Prozeß der Zerstörung der Umwelt durch die Wissenschaft hatte schon der noch junge Heidegger das Leben gestellt: das Leben als den Prozeß des Erlebens der Welt durch das menschliche Lebe-Wesen.
Leben: Heidegger war schon in der Schule der Phänomenologie bewußt geworden, daß es mit dem Begriff Leben ein Problem gibt, das er versuchen müsse zu lösen. „Er hatte sich nämlich in gut phänomenologischer Art die Frage gestellt, welche Einstellung muß ich wählen, damit das menschliche Leben sich in seiner Eigentümlichkeit zeigen kann. Die Antwort auf diese Frage legt den Grund für die eigene Philosophie: die Kritik an der Vergegenständlichung. Das menschliche Leben entgleitet uns, so lehrt er, wenn wir es in theoretischer, objektivierender Einstellung erfassen wollen. …. Im objektivierenden Denken verschwindet der Reichtum der lebensweltlichen Bezüge. Die objektive Einstellung entlebt das Erleben und entweltet die uns begegnende Welt. (). Heideggers Philosophieren wendet sich dem Dunkel des gelebten Augenblicks zu. Es geht dabei um … die Selbstdurchsichtigkeit der Lebensvollzüge …. In SEIN UND ZEIT arbeitet Heidegger an den philosophischen Nachweis, daß menschliches Dasein keinen anderen Halt hat als dieses da, das es zu sein hat. …. Der Sinn von Sein ist – die Zeit. …. Die Seinsfrage. Genaugenommen stellt Heidegger zwei Fragen. (A) Sinn des Seins selbst, … die Frage nach dem Sinn von Sein, ich nenne sie die »emphatische Frage« () … (B) Sinn des Ausdrucks Sein, die »semantsche Frage«, die lautet: Was meinen wir, wenn wir den Ausdruck seiend verwenden, in welchem »Sinn« sprechen wir vom »Sein«? Diese Frage gehört durchaus auch in den Zusammenhang der modernen Wissenschaften. Jede Wissenschaft … bearbeitet einen bestimmten Bezirk des Seienden …. Jede methodische Besinnung darauf, wie man sich angemessen seinem Gegenstand zu nähern habe, impliziert eine regionale Ontologie, auch wenn man das nicht mehr so nennt. …. Gerade bei der Erforschung des Menschen werde deutlich, daß die Wissenschaften sich nicht darüber im klaren sind, in welchem Sinne sie den Menschen seiend sein lassen. Sie tun so, als könnte man den Menschen wie andere vorhandene Gegenstände in der Welt als Ganzes in den Blick bekommen. …. Zum Dasein gehört Möglich-sein. …. Das Intransitive am Dasein nennt Heidegger die »Geworfenheit« »Hat je ein Dasein als es selbst frei darüber entschieden …, ob es ins Dasein kommen will oder nicht?« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 228). Aber wenn wir – intransitiv – da sind, so können wir nicht anders, als das, was an uns intransitiv ist, transitiv zu leben. Was wir intransitiv geworden sind, können und müssen wir transitiv sein. Sarte wird später die Formel dafür finden: »etwas aus dem machen, wozu man gemacht worden ist«. …. Und niemals sind wir wie etwas Vorhandenes fertig …, an jedem Punkt sind wir offen für die Zukunft. Wir müssen unser Leben – führen. …. Beide Aspekte der Zeitlichkeit () – ihr abschließender und ihr eröffnender, das Sein zum Tod und das Möglich-sein – sind eine schwere Herausforderung für das Dasein. …. Die wissenschaftliche Objektivierung des Menschen ist für Heidegger ein Ausweichen vor der beunruhigenden Zeitlichkeit des Daseins.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 170-175).
Heidegger begann beim In-Sein (), denn phänomenal wird nicht zuerst das Selbst und dann die Welt und auch nicht zuerst die Welt und dann das Selbst erfahren, sondern in der Erfahrung ist beides zugleich in unauflöslicher Verbindung da. Die Analyse des In-Seins führt zu der typischen Heidegger-Terminologie, weil jede begriffliche Aussage vermeiden muß, „in die so naheliegende Trennung von Subjekt und Objekt und in die Wahl eines entweder ›subjektiven‹ (innerlichen) oder ›objektiven‹ (äußerlichen) Standpunkts zurückzufallen (denn es gilt ja die Ausschaltung des Subjekt-Objekt-Dualismus ). So entstehen die Bindestrich-Wortungetüme, welche die Strukturen in ihrem unzerreißbaren Zusammenhang bezeichnen sollen.“ (Rüdiger Safranski, ebd., 1994, S. 179). In-Sein „meint eine Seinsverfassung des Daseins und ist ein Existenzial (). Dann kann damit aber nicht gedacht werden an das Vorhandensein eines Körperdings (Menschenleib) »in« einem vorhandenen Seienden. Das In- Sein meint so wenig ein räumliches »Ineinander« Vorhandener, als »in« ursprünglich gar nicht eine räumliche Beziehung der genannten Art bedeutet (vgl. Jacob Grimm, Kleinere Schriften, Band VII, S. 247); »in« stammt von innan-, wohnen, habitare, sich aufhalten; »an« bedeutet: ich bin gewohnt, vertraut mit, ich pflege etwas; es hat die Bedeutung von colo im Sinne habito und diligo. Dieses Seiende, dem das In-Sein in dieser Bedeutung zugehört, kennzeichneten wir als das Seiende, das ich je selbst bin. Der Ausdruck »bin« hängt zusammen mit »bei«; »ich bin« besagt wiederum: ich wohne, halte mich auf bei … der Welt, als dem so und so Vertrauten. Sein als Infinitiv des »ich bin«, d.h. als Existenzial verstanden, bedeutet wohnen bei …, vertraut sein mit …. In-Sein ist demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesentliche Verfassung des In-der-Welt-Seins hat. Das »Sein bei« der Welt, in dem noch näher auszulegenden Sinne des Aufgehens in der Welt, ist ein im In-Sein fundiertes Existenzial.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 54).
Heideggers Existenzialien sind die Arten des menschlichen Existierens, die Kategorien des menschlichen Seins, vor allem das In-Sein, die Angst, das In-der-Welt-Sein, die Sorge, die Geworfenheit, die Gestimmtheit, die Befindlichkeit, das Verstehen, das Verfallen u.s.w.; durch die Angst wird z.B. das Nichts offenbar, denn in der Angst liegt stets ein Zurückweichen vor etwas, das in Wirklichkeit das Nichts ist. Das Wesen des Nichts ist die Nichtung, nämlich die abweisende Verweisung auf das versinkende Seiende im Ganzen, d.h. auf die Nichtigkeit alles Seienden. „In der hellen Nacht des Nichts der Angst entsteht erst die ursprüngliche Offenbarkeit des Seienden als eines solchen: daß es Seiendes ist – und nicht Nichts. Einzig weil das Nichts im Grunde des Daseins offenbar ist, kann die volle Befremdlichkeit des Seienden über uns kommen und die Grundfrage der Metaphysik: warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ (Martin Heidegger, Was ist Metaphysik ?, 1929; vgl. G. W. Leibniz ). Im Unterscheid zum Soseinsurteil: „A ist P“ ( z.B. A ist grün) bezieht sich das Daseinsurteil ja auf das nackte Dasein und heißt deswegen auch Existenzialurteil: „A ist“ (nämlich: da, seiend, existent).
Was dem Menschen am nächsten ist, was ihm in seiner Umwelt als Umgebung für das Umgehen (mit …; vgl. Umgang) und die Umsicht da ist – all dies hatte die Philosophie vor Heidegger überhaupt nicht bemerkt! Der erste Nähe-Philosoph heißt: Martin Heidegger. Was alle Philosophen vor Heidegger überhaupt nicht beachtet hatten, sagt vielleicht folgender Heidegger-Satz aus: „Das ontisch Nächste und Bekannte ist das ontologisch Fernste, Unerkannte und … Übersehene“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 43). Bei Heidegger bezieht sich nämlich z.B. das Umgehen auf die Umwelt (natürlich, dinglich), auf die Selbstwelt (das Selbstverhältnis) und auf die Mitwelt (Gesellschaft). Umgehen bedeutet Handeln – Heideggers Ansatz ist also pragmatisch – und gilt als die grundlegende Struktur des Daseins. Der pragmatische Ökologist oder Ökosoph Martin Heidegger war also auch der erste Chirotopologe (vgl. Zuhandenheit). Pragmatisch ist auch die Verknüpfung von Handeln und Erkennen, denn: das primäre Umgehen hat seine jeweils zugehörige Umsicht. Das Erkennen ist eine Funktion des Handelns, und da das Erkennen aus dem praktischen Umgehen mit der Welt hervorgeht, muß es auch von der praktischen Lebenstätigkeit her erforscht werden. Daß dies aber trotzdem nicht der Rückgriff auf das bekannte materialistische Prinzip ist, nach dem das Sein das Bewußtsein bestimmen soll, zeigt sich an Heideggers Einwand, daß wir nicht wissen, was das Sein ist, und demzufolge auch nicht wissen, ob es bestimmt oder bestimmt wird. Danach fragen wir, so Heidegger. Man kann nur aufmerksam beobachten und muß auch diese Aufmerksamkeit aufmerksam beobachten u.s.w., und phänomenologisch beschreiben, wie die Umwelt, Selbstwelt und Mitwelt dem Dasein begegnen. (Vgl. z.B. Zeug). Wie gesagt: Heideggers Daseinsanalyse beginnt deshalb mit dem In-Sein, weil das Dasein damit beginnt.
Durch die Fundamentalontologie () sollte die in Sein und Zeit (1927) gestellte Frage nach dem Sinn von Sein vorbereitet werden: mittels einer Analyse des menschlichen Daseins, der Daseinsanalyse (oder: Existenzialanalyse), entwickelte Heidegger diese Fundamentalontologie, die auf der Seite der Person das Ganze der (wesentlich unerkennbaren) Existenz des Menschen voraussetzt, der sich zunächst aber nicht in dieser, sondern in der „Geworfenheit“ () vorfindet. Die praktischen Dinge des Lebens begegnen im Rahmen des „In-der-Welt-Seins“ () als „Zuhandenes“ (), die theoretischen und nur betrachteten als bloß „Vorhandenes“ (). Der Mensch ist ein in der Welt seiendes, in seinem Sein an Kosmos und Mitmenschen gekoppeltes, in seinem tiefsten Grunde gestimmtes, verstehendes Wesen, das sich zur Umwelt besorgend, zu den Mitmenschen fürsorgend (*man beachte die Umkehrung) verhält und durch den Tod aufgerufen wird zu seinem eigensten Seinkönnen. Heidegger vereinigte sozuagen die Existenzlehre von Martin Luther (1483-1546 ) und Sören Kierkegaard (1813-1855 ), in die reine Diesseitigkeit gesetzt, mit der Geschichtshermeneutik von Wilhelm Dilthey (1833- 1911 ) zu einer neuen Lehre vom Sinn des Seins und vom Wesen des Menschen. Die Grunderfahrung vom Nichts liegt nach Heidegger im Anschluß an Kierkegaard in der Angst ():
Dasein ist ein
Sein als Zeit
ZEITLICHKEIT
Dasein ist Sorge
A PRIORI

Das Sichängsten ist als Befindlichkeit eine Art des In-der-Welt-Seins.
Das Wovor der Angst ist das geworfene In-der-Welt-Sein.
Das Worum der Angst ist das In-der-Welt-Sein-Können.
Das volle Phänomen der Angst zeigt demnach das Dasein
(des Menschen) als faktisch existierendes In-der-Welt-Sein.
EXISTENZ ist begreifbar als EK-SISTENZ

Angst ist nach Heidegger eine Befindlichkeit: das Sichbefinden des Menschen, die in ihm herrschende, von ihm nicht beherrschbare Stimmung. Befindlichkeit ist das Grundgeschehen unseres Daseins, „sie ist eine existierende Grundart der gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt.“ Die Angst ist somit eine der bedeutsamsten Stimmungen, da durch sie das Nichts und, mittelbar, das Sein des Daseins offenbar wird. Denn das Sein bedarf ja desjenigen Seienden (das Dasein heißt), um offenbar zu werden. Die Stimmung (Befindlichkeit) ist somit auch der jeweilige tiefste Ausdruck der gesamtpersönlichen Daseinsverfassung. Heideggers Denken war wie das vieler seiner Zeitgenossen stark beeinflußt von den Erfahrungen im Zusammenhang mit dem 1. Weltkrieg () und später auch mit dem 2. Weltkrieg (). Zwischen den beiden Weltkriegen – sie waren ein „moderner 30jähriger Weltmachtskrieg“ () – durchlebte das Abendland bekanntlich seine tiefste Krise (). Das Ergebnis des 1.Weltkriegs lieferte eine erste Bühne für die großen Schauspieler einer zweiten Bühne, denn: „als der großdeutsche Sektenführer Adolf Hitler die Toten des Ersten Weltkriegs zusammen mit den Lebenden der Krise von 1918 bis 1933 in sein hyperpositives tausendjähriges Reich entbinden wollte, da entfesselte er Ereignisse, die aus dem Stoff waren, aus dem die perinatalen Träume sind. …. Was die Weitergabegewalten zuletzt immer über den Geist der Freisprüche siegen läßt, ist die Positivierung der Versprechen und die Nationalisierung der Universalien. Eben dies ist das Prinzip der magischen Nationen (), die Oswald Spengler () entdeckt und benannt hat – und die man auch Taufnationen oder Religionsnationen nennen könnte. …. Es könnte wohl sein, daß durch positivierte Erlösungsideen und Befreiungsversprechen mehr Leid in der Welt hervorgerufen wurde, als vor dem Auftreten solcher Ideen vorhanden war.“ (Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen, zur Sprache kommen, 1988, S. 172f.). Auch der Nationalsozialismus wollte ja in gewissem Sinne den Herrschaftszynismus eines unbesiegbaren Gottesbündnisses von den Juden übernehmen, indem das deutsche Christentum als neuer Bund zwischen Gott und Deutschen der Versuch war, eine Neu-Religion () zu stiften und gleichzeitig sich auf germanische Art rückzubinden an römische Reichs- und Staatsvorstellungen, ein ungeheurer Versuch der Geschichtsumschreibungen, jedenfalls mehr als nur gewöhnlicher Nationalismus. (). Doch Heidegger, der sich anfangs für die nationalsozialistische Revolution ausgesprochen und stark gemacht hatte, zog sich bald von ihr zurück und vollzog … das, was er eine „Kehre“ nannte. Revolutionen sind ja meistens „etwas, was Menschen nicht aus eigenen Stücken machen können, wie die Modernen glauben möchten“, und deshalb sind Revolutionen vor allem das, was „mit den Menschen geschieht“, so Sloterdijk (*1947): „Der ontologische Revolutionär Heidegger hat das in seinem Begriff der Kehre angedeutet und sich vom Konzept der gemachten und zu machenden Revolutionen zunehmend entfernt – zumal nach seinen üblen Erfahrungen mit der »nationalen Revolution« von 1933, von der ergriffen zu sein er vorgegeben hatte. Wenn es darum geht, große Umwendungen zu deuten, nach denen sich der Sinn von Sein im ganzen neu darstellt, dann braucht man ein Konzept von Bewegung, das mächtiger ist als der konventionelle moderne Revolutionsbegriff. Ich sehe in dem Ausdruck Kehre die Modernisierung des augustinischen Konversions-Gedankens (* vgl. Augustinus ) in Verbindung mit einer Aktualisierung des platonischen Motivs der Umdrehung, das wir aus dem Höhlengleichnis kennen (* vgl. Platon ). … „Ich empfinde Autoren, die erst zweitausend Jahre alt sind, noch wie Zeitgenossen – und Zeitgenosse ist jemand, der keine Zeit hatte, eine Autorität zu werden.“ (Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 24-26).
„In seiner Analytik der Daseinsstimmungen wirft Heidegger die Frage auf, ob es denn unter ihnen eine gebe, in der sich dem »Enthüllungssinne nach das Nichts offenbart« – und beantwortet sie bejahend, indem er darauf hinweist, wie die Gesichtszüge des Seienden in der »tiefen Langeweile« zu nichts zerfallen. Entscheidend bleibt, was Heidegger in seiner Beschreibung der Angst ausführt.“ (Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 77).
„Zwar ist die Angst immer Angst vor …, aber nicht vor diesem und jenem. Die Angst vor … ist immer Angst um …, aber nicht um dieses und jenes. …. In der Angst – sagen wir – »ist es einem unheimlich«, Was heißt das »es« und das »einem«? Wir können nicht sagen, wovor es unheimlich ist. Im Ganzen ist einem so. Alle Dinge und wir selber versinken in eine Gleichgültigkeit. Dies jedoch nicht im Sinne eines bloßen Verschwindens, sondern in ihrem Wegrücken als solchen kehren sie sich uns zu. Diese Wegrücken des Seienden im Ganzen, das uns in der Angst umdrängt, bedrängt uns. Es bleibt kein Halt. Es bleibt nur und kommt nur über uns – im Entgleiten des Seienden – dieses »kein . Die Angst offenbart das Nichts. Wir ›schweben‹ in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. Darin liegt, daß wir – diese seienden Menschen – inmitten des Seienden uns mitentgleiten. Darum ist im Grunde nicht »dir« und »mir« unheimlich, sondern »einem« ist es so. Nur das reine Da-sein in der Durchschütterung dieses Schwebens, darin es sich an nichts halten kann, ist noch da.“ (Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, 1929, a.a.O., S. 110).
„Gewiß ist auch Heideggers Durchschütterung kein unmittelbar musikalischer Augenblick im Sinne der Musik, die gemacht wird – so wenig wie Hegels () passiv durchzittertes Kindsein einen solchen bedeutet hat. Und doch handelt diese Theorie der Angst von einer Vor-Stimmung des Subjekts als medium percussum, durch die das Selbst seine Klangkörpereigenschaften verrät. Darüber hinaus hat das Hinausgehaltensein des Daseins ins »Nichts« eine direkte tiefenmusikologische Konsequenz: Heideggers Angst deutet auf eine Katastrophe des Hörens, die für die Entstehung von Musik mitverantwortlich ist; der ursprüngliche Hörunfall ist die Folie, auf die alles spätere Wiederhören von Musik gesetzt wird. Wenn uns nämlich während der »seltenen« Erfahrungen großer Angst die Gegenwärtigkeit des Nichts aufgeht, so ist mit dem Seienden im Ganzen auch sein Laut verschwunden und entzogen. Das Da-sein in der Welt bedeutet immer schon ein Ausgesetztsein in eine Sphäre, wo Nicht-Musik erstmals möglich ist. Wer geboren wurde, ist aus dem tiefenakustischen Kontinuum des Mutterinstruments herausgefallen. Die scharfe Durchschütterung der Angst entspringt dem Verlust jener Musik, die wir nicht mehr hören, wenn wir in der Welt sind. Eine genaue Lektüre von Heideggers dunkler Rede läßt erkennen, daß die Angst, von der die Rede ist, keine andere sein kann als die vor dem Tod der angeborenen Musik, die Angst vor der furchtbaren Stille der Welt nach der Trennung vom mütterlichen Medium. Alles, was später gemachte Musik sein wird, kommt her von einer auferstandenen und wiedergefundenen Musik, die vom Kontinuum auch nach seiner Zerstörung zeugt. (Ich deute hier. analog zu der naturphilosophischen Differenz zwischen natura naturans und natura naturata, eine tiefenmusikologische Differenz zwischen musica musicans und musica musicata an). Wiedergefundene Musik ist Anknüpfen an das Kontinuum nach seiner Katastrophe. Wenn der Herzschlag und das viszerale Rauschen des primären Musikinstruments nicht mehr zu hören sind, tritt der Ernstfall der Daseinspanik ein. Dort nämlich nur, im leeren Schweben »in der Welt«, öffnet sich eine unheimliche stille Weite, in der das akustische Kontinuum der mütterlichen Musik aufgehoben ist; nur durch einen gefährdeten akustischen Ariadnefaden bleibt das entbundene Einzelwesen noch auf die mitnehmende Kraft bezogen, die der ersten, der inneren, der gemeinsamen Klangwelt eigen war. Man versteht, wieso es Heideggers Überzeugung sein konnte, daß unter der Geräuschkulisse des betriebsamen Dahinlebens die alte Panik »schläft«: Das normalerweise Schlafende besitzt die Authentizität des Schrecklichen, das, wenn ich standhalte, zu mir als einem »Existierenden« führt. Darum kann Heidegger nicht genug betonen, daß uneigentliches Leben im Lärm und im Gerede dahingeht, während zur Vereigentlichung die Angst vor einer furchtbaren Stille gehört.“ (Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 78-79).
„»Diese ursprüngliche Angst wird im Dasein zumeist niedergehalten. Die Angst ist da. Sie schläft nur. Ihr Atem zittert ständilg durch das Dasein.« (Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, 1929, a.a.O., S. 116). Zu ihrem Wesen rechnen eine »eigentümliche Ruhe«, eine »gebannte Ruhe« und der Drang, die »leere Stille« zu übertäuben (vgl. Martin Heidgger, ebd, S. 111, 113, 112). Man könnte das Hören der Stille, weil es ein Sichhören des Daseins in der Innigkeit des Unheimlichen einschließt, ein panisches Cogito nennen. Ich höre nichts mehr, also bin ich da. Das Dasein in der Stille der Welt ist eine Saite, die unter ihrer eigenen Spannung vibriert. Mag sein, daß die Meditierer aller Zeiten Stille und Schweigen gesucht haben, weil das Sichhören des Daseins beim Verstummen des Lärms hilft, die Saite zu spannen. Daher feiert die Musik nicht nur das Wiederanknüpfen ans Kontinuum, sondern erinnert, wenn sie mehr ist als Sedativ oder Narkose, auch immer an die kosmische Stille der Existenz.“ (Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, 2007, S. 79-80).
Heideggers Lebensphilosophie bzw. Existenzphilosophie kann man auch verstehen als Erlebensphilosophie bzw. Ereignisphilosophie (Aktionsphilosophie), denn laut Heidegger muß die Philosophie die Befindlichkeit herbeizaubern und sich danach um deren Deutung bemühen. Geschehen kann dies beispielsweise so: dem Dasein ein Schrecken einjagen, in Angst versetzen, in eine Langeweile treiben, um dann mit der Entdeckung aufwarten zu können, daß es das Nichts ist, was in diese Stimmungen treibt. „Die Angst offenbart das Nichts. Wir ›schweben‹ in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im ganzen zum Entgleisen bringt ….“ (Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, 1929, S. 9). „Die Idee der Logik selbst löst sich auf im Wirbel eines ursprünglicheren Fragens ….“ (Martin Heidegger, ebd., 1929, S. 37). In der Transzendenz des leeren Spielraums, der sich auftut zwischen uns und der Welt, erfahren wir sozusagen die „Hineingehaltenheit in das Nichts“ (Martin Heidegger, ebd., 1929, S. 38). „Jede Warum-Frage zehrt von jener letzten Frage: Warum ist Etwas und nicht vielmehr Nichts? Wer sich selbst oder die Welt wegdenken kann, wer nein sagen kann, handelt in der Dimension des Nichtens. Er beweist, daß es das gibt: das Nichts. …. Die Transzendenz des Daseins ist also – das Nichts. …. In der Angst der Leere verliert man eine Welt und erfährt doch, wie aus dem Nichts stets wieder eine neue Welt geboren wird. Durch die Angst hindurch kann man wieder neu zur Welt kommen.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 206). „Für Heideggers Ereignisphilosophie, die dem Geheimnis der Zeit und des Augenblicks auf der Spur ist, liegt es nun nahe, sich mit dem anderen großen Ereignis der Leere zu beschäftigen: mit der Langeweile. Und was dabei herauskommt, gehört zu dem Eindrucksvollsten, was Heidegger jemals vorgetragen hat. So ist in der gesamten philosophischen Überlieferung nur ganz selten eine Stimmung beschrieben und ausgedeutet worden wie in dieser Vorlesung (Grundbegriffe der Metaphysik, 1929/30). Hier wird die Langeweile wirklich zum Ereignis. …. Vor den Abgründen dieser Langeweile packt uns in der Regel der Horror vacui. Diesen Schrecken aber muß man ausgehalten haben, denn er macht einen intim bekannt mit jenem Nichts, das die alte metaphysische Frage: Warum ist etwas und nicht vielmehr Nichts? anvisiert. …. Es handelt sich hierbei – das betont Heidegger – nicht um eine gesuchte, erkünstelte Stimmung, um keine angestrengte Einstellung, sondern umgekehrt, »es gilt die Gelassenheit des alltäglich freien Blickes« (Martin Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, 1929/30, S. 137). Alltäglich ist uns häufig so leer zumute, sagt Heidegger, aber wir decken diese Leere ebenso alltäglich sogleich wieder zu. Er fordert dazu auf, dieses eilige Zudecken eine Weile lang – eine Langeweile lang – zu unterlassen. …. Heidegger will die Geburt der Philosophie aus dem Nichts der Langeweile vorführen.“ (Rüdiger Safranski, ebd., 1994, S. 220f.). Wir sind zwar in der Welt, aber auch in ihr verschwunden. Unser Aufenthalt in der Welt ist zugleich ein Verfallensein an sie. Heidegger zeichnet „die Stimmung der Langeweile aus, weil in ihr – ebenso wie in der Stimmung der Angst – das »Ganze der Welt« in einen Abstand gerückt erscheint, der die metaphysische Haltung des Staunens oder Erschreckens ermöglicht – als dritter Akt eines existentiellen Dramas. Im ersten Akt geht man – alltäglich – in der Welt auf und die Welt erfüllt einen; im zweiten Akt rückt alles fern, das Ereignis der großen Leere, die dreifache Negativität (Nicht-Selbst, nichtige Welt, Bezugslosigkeit); im dritten Akt schließlich kehrt das Entrückte, das eigene Selbst und die Welt, wieder zurück. Das Selbst und die Dinge werden gewissermaßen ›seiender‹; sie gewinnen eine neue Intensität. Darauf läuft alles hinaus. Selten hat Heidegger das so klar und ungeschützt formuliert wie in dieser Vorlesung (): »Um nichts geringeres geht es, als diese ursprüngliche Dimension des Geschehens im philosophischen Dasein wieder zu gewinnen, um alle Dinge erst wieder einfacher, stärker und nachhaltiger zu ›sehen‹« (Martin Heidegger, ebd., 1929/30, S. 35). …. Im zweiten Teil dieser Vorlesung () trägt Heidegger … eine … Naturphilosophie vor …. Zur Welt gehört Natur. Aber hat die nichtmenschliche Natur überhaupt ›Welt‹? Der Stein, das Tier – haben sie eine Welt oder kommen sie nur darin vor? Darin – das heißt in einem Welthorizont, den es nur für den Menschen, dieses weltbildende Naturwesen, gibt? …. Das Bewußtsein soll das Bewußtlose erfassen, Erkenntnis das Erkenntnislose. Dasein soll ein Seiendes verstehen, für das es dieses ›da‹ gar nicht gibt. Der naturphilosophische Teil dieser Vorlesung () ist eine einzige Meditation über dieses ›da‹ und darüber, wie wir Natur, die dieses ›da‹ nicht kennt, überhaupt verstehen können. …. Darum geht es: von der Natur her entdecken, daß sich im Menschen ein Da-sein aufgetan hat – eine Lichtung () -, dem die Dinge und Wesen, die sich selbst verborgen sind, erscheinen können. Das Dasein gibt der Natur die Bühne. Der einzige Sinn von Heideggers Naturphilosophie ist die Inszenierung der Epiphanie dieses ›Da‹. …. Der Stein ist »weltlos« …, das Tier ist »weltarm«. …. Das Tier hat eine bestimmte Offenheit für die Welt, doch kann ihm die Welt nicht als Welt »offenbar« werden. Das geschieht erst im Menschen. Zwischen dem Menschen und seiner Welt klafft ein Spielraum auf. Die Weltgebundenheit hat sich soweit gelockert, daß der Mensch sich auf die Welt, auf sich selbst und auf sich als etwas in der Welt Vorkommendes beziehen kann. …. Diesen Spielraum nennt Heidegger »Freiheit«. … Zum Möglichsein gehört der Gedanke, daß etwas auch nicht sein könnte. …. Nur weil wir einen Sinn für das Abwesende haben, können wir Anwesenheit als solche erfahren …. Diese Vertrautheit mit dem Möglichsein und dem Nichts – was es im Weltbezug des Tieres nicht gibt – zeigt den gelockerten Weltbezug, den Heidegger »weltbildend« nennt. So wie Max Scheler (1874-1928) in seinen anthropologischen Entwurf (Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1927) die geistige Personalität des Menschen gedeutet hatte im Anschluß an Schellings (1775-1854) Idee des in dem und durch den Menschen »werdenden Gottes«, so knüpft Heidegger am Ende seiner Vorlesung () an einen anderen großen Gedanken Schellings an: Die Natur schlägt im Menschen ihre Augen auf und bemerkt, daß sie da ist. Diesen Schellingschen »Lichtblick« nennt Heidegger die »offene Stelle«, die sich im Menschen inmitten des naturhaft verschlossenen Seienden aufgetan hat. Ohne den Menschen wäre das Sein stumm: es wäre vorhanden, aber es wäre nicht – da. Im Menschen ist die Natur zur Durchsichtbarkeit durchgebrochen.“ (Rüdiger Safranski, ebd., 1994, S. 226-229).
„Die Lichtung () ist … nicht ohne ihre technogene Herkunft zu denken. …. Wenn »es« den Menschen »gibt«, dann nur, weil eine Technik ihn aus der Vormenschheit hervorgebracht hat. Sie ist das eigentlich Menschen-Gebende. …. Technik, hat Heidegger doziert, ist eine Weise der Entbergung. Sie holt Ergebnisse ans Licht, die von ihnen selbst her so nicht und nicht zu dieser Zeit an den Tag gekommen wären. …. Auf der Stufe des Satzes »Es gibt Information« verliert das überlieferte Bild von Technik als Heteronomie und Versklavung von Materien und Personen zunehmend seine Plausibilität. Wir werden Zeugen dessen, daß mit den intelligenten Technologien eine nicht-herrische Form von Operativität im Entstehen ist, für die wir den Namen Homöotechnik () vorschlagen.“ (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, 2001, S. 225, 227, 228). „Heidegger hat sich ohne Zweifel in die Höhenlinie der europäischen Philosophie eingetragen – vielleicht der einzige in unserem Jahrhundert, den man auf lange Sicht in einem Atemzug mit Platon, Augustinus, Thomas, Spinoza, Kant, Hegel und Nietzsche wird nennen dürfen. …. So umfassend, wie ein Religionsstifter nach einem Heilsweg fragt, fragt Heidegger nach der Wahrheit über den Menschen. Man versteht ihn besser, glaube ich, wenn man ihn mit Lehrern der zurückgezogenen Weisheit wie Lao-Tse, mit indischen Denkmeistern wie Shankara und Nagarjuna oder Religionsgründern wie Paulus, Mani oder Luther in eine Linie stellt.“ (Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 102, 116-117).
„Man kann weder unverwandt in die Sonne blicken noch in den Tod. Nach Heidegger wäre hinzuzufügen, man kann auch nicht in den Menschen oder in die Lichtung blicken. …. Heidegger regt an, daß man nicht nur das anschaut, was im Licht liegt, sondern daß man darüber nachdenkt, wie das Licht und die Dinge zusammenkommen, anders gesagt, man soll die Lichtung als solche meditieren. Die Lichtung ist gleichsam der weltgebende Blitz. …. Aber wer direkt in ihn schaut, wird geblendet. …. Die Menschen … sollen den Blitz bedenken und sich in seinem Licht selber als die Unheimlichen fürchten lernen. (*Ist das eine „Religion der Lichtung“?). Der Mensch kennt sich selber noch gar nicht, weil er noch nie richtig nach sich selbst gefragt hat. …. Aber für Heidegger war klar, daß sich die Seinsfrage durch die Macht- und Technikfrage hindurch stellt. Und wie richtig das gesehen ist, bemerken wir erst heute daran, daß die Spitzentechnologien in den `life sciences´ sich daran machen, die Codes des Lebendigen umzuschreiben.“ (Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 113-114, 117-118).
Heidegger machte die trivialen Befindlichkeiten des Alltags zu hoher Theorie. (). Er räumte den Mythos der Objektivität ebenso ab wie die alte Metaphysik. Wie jeder Denker, der neue Perspektiven eröffnet, mußte er dazu auch eine neue Sprache und Begrifflichkeit kreieren. Er entwickelte daher einen ungeheuren Begriffsreichtum, den ihm seine Kritiker als unverständlich anlasteten. Sloterdijk, der ebenfalls sprachschöpferisch tätig ist, ist nicht nur in dieser Hinsicht Heidegger sehr ähnlich. Sloterdijk unternimmt eine Neuinterpretation der Philosophie Heideggers, entdeckt ihre kynischen Tiefenströme, sieht in ihr die Dimension des Elementaren angelegt und meint, Heidegger habe auch eine Philosophie des Raumes entwickelt – genau passend zu Sloterdijks globaler Sphärenphilosophie des Raumes! (). Sloterdijk will also auch Heidegger und nicht nur „Spengler progressiv fruchtbar machen und ihn als einen Experten in Primärraumfragen hören.“ (Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 228). Heideggers Konstruktion des „Eigentlichen“ mündet in das Theorem vom „Sein zum Tode“; Sloterdijk meint, Heidegger habe mit seinen Denkfiguren eine Sozialpsychologie der Moderne geliefert und Heideggers Todestheorie die größte Kritik an den Ideen des 19. Jahrhunderts, das semantisch verborgen unter dem anonymen Mantel des „Man“ () den Tod verbergen hilft und somit Hilfestellung zur Aufrüstung gibt. Man läßt den Mut zur Angst vor dem Tode gar nicht erst aufkommen – diesen Kernsatz aus Heideggers „Sein und Zeit“ (1927) ergänzt Sloterdijk, der in jeder Revolution eine Wiederholung der Geburt auf einer anderen Bühne sieht, auf geburtshelferische Weise mit seinem Apriori der „Entbindung“, so daß Sloterdijks Kernsatz lauten könnte: Man läßt den Mut zur Angst vor der Geburt gar nicht erst aufkommen. „Der Nachteil, geboren zu sein“ () bietet jedoch auch „den Mindestvorteil, sich ein Leben lang über ihn beklagen zu können. Das Minimum an Positivität … stiftet zugleich eine elementare Voraussetzung für eine Poetik der Entbindung. …. Nicht Sprache und Kommunikation bilden die ersten Bedingungen der Möglichkeit, daß Menschen sich zu einer gemeinsamen Welt bringen, sondern die Entbindung jedes einzelnen Individuums aus der fötalen Kommunion mit der Mutter. Erst nach dieser kommunionellen »Grundlegung« und nach ihrer Sprengung kann es irgendwann einmal auch Kommunikation geben – aber nicht als erste Voraussetzung, sondern als spätes Resultat.“ (Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, 1988, S. 108f.). – Lassen wir Heidegger zur Sprache kommen:
„Zwar müssen wir zugeben, daß die Sprache im Alltag wie ein Mittel der Verständigung erscheint
und als dieses Mittel für die gewöhnlichen Verhältnisse des Lebens genutzt wird. Allein: es gibt noch
andere Verhältnisse als die gewöhnlichen. Goethe () nennt diese anderen Verhältnisse die tieferen
und sagt von der Sprache: »Im gemeinen Leben kommen wir mit der Sprache notdürftig aus, weil wir nur
oberflächliche Verhältnisse bezeichnen; sobald von tieferen Verhältnissen die Rede ist, tritt sogleich eine
andere Sprache ein, die poetische«.“ (Heidegger). Heideggers ganzes Geheimnis: Unterwegs zur Sprache.
Sloterdijks „Zur-Welt-Kommen“ () geht zurück auf Heideggers „In-der-Welt-Sein“ (), das wiederum, wie auch Spenglers „Primär-Raum“ () und Nietzsches „Ewige-Wiederkehr“ (), zurückgeht auf Schopenhauers eurobuddhistische Gelassenheit im Nirwana, verstanden als eine abendländische „Radikal-Skepsis“ (), genauer: ein abendländischer Skeptizismus, der Lebensphilosophie heißt. (). „Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen und endgültige Ergebnisse stets als vorläufige hinzustellen. …. Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen.“ (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet – Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263, 273).
Sloterdijks „Zur-Welt-Kommen“ soll für den Menschen als „adventisches Tier“ zuerst einmal heißen: gut ankommen und sich einwohnen in einer Welt, die nicht unbedingt zum Behälter des „Nestflüchters“ Mensch geeignet ist. (). Rüdiger Safranski (*1945), der Freund und Geistesbruder Sloterdijks, hat einen Film gedreht, der als Video (1990) erhältlich ist und die Lebenswelt zeigt, in der Sloterdijk bei sich ankommnen und einwohnen, d.h. in gelöster und gelockerter Form zu sich finden kann und sein Weltverständnis erläutert. Als Maxime des „Zur-Welt-Kommens“ könnte nach Sloterdijk gelten: distanzierte Entbeteiligung und spielerische Einmischung. Sloterdijk empfiehlt ein skeptisches und spielerisches Verhalten, das sich dennoch nicht scheut, sich auf die Bühne zu schwingen und zu tanzen. Ihm kommt es darauf an, die Welt zu „schonen“, weil die Menschen sie schon verschieden genug verändert haben. Man sollte eine Langsamkeit entwickeln und wissen, daß hohe Glückszustände auch in meditativen und kontemplativen Lagen gefunden werden können. Der existentialistische Lebensphilosoph Sloterdijk empfiehlt sich, wie schon Schopenhauer, als ein Eurobuddhist und deshalb: abendländischer Skeptizist.
Zu der Zeit, als Sloterdijk seine „Kritik der zynischen Vernunft“ schrieb, bei Baghwan in Poona sich auslebte und als der geistige Vater des Tu-nix-Festivals in Berlin bezeichnet wurde, besaß er alle Attribute eines Existentialisten. Seine spätere Wende zu kommunitarischen Gedanken und einer konservativen Sphäre zeigt sich schon in seinem Hauptwerk der „Kritik der zynischen Vernunft“ an, wo er durchaus manchmal auch ambivalent auf der zynischen Seite zu finden war. Sloterdijk denkt am Leitfaden Nietzsches (), dessen Motto „gefährlich denken“ war und der durchaus neben einer ausgeprägt individualistisch-existentialistischen Seite auch in konservativen Tönen zu denken verstand. Es ist bei Sloterdijk einfach so, daß er sich das Denken nicht verbieten läßt und damit auch nicht in Schablonen festlegbar ist.
„Die neuen Immunitätstechniken empfehlen sich als Existentialstrategien für Gesellschaften aus Einzelnen, bei denen der Lange Marsch … zum Ziel geführt hat – zur Grundlinie des von Spengler richtig prophezeiten Endes jeder Kultur: jenem Zustand, in dem es unmöglich ist, zu entscheiden, ob die Einzelnen außergewöhnlich fit oder außergewöhnlich dekadent sind. Jenseits dieser Linie verlöre die letzte metaphysische Differenz, die von Nietzsche verteidigte Unterscheidung von Vornehmheit und Gemeinheit, ihre Kontur, und was am Projekt Mensch hoffnungsvoll und groß erschien, verschwände wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ (Peter Sloterdijk, Sphären – II -, 1999; S. 1004f.). – „Man sollte Spengler progressiv fruchtbar machen und ihn als einen Experten in Primärraumfragen hören.“ (Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001; S. 228).

Die Linie in Schopenhauers Lebensphilosophie (dem „Analogon“ zu Pyrrhons Skeptizismus ) geht von Schopenhauer
über Kierkegaard, Nietzsche, Spengler bzw. Heidegger u.a. zu Safranski bzw. Sloterdijk u.a., also weiter in die Zukunft.

„Junge Schule“ der Lebensphilosophie
Zur „Jungen Schule“ der Lebensphilosophie kann man sehr wahrscheinlich Peter Sloterdijk (*1947) zählen, obwohl man dies erst in Zukunft genauer beurteilen können wird. Ebenso wird sich dann zeigen, ob und wie sich sogar eine ganz neue Richtung der Lebensphilosophie, eine Neu-Lebensphilosophie () gebildet haben wird. Sloterdijks Mutter, eine Deutsche, hatte einen Holländer geheiratet, doch die Ehe hielt nicht lange, und so wuchs Sloterdijk schon früh „ohne prägendes väterliches Element“ auf, wie er Kindheit und Herkunft seines Namens in Interviews selbst kommentierte. Von 1968 bis 1974 studierte Sloterdijk in München und Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. Schon 1971 stellte er seine Magisterarbeit mit dem Titel Strukturalismus als poetische Hermeneutik () fertig. 1972 folgten eine Studie mit dem Titel Die Ökonomie der Sprachspiele – Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution () und ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte (). Im Jahre 1975 wurde Peter Sloterdijk aufgrund seiner von Professor Klaus Briegleb betreuten Doktorarbeit zum Thema Literatur und Organisation von Lebenserfahrung – Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918–1933 () durch den Fachbereich Sprachwissenschaften der Universität Hamburg promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später: Osho) im indischen Pune auf.

‹— Peter Sloterdijk —›
1. Stadium („Winter“) 2. Stadium („Frühling“) 3. Stadium („Sommer“) 4. Stadium („Herbst“)
Vor-/Urdenken: Sloterdijks
„Vor-/Urphilosophie“ Frühdenken: Sloterdijks
„Frühphilosophie“ Hochdenken: Sloterdijks
„Hochphilosophie“ Spätdenken: Sloterdijks
„Spätphilosophie“
(Dauer: 21 Jahre) (Dauer: 15 Jahre) (Dauer: 23 Jahre) (Dauer: ? )
1947 bis 1968 1968 bis 1983 1983 bis 2006 2006 bis ?
Geburt
(26.06.) „KRITIK DER
ZYNISCHNEN VERNUNFT“
Übergang
Schule / Studium | „Zorn
und Zeit“
Frühe
Kindheit Grund-
Schule Gym-
nasium 1968
– 1974 1974
– 1978 1978
– 1983 1983
– 1989 1989
– 1999 1999
– 2006 2006
– ?

Rüdiger Safranski schreibt vorzugsweise Biographien über Philosophen, Lebensphilosophen, zum Thema Lebensphilosophie (): „Lebensphilosophie, … ein Kampfbegriff …, gegen zwei Fronten gerichtet. … Bei den Lebensphilosophen wird der Begriff › L e b e n ‹ so geräumig und elastisch, daß alles hineinpaßt: Seele, Geist, Natur, Sein, Dynamik, Kreativität. Die Lebensphilosophie wiederholt den Protest …. › L e b e n ‹ ist Gestaltenfülle, Erfindungsreichtum, ein Ozean der Möglichkeiten, so unantastbar, daß wir kein Jenseits mehr brauchen. Es steckt genug davon im Diesseits. Leben ist Aufbruch zu fernen Ufern und doch zugleich das ganz Nahe, die eigene gestaltfordernde Lebendigkeit. …. Die Lebensphilosophie versteht sich als eine Philosophie des Lebens im Sinne des Genitivus subiectivus: Sie philosophiert nicht über das Leben, sondern es ist das Leben selbst, das in ihr philosophiert. Als Philosophie will sie ein Organ dieses Lebens sein; sie will es steigern, ihm neue Formen und Gestalten erschließen. Sie will nicht nur herausfinden, welche Werte gelten, sie ist unbescheiden genug, neue Werte schaffen zu wollen. Lebensphilosophie ist die vitalistische Variante des Pragnatismus. Sie fragt nicht nach der Nützlichkeit einer Einsicht, sondern nach ihrer schöpferischen Potenz. Für die Lebensphilosophie ist das Leben reicher als jede Theorie; deshalb verabscheut sie den biologischen Reduktionismus: Dort wird ja der Geist auf das Niveau des Lebens heruntergezogen, in der Lebensphilosophie aber soll der Geist zum Leben emporgehoben werden.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland, 1994, S. 64-66 ). Sloterdijk sieht das auch so und erinnert an die Analogie zwischen abendländischer Lebensphilosophie und antikem Skeptizismus ():
„Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen und endgültige Ergebnisse
stets als vorläufige hinzustellen. …. Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert bleibt,
hegt die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen.“
(Peter Sloterdijk, Nicht gerettet – Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263 und 273).
„Als Schriftsteller ist Sloterdijk Schopenhauer und Spengler ebenbürtig.“
(Frankfurter Allgemeine Zeitung).
„Wenn Schopenhauer in der Einleitung zu Die Welt als Wille und Vorstellung () über den besonnenen Menschen nach der transzendentalphilosophischen Wende notierte: »Es wird ihm … deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde, sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, und eine Hand, die eine Erde fühlt, daß die Welt, welche ihn umgibt, nur als Vorstellung da ist ….« (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1818, 1. Buch, § 1) – so wäre aus der Sicht der Seefahrer und aller übrigen bei der Globalisierung Aktiven hinzuzufügen, daß es künftig eine Erde nicht allein für die fühlende Hand gibt. …. Der Erfolg der Erdsphärenmission war so durchschlagend, daß er von seinen Erben heute nicht länger als solcher empfunden wird. …. Manche »Globalisierungsgegner« machen in jüngerer Zeit keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, es wäre besser gewesen, die Menschen hätten das gelobte Stadium nie erreicht – oder wären nach gewonnener Einsicht, unter Vermeidung der hohen See, in ihren Dörfern und Kleinstädten geblieben. Aber was ist das, wenn nicht eine verspätete Form des Unglaubens hinsichtlich der Botschaft, daß die Erde eine erfahrbare Einheit bildet – begleitet von dem Zweifel daran, daß die Menschen mit der Wahrheit über die Kugel unter ihren Füßen etwas Sinnvolles anfangen können? Die Ungläubigen hätten es offenbar vorgezogen, Ptolemäer zu bleiben.“ (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 254-256).
In Schopenhauer sieht Sloterdijk den ersten „Patriarchen des Eurobuddhismus“ und in Cioran (1911-1995) den zweiten. In seinem Buch „Eurotaoismus“ beschäftigte sich Sloterdijk 1989 mit „buddhistischer Politik“ auch insofern, als daß durch den Geist des Tao eine Asiatisierung Europas eingeleitet werden könnte, um das „Wu-Wei“ des Lao-Tse (ca. 604 -520), das Geschehenlassen, die Entdeckung der Langsamkeit, die Heidegger’sche Kehre, das Prinzip Gelassenheit zur Geltung zu bringen. Das Verschwinden des Subjekts ist im Buddhismus ein religiöses Ideal. Niklas Luhmann (1927-1998), der aus seiner Sympathie mit dem Buddhismus keinen Hehl machte, konnte sich sogar vorstellen, daß Kommunikation auch dann weiterläuft, wenn es längst schon keine Menschen mehr gibt und daß Wissen und Vernunft sich nicht in Köpfen oder Psychen, sondern in Büchern, Datenspeichern oder im Internet befinden. – „Wer sich auf die Zehen stellt, steht nicht fest. Wer die Beine spreizt, kommt nicht voran.“ (Tao Te King, 24. Spruch).
Auf Nietzsche bezieht sich Sloterdijk z.B. mit der These, daß die „ewige Wiederkehr“ auch den Fatalismus und den Willen zum Siegen bzw. zur Macht beinhaltet. (). Auch Sloterdijk ist der Meinung, daß sich wieder ein Weltzustand ankündigt, in dem der Unterschied zwischen weltlichen Siegern und Verlierern von neuem ein absoluter wird. Für Sloterdijk wird die zeitgenössische Welt zunehmend zur Arena; in ihr werden Kämpfe unter den Sterblichen ohne höheren Schiedsspruch entschieden; das Leben erscheint als Lotterie zur Austeilung von Schicksalslosen, bei deren Entgegennahme der Rechtsweg ausgeschlossen ist. In einem solchen Klima ändert sich vieles. Sloterdijk nennt als Beispiel die Wirtschaft, insbesondere die Werbewirtschaft, deren Voraussetzungen sich deshalb radikal ändern, weil die egalitaristischen Prämissen liberaler Konsumgüterwerbung sich zersetzen. „Die gute Nachricht vom lebenverbessernden Produkt ist immer schwieriger an den Mann zu bringen. Schon heute beobachten wir den Effekt, daß der Grenznutzen der Massenkonsumgüterwerbung sinkt – mit anderen Worten, die Güter, die sich für den Verbrauch durch alle eignen, sind heute tendenziell bereits in jedem Haushalt da, zumindest in der Reichweite der meisten Konsumenten, während man für die Objekte, die heute noch nicht jeder hat, sagen wir Yachten, Privatflugzeuge, Schlösser, auch künftig beim allgemeinen Publikum kaum wird werben können. Angesichts dieser Sachlage wird die Werbewelt, nolens volens, tendenziell immer nietzscheanischer (), indem sie sich immer unverhohlener an die wenigen wenden muß, die sich das Seltene leisten können, und immer offener all jene ausschließt, für die das Seltene nicht im Angebot sein kann. Auf ihre Weise bestätigt so künftig die Werbung den Unterschied zwischen Siegern und Verlierern und gibt ihre bisherigen konsumegalitaristischen Voraussetzungen preis. Unweigerlich wird aus der inklusiven Werbung mehr und mehr eine exklusive, ja sie würde schließlich, denkt man den Prozeß zuende, überhaupt aufhören, Werbung zu sein, das heißt Veröffentlichung von guten Nachrichten über zugängliche Güter vor allgemeinem Publikum: sie würde sich transformieren in ein Mailing-Verfahren, sprich die Versendung von exklusiven Briefen an die Adresse von kaufkräftigen und genußfähigen Wenigen. Die Vorboten solcher Entwicklungen sind heute überall präsent. Der Idealkunde in der voll entfalteten neuantiken Situation wäre nicht mehr Herr Jedermann und Frau Sowieso, sondern eine Persönlichkeit vom Typus des Kunstsammlers oder des wohlhabenden Besuchers von Etablissements, die auf die exklusive Bedienung von besonderen Neigungen spezialisiert sind; der typische Werber wäre nicht mehr der Sprüche- und Bildermacher für den Massenkonsum, sondern eine Art Premium-Galerist oder Luxusmakler, der einer Elite Appetit macht auf seltene Objekte und Dienste. …. Hermes steht für die Wiederholung der Antike auf der Höhe der Modernität vor allem unter dem zweiten Aspekt von Nietzsches Diktum. (). Die Behauptung, daß höhere Kultur nur auf der Basis von Sklaverei möglich sei, zeigt ihre Spitze, sobald man Hermes als den Gott der zeichenverarbeitende Sklaven versteht. Wenn es zur Zeit ein Produkt gibt, das eine unwiderstehliche Begehrenspanik auf den Konsumentenmärkten auszulösen imstande ist, dann ist es der Kommunikationssklave, der unter dem Namen Computer in jede Fabrik, in jedes Büro eingeführt ist und der bald auch in jeden bürgerlichen Privathaushalt aufgenommen sein wird. Die Ware aller Waren ist heute wie in der Antike der Sklave; der einzige interessante und turbulente Markt der Gegenwart ist in diesem Sinn wieder der Sklavenmarkt.“ Laut Sloterdijk kommt der wesentliche Unterschied zwischen der Antike und uns im Begriff der Technik zum Vorschein, denn antike Sklaven wurden gefangen – aus Randkulturen abgeerntet, wie Sloterdijk sagt – und werden wie Arbeitstiere als Naturmaschinen vorgefunden und dressiert; aber unsere Sklaven werden konstruiert und technisch hergestellt. Die Aufgaben des antiken Sklaven liegen vor allem im Bereich der schweren körperlichen Arbeit, die Aufgaben unseres Sklaven kiegen im Bereich der niederen Kommunikativität. „Die sogenannte Kommunikationsgesellschaft ist eine ökonomische Formation, die in erster Linie durch Kommunikationssklavenhandel bestimmt wird. Der Sklave von heute ist die informationsverarbeitende Maschine. Wollen zeitgenössische Menschen in den Genuß des Gefühls von Menschenwürde kommen, so müssen sie Maschinen kommunizieren lassen, um selber frei zu bleiben für Dinge, die jenseits der kommunikativen Fronarbeit liegen. Kommunikation ist, wie wir zunehmend begreifen, Sklavenarbeit; sie läßt sich nur in Ausnahmefällen dem Umkreis der eigentlich menschenwürdigen Tätigkeiten zurechnen. Daher ist der Kommunikationssklavenmarkt der letzte Horizont der modernen Demokratie. Ein Modell hierfür findet sich übrigens schon in der alten Welt: Die reichen Herren Roms hielten lebende Vorfahren der datenverarbeitenden Systeme in ihren Sklavenställen: es gab bekanntlich einen Typus von Intelligenzsklaven, die sich Nomenclatoren nannten, also Namensrufer …. Die Nomenclatoren des alten Rom waren lebende Notebooks, die ihre Herren bei Stadtspaziergängen zu begleiten hatten und die bei der Begegnung mit einem Jemand, den nicht namentlich zu kennen sozial schädlich gewesen wäre, laut den Namen der betreffenden Person ausrufen mußten. Diese Sklaven waren Begrüßungsarbeiter, sie fungierten als Kontaktautomaten, die den Verkehr der empfindlichen Herren auf der gewünschten hohen und höflichen Frequenz zu halten hatten.“ Wer hierzu das abendländische Gegenstück sucht, kann Sloterdijks Analogie folgen und „etwa an den Unterschriftautomaten denken, mit dem die jeweiligen Machthaber im Weißen Haus zu Washington ihre zweitrangige Post zu erledigen pflegen. Weil aber praktisch alle Post zweitrangig ist, brauchen alle Kommunikatoren in der modernen Demokratie Sklaven, die ihnen die Vernetzungsarbeit abnehmen; wer sich einen solchen Sklaven nicht leisten kann, muß tatsächlich noch selber kommunizieren und unterliegt dem kleinbürgerlichen Zwang, als freier Sklave seiner selbst auf den Markt zu gehen. In Großgesellschaften ist soziale Kohärenz nur über Kontakt oder Vernetzungsklaven herzustellen.“ Sloterdijks Analogie ist richtig. Die Geschichte der abendländischen Kultur beweist, daß Maschinen und Sklaven analog zu denken sind (vgl. hierzu u.a.: Spengler). Weil der „Wiederholungzwang“ (die „ewige Wiederkehr“; vgl. Nietzsche) sogar so mächtig werden und das scheinbar Überwundene zur Wiederkehr zwingen kann, sollten wir auch vielerlei Unerwartetes einkalkulieren. „Künftige Gesellschaften werden mithin in mehrfachem Sinn »antike« Züge aufweisen: sie werden in religionshistorischer Sicht tendenziell neofatalistisch sein; sie werden auf der Sklaverei im bezeichneten Sinne beruhen, wahrscheinlich auch wieder auf einer Sklaverei der zu billigen Arbeitskraft; sie werden klientelistisch sein, und sie werden, wie man schon heute in Ansätzen erkennt, insbesondere im Unterhaltungsfernsehen eine Regression von der Sozialpolitik zum Pöbelmanagement im Sinne der Brot-und-Spiele-Formel aufweisen. (). Dies alles sind typische Züge, die wir aus der … antiken Welt kennen.“ Neben ihnen werden sich laut Sloterdijk auch zunehmend Aspekte der mesopotamischen Kultur „in den Vordergrund schieben, weil in Zukunft die soziale Macht mehr und mehr von den Herren über die Kanäle ausgeht“, so Sloterdijk. Seiner Meinung nach leben wir „im Übergang vom Fahrzeugzeitalter zum Kanalisationszeitalter“, und können deshalb „schon heute mit freiem Auge abschätzen, wie bedeutsam künftig die Kontrolle über kanalgebundene Güter Elektrizität, Wasser, Information sein wird. Hier tut sich ein Horizont von neomesopotamischen Verhältnissen auf, in denen sich die altorientalische Hydrokratie, also die Herrschaft der Bewässerungsmonarchen, formal als Elektrokratie und Infokratie wiederholt.“ (Peter Sloterdijk, Weltmanagement im Kommunikationszeitalter; vgl. ). Sloterdijks Rede endet mit Kants kategorischen Imperativ (), denn Sloterdijk meint, daß menschliche Gesellschaftspolitiker immerhin den Versuch unternehmen müssen, den Unterschied aller Unterschiede, den zwischen Siegern und Verlierern, zu sozial lebbaren Zuständen abzuschwächen – andernfalls, so Sloterdijk, haben sie (gerade heute und noch mehr in der nächsten Zukunft) „Aussichten auf den Bürgerkrieg, gleich ob in molekularer Form, um mit Enzensberger zu sprechen, oder unter der Gestalt von inflationierenden Terrorismen“ (vgl. Global-Terrorismus).
Abendländische Globalismus-Phase (): „Die psychopolitische Herausforderung des Globalen Zeitalters, das wir … als … Resultatsstufe … verstehen, besteht darin, daß die Schwächung der Container-Immunitäten nicht einfach als Formverlust und Dekadenz, das heißt als ambivalente oder zynische Beihilfe zur Selbstzerstörung, verarbeitet werden darf. Was auf dem Spiel steht, sind erfolgreiche neue Designs von lebbaren Immunverhältnissen ….“ (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 239). Für Sloterdijk „stellen sich alle Fragen der sozialen und personalen Identität unter morphologischen und immunologischen Aspekten dar, also unter dem Gesichtspunkt, wie in geschichtlich bewegten Großwelten so etwas wie lebbare Formen des »Wohnens« () oder des Bei-sich-und-den-Seinen-Seins eingerichtet werden können.“ (Ebd., 2005, S. 234). Sloterdijk betont, daß der „europäische (abendländische) Historismus, den der junge Nietzsche () aus anachronistischer heroischer Gesinnung bekämpfte“, nichts anderes sei als „eine Abendröte der terrestrischen Globalisierungsära“, die Dämmerung des abendländischen „Weltnahme- und Weltstiftungszeitalters“ ! „Unter denen, die sein Ende kommen sahen, ragt Oswald Spengler () noch immer hervor: Seine Studien zum »Untergang des Abendlandes« sind ein geschichtsmorphologischer Abgesang auf die »faustische« Kultur als die einzige, die den Gedanken der Geschichte zu denken vermochte und die als einzige »Geschichte« im engeren Wortsinn hevorbrachte, erlebte und reflektierte“ – so Sloterdijk (ebd., 2005, S. 262). „Die neuen Immunitätstechniken (in ihrem institutionellen Zentrum: die Privatversicherungen und Pensionfonds, an ihrer individuellen Peripherie: Diätetik und Biotechnik) empfehlen sich als Existentialstrategien für »Gesellschaften« aus Einzelnen, bei denen der lange Marsch in die Flexibilisierung, die Schwächung der »Objektbeziehungen« und die generelle Lizensierung von untreuen oder reversiblen Verhältnissen zwischen Menschen zum »Ziel« geführt haben – zu dem von Spengler richtig prophezeiten Endstadium jeder Kultur: jenem Zustand, in dem es unmöglich ist zu entscheiden, ob die Einzelnen tüchtig oder dekadent sind (aber tüchtig in welcher Hinsicht und dekadent in bezug auf welche Höhe?). Es ist der Zustand, in dem den Individuen die Fähigkeit zur exemplarischen Fähigkeit zur Weltbildung abhanden gekommen ist.“ (Ebd., 2005, S. 241-242).
„Von dem immensen Fortschritt des Levitationsgeschehens kann man sich indirekt, im Spiegel der Theorie, einen Begriff bilden, wenn man Hegels () beiläufige Diagnose über Langeweile und Leichtsinn als Zeitsymptome der beginnenden Moderne mit den Radikalisierungen vergleicht, die Heidegger () in seiner Kulminationsphase zwischen 1926 und 1930 den Themen Zerstreuung und Langeweile abzugewinnen wußte. Daß er mit beiden Motiven an den Stimmungskern der Epoche rührte, war ihm ebenso gewiß, wie er durchdrungen war von seiner Berufung, aus dem Abstieg in den modernen Unernst verwandelt zurückzukehren. Als Erdulder der Leere wird er imstande sein – so seine Überzeugung -, den aufsteigenden Weg zu weisen; aus dem Tauchbad der Besinnung auf die unvermeidliche Zerstreutheit soll es vorwärtsgehen zu neuen Formen der Sammlung und der Ergriffenheit durch das unausweichlich zu vollbringende Werk. Die Vorlesung des Wintersemesters 1929/30 über Grundbegriffe der Metaphysik () ist vor allem durch die sensationelle Phänomenologie der Langeweile bekannt geworden, von der man nicht zu viel sagt, wenn man sie als die profundeste Gegenwartstheorie bezeichnet, die das 20. Jahrhundert hervorzubringen imstande war.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 728). Sie „gehört zu dem Eindrucksvollsten, was Heidegger jemals vorgetragen hat. So ist in der gesamten philosophischen Überlieferung nur ganz selten eine Stimmung beschrieben und ausgedeutet worden wie in dieser Vorlesung.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 220). Sloterdijk weiter: „In dessen Kern steht laut Heidegger eine levitierte Existenz, deren herausragendes Merkmal die Unmöglichkeit ausmacht, von irgend etwas ganz ergriffen zu sein. Der Mensch erfährt sich als eine hohle und leichte Form, der kein erfüllender Inhalt zugeordnet ist; weit und breit nichts in Sicht, was das Dasein zur Würde des Realen erhöbe. Hier wird die unerträgliche Leichtigkeit des Seins begrifflich exponiert: Sie heißt an dieser Stelle die »Not der Notlosigkeit«. Der Ausdruck gibt den ersten klaren philosophischen Befund von der entfalteten Konsumgesellschaft. …. Vor dem Unbehagen in der Erleichterung gibt es kein Entrinnen: Weil im abgerüsteten Dasein das innere Ernstfall-Urteil ausbleibt, fühlt sich das Subjekt einer schalen Entlastung ausgesetzt. Seine Leichtigkeit tut ihm auf merkwürdige Weise weh – oder besser, es fühlt sich von dem, was weh tun könnte, beunruhigend abgeschnitten. Es ist sich selber gleichgültig – und das zu Recht, da es ihm so, wie es gegenwärtig lebt, bei allem, was es unternimmt, um nichts Wirkliches gehen kann. Das untergriffene Leben langweilt sich. Langeweile, das heißt: man erfährt die eigene Zeit als eine innere Dehnung, die übermäßig auffällt, weil sie sich nicht in sinnvollen Handlungen erfüllt. Sie wird erlebt als quälende Dauer vor dem Eintritt des nächsten Ereignisses, das die Stauung auflöste. Paradigmatisch: stundenlanges Warten auf den Zug an einem Provinzbahnhof. Doch die Unterergriffenheit reicht viel weiter. Das Tier ohne Mission tappt durch den Nebel; vieles ist möglich, nichts überzeugt. Weil ich nicht ergriffen bin, greife ich vieles auf. Ich stürze mich in den Betrieb, ich wende mich künstlich begeistert dem Unaufschiebbaren zu, das an mich zu appellieren scheint: Erledige mich! Ich gebe den Engagierten, den Agenten des Wichtigen, den Militanten. Wenn ihr den Frontmann sucht, hier ist er! Sehe ich näher zu, muß ich gestehen: auch ». ..das sind nur Ornamente meines Dösens gewesen«. Selbst das Engagement erweist sich als eine Form der Zerstreuung. Indem es den Zeitsinn in eine fahle Weite zerdehnt, korrumpiert das Unergriffensein die Konzentration auf wesentliche Vorhaben. Es wird unmöglich, sich in einer Handlung zu sammeln. Kann man die Zeit der flachen Langeweile noch selber totschlagen, bleibt sie bei der tiefen Langeweile im Dasein stehen. Dadurch verliert dieses das Merkmal seiner Existentialität: die Fähigkeit, sich zu einem plausiblen Werk aufzuraffen. Die Verstimmung wächst, bis das Selbst jede Kontur verliert – doch denkt Heidegger nicht daran, auf halbem Wege Halt zu machen. Wo betriebsames Dasein war, muß tiefste Langeweile werden. Sie ist die mitten ins Leben einschlagende Unmöglichkeit, ein Projekt zu haben. Wenn man sich ganz als Kind der zerstreuten und erleichterten Zeit begreift und darüber hinaus bis ins Innere wie ein Verlierer empfindet, dem nichts geblieben ist – dann ist es einem so langweilig, daß gar nicht mehr angegeben werden kann, wer derjenige wäre, dem der Entzug widerfährt. Wie die große Angst den Weltentzug bewirkt – und durch Kontrast den Hinweis auf das Wunder, daß etwas ist, verstärkt -, so die tiefe Langeweile den Selbstentzug. A contrario kann sie das Entzogene zum Aufleuchten bringen: die Verdichtung der Zeit in der sinnvollen Handlung. Heidegger rührt mit diesem Abstieg in die letzte Enteignung an einen pathologischen Grenzwert der Entlastung, bei der dem Entlasteten das Gefühl für die eigene Existenz verlorengeht, so daß er sich selber wie eine intimgleichgültige Tatsache spürt. Meine Eigentlichkeit läßt sich jetzt als die völlige Abwesenheit des Seins von mir beschreiben. In der tiefsten Langeweile gibt es nur noch Umstände, denen kein Selbst einwohnt; der tief Gelangweilte ist die real existierende Inexistenz. Der Schmerz der Schmerzlosigkeit wütet in ihr. Wie ein negativer Atlas muß die inexistente Existenz die ganze Gewichtlosigkeit des Universums tragen. Unerträglich leicht ist eine Welt, aus der mein Zeitherz, mein lebendiges Jetzt-etwas-zu-tun-Haben, amputiert wurde. Gewiß hätte der Philosoph seinen Hörern diesen descensus ad inferos nicht zugemutet, wäre er nicht der Meinung gewesen, in ihnen den Funken des Wiederaufstiegs entzünden zu können. Der Sinn der Meditation war unverhohlen dialektisch, sie sollte die »positive Kraft des Negativen« freisetzen, um aus der Abgespanntheit zurückzukehren in eine wirkende Ergriffenheit durch das nun so genannte Unumgängliche. So geht auch bei Heidegger, wie später bei Sartre, ein radikales Degagement dem Engagement voraus – mit dem Unterschied, daß der Meister aus Deutschland die engagementfähige und werktaugliche Existenz auf dem Umweg über die Auferstehung aus der tiefsten Langeweile konstruiert. …. Die Wende soll vom Leerbleiben in der Entlastung zur Neubelastung durch etwas epochal Wichtiges, Notwendiges führen; sie setzt auf den therapeutischen Wert des Wichtigtuns. Aus der Offenbarung des nichtigen Nichts in der leeren Zeit steigt das Dasein auf zu einer akuten Zuspitzung der Existenz in der Zeit des Werks.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 729-732).
„Ist es noch nötig zu sagen, daß Heideggers große Phänomenologie der Langeweile von 1929/1930 sich nur als Ausbruch aus dem europaweit etablierten (obgleich durch Kriegsschäden schwer ramponierten) Kristallpalast verstehen läßt, dessen moralisches und kognitives Binnenklima – die unvermeidliche Abwesenheit jeder gültigen Überzeugung und die Überflüssigkeit jeder persönlichen Entscheidung – hier klarer erfaßt wird als irgendwo sonst? Heidegger hatte mit seiner Beschreibung der uneigentlichen Existenz in Sein und Zeit, 1927, namentlich in den berüchtigten Paragraphen über das Man, seine Untersuchung über die Grundbefindlichkeit des gelangweilten Daseins vorbereitet. Hier nahm die phänomenologische Revolte gegen die Zumutungen des Aufenthalts im technischen Gehäuse Gestalt an. Was später das Ge-stell heißt, wird an dieser Stelle zum ersten Mal ausführlich beleuchtet – vor allem hinsichtlich der unauthentischen, um sich selbst gebrachten Existenz. Wo jeder der andere ist und keiner er selbst, ist der Mensch um seine Ekstase betrogen, um seine Einsamkeit, seine eigene Entscheidung, seinen Direktbezug zum absoluten Außen, dem Tod. Massenkultur, Humanismus, Biologismus sind die munteren Masken, hinter denen sich, nach der Einsicht des Philosophen, die tiefe Langeweile des Daseins ohne Herausforderung verbirgt. Die Aufgabe der Philosophie wäre demnach, das Glasdach über dem eigenen Kopf zu sprengen, um den Einzelnen wieder unmittelbar zum Ungeheuren zu machen. Wer sich an das Phänomen Punk erinnert, das in den 1970er und 1980er in den Jugendkulturen spukte, kann sich an einem zweiten Beispiel den Zusammenhang zwischen allgegenwärtigem Langeweile-Fluidum und generalisierter Aggression vergegenwärtigen. In gewisser Weise war Heidegger der Punk-Philosoph der 1920er Jahre, ein zorniger junger Intellektueller, der an den Gitterstäben der Schulphilosophie rüttelte – aber nicht nur an diesen, sondern an den Gittern des städtischen Komforts und der sozialstaatlichen Existenzenteignungssysteme. …. Im Blick auf das große Verwöhnungstreibhaus im ganzen drängst sich die Frage auf, ob die Langeweile-Diagnosen Heideggers nicht nur philosophisch und psychologisch codierte Dekadenzprognosen darstellten. Auch Nietzsches sinnverwandte Vision vom letzten Menschen wäre dann nichts anderes als die Antizipation jenes Konsumenten gewesen, der sich abgründig langweilt und zugleich glänzend unterhält.“ (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 270-272 und 347).
Welche Gefahren drohen nun aber der Philosophie? „Ist es die Gefahr, die Kant () meint, wenn er den Menschen auffordert: »Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen«? Ist es die Gefahr der Erkenntnis, wie sie Schopenhauer () einmal so unübertrefflich formulierte, als er den wahrhaften Philosophen mit Ödipus verglich, »der Aufklärung über sein eignes schreckliches Schicksal suchend, rastlos weiter forscht, selbst wenn er schon ahndet, daß sich aus den Antworten das Entsetzliche für ihn ergeben wird« () ? Mit diesem »Entsetzlichen« hatte Schopenhauer den metaphysischen Abgrund gemeint, der sich vor dem nach Lebenssinn fragenden Menschen auftut.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 277). Laut Safranski ist „Schopenhauers Philosophie eine Metaphysik des ästhetischen Abstandnehmens“, später „von Nietzsche () in diesem Sinne für seine eigenen Visionen in Anspruch genommen“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 41) – und auch von Heidegger (): Schopenhauers Abgründigkeit als „Verlassenheit des … Menschen inmitten des Seienden.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 278). „Für Heidegger ist der Sinn des Seins die Zeit, also das Vergehen und Geschehen. Es gibt für ihn kein Seinsideal der Beständigkeit (für die statische Antike eine Selbstverständlichkeit!), und das Denken hat bei ihm gerade die Aufgabe, den Menschen für das Vergehen der Zeit empfindlich zu machen. …. Wahrheit … gibt es weder auf der Subjektseite im Sinne der ›wahren‹ Aussage noch auf des Objektseite im Sinne der zutreffend Bezeichneten, sondern es ist ein Geschehen, das sich in einer doppelten Bewegung vollzieht: eine Bewegung von der Welt her, die sich zeigt, hervortritt, erscheint; und eine Bewegung vom Menschen her, der sich die Welt aneignet und erschließt. Dieses doppelte Geschehen spielt im Abstand, in den der Mensch zu sich und seiner Welt gestellt ist. Er weiß um diesen Abstand und weiß deshalb auch, daß es eine Welt gibt, die sich ihm zeigt, und eine, die sich entzieht. Er weiß dies, weil er sich selbst als ein Wesen erfährt, das sich zeigen und sich verbergen kann. Diese Abständigkeit ist der Spielraum der Freiheit. »Das Wesen der Wahrheit ist die Freiheit« (Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930, S. 13). Freiheit in diesem Sinne bedeutet: Abstand haben, Spielraum. Diese Spielraum gewährende Abständigkeit bezeichnet Heidegger auch als »Offenheit«. Erst in dieser Offenheit gibt es das Spiel von Verbergen und Enthüllen. Gäbe es diese Offenheit nicht, dann könnte der Mensch sich nicht unterscheiden von dem, was ihn umgibt. Er könnte sich noch nicht einmal von sich selbst unterscheiden, wüßte also auch gar nicht, daß er da ist. Nur da es diese Offenheit gibt, kann der Mensch auf die Idee kommen, seine Aussagen über die Wirklichkeit an dem zu messen, was sich von der Wirklichkeit her ihm zeigt. Der Mensch … steht in einem Wahrheitsverhältnis, das jenes Spiel von Verbergen und Enthüllen, Hervortreten und Verschwinden, Da-Sein und Weg-Sein hervorbringt. (Vgl. Heideggers kürzesten Ausdruck für dieses Verständnis von Wahrheit: »Un-Verborgenheit« [»Aletheia«]). Wahrheit ist der Verborgenheit abgerungen, entweder dadurch, daß etwas Seiendes sich zeigt, hervorkommt – oder dadurch, daß es herausgebracht, enthüllt wird. Auf jeden Fall ist es eine Art Kampf, der hier stattfindet. Diese Überlegungen müssen zu dem Schluß führen, daß es kein metahistorisches Kriterium der Wahrheit geben kann …, es gibt nur ein Wahrheitsgeschehen, und das heißt: eine Geschichte der Seinsentwürfe. Diese aber ist identisch mit der Geschichte der leitenden Paradigmen der Kulturepochen und Zivilisationstypen.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 247-249).
„Was die Frage nach dem Sinn von Sein betrifft, so läßt sich sagen, daß es die Frage ist, die das menschliche Nachdenken von den geschichtlichen Anfängen bis heute nachhaltig in Anspruch genommen hat. Es ist die Frage nach Sinn, Ziel und Bedeutung des menschlichen Lebens und der Natur. Die Frage nach den Werten und Orientierungen für das Leben und nach dem Warum und Wozu von Welt, Kosmos, Universum. Das praktisch-moralische Leben läßt die Menschen danach fragen. In früheren Zeiten, als Physik, Metaphysik und Theologie noch zusammengehörten, hatte auch die Wissenschaft die Sinnfrage zu beantworten versucht. Seit Kant () aber herausgefunden hatte, daß wir zwar als moralische Wesen die Sinnfrage stellen müssen, aber als Wissenschaftler sie nicht beantworten können, seitdem also halten sich die strengen Wissenschaften bei dieser Frage zurück. Aber das praktisch-moralische Leben stellt sie auch weiterhin, alltäglich, in der Werbung, in Dichtung und moralischer Reflexion, in der Religion.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 172-173). Diesbezüglich gefragter als die Wissenden und Denkenden sind also jetzt die Werbenden, die Dichtenden, die moralisch Reflektierenden, die Religiösen und darum die Gläubigen (vgl. Glaube-Religion-Theologie-[Denken/Wissen-]Neu-Theologie-Neu-Religion-Neu-Glaube). Stimmt das? Sogar gefragter als die Philosophen?
„Philosophie jetzt!“ heißt eine Lesebuchreihe zur abendländischen Philosophiegeschichte, die Sloterdijk in den 1990er Jahren herausgegeben hat, um, als „Gegengift gegen die fundamentalistische Versuchung“, das Buch des europäischen philosophischen Wissens von neuem aufzuschlagen und darin zu lesen – „soweit die Kürze des Lebens es uns erlaubt, solche aufwendigen Wiederholungen zu wagen“. Die moderne Welt hat es aufgegeben, Wissen und Handeln in der Idee eines höchsten Gutes zu fundieren. „Der dominierende technologische Pragmatismus der Neuzeit gewann freie Bahn erst, nachdem die Hemmungen, die einem grenzenlosen moralischen und physischen Experimentieren im Wege standen, beiseite geräumt oder zumindest entkräftet waren“, sagt Sloterdijk. Die Ermächtigung zum unbegrenzten Projektieren wurde aber bezahlt mit der Entdeckung einer innerweltlichen Bodenlosigkeit. Der Fundamentalismus nun flieht zurück zu den alten Grundlagen, ruiniert damit aber die von Haltlosigkeit befallenen Gesellschaften durch die Drogen der falschen Gewißheit. Denn er weiß ja auch nicht weiter, weiß nicht, wie man mit den Umbrüchen in den Wissens- und Kommunikationsverhältnissen in der entstehenden „telematischen Weltzivilisation“ leben kann. „Viele Anzeichen sprechen dafür“, schreibt Sloterdijk, „daß die gegenwärtigen Generationen durch einen Weltformbruch hindurchgehen ….“ Sloterdijk äußert sich fast resignierend, als hätte ihn Schopenhauer an den Pessimismus erinnert, auch zur Sprachverarmung in der Philosophie: „die Zeit der wirklichen Weisen ist vorüber, die vom Dreifuß herab reine Ergebnisse vorsangen. …. Nur wenn man diese Verarmungsgeschichte vor Augen hat, ermißt man, welche Renaissance das 19. Jahrhundert beim nicht traktatgebundenen Typus von Denken gebracht hat – es genügt an Schopenhauer, Heine, Marx, Michelet, Kierkegaard und vor allem an Nietzsche zu erinnern. Von dieser Wiederkehr der Sprache in der Philosophie hängt fast alles ab, was im 20. Jahrhundert an lesbarem und wiederlesbarem Denken entstand.“ (Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 99-100).
„Angst“ war auch das Thema der ersten von Sloterdijk und Safranski geleiteten Fernsehsendung: „Im Glashaus“ („Das Philosophische Quartett“ ), im Januar 2002 gesendet, unterhielten sich die beiden Philosophen mit Reinhold Messner und Friedrich Schorlemmer über die Angst, besonders im Hinblick auf unsere gesellschaftliche und politische Allatagswirklichkeit und auf die Frage, warum es keine Sicherheit gibt. Wenn die Politik ernst genommen werden will, muß sie den Menschen auch sagen, daß das Leben gefährlich ist. Und: „Wer vollkommene Sicherheit will, der muß sich seine Freiheit einschränken lassen. Pointiert gesprochen, könnte man sagen, daß es so viel Angst gibt, weil wir unser Leben ausschließlich unter Sicherheitsaspekten betrachten“, meinte z.B. Safranski, der die Gabe hat, schwierige Sachverhalte wie etwa die Philosophie Heideggers, Nietzsches und Schopenhauers auch für philosophisch nicht vorgebildete Menschen verständlich, für Leser oft auch spannend, darzustellen. Der Theologe Schorlemmer vertritt eine alte Form der Angst-Verarbeitungskultur. Für ihn ist es in erster Linie die Religion, die mit ihren Jenseits-Heilsversprechen den Menschen die Sicherheit zu geben habe, weil das Leben selbst sie nicht bieten könne. Jedoch: „die moralische Folge einer Diskussion über Angst könnte womöglich sein, daß ein Denken in Generationen wieder erforderlich ist“, so Sloterdijk. Allerdings steht dies dem aktuellen Verständnis entgegen, daß wir uns als „letzte Menschen“ (vgl. Nietzsche ) begreifen. Aber auch „die letzten Menschen kommen nicht umhin, im Anblick letzter Dinge und letzter Naturen Schlüsse auf sich selbst zu ziehen. …. Wir stehen vor der Aufgabe, aus der Masse der Letzten eine Gesellschaft von Individuen zu machen, die es auf sich nehmen, weiterhin Mittler zu werden zwischen Vorfahren und Nachkommen. Wir müssen wieder lernen, auch existentiell bis drei zu zählen; nur so gelingt es den Menschen, einen Ausweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit () zu finden.“ (Sloterdijk). Reinhold Messner ist zwar kein Philosoph, verkörpert jedoch einen existentiellen Extremismus. Als Vertreter eines modernen Abenteuertums sucht er die kalkulierte Angst. Wenn überhaupt einer dieser vier Gesprächspartner von sich behaupten kann, dem Nichts jemals begegnet zu sein, dann am ehesten der Überlebenskünstler Messner. Sloterdijks „intellektuelle Tafelrunde“ soll ja nur die „Libido des Denkens anregen“ und „der Gesellschaft Beschreibungsvorschläge hinsichtlich ihrer Lage und ihren Problemen“ unterbreiten, wobei Sloterdijk von sich behauptet, er „sende auf einer Frequenz, auf der die deutsche akademische Intelligenz nicht empfängt, auch die dominierende Publizistik nur zum Teil, wohl aber das breite Publikum.“ Eine Gnade, daß er in seinem „Glashaus“ () ins Breite geht und die unterschiedlichsten Leute zu Wort kommen läßt.
„Leben heißt Sphären bilden, das ist die These Sloterdijks, und rechtfertigt, drei dicke Bände darüber zu schreiben, was es bedeutet. (). Leben und Denken sind verschiedene Ausdrücke für dasselbe. In die vorhandene Welt muß sich der Mensch eindenken, einfühlen und einbinden. Dies geschieht zuerst in der Dyade Mutter-Kind und eingestimmt durch Klangräume, die Sloterdijk »Sonosphäre« nennt, beginnt die Solidarisierung mit den Verwandten, den nahen Gruppen und schließlich der Kultur. (Konstante [!] – vom Uterus über Familie und Volk/Nation bis zur Kultur/Zivilisation). Alle menschliche Verbindung, jede Liebesordnung beruht auf dem Aufbau von Solidaritäten, und das ist auch nur ein anderes Wort für Sphärenbildung. Liebesgeschichten und solidarische Gemeinschaften sind Innenraumschöpfung einer geteilten Emotionalität. Sphärenbildung ist ein räumlicher und kommunitarischer Akt der Medialität. In Sphären werden geteilte Inspirationen zum Grund für das Zusammensein von Menschen in Kommunen und Völkern. Es formt sich in ihnen jene starke Beziehung und die dazu gehörenden Beseelungsmotive. Dabei sind alle Menschen Medien, die aufeinander wirken und die größere mediale Kommunikationsverbände schaffen. Die dazu gehörige Theorie ist die Medientheorie, die mit der Sphärentheorie konvergiert. Das ist das große Theorienprojekt Sloterdijks, für das die drei Bände »Blasen«, »Globen« und »Schäume« gedacht sind und das tiefer reicht als eine … Theorie des kommuniaktiven Handelns.“ (Holger von Dobeneck, Das Sloterdijk Alphabet, 2002, S. 120).

„Es gibt Tage, da kommt es mir vor, als wären alle schon tot, mit denen man vernünftig hätte reden können.“
(Peter Sloterdijk, Selbstversuch, 1994, S. 66).

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Anmerkungen:

Nach Kant (1724-1804 ) ist Aufklärung das Erwachen des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. (Vgl. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 1784 ).
Der kategorische Imperativ oder Imperativ der Sittlichkeit wurde von Kant (1724-1804 ) folgendermaßen formuliert: Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. 1785 schrieb Kant in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: 1.) „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“ 2.) „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ Ob ein Mensch als Persönlichkeit das prinzipiell wollen kann oder nicht auch (oder vielleicht eher) etwas Eigenes in seinem Verhalten liegt, sollten später die Kritikpunkte an Kants Imperativ sein.
Ende des 18. Jahrhunderts, als Immanuel Kant (1724-1804 ) sein kritisches Werk (den Kritizismus) vollendete und mit ihm der (moderne) Idealismus begann (), begann auch die abendländische Zivilisation (das bürgerliche Zeitalter als moderne Welt), das „Erwachsene“ (), also: unsere Moderne. (). Pünktlich zu Kants 200. Todestag schrieb z.B. eine (moderne) abendländische Zeitung: „Kant, der Vater der Moderne“.
„KANT, DER VATER DER MODERNE“, schrieb z.B. der Rheinische Merkur in Großlettern anläßlich des 200. Todestages des revolutionären Denkers. In der Zeitung äußerte sich am 12.02.2004 Professor Otfried Höffe, ausgewiesener Kant-Experte und Autor der gerade erschienenen Einführung „Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie“ (C. H. Beck, München, 2003), zur Aktualität des deutschen Meisterdenkers aus Königsberg: „Ohne Zweifel ist die Anzahl der Kantschen Elemente, die in unserem kulturellen Bewußtsein präsent ist, weitaus höher, als es zunächst den Anschein haben mag. Wichtig ist etwa Kants Vorstellung von der Kritik der reinen Vernunft. Sein Buch mit diesem Titel beinhaltet ein philosophisches Programm, das ein Stück Weltgeschichte geschrieben hat. Kant versteht Kritik nicht im Sinne einer Verurteilung, sondern eines Gerichtsprozesses, der charakteristischerweise keine externe Instanz kennt. Die Vernunft muß vielmehr über sich selbst zu Gericht sitzen. Nach dem Muster von Kopernikus, der die Stellung des Subjekts im Kosmos neu zu denken forderte, entwickelte Kant ferner eine grundlegend neue Erkenntnistheorie: Nur wenn der Mensch einen anderen Standpunkt gegenüber dem Erkennen einnimmt, kann man verstehen, was wissenschaftliche Erkenntnis ist. Man könnte noch eine Vielzahl von Elementen nennen, wie etwa den Gedanken der Unantastbarkeit der Menschenwürde: Der Mensch besitzt einen Wert, der nicht verrechnet werden darf, sondern, wie Kant sagt, über jeden Preis erhaben ist. Auch könnte man auf die heutige Mathematiktheorie, Physiktheorie oder Religionsphilosophie eingehen und träfe überall Kantsche Gedanken an. Beinahe alle Felder der Philosophie werden von Kant revolutionär neu bestellt, und die Landschaft des abendländischen Denkens erhält ihr modernes Gesicht.“ (Otfried Höffe). – Adelbert Reif (Rheinischer Merkur): „Nach einem berühmten Bonmot ist seit dem Denken der frühen Griechen keine wirklich »neue Philosophie« mehr entstanden. Erst Kant hätte eine »neue Dimension« im philosophischen Denken erschlossen. ….“ – Dazu Otfried Höffe: „Alfred North Whitehead, der Autor des Bonmots, meinte, die Geschichte der abendländischen Philosophie sei eine Geschichte von Fußnoten zu Platon. Das kann man so sehen, darf allerdings nicht vergessen, daß Platon bereits viele Generationen nach den Anfängen der Philosophie seine Gedanken entwickelte. Als Philosophen kann man die führenden kreativen Intellektuellen ihrer Zeit bezeichnen. So gesehen, gibt es immer wieder, vielleicht in Abständen von einigen Generationen, weltbewegend neue Gedanken. Innerhalb dieses kleinen Kreises der wirklich großen Philosophen gehört Kant zweifellos zu den Allergrößten. Neben Platon und Aristoteles, die in der abendländischen Philosophiegeschichte gewissermaßen den Rang von »Kirchenvätern der antiken Philosophie« einnehmen, ist Kant – eventuell mit Hobbes für das politische Denken und mit Hegel – der »Kirchenvater« der neuzeitlichen Philosophie.“ (Otfried Höffe).
Erläuterung der Schopenhauer-Tabelle () – Denk-Biographie von Arthur Schopenhauer (1788-1860 ):
1. „Stadium“ („Winter“ – 1788-1809) und seine 3 „Stufen“: Schopenhauers frühe Kindheit bis (1. Stufe); Grund-Schulzeit (2. Stufe); Reise- und Lehrjahre und Gymnasialzeit (3. Stufe), also bis zum Übergang von der Schule zur Universität (1809).
2. „Stadium“ („Frühling“ – 1809-1818) und seine 3 „Stufen“: Schopenhauers Studienzeit von 1809 bis 1813 (4. Stufe); die Zeit vom Ende des Studiums bis zur Veröffentlichung seiner eigenen Farbenlehre, also die Zeit von 1813 bis 1816 (5. Stufe); die Zeit von der Veröffentlichung seiner eigenen Farbenlehre bis zur Veröffentlichung seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung, also die Zeit von 1816 bis 1818 (6. Stufe).
3. „Stadium“ („Sommer“ – 1818-1841) und seine 3 „Stufen“: Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung und die Auswirkungen in den darauf folgenden acht Jahren, also die Zeit von 1818 bis 1826 (7. Stufe); die Zeit von 1826 bis 1834 (8. Stufe); die Zeit von 1834 bis 1841 (9. Stufe).
4. „Stadium“ („Herbst“ – 1841-1860) und seine 3 „Stufen“: Schopenhauers Werk Die beiden Grundprobleme der Ethik und die Auswirkungen und die nächsten sechs Jahre, also die Zeit von 1841 bis 1847 (10. Stufe); die Zeit von 1847 bis 1854 (11. Stufe); die Zeit von 1854 bis 1860 (12. Stufe).
Vgl. Arthur Schopenhauer (1788-1860), Briefwechsel mit Goethe (), S. 15.
Zur Lebensphilosophie vgl. auch Skeptizismus in Antike ( seit Pyrrhon ) und Abendland ( seit Schopenhauer ). Ein Verteidiger des Skeptizismus war z.B. Schopenhauers Lehrer Gottlob Ernst Schulze (1761-1833), der sich selbst nach Ainesidemos (Änesidemus ) benannte und den skeptizistischen Standpunkt besonders in seinem Hauptwerk „Änesidemus oder … Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßung der Vernunftkritik“ (1792) begründete. Schulze wandte sich in seiner Erkenntnislehre mit grundlegenden Argumenten gegen die alte Verwechslung des Wahrnehmens mit dem Vorstellen. Schopenhauers Lehrer Schulze wurde auch als Änesidemus-Schulze bekannt. Die abendländische Lebensphilosophie entwickelte sich also aus einem abendländischen Skeptizismus und bleibt auch ein solcher. Er ist zwar mit dem antiken Skeptizismus verwandt, ansonsten aber nur mit ihm als dessen Gegensatz vergleichbar. (). Der Skeptizismus ist ein notwendiges Erscheinungsmerkmal einer jeden „erwachsenen“ (zivilisierten) Kultur. (). Typische Züge des Skeptizismus sind z.B. das Mißtrauen gegen die Sinneswahrnehmnug, die überlieferten Denkgewohnheiten sowie gegen ethische und politische Wertvorstellungen und Vorurteile. Die völlige „Enthaltung“ (epoch) des Urteils, für die Pyrrhon () sich so stark gemacht hatte, ließ natürlich nur noch aporetische Argumente zu, aber genauso ausweglos oder ratlos (aporetisch) stand man mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit da, den die mittlere, vor allem aber die neuere Akademie favorisierte. Da die Unverwirrtheit und Unerschütterlichkeit (ataraxia), die Pyrrhon als das praktisch-sittliche Ideal ansah, für die praktische Orientierung des Handelns gelten sollten, resultierte daraus, zusammen mit der theoretischen Orientierung des Denkens – der epoch – eine nur noch von den Indern zu übertreffende Gelassenheit. Während die abendländische Kultur die energischste Art einer Inhaltsdynamik ist, forderte die antike Kultur genau gegenüber dieser Art die Zurückhaltung. epoch geisterte durch alle Schriften der Antike und deshalb wahrscheinlich auch durch die gesamte Lebensart dieser statischen Kultur. Aber gerade diese Gegensätze erlauben es uns, unsere eigenen Fehler im Spiegel der Antike zu erkennen und von dieser verstorbenen Kultur zu lernen, denn ihre Geschichte ist uns ziemlich gut bekannt. Die Möglichkeit, von uns auf diese Weise zu lernen, hatte die Antike nicht. Die Analogien von Akademie und Idealismus sowie von Skeptizismus und Lebensphilosophie lehren uns z.B. die in jeder zivilisierten Kultur notwendig werdende Skepsis (), deren Höhepunkt (verstanden als Vollendung und Überwindung eines Tiefpunktes !) wir Abendländer noch vor uns haben. (Vgl. Beispiel ). Wie die abendländische Lebensphilosophie ihren Weg von der „Verneinung des Willens“ (Schopenhauer, „Alte Schule“ ) über die „Bejahung des Willens“ (Nietzsche u.a., „Mittlere Schule“ ) weiterhin beschreiten wird, wird die Zukunft zeigen. („Junge Schule“ ). Vielleicht wird sich ja die „Junge Schule“ sogar zu einer ganz neuen Richtung entwickeln, nämlich zu einer „Neu-Lebensphilosophie“ () !
Der Nihilismius ist der Standpunkt der absoluten Negation und wurde als Terminus schon von Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819; ) in seinem Sendschreiben an Fichte (1799) eingeführt. Der theoretische Nihilismus verneint die Möglichkeit einer Erkenntnis der Wahrheit (vgl. Agnostizismus – Lehre von der Unerkennbarkeit des wahren Seins, d.h. von der Transzendenz des Göttlichen -, der die Metaphysik als Wissenschaft leugnet und insoweit für den Kantschen Kritizismus [vgl. Kant ] und für den Positivismus [] kennzeichnend ist); der ethische Nihilismus verneint die Werte und Normen des Handelns; der politische Nihilismus verneint jede irgendwie geartete Gesellschaftsordnung. Vielfach ist der Nihilismus nur ein dogmatisch radikaler Skeptizismus (), die ressentimentvolle Reaktion gegen eine sinnlos erscheinende Weltordnung, deren Unhaltbarkeit angeblich eingesehen ist. Als Nihilismus bezeichnete Nietzsche () die Erscheinung, daß die obersten Werte sich entwerten, jene Werte, die allem Tun und Leiden der Menschen erst Sinn geben, daß es nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben oder zu sterben lohnt, daß das Bewußtsein aufkommt, es sei alles umsonst. Nihilismus bedeutete für Nietzsche zum ersten: Es ist nichts mit der Wahrheit. Alles ist falsch. Nihilismus bedeutete für Nietzsche zum zweiten: Es ist nichts mit der Moral. Mit voller Klarheit sah Nietzsche die Fragwürdigkeit der landläufigen Moral: sie verkündet sittliche Grundsätze, aber das Handeln richtet sich nicht danach. Moral ist also zweiseitig – wie eine Münze () – oder zweifach, eine Dopelmoral (!). Eben das wird im Nihilismus offenbar. Dieser ist „Glaube an die absolute Wertlosigkeit“, „Glaube an die absolute Sinnlosigkeit“. Der Grund der Notwendigkeit einer solchen nihilistischen Umstürzung der Moral liegt in dieser selbst beschlossen. Sie hat sich gegen das Leben gewendet; sie ist zur „Widernatur“ geworden. Leben und Natur rebellieren nun um der Wahrhaftigkeit willen gegen die Moral. „Der Selbstmord der Moral ist ihre letzte moralische Forderung.“ Nihilismus bedeutete für Nietzsche zum dritten: Es ist nichts mit der Religion. Nietzsche kam in der Konsequenz seiner nihilistischen Haltung zu einer unbedingten Verwerfung vor allem des Christentums. „Wer mir in seinem Verhältnis zum Christentum heute zweideutig wird, dem gebe ich nicht den letzten Finger meiner zwei Hände. Hier gibt es nur Rechenschaft; ein unbedingtes Nein.“ Aber Nietzsche sah noch tiefer: Das Christentum zerbricht an sich selber, weil es nämlich von seinem Beginn an sich vom unmittelbaren Leben abgekehrt hat und eben darin vom Grunde her nihilistisch geworden ist. Doch wiederum: Der Zusammenbruch des Christentums kommt aus ihm selber, aus dem in ihm gezüchteten Instinkt der Wahrhaftigkeit heraus. Daher sei jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo „die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet.“ Im Zusammenbruch der Religion enthüllt sich, was diese schon immer war: ein Gemächte des Menschen, „Menschen-Werk und -Wahnsinn.“ Daher drückt sich die tiefste Tiefe des Nihilismus in dem Satz aus: „Gott ist tot.“ „Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen. Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wohin bewegen wir uns? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Gott ist tot! Gott bleibt tot! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tatt – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war.“ Aber Nietzsche wußte freilich: Das Ergebnis des Todes Gottes ist eine „lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz“; so kommt es zu einer „ungeheuren Logik von Schrecken, einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrsheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat.“ (). Und Nietzsche war sich auch über sich sicher: „Ich kenne mein Los, es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenskollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt und geheiligt war.“ (Friedrich Nietzsche, Ecce homo, 1889, S. 111 ).
„Schopenhauer ist der erste Denker ersten Ranges gewesen, der aus der abendländischen Vernunftkirche ausgetreten ist. …. Er gab den griechischen und jüdisch-christlichen Theologien einen prägnanten Abschied. Das Allerwirklichste hatte für ihn aufgehört, ein göttliches vernünftig-gerechtes Geistwesen zu sein. Mit seiner Willenslehre springt die Theorie des Weltgrundes um vom frommen Rationalismus … zu einer von Grauen und Staunen geprägten Anerkennung des Arationalen; Schopenhauer statuiert zuerst die vernunftfreie Energie- und Triebnatur des Seins. Darin ist er einer der Väter des psychoanalytischen Jahrhunderts; er könnte sich künftig noch als entfernter Schutzherr und Verwandter eines chaostheoretischen und systemischen Zeitalters erweisen. Daß er den asiatischen Weisheitslehren, dem Buddhismus zumal, mit höchstem Respekt die europäischen Türen geöffnet hat: darin könnte auf lange Sicht seine wichtigste geistesgeschichtliche Wirkung liegen. …. Von Schopenhauer könnte der Satz stammen: nur die Verzweiflung kann uns noch retten.“ (Peter Sloterdijk ).
Wenn Schopenhauers Wille überhaupt mit etwas vergleichbar ist, dann vielleicht am ehesten mit einem „Schwarzen Loch“, z.B. mit dem in unserem galaktischen Zentrum (), oder mit Mephistopheles im „Faust“. (Vgl. Goethe, 1749-1832 ). Ähnlich wie Mephistopheles im Zentrum des Faust, ist unser „Monster“ im galaktischen Zentrum „… ein Teil von jener Kraft, // Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. // …. Ich bin der Geist, der stets verneint ! // Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, // Ist wert, daß es zugrunde geht; // Drum besser wärs, daß nichts entstünde. // So ist denn alles, was ihr Sünde, // Zerstörung, kurz das Böse nennt, // Mein eigentliches Element.“(Johann Wolfgang von Goethe, Faust, 1790 [1808], S. 64-67). Wenn unsere Faustiker, die Techniker und Wissenschaftler, die natürliche Technik kopieren wollen, streben auch sie ins Zentrum.
„Irrational“ nennt man das, was mit dem Verstand nicht erfaßbar ist, was sich den Gesetzen der Logik anscheinend nicht unterwerfen läßt, was als „übervernünftig“, vernunftfremd, aber nicht als vernunftwidrig gilt. Es ist „transintelligibel“: außer Reichweite des menschlichen Verstandes. Der Irrationalismus (innerlich verwandt mit dem Agnostizismus) bezeichnet Instinkt, Intuition, Gefühl, Innerlichkeit, Liebe als die grundlegenden vorrationalen Erkenntnisquellen, deren Ergebnisse von der Ratio lediglich weiterbehandelt werden. Schelling () nannte das Irrationale „an den Dingen die unbegreifliche Basis der Realität, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren.“
Sören Kierkegarrd (1813-1855 ), dessen einziger Gegenstand sein Leben, seine Existenz, war, verstand auch sehr viel von der protestantischen Theologie. Sein Glaubensverständnis entsprach in etwa dem von Tertullian () und Luther () : „Ich glaube, weil es absurd ist. Denn glauben heißt den Verstand verlieren.“ Stark beeinflußt war Kierkegaard auch von Johann Georg Hamann (1730-1788 ).
Der „Satz vom (zureichenden) Grunde“ oder der „Satz des Grundes“ stellt für alles Bestehende einen Grund fest, aus dem er rechtmäßigerweise abgleitet werden bzw. gefolgert werden darf.
Erläuterung der Nietzsche-Tabelle () – Denk-Biographie von Friedrich Nietzsche (1844-1900 ):
1. „Stadium“ („Winter“ – 1844-1864) und seine 3 „Stufen“: Nietzsches frühe Kindheit (1. Stufe); Grund-Schulzeit (2. Stufe); Gymnasialzeit (3. Stufe), also bis zum Übergang von der Schule zur Universität (1864).
2. „Stadium“ („Frühling“ – 1864-1876) und seine 3 „Stufen“: Nietzsches Studienzeit von 1864 bis 1868 (4. Stufe); die Zeit vom Ende des Studiums bis zum Erscheinen der Geburt der Tragödie, also die Zeit von 1868 bis 1872 (5. Stufe); die Zeit vom Erscheinen der Geburt der Tragödie bis zum bis zum innerlichen „Bruch“ mit Richard Wagner, also die Zeit von 1872 bis 1876 (6. Stufe).
3. „Stadium“ („Sommer“ – 1876-1883) und seine 3 „Stufen“: Nietzsches innerlicher „Bruch“ mit Richard Wagner bis zum Erscheinen des 1. Teils von Menschliches, Allzumenschliches, also die Zeit von 1876 bis 1878 (7. Stufe); die Zeit vom Erscheinen des 1. Teils von Menschliches, Allzumenschliches bis zum Erscheinen des 2. Teils von Menschliches, Allzumenschliches, also die Zeit von 1878 bis 1880 (8. Stufe); die Zeit nach dem Erscheinen des 2. Teilsvon Menschliches, Allzumenschliches bis zum Erscheinen des 1. Teils von Also sprach Zarathustra, also die Zeit von 1880 bis 1883 (9. Stufe).
4. „Stadium“ („Herbst“ – 1883-1900) und seine 3 „Stufen“: Nietzsches 1. Teil von Also sprach Zarathustra bis zum Erscheinen des 4. Teils von Also sprach Zarathustra, also die Zeit von 1883 bis 1885 (10. Stufe); die Zeit nach dem Erscheinen des 4. Teils von Also sprach Zarathustra bis zu Nietzsches Kollaps, also die Zeit von 1885 bis 1889 (11. Stufe); die Zeit vom Kollaps bis zum Tod. also die Zeit von 1889 bis 1900 (12. Stufe)..
Fazit: Nietzsche ist zu früh zusammengebrochen und zu früh gestorben!
Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 36.
Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 38.
Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 40.
Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 41. (Vgl auch: Rüdiger Safranski, Schopenhauer, 1987 ). Nach Safranski ist „Schopenhauers Philosophie eine Metaphysik des ästhetischen Abstandnehmens und wird von Nietzsche in diesem Sinne für seine eigenen Visionen in Anspruch genommen. Im Unterschied zur traditionellen Metaphysik liegt der entlastende Aspekt von Schopenhauers ästhetischer Metaphysik nicht im Gehalt dessen, was da als »Wesen« hinter der erscheinenden Welt entdeckt wird. Diese Wesenserkenntnis dringt in der traditionellen Metaphysik zum fundierenden Gutsein der Welt durch, sie entdeckt die guten Gründe. Bei Schopenhauer aber ist der Wesensgehalt der Welt kein guter Grund, sondern ein Abgrund, der dunkle Wille, das quälende Sein, das Herz der Finsternis. »Versuche nur einmal, ganz Natur zu sein -es ist nicht auszuhalten« lautet eine Notiz von Schopenhauer. Die Entlastung liegt also nicht im »Was« des entdeckten Wesens, sondern im Akt der distanznehmenden Erkenntnis, im »Wie« also. Dieser ästhetische Weltabstand meint: auf die Welt hinblicken und dabei »schlechterdings nicht tätig darin verflochten sein«. Dieses ästhetische Abstandnehmen eröffnet einen Ort der Transzendenz, der leer bleiben muß. Kein Wollen, kein Sollen, nur noch ein Sein, das ganz zum Sehen geworden ist, zum »Weltauge«. Diesen archimedischen Punkt der Schopenhauerschen Welterleichterung nennt Nietzsche die verklärte Physis (in: Schopenhauer als Erzieher, 1,362). Als Nietzsche diesen Ausdruck prägt, hat er seine Theorie über die elementaren Lebensmächte des Dionysischen und Apollinischen bereits entwickelt. …. Anders als Schopenhauer ist Nietzsche stärker angezogen von der dionysischen Natur, er wird näher an den Abgrund herantreten wollen, weil er noch lockendere Geheimnisse darin vermutet und sich selbst für schwindelfrei hält. Aber diese Differenz ändert einstweilen noch nichts an seiner Bereitschaft, sich Schopenhauer zum Vorbild zu nehmen. Worin genau besteht diese Vorbildlichkeit? Sie besteht für Nietzsche in dem vollkommen selbstsicheren, herrischen Gestus dieses Philosophen, der, dem Geist seiner Zeit entgegen, als Richter des Lebens sein Urteil und seine Verurteilung ausspricht und mit seiner Philosophie der Verneinung zugleich als Reformator des Lebens (1,362) auftritt. Schopenhauer hat also etwas unternommen, das Nietzsche später die Umwertung der Werte () nennen wird. Gegen welche herrschenden Werte hat er Einspruch erhoben? Nietzsche beschreibt die eigene Gegenwart, wenn er jene Welt porträtiert, die Schopenhauer verurteilen und überwinden wollte. Diese Welt ist, so Nietzsche, von Menschen bevölkert, die mit einer Hast und Ausschließlichkeit an sich denken, wie noch nie Menschen an sich gedacht haben, sie bauen und pflanzen für ihren Tag, und die Jagd nach Glück wird nie grösser sein als wenn es zwischen heute und morgen erhascht werden muss: weil übermorgen vielleicht überhaupt alle Jagdzeit zu Ende ist. Wir leben die Periode der Atome, des atomistischen Chaos. (in: Schopenhauer als Erzieher, I,367). Wer wird aber das Bild des Menschen wieder aufrichten in jener atomistischen Revolution, die uns ins Thierische oder in das starr Mechanische (1,368) hinabführt? Drei solcher Bilder, die den Menschen an seine besseren Möglichkeiten erinnern könnten, zieht Nietzsche in Erwägung: den Menschen Rousseaus, den Menschen Goethes und endlich den Menschen Schopenhauers. Rousseau setzt auf Versöhnung mit der Natur und auf die Naturalisierung der Zivilisation. Goethes Mensch ist beschaulich und macht in weiser Resignation und in erlesenem Stil seinen Frieden mit den Lebensverhältnissen. Der Schopenhauersche Mensch schließlich hat entdeckt, daß alle Ordnungen des Menschen so eingerichtet sind, daß der tragische und sinnlose Grundzug des Lebens nicht gespürt wird. Das gewöhnliche Leben ist Zerstreuung. Obwohl es ihn in die Verzweiflung stürzen kann, verlangt der Schopenhauersche Mensch danach, den Schleier der Maja zu lüften, er nimmt das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit auf sich, und es dient ihm dazu, seinen Eigenwillen zu ertödten und jene völlige Umwälzung und Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen der eigentliche Sinn des Lebens ist (in: Schopenhauer als Erzieher, 1,371). Nietzsche nennt dies einen heroischen Lebenslauf (1,3 73). …. Tatsächlich kam sich Schopenhauer selbst so heroisch vor, wie ihn Nietzsche gesehen und geschätzt hat, als er ihn in seiner Abhandlung von 1874 einen Genius nannte. Worin besteht das Auszeichnende eines Genius? Nietzsches Antwort lautet: ein Genius in der Philosophie ist ein Denker, der den Wert des Daseins neu festsetzt, er ist ein Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge (in: Schopenhauer als Erzieher, 1,360).“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 41-43).
„Dionysos gegen den Gekreuzigten“, so endet Ecce homo – Nietzsches „grandiose Selbstinterpretation letzter Hand“ (Rüdiger Safranski) – und so unterschrieb Nietzsche auch seine letzten Briefe, die man später die „Wahnsinnszettel“ genannt hat. „Am 3. Januar 1889 verläßt Nietzsche seine Wohnung. Auf der Piazza Carlo Alberto beobachtet er, wie ein Droschkenkutscher auf sein Pferd einschlägt. Weinend wirft Nietzsche sich dem Tier an den Hals, es zu schützen. Vom Mitleid überwältigt bricht er zusammen. Wenige Tage später holt Franz Overbeck den geistesverwirrten Freund ab. () … Die Geschichte seines Denkens endet im Januar 1889. Danach erst beginnt die andere Geschichte seiner Wirkungen und Auswirkungen. …. Das Finale im Wahnsinn verlieh dem Werk rückwirkend eine dunkle Wahrheit: da war offenbar jemand ins Geheimnis des Seins so tief eingedrungen, daß er darüber den Verstand verloren hatte. …. Nicht nur durch Nietzsche, aber durch ihn vor allem bekam damals das Wort »Leben« einen neuen Klang, geheimnisvoll und verführerisch. Die akademische Philosophie jedoch verhielt sich zunächst spröde. …. Jenseits der akademischen Philosophie aber, im wirklichen geistigen Leben zwischen 1890 und 1914, begann, durch die Nietzsche-Rezeption angestoßen, der Siegeszug der Lebensphilosophie. »Leben« wurde zu einem Zentralbegriff wie vormals »Sein«, »Natur«, »Gott« oder »Ich«, ein Kampfbegriff auch, gegen zwei Fronten gerichtet. Zum einen gegen den halbherzigen Idealismus, wie ihn die Neukantianer auf deutschen Lehrstühlen, aber auch die bürgerlichen Moralkonventionen pflegten. …. Zum anderen richtete sich sie Parole »Leben« gegen einen seelenlosen Materialismus …. Nun war schon der neukantianische Idealismus eine Antwort auf diesen Materialismus und Positivismus gewesen, aber eine hilflose, behauptet die Lebensphilosophie. Man erweist dem Geist, wenn man ihn dualistisch vom materiellen Leben trennt, einen schlechten Dienst. So wird man ihn nicht verteidigen können. Vielmehr muß man den Geist in das materielle Leben selbst hineinbringen. …. »Leben« ist Gestaltenfülle, Erfindungsreichtum, ein Ozean der Möglichkeiten, so unabsehbar und abenteuerlich, daß wir kein Jenseits mehr brauchen. Es steckt genug davon im Diesseits. Leben ist Aufbruch zu fernen Ufern und doch zugleich das ganz Nahe, die eigene gestaltfordernde Lebendigkeit. »Leben« wird zur Losung der Jugendbewegung, des Jugendstils, der Neuromantik, der Reformpädagogik. Zarathustras Mahnung: Bleibet der Erde treu wurde hier mit Inbrunst gehört und befolgt. Auch die Sonnenanbeter und Nudisten konnten sich als Jünger des Zarathustra fühlen. Zu Nietzsches Zeit wollte die bürgerliche Jugend noch alt aussehen. Damals war Jugend eher ein Karrierennachteil. Es wurden Mittel empfohlen, um den Bartwuchs zu beschleunigen, und die Brille galt als Statussymbol. Man ahmte die Väter nach und trug den steifen Vatermörder, die Pubertierenden steckte man in Gehröcke und brachte ihnen den gemessenen Gang bei. Vormals galt »Leben« als etwas Ernüchterndes, die Jugend sollte sich daran die Hörner abstoßen. Nun aber ist »Leben« das Ungestüme und Aufbruchhafte und somit das Jugendliche selbst. Jugend ist kein Makel mehr, der versteckt werden muß. Im Gegenteil: das Alter muß sich nun rechtfertigen, es steht unter dem Verdacht, abgestorben und erstarrt zu sein. …. Die Lebensphilosophie versteht sich als eine Philosophie des Lebens im Sinne des Genitivus subiectivus: sie philosophiert nicht über das Leben, sondern es ist das Leben selbst, das in ihr philosophiert. Als Philosophie will sie ein Organ dieses Lebens sein; sie will es steigern, ihm neue Formen und Gestalten erschließen. Sie will nicht nur herausfinden, welche Werte gelten, sie ist unbescheiden genug, neue Werte schaffen zu wollen. Lebensphilosophie ist die vitalistische Variante des Pragmatismus. Sie fragt nicht nach der Nützlichkeit einer Einsicht, sondern nach ihrer schöpferischen Potenz. Für die Lebensphilosophie ist das Leben reicher als jede Theorie, deshalb verabscheut sie den biologischen Reduktionismus: sie will das Leben als lebendigen Geist. Diese Geisteshaltungen sind wesentlich von Nietzsche beeinflußt. …. Nietzsches Lebensphilosophie reißt das »Leben« heraus aus der deterministischen Zwangsjacke des späten 19. Jahrhunderts und gibt ihm seine eigentümliche Freiheit zurück. Es ist die Freiheit des Künstlers seinem Werk gegenüber. Ich will der Dichter meines Lebens sein, hatte Nietzsche verkündet, und es ist schon beschrieben worden, welche Folgen das für den Begriff der Wahrheit hatte. Wahrheit im objektiven Sinne gibt es nicht. Wahrheit ist die Art der Illusion, die sich als lebensdienlich erweist. Das ist Nietzsches Pragmatismus, der aber anders als der angelsächsische, auf einen dionysischen Lebensbegriff bezogen ist. Im (us-)amerikanischen Pragmatismus ist »Leben« eine Angelegenheit des common sense, Nietzsche aber ist, gerade auch als Lebensphilosoph, Extremist. Er verabscheut die angelsächsische Gewöhnlichkeit ebenso wie das darwinistische Dogma von »Anpassung« und »Selektion« im Lebenzprozeß. Für ihn sind das Projektionen einer utilitaristischen Moral, die glaubt, daß auch in der Natur die Anpassung mit einer Karriere belohnt wird. Für Nietzsche ist »Natur« das spielende Weltkind des Heraklit (). Natur formt Gestalten und zerbricht sie, ein unaufhörlicher schöpferischer Prozeß, in dem das machtvoll Vitale und nicht das Angepaßte triumphiert. Überleben ist noch kein Triumph. Leben triumphiert erst im Überfluß, wenn es sich verschwendet, wenn es sich auslebt.“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 330-336). Man kann es auch so sagen: Nietzsche besorgte den Höhepunkt der Lebensphilosophie, und seine unmittelbaren Nachfolger, besonders Freud () und Bergson (), verdankten Nietzsche, daß sie den Höhepunkt der Lebensphilosophie mehr und länger genießen konnten als Nietzsche selbst. Nietzsche hatte ihnen ihren Erfolg ermöglicht, er war ihr unmittelbarster Lehrer. Ebenso enorm war Nietzsches Einfluß auf die Kunst: Symbolismus, Jugendstil, Expressionismus, Dadaismus u.a. erhielten ihre Inspirationen von Nietzsche.
Ähnliche Wirkungen in der Musik: „Harry Graf Keßler hat prägnant formuliert, wie die Angehörigen seiner Generation Nietzsche »erlebt« haben: »Er sprach nicht bloß zu Verstand und Phantasie . Seine Wirkung war umfassender, tiefer und geheimnisvoller. Sein immer stärker anschwellender Widerhall bedeutete den Einbruch einer Musik in die rationalisierte und mechanisierte Zeit. …« (Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, S. 32). Daß mit Nietzsche der »Einbruch einer Musik« geschieht, empfanden auch manche Komponisten. Richard Strauss schuf 1896 sein sinfonisches Werk »Also sprach Zarathustra«, und Gustav Mahler wollte seine dritte Sinfonie ursprünglich »Fröhliche Wissenschaft« nennen. Architekten wie Paul Behrens und Bruno Taut, ließen sich von Nietzsche inspirieren und konstruierten Räume für freie Geister. Es ist nicht verwunderlich, daß man Nietzsche, der im »Zarathustra« geschrieben hatte: verloren sei uns der Tag, wo nicht Ein Mal getanzt wurde, auch auf die Tanzbüne brachte. Mary Wigmann entwickelte in den 1920er und 1930er Jahren einen sogenannten dionysischen Tanzstil; es wurden dabei Trommeln geschlagen und aus dem »Zarathustra« rezitiert. Mit dem Nietzsche-Erlebnis konnte man vieles anstellen. Bei manchen war es nur eine vorübergehende Mode. Andere kamen zeitlebens nicht davon los.“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 337-338). Übrigens haben in den USA der 1920er Jahre einige Männer in Chikago nur deswegen einen Jugendlichen getötet, weil sie sich für »Übermenschen« hielten.
Januar 1889: „Overbeck schafft Nietzsche nach Basel, wo er in die Nervenklinik eingewiesen wird. Die Mutter kommt und nimmt ihn mit nach Jena, in die dortige »Irren-Heil- und Pflegeanstalt«, wo Nietzsche ein Jahr bleibt. Im Mai 1890 nimmt ihn die Mutter nach Naumburg in ihre Pflege. Nach dem Tod der Mutter 1897 wird Nietzsche von der Schwester in die »Villa Silberblick« in Weimar geschafft.“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 388-389). Nietzsches Schwester, die mit ihrem Mann Förster in Paraguay eine deutsche Kolonie wiederbeleben wollte, kehrte 1893 aus Paraguay zurück, gründete noch zu Lebzeiten ihres Bruders das »Nietzsche-Archiv« in Weimar und, so Safranski: „veranlaßte die ersten Gesamtausgaben. Sie bewies dabei Willen zur Macht, denn sie versuchte ein bestimmtes Bild ihres Bruders in der Öffentlichkeit durchzusetzen …. Sie wollte aus Nietzsche einen deutsch-nationalen Chauvinisten, Rassisten und Militaristen machen, und bei einem Teil des Publikums, besonders bei den orthodoxen Marxisten ist ihr das gelungen, bis zum heutigen Tage. Aber auch den raffinierteren Bedürfnissen des Zeitgeistes wußte sie entgegenzukommen. In der »Villa Silberblick« in Weimar, wo seit 1897 das Nietzsche-Archiv untergebracht war, hatte die Schwester ein Podium herrichten lassen, wo der vor sich hindämmernde Nietzsche einem Publikum als Märtyrer des Geistes vorgeführt wurde. Die Schwester war Wagnerianerin genug, um dem Schicksal ihres Bruders erhaben-schaudervolle Effekte abgewinnen zu können. In der »Villa Silberblick« wurde … ein metaphysisches Endspiel gegeben. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Thomas Carlyle – der in diesen Kreisen geschätzt war, aber bei Nietzsche nicht hoch im Kurs gestanden hatte – beschrieben, worum es bei solchen Endspielen geht: »Wisse, daß dieses Universum das ist, was es zu sein vorgibt: ein Unendliches. Versuche nie im Vertrauen auf deine logische Verdauungskraft, es zu verschlingen; sei vielmehr dankbar, wenn du durch geschicktes Einrammen dieses oder jenes Pfeilers in das Chaos verhinderst, daß es dich verschlingt« (Thomas Carlyle, Helden und Heldenverehrung, S. 83). Nietzsche war also verschlungen worden, er hatte sich zu weit vorgewagt. Er hatte sich ans Ungeheure des Lebens verloren. () ….“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 331-332). Nietzsche starb am 25. August 1900.
Sloterdijks Sphärenphilosophie (des Raumes): Sphären I (Blasen), 1998; Sphären II (Globen), 1999; Sphären III (Schäume), 2004.
Kein Zufall, daß im „Glaszeitalter“ () das „Glashaus“ auch zum Titel einer TV-Sendung von Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski – mit jeweils zwei Gästen – werden konnte: „Im Glashaus – Das Philosophische Quartett“.

Spenglers Hauptwerk (Der Untergang des Abendlandes, 1917) ist auch eine Absage an die immer noch übliche Periodisierung Altertum, Mittelalter, Neuzeit mit ihrer teleologischen Grundkonzeption sowie ihrer Vernachlässigung der nicht-westlichen Kulturen. Kulturen sind überindividuelle Wesenheiten, die Spengler als „Organismen“ auffaßte; sie durchlaufen somit jeweils einen Zyklus – mit Schicksal!
Zum Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit: „Ich nenne dies dem heutigen Westeuropäer geläufige Schema, in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt alles Weltgeschehens ziehen, das ptolemäische System der Geschichte und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt (), in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon (Mesopotamien/Sumer), China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen (Maya/Inka) Kultur – Einzelwelten des Werdens (), die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großzügigkeit der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen – eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 24 ).
Vgl. Werke von Henrik Ibsen (1828-1906 ).
Vgl. Werke von Christian Friedrich Hebbel (1813-1863 ) und Henrik Ibsen (1828-1906 ).
Vgl. Oswald Spengler (1880-1936 ), Der Mensch und die Technik, 1931, S. 14 und ff. () und Jahre der Entscheidung, 1933, S. 14 ().
„Denn der Mensch ist ein Raubtier. Feine Denker wie Montaigne () und Nietzsche () haben das immer gewußt. Die Lebensweisheit in alten Märchen und Sprichwörtern aller Bauern- und Nomadenvölker, die lächelnde Einsicht großer Menschenkenner – Staatsmänner, Feldherren, Kaufleute, Richter – auf der Höhe eines reichen Lebens, die Verzweiflung gescheiterter Weltverbesserer und das Schelten erzürnter Priester waren weit davon entfernt, das zu verschweigen oder leugnen zu wollen.“ (Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik. – Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, 1931, S. 14 und ff. ). „Der Mensch ist ein Raubtier. Ich werde es immer wieder sagen. All die Tugendbolde und Sozialethiker, die darüber hinaus sein oder gelangen wollen, sind nur Raubtiere mit ausgebrochenen Zähnen … Seht sie doch an: sie sind zu schwach, um ein Buch über Kriege zu lesen, aber sie laufen auf der Straße zusammen, wenn ein Unglück geschehen ist, um ihre Nerven an dem Blut und Geschrei zu erregen, und wenn sie auch das nicht mehr wagen können, dann genießen sie es im Film und in den illustrierten Blättern. (). Wenn ich den Menschen ein Raubtier nenne, wen habe ich damit beleidigt, den Menschen – oder das Tier? Denn die großen Raubtiere sind edle Geschöpfe in vollkommenster Art und ohne die Verlogenheit menschlicher Moral aus Schwäche.“ (Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, 1933, S. 14 ).
„Sie schreien: Nie wieder Krieg ! – aber sie wollen den Klassenkampf. Sie sind entrüstet, wenn ein Lustmörder hingerichtet wird, aber sie genießen es heimlich, wenn sie den Mord an einem politischen Gegner erfahren. Was haben sie gegen die Schlächtereien der Bolschewisten einzuwenden gehabt?“ (Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, 1933, S. 14 ).
Erläuterung der Spengler-Tabelle () – Denk-Biographie von Oswald Spengler (1880-1936 ):
1. „Stadium“ („Winter“ – 1880-1899) und seine 3 „Stufen“: Spenglers frühe Kindheit (1. Stufe); Grund-Schulzeit (2. Stufe); Gymnasialzeit (3. Stufe), also bis zum Übergang von der Schule zur Universität (1899).
2. „Stadium“ („Frühling“ – 1899-1917) und seine 3 „Stufen“: Spenglers Studienzeit von 1899 bis 1903 (4. Stufe); die Zeit von der Promotion bis zum Bruch mit dem Romantizismus, also die Zeit von 1903 bis 1911 (5. Stufe); die folgenden 6 Jahre bis zum fertigen 1. Band des Hauptwerkes Der Untergang des Abendlandes, also die Zeit von 1911 bis 1917 (6. Stufe).
3. „Stadium“ („Sommer“ – 1917-1929) und seine 3 „Stufen“: Spenglers 1. Band des Hauptwerkes Der Untergang des Abendlandes bis zum Erscheinen des 2. Bandes, also die Zeit von 1917 bis 1922 (7. Stufe); die folgenden 4 Jahre bis zum vorübergehenden Gedächtnisverlust (durch Gehirnschlag), also die Zeit von 1922 bis 1927 (8. Stufe); die Zeit der Erholung bis zum Hamburger Vortrag (Deutschland in Gefahr), also die Zeit von 1927 bis 1929 (9. Stufe).
4. „Stadium“ („Herbst“ – 1929-1936) und seine 3 „Stufen“: Spenglers Arbeit am Hamburger Vortrag (Deutschland in Gefahr) bis zum Erscheinen dieses Vortrags als Buch (Jahre der Entscheidung), also die Zeit von 1929 bis 1933 (10. Stufe); die Zeit von 1933 bis 1934 (11. Stufe); die Zeit der inneren Emigration, also die Zeit von 1934 bis 1936 (12. Stufe).
Fazit: Spengler ist zu früh gestorben!
Erläuterung der Heidegger-Tabelle () – Denk-Biographie von Martin Heidegger (1889-1976 ):
1. „Stadium“ („Winter“ – 1889-1909) und seine 3 „Stufen“: Heideggers frühe Kindheit (1. Stufe); Grund-Schulzeit (2. Stufe); Gymnasialzeit (3. Stufe), also bis zum Übergang von der Schule zur Universität (1909).
2. „Stadium“ („Frühling“ – 1909-1927) und seine 3 „Stufen“: Heideggers Studienzeit von 1909 bis 1913 (4. Stufe); die Zeit von der Promotion bis zum Bruch mit dem Katholizismus, also die Zeit von 1913 bis 1919 (5. Stufe); die folgenden 8 Jahre bis zur Veröffentlichung seines Hauptwerkes Sein und Zeit, also die Zeit von 1919 bis 1927 (6. Stufe).
3. „Stadium“ („Sommer“ – 1927-1945) und seine 3 „Stufen“: Heideggers veröffentlichtes Hauptwerk Sein und Zeit und die Folgen bis zum Beginn des Rektorats, also die Zeit von 1927 bis 1933 (7. Stufe); die Zeit vom Beginn des Rektorats bis zum Beginn des 2. Weltkriegs, also die Zeit von 1933 bis 1939 (8. Stufe); die Zeit des 2. Weltkriegs, also die Zeit von 1939 bis 1945 (9. Stufe).
4. „Stadium“ („Herbst“ – 1945-1965 [1976]) und seine 3 „Stufen“: Heideggers Lehrverbot von 1945 bis 1949 (10. Stufe); die Zeit von 1949 bis 1953 (11. Stufe); die Zeit, in der Heidegger noch einmal eine weitere große und letzte Karriere erlebte (schließlich wohl auch seine zweite Geburt, die man als seine denkerische Geburt, sein Zur-Welt-Kommen bezeichnen darf!), also von 1953 bis 1965 bzw. 1976 (12. Stufe).
5. „Stadium“ („Winter“ – 1965-1976), wenn man es berücksichtigen will, betrifft die Zeit von 1965 bis 1976 (13. Stufe) – eine Zeit, die man als die Zeit nach jener zweiten Geburt (seine Denkergeburt, sein Zur-Welt-Kommen) bezeichnen kann, die Heidegger wohl tatsächlich auch erlebt hat.
Edmund Husserl (1859-1938 ), Phänomenologie-Philosoph und seit 1916 Professor in Freiburg (Breisgau), war für Martin Heidegger (1889-1976 ) der erste Lehrer, dessen Nachfolger er wurde, von dem er sich jedoch immer mehr entfernte. Spätestens seit Heideggers (in Sein und Zeit, 1927 ) gestellter Frage nach dem Sinn von Sein gingen Husserl und Heidegger getrennte Wege.
Die von Martin Heidegger (1889-1976 ) begründete Existenzial-Ontologie heißt auch „Fundamentalontologie“, weil sie das Fundament – das Bedenken des Seins – an die Ontologie liefert. Heidegger machte aus diesem Fundament deshalb eine Fundamentalontologie, weil die Ontologie lediglich das Bedenken des Seienden als Seienden untersucht. Heidegger kritiserte an der abendländischen Metaphysik, daß sie im Verlauf ihrer Geschichte immer nur nach dem Seienden als Seienden gefragt habe; zwar habe sie diese Frage aus der Offenbarkeit des Seins gestellt, aber die Offenheit des Seins selbst sei nie ausdrücklich theamatisiert oder als solche bedacht worden. „Die entscheidende Erfahrung meines Denkens – und das heißt zugleich für die abendländische Philosophie: die Besinnung auf die Geschichte des abendländischen Denkens – hat mir gezeigt, daß im bisherigen Denken eine Frage niemals gestellt wurde, nämlich die Frage nach dem Sein. Und diese Frage ist deshalb von Bedeutung, weil wir im abendländischen Denken das Wesen des Menschen dadurch bestimmen, daß er im Bezug zum Sein steht und existiert, indem er dem Sein entspricht.“ (Heidegger, in: Walter Rüdel & Richard Wisser, Martin Heidegger – Im Denken unterwegs … [* Film], 1975).
„Unterwegs zur Sprache. Und das ist das einzige Geheimnis Heideggers“ (), so der Heidegger-Übersetzer Jean Beaufret (in: Martin Heidegger – Im Denken unterwegs …, ein Film von Walter Rüdel & Richard Wisser, 1975): „Übersetzen ist für Heidegger kein Transport eines Pakets aus einem Idiom zu einem anderen, sondern umgekehrt: ein Übersetzen des Denkens selber durch einen Strom an das andere Ufer, nämlich zu dem, was schon zur Sprache gekommen war.“ (). Jean Beaufret hatte übrigens – wie er selbst berichtet – ausgerechnet am 4. Juni 1944, als die Landung der Alliierten in der Normandie gemeldet wurde, sein Heidegger-Erlebnis: zum ersten Mal hatte er ihn verstanden! Und das war für ihn ein so glücklicher Moment, daß im Vergleich dazu die Freude über die sich abzeichnende Befreiung Frankreichs verblaßte. Beaufret schrieb einen Brief an Heidegger: „Ja, mit Ihnen ist es die Philosophie selbst, die sich entschlossen von jeder Platitüde befreit und das Wesentliche ihrer Würde bezieht.“ Daraufhin lud Heidegger Beaufret zu einem Besuch ein, der im September 1946 stattfand, und damit begann die intensive, lebenslange Freundschaft zwischen den beiden. Heideggers Brief Über den Humanismus () ist eine Antwort auf Beaufrets Frage: „Auf welche Weise läßt sich dem Wort Humanismus ein Sinn zurückgeben?“
Martin Heidegger () auf die Frage zur „Conditia Humana“ (im Film-Interview: Walter Rüdel & Richard Wisser, Martin Heidgger im Denken unterwegs, 1975). Sicher ist jedenfalls, daß der „Humanismus … die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt.“ (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 327). Außerdem hatte Heidegger schon in einer seiner Freiburger Vorlesungen gesagt: „Die Wissenschaft denkt nicht“, und das bedeutet: „Die Wissenschaft bewegt sich nicht in der Dimension der Philosophie, sie ist aber, ohne daß sie es weiß, auf diese Dimension angewiesen. Zum Beispiel: Die Physik bewegt sich im Bereich von Raum, Zeit und Bewegung; was Bewegung, was Raum, was Zeit ist, kann die Wissenschaft als Wissenschaft nicht entscheiden. Man kann nicht mit physikalischen Methoden sagen, was die Physik ist. Das kann man nur philosophierend sagen.“ (Zitat laut Film-Interview, 1975). „Die Wissenschaft denkt nicht“ – dieser Satz, so Heidegger, „ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung“. Diese ausgesprochene „Gedankenlosigkeit ist verbunden mit der Seinsvergessenheit“. (Ebd.).
Dasein ist Sorge – z.B. „Besorgen“ () in der Beziehung zur Umwelt und „Fürsorge“ in der Beziehung zu den Mitmenschen -, deren Wesen das Sich-vorweg-schon-sein in der Welt ist. Die Sorge ist a priori, d.h. sie liegt immer schon in jedem tatsächlichen Verhalten vor. Zum Dasein gehört aber auch der Tod. Den Tod übernimmt das Dasein, sobald es ist. Das Geworfensein () in den Tod enthüllt sich in dem Phänomen der Angst – womit wir wieder am Anfang, d.h. vor dem Nichts stehen. Das Dasein ist ein Sein zum Tode, aber nicht ein Sein in der Zeit, sondern ein Sein als Zeit. (Vgl. Zeitlichkeit ). Nach dem 2. Weltkrieg überholte Heidegger diesen Ansatz so, daß das Dasein als „Seinsverständnis“ nicht autonom, daß die Existenz als „Eksistenz“ (Ek-sistenz) zu begreifen sei. „Sein Wesen ist nicht Selbststand, sondern Ausstand, Eksistenz, mit der Aufgabe, dem Sein gegenüber gehorsam zu sein, um ihm eine beschränkte und ungenügende, aber geschichtlich notwendige und geforderte Stätte zu bereiten, die Ankunft des Seins geschehen zu lassen.“ (Max Müller, Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, 1958). Es ist nicht mehr das Dasein selbst, das sich entwirft und das Sein schafft, sondern das Sein lichtet sich im Dasein. Es schickt dieses Dasein in die „Ek-sistenz“ (das Heraus-stehen). Umgeben von Wald steht es gleichsam in einer Lichtung oder Öffnung. (). Heidegger sagte: „Das Denken bringt in seinem Sagen das ungesprochene Wort des Seins zur Sprache.“ (Zur Sprache kommen ; vgl. „Unterwegs zur Sprache“ ). Dieses „wesentliche Denken“ ist ein „Ereignis des Seins“, es hält sich fern von jeder fertigen Logik, von jeder Kunst des Denkens, von der es nur dazu verführt wurde, über sich selbst nachzudenken anstatt seiner Bestimmung zu folgen: das anwesende Sein aus seiner Verborgenheit ans Licht zu bringen. Das Denken des späten Heidegger ist Danken; ein behutsames Entbergen im Unterschied zu einem rücksichtslosen Entbergen und Gebären, wie Heidegger das im seinsvergessenen technischen, auf Machbarkeit setzenden Denken sah, für das die Natur zum „Gestell“ wird. („Ge-stell“). Für Heideggers höriges Denken ist sie ein Uterus. In seinem Buch „Das Ding“ (1954 ) ist der Prototyp des Dings ein Krug, ein himmlisch Umschließendes, also: Uterus, Höhle, gefaßte Leere, Lichtung.
„Besorgen“ ist nach Heidegger (1889-1976 ) das alltägliche und angemessene Verhalten den Dingen gegenüber, deren Sein darin besteht, daß sie zu irgend etwas dienlich sind, daß durch sie irgend etwas ausgeführt, erledigt, besorgt werden kann. Heidegger charakterisierte dieses Verhalten näher als Umsicht im Gegensatz zum bloßen Hinsehen („Begaffen“), dem sich das Sein der Dinge nicht erschließt. Die natürliche Weise, in der dem anderen begegnet wird, nannte Heidegger „Fürsorge“. Sorge () steht im Zentrum von Sein und Zeit (1927 ), doch auch schon in Heideggers Vorlesung Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles (1921) heißt es: „Leben ist Sorgen“. Sorgen und Besorgen sind nahezu identisch mit Handeln überhaupt. Indem ich besorgend handle, bin ich mir selbst „vorweg“. Ich habe etwas „vor mir“ (räumlich und zeitlich!), um das ich mich bekümmere, das ich verwirklichen will; oder ich habe etwas „hinter mir“ (räumlich und zeitlich!) und will es darum bewahren oder loswerden. Das Besorgen ist also umgeben von Räumlichkeit und Zeitlichkeit (). Jedes Handeln ist janusköpfig: ein Blick in die Zukunft und ein Blick in die Vergangenheit. Im Besorgen ist man nicht nur sich selbst voraus, im Besorgen geht man auch sich selbst verloren. Die Welt des Besorgten deckt mich quasi zu. Ich bin mir selbst verborgen, ich „lebe mich fest“ in den zu besorgenden Bezügen. „Im Sorgen riegelt sich das Leben gegen sich selbst ab und wird sich in der Abriegelung gerade nicht los. Im ständig neuen Wegsehen sucht es sich immer ….“ (Martin Heidegger, ebd., 1921, S. 107). Für diesen Vorgang, daß das Leben „aus sich selbst hinauslebt“ und sich in dem Besorgten „festlebt“ und bei alledem sich selbst „entgeht“, wählte Heidegger den Terminus „Ruinanz“ (mit der Assoziation: „Ruine“, „ruinös“), im engeren Sinne: „Sturz“. Sturz, Absturz; doch das „faktische Leben“ merkt gar nicht, daß es stürzt. Die Philosophie erst verdeutlicht die Lage, die gar keine ist, sondern ein Fall. „Das Wohin des Sturzes ist nicht ein ihm Fremdes, es ist selbst vom Charakter des faktischen Lebens und zwar ›das Nichts des faktischen Lebens‹“ (Martin Heidegger, ebd., 1921, S. 145). Das faktische Leben ist der Fall. Das „faktische Leben“ wird zu einem Nichts, sofern es sich im „ruinanten Dasein“ verliert. Heidegger variierte mit seinem Gedanken vom „Nichtvorkommen (des faktischen Lebens) im ruinanten Dasein“ (Ebd., 1921, S. 148) den Gedanken von der Entfremdung, der schon bei Hegel (1770-1831 ) eine sehr geschichtsmächtige Rolle gespielt hatte: Selbstverwirklichung als Selbstentwirklichung bzw. Selbstverkümmerung. Heidegger wußte: Die „Grundrichtung des philosophischen Fragens ist dem befragten Gegenstand, dem faktischen Leben, nicht von außen aufgesetzt und aufgeschraubt, sondern ist zu verstehen als das explizite Ergreifen einer Grundbewegtheit (= Existenz) des faktischen Lebens, das in der Weise ist, daß es in der konkreten Zeitigung seines Seins um sein Sein besorgt ist, und das auch dort, wo es sich selbst aus dem Weg geht“ (Martin Heidegger, ebd., 1921, S. 238). Das Denken des Daseins muß sich in seinen Vollzugssinn stellen. Philosophie ist besorgtes Leben in geistesgegenwärtiger Aktion. Diese äußerste Möglichkeit der Philosophie ist „das Wachsein des Daseins für sich selbst“ (Martin Heidegger, Ontologie, 1923, S. 15), was vor allem heißt, es dabei zu ertappen, „wo es sich selbst aus dem Weg geht“ (Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretation …, 1921, S. 238). Die „Verfallsgeneigtheit“ durchsichtig machen!
Zuhandenheit ist nach Heidegger (1889-1976, in: Sein und Zeit, 1927 ) die Seinsart der menschlichen Beziehung zum „Zeug“ (Gegenstände, z.B. Strick-Zeug, Näh-Zeug u.s.w. für das alltägliche „Besorgen“ ). Für die Zuhandenheit ist ihre Unauffälligkeit charakteristisch, was zur Folge hat, daß sich ihr Wesen namentlich dann enthüllt, wenn ein Werk-„Zeug“ oder dergleichen nicht zuhanden ist. Die Zuhandenheit steht im Gegensatz zur bloßen Vorhandenheit jener Dinge, die uns direkt nichts angehen. (Vgl. Vorhandenheit). „In den Zeug-Analysen von Sein und Zeit hat sich Martin Heidegger als erster Chirotopologe hervorgetan: Wir verstehen darunter einen Interpreten des Sachverhalts, daß Menschen als Hand-Besitzer und nicht als Geister ohne Extremitäten existieren. Am Heidegger-Menschen ist Beobachtern aufgefallen, daß er kein Genital zu besitzen scheint und wenig Gesicht – um so besser ist sein Ohr ausgebildet, um den Ruf der Sorge () zu vernehmen. Am vorzüglichsten ist seine Ausstattung mit Händen, weil Heideggersche Hände von einem Ohr, dem durch die Sorge eingesagt wird, von Fall zu Fall erfahren, was zu tun ist: Von diesem Ganz-Ohr-ganz-Hand-Menschen wird zum ersten Mal in der Geschichte des Denkens expressis verbis ausgesprochen, daß ihm die dinglichen Mitbewohner der Welt, in der er lebt, zeugförmig zuhanden sind. In Heideggers sorge-erschlossener Welt bildet Zuhandenheit einen Grundzug dessen, was den Eksistierenden im Nähe-Bereich umgibt. Zeug ist, was in der Reichweite der klugen Hand, im Chirotop, vorkommt: das Wurf-Zeug (), das Schneide-Zeug, das Schlag-Zeug, das Näh-Zeug, das Grab-Zeug, das Bohr-Zeug, das Eß-und-Koch-Zeug, das Schlaf-Zeug, das Ankleide-Zeug. Der Heideggersche Mensch ist hinsichtlich all dieser Dinge im Bilde, welche Aufgaben durch sie seiner Hand gestellt sind. Was wäre ein Kochlöffel, wenn er nicht den Befehl zum Umrühren gäbe; was ein Hammer, wenn er nicht das Handlungsmuster »wiederholt auf die Stelle schlagen« aufriefe? Die helle Hand läßt sich das gegebenenfalls nicht zweimal sagen. Für den Ernstfall kommt das Töte-Zeug hinzu, für den Nicht-Ernstfall das Spiel-Zeug, für den Bündisfall das Schenk-Zeug, für den Unfall das Verbandszeug, für den Todesfall das Bestattungszeug, für den Bedeutungsfall das Zeig-Zeug, für den Liebesfall das Schönzeug.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 364-365).
„An erster Stelle ist das Wurf-Zeug zu nennen, weil es seinem stetigen Gebrauch zu verdanken ist, wenn sich die Hominiden vom akuten Umweltdruck ein Stück weit emanzipieren konnten. Indem die werdende Menschenhand, getragen von einem für die Graslandschaft umgeformten ehemaligen Baumaffenarm, es lernt, zum Werfen geeignete Objekte, in der Regel kleinere und handgroße Steine, aufzunehmen und nach Bringern unwillkommener Begegnungen oder Berührungen zu werfen – seien es größere Tiere, seien es fremde Artgenossen -, gewährt sie den Hominiden zum ersten Mal eine Alternative zur Kontaktvermeidung durch die Flucht. Als Werfer erwerben die Menschen ihre bis heute wichtigste ontologische Kompetenz – die Fähigkeit zur actio in distans. Durch das Werfen werden sie zu Tieren, die Abstand nehmen können. Aufgrund des Abstands entsteht die Perspektive, die unsere Projekte beherbergt. Die ganze Unwahrscheinlichkeit menschlicher Wirklichkeitskontrolle ist in die Gebärde des Werfens zusammengezogen. Daher bildet das Chirotop das ursprüngliche und eigentliche Handlungsfeld, in dem Akteure gewohnheitsmäßig ihre Wurfergebnisse beobachten. Hier kommt ein Verfolger-Auge ins Spiel, das prüft, was die Hände zustande bringen; Neurobiologen wollen sogar eine angeborene Fähigkeit des Gehirns nachgewiesen haben, auf fliehende Objekte zu zielen. Das Chirotop ist eigentlich ein Video-Chirotop, eine von Blicken überwachte Sphäre von Handlungserfolgen. Was Heidegger die Sorge () nannte, bezeichnet der Sache nach zuerst die aufmerksame Ungewißheit, mit der ein Werfer prüft, ob sein Wurf ins Ziel geht. Treffer () und Fehlwürfe sind praktischer Wahrheitsfunktionen, die beweisen, daß eine Intention in die Ferne zu Erfolg oder Mißerfolg führen kann – mit einer unklaren Mitte für einen dritten Wert. Beim gelungenen Wurf wie beim Fehlwurf gilt, daß Wahres und Falsches, die logischen Erstgeborenen des Abstands, sich selber anzeigen.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 366-367).
Vorhandenheit ist nach Heidegger (1889-1976, in: Sein und Zeit, 1927 ) ein defizienter Modus der durch Besorgen () erschlossenen Zuhandenheit () der umwelthaften Dinge. Als lediglich vorhanden (anwesend) und nicht zuhanden erscheinen Dinge, die uns nichts angehen, mit denen wir nicht umgehen, mit denen wir nichts zu tun haben (außer: bei Störungen, von außen oder explizit vom Bewußtsein her). Ihr Wesen und ihre Wirklichkeit bleiben uns verborgen, wir erfahren nicht, welche Bewandtnis es mit ihnen, was es mit ihnen auf sich hat. Wir betrachten sie darum oft als bloße Objekte der Naturwissenschaft. Die Verwandlung der Zuhandenheit in die Vorhandenheit bedeutet, daß Dinge (Zuhandenes) zu Gegenständen (Vorhandenes) werden. Die Verwandlung der Welt in bloß Vorhandenes bedeutet Seinsvergessenheit (), und die bewußte Bewahrung des Lebensraumes des Zuhandenen bedeutet Seinsverbundenheit, verstanden als Nähe oder Wohnen bei den Dingen () – die entsprechende Haltung: Gelassenheit. Heidegger zufolge ist die Grundstruktur des Umgehens mit der Welt die Sorge () – mit umfassender Bedeutung: Sorge ist alles, Dasein, gelebte Zeitlichkeit (), ein Grundmerkmal der Conditio humana.
Zeitlichkeit bedeutet allgemein die Grundform jeder bewußten Existenz und Geschichte, laut Heidegger () zudem Zukunft, insofern sie die „Gewesenheit“ enthält und auch die Gegenwart ausmacht, da das Dasein nicht im Jetzt verweilt, sondern sich selbst immer schon vorweg ist. Diese Zeitlichkeit ist das Wesen der Sorge. (). Die Erfassung des Strukturganzen des Daseins erschließt sich in der Beantwortung der Frage, was die Einheit des Daseins in der Sorge erst ermöglicht. Dies ist laut Heidegger die Zeitlichkeit. Die vorlaufende Entschlossenheit, mit der sich das Dasein auf seine Möglichkeiten hin entwirft, ist nur möglich durch das Phänomen der Zukunft, wodurch das Dasein auf sich selbst zukommen kann. Nur aber indem sich das Dasein übernimmt, „wie es je schon war“, also in seinem Gewesensein, kann es zukünftig auf sich so zukommen, daß es auf sich selbst zurückkommt. Und nur in seinem Gegenwärtigsein kann ihm Umwelt begegnen und handelnd ergriffen werden. Die Zeitlichkeit als „gewesend-gegenwärtigende Zukunft“ ermöglicht das Ganzseinkönnen und ist der Sinn der Sorge. Im Modus der Eigentlichkeit ist die Zeitigung des Daseins: Vorlaufen (Zukunft), Augenblick (Gegenwart), Wiederholung (Gewesenheit). Zeitlichkeit hat durchaus Ähnlichkeit mit Tödlichkeit: „Das Dasein … weiß um seinen Tod …. Es ist ein Vorlaufen des Daseins zu seinem Vorbei.“ Dieses „Vorbei“ bemerken wir schon jetzt und hier bei jedem Tun und Erleben. Der Lebensgang ist immer ein Vergehen des Lebens. Als dieses Vergehen erfahren wir Zeit an uns selbst. Deshalb ist dieses Vorbei nicht das Ereignis des Todes am Ende unseres Lebens, sondern die Art und Weise des Lebensvollzugs: „das Wie meines Daseins schlechthin“, so Heidegger. Laut Heidegger ist die Zeit weder im Subjekt noch im Obkjekt, weder „innen“ noch „außen“, sie „ist“ früher als jede Subjektivität und Objektivität, weil sie die Bedingung der Möglichkeit selbst für dieses „früher“ darstellt. Etwas anderes als Zeitlichkeit ist der „Zeitgeist“ – laut Hegel (1770-1831) der in der Geschichte sich entfaltende „objektive Geist“ (), der in allen einzelnen Erscheinungen eines Zeitalters wirksam ist; der Inbegriff von Ideen, die für eine Zeit charakteristisch sind. Auch das „Zeitbewußtsein“, das subjektive Erleben der Zeit, ist etwas anderes als die Zeitlichkeit, die laut Heidegger quasi Subjektivität und Objektivität aufhebt. – Die Physik lehrt, daß es ein objektive Zeit nicht gibt; was so genannt wird ist in Wirklichkeit nur eine Koordinate im vierdimensionalen Kontinuum: eine Weltlinie, die forml als Entzeitlichung der Welt verstanden wird. Im Sinne der Physik ist die Zeitlichkeit eine „Weltlinie“, d.h. die Kurve im Riemannschen Kontinuum (), die die Bewegung eines Punktes im vierdimensionalen Raum-Zeit-Koordiantensystem darstellt. Und da es im mathematischen Formalismus der Welt, wie sie der Mathematiker Hermann Minkowski (1864-1909) auffaßte, eine Zeit außerhalb des Kontinuums nicht gibt, kann in der dadurch formal „entzeitlichten“ Welt auch nichts geschehen. „Das einzige Realgeschehen ist die nacheinander erlebte Wahrnehmung durch ein das Kontinuum »längs der Weltlinie seines Leibes« abwanderndes Subjekt. Der physikalischen Welt, dem Wahrnehmungsobjekt kommt“ bei dieser Deutung „keine Zeitlichkeit mehr zu, in ihr geschieht nichts, sie ist schlechthin“ (Hermann Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, 1927). Vgl. hierzu auch die Relativitätstheorie (), Spenglers Thesen zum Zeitproblem (), zur Relativitätstheorie und zu imaginären Zeiteinheiten () sowie Heideggers Daseinsanalyse (Existenz[ial]analyse).
Martin Heidegger (1889-1976), Die Grundbegriffe der Metaphysik – Vorlesung im Wintersemester 1929/30.
Erläuterung der Sloterdijk-Tabelle () – Denk-Biographie von Peter Sloterdijk (*1947 ):
1. „Stadium“ („Winter“ – 1947-1968) und seine 3 „Stufen“: Sloterdijks frühe Kindheit bis (1. Stufe); Grund-Schulzeit (2. Stufe); Reise- und Lehrjahre und Gymnasialzeit (3. Stufe), also bis zum Übergang von der Schule zur Universität (1968).
2. „Stadium“ („Frühling“ – 1968-1983) und seine 3 „Stufen“: Sloterdijks Studienzeit von 1968 bis 1974 (4. Stufe); die Zeit vom Ende des Studiums bis zum Bruch mit einigen Traditionen der abendländische Kultur und Hinwendung zur indischen Kultur, also die Zeit von 1974 bis 1978 (5. Stufe); der zweijährige Aufenthalt in Indien, die Rückkehr und freie Schriftstellerei bis zur Veröffentlichung seiner Kritik der zynischen Vernunft, also die Zeit von 1978 bis 1983 (6. Stufe).
3. „Stadium“ („Sommer“ – 1983-2006) und seine 3 „Stufen“: Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft und die Auswirkungen bis zum „Fall der Mauer“, also die Zeit von 1983 bis 1989 (7. Stufe); vom „Fall der Mauer“ bis zur Elmauer Rede (Regeln für den Menschenpark) als dem Beginn der sogenannten „Slotedijk-Debatte“ () also die Zeit von 1989 bis 1999 (8. Stufe); von der sogenannten „Slotedijk-Debatte“ bis zum Erscheinen des Buches Zorn und Zeit, also die Zeit von 1999 bis 2006 (9. Stufe).
4. „Stadium“ („Herbst“ – 2006- ? ) und seine 3 „Stufen“: Sloterdijks Buch Zorn und Zeit bis ?, also die Zeit von 2006 bis ? (10. Stufe); … die Zeit von ? bis ? (11. Stufe); … die Zeit von ? bis ? (12. Stufe).
Gewinner und Verlierer, Sieger und Besiegte, Sieg und Niederlage: Der Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ist laut Peter Sloterdik (*1947) „der Unterschied, der uns am meisten fasziniert, der größte Unterschied, der überhaupt zwischen Menschen existieren kann, vielleicht ein Unterschied, der noch größer ist als der von Leben und Tod.“ (Peter Sloterdijk, Fußball als Daseinsform , in: Das Philosophische Quartett, [ZDF], 2006). Menschen sind Meister – abendländische Menschen sogar Weltmeister – in der „Herstellung eines Unterschieds, der einen Unterschied macht.“ (Peter Sloterdijk, ebd., 2006).
Peter Sloterdijk (*1947), Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005. Dieser Komfort-und-Konsum-Kristallpalast () ist das modern gewordene „Treibhaus“ des Abendlandes (des „Westens“) – ein exklusiver Weltinnenraum für heute ungefähr 1,25 Milliarden Menschen (20% der Weltbevölkerung). Das große Interieur, so heißt der 2. Teil des Buches, beginnt mit einem Zitat von Arthur Schopenhauer (): „Wie aber auf der Erdkugel überall oben ist, so ist auch die Form alles Lebens Gegenwart ….“ (). Mehr Gegenwart, weniger Geschichte – so könnte man die Moderne aus der Sicht der Gelangweilten beschreiben, aber gerade deshalb erkennt man ja m.E. die Moderne auch am Historismus, wenn auch der Historismus manchen albern erscheint, wie Sloterdijk im Anschluß an Friedrich Nietzsche () meint. Laut Sloterdijk befinden wir uns seit Ende des 20. Jahrhunderts in einem „Global Age“, und dieses Globale Zeitalter ist die Resultatsstufe – mit meinen Worten: diese Globalismus-Phase () ist die Vollendungsphase der abendländischen Kultur. „Wer könnte leugnen, daß die westliche Welt – insbesondere die Europäische Union nach ihrer relativen Vollendung im Mai und der Unterzeichnung ihrer Verfassung im Oktober 2004 – in ihren wesentlichen Eigenschaften heute genau ein solches großes Interieur verkörpert? …. Kristallisation bezeichnet das Vorhaben, die Langeweile normativ zu verallgemeinern …. Die geistige Erstarrung zu fördern und zu schützen ist künftig das Ziel aller staatlichen Gewalt. Naturgemäß wird sich die von der Verfassung garantierte Langeweile in die Projektform kleiden …. Daß aber der ewige Frieden im Kristallpalast zur psychischen Bloßstellung der Bewohner führen muß, … (ist offenkundig; HB). Die Entspannung … hat unvermeidlich die Freisetzung des Bösen im Menschen zur Folge. Was Erbsünde war, kommt im Klima universeller Bequemlichkeit als triviale Freiheit zum Bösen ans Licht. Mehr noch, das Böse … kann erst in der … Langeweile zu seiner quintessentiellen Form auskristallisieren: Von allen Ausreden gereinigt, wird nun, für die Naiven vielleicht überraschend, offenkundig, daß das Böse die Qualität der bloßen Laune besitzt. Es äußert sich als bodenlose Setzung, als willkürlicher Geschmack am Leiden und Leidenlassen, als streunende Destruktion ohne spezifischen Grund. Das moderne Böse ist die arbeitslose Negativität …. Wert oder Unwert – beides richtet sich nach dem Ergebnis des Würfelwurfs. Ohne besonderen Grund wird in der Langeweile das eine geschätzt und das andere verworfen.“ (Peter Sloterdijk, Der Kristallpalast, in: Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 268-270).
Hermann Minkowski (1864-1909), deutscher Mathematik-Professor in Bonn, Königsberg, Zürich und Göttingen, entwickelte insbesondere die „Geometrie der Zahlen“ (1909) und beschäftigte sich mit den mathematischen Grundlagen der speziellen Relativitätstheorie (). Der Minkowski-Raum (auch: die Minkowski-Welt) ist der vierdimensionale Raum (die Raum-Zeit-Welt, das Raum-Zeit-Kontinuum; vgl. Riemann-Kontinuum), in dem sich die Gesetze der speziellen Relativitätstheorie besonders einfach darstellen lassen. Ein Punkt (Ereignis) in diesem Minkowski-Raum wird als Weltpunkt, ein Ortsvektor als Weltvektor, die Bahn eines Teilchens als Weltlinie bezeichnet. (Vgl. Zeitlichkeit ).
Thomas Malthus (1766-1834), englischer Nationalökonom und Sozialphilosoph, wurde 1789 bzw. 1798 berühmt durch seine Bevölkerungstheorie (Malthusianismus), nach der die mögliche Größe der Bevölkerung durch die Menge der verfügbaren Nahrungsmittel begrenzt und bestimmt wird. Schon vor Malthus gab es etliche Theorien über den Zusammenhang zwischen Nahrungsmittelspielraum und Bevölkerungswachstum ! Mit seinem Bevölkerungsgesetz () erreichte Malthus zwar großen Ruhm, doch sein größter Vorgänger, der deutsche Nationalökonom und Statistiker Johann Peter Süßmilch (1707-1767) lag dafür mit seiner Theorie näher an der Realität. Malthus hatte Süßmilch studiert, aber aus gut überlegten Gründen im eigenen Werk nicht erwähnt. „Das »Bevölkerungsgesetz« von Malthus hat sich schon zu dessen Lebzeiten als ebenso falsch erwiesen wie die ihr vorangegangene Bevölkerungslehre von Süßmilch als richtig.“ (Herwig Birg, 2005, S. 11). Oswald Spengler sah in Charles Darwin (1809-1882) deswegen einen „Malthusianer“, weil Darwins Theorie (der Darwinismus, vgl. z:B. Darwins Werk Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, 1859) eine Anwendung der Nationalökonomie auf die Biologie sei. (Vgl. Spengler, 1917, S. 63 und S. 480 ). Außerdem, so Spengler, deutete Darwin Schopenhauers Ansichten in die Tierwelt. Darwin kopierte Schopenhauer. (Vgl. Spengler, 1917, S. 475 ). Die klassische Demographie entstand in Deutschland, die spätere – darauf folgende – und dazu im Gegensatz stehende rassische Demographie entstand in England, wie auch Birg betont. „Die in Deutschland entstandene Bevölkerungslehre ist von universalistischen, zutiefst humanen und christlichen Prinzipien geprägt. Der Rassismus in der Bevölkerungswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts beruht auf einem Bruch mit der klassischen deutschen Tradition, nicht auf ihrer Fortsetzung. Wer nach den bevölkerungswissenschaftlichen Ursprüngen der rassistischen Bevölkerungslehre sucht, findet ihre geistigen Wurzeln in der malthusianischen Bevölkerungsdoktrin, nicht in der Bevölkerunglehre Süßmilchs. Es war ein simples Prinzip – die gnadenlos strenge Auslese der Individuen einer Population nach ihrer Überlebenstüchtigkeit -, das nach der Bevölkerungstheorie von Malthus – und der Evolutionstheorie von Charles Darwin, der sich ausdrücklich auf Malthus’ Bevölkerungslehre berief – die biologische Evolution antrieb und über Jahrmillionen zur Entstehung der höheren Arten und schließlich des Menschen führte. Das gleiche Prinzip sollte nach Malthus und der von ihm begründeten Schule der politischen Ökonomie und des ökonomischen Liberalismus auch die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen regeln. Indem es die untüchtigen, weniger konkurrenzfähigen Marktteilnehmer an den Rand des wirtschaftlichen Geschehens drängte oder ganz aus den Märkten ausschloß, sorgte das Selektionsprinzip aus der Sicht der liberalen Wirtschaftstheoretiker für den Ansporn zu einem ökonomischen Umgang mit den knappen Wirtschaftsgütern, für ihre effizienteste Verteilung und Verwendung und für eine dauernde Tendenz zur Steigerung der Produktivität und des Lebensstandards. …. Die Ursache für das Trennende und den Gegensatz zwischen den Klassen lag nach Malthus nicht in erster Linie – wie später bei Karl Marx () – in den Unterschieden des Besitzes an ökonomischen Gütern, sondern in der Verschiedenheit der Menschen im Hinblick auf ihre moralischen Eigenschaften und Fähigkeiten. Nach der moralischen Klassentheorie war die Bevölkerung der »lower classes« wegen ihrer minderen moralischen Qualität, also nicht in erster Linie wegen ihrer Armut, unfähig, die Zahl ihrer Nachkommen durch die Zügelung ihres Geschlechtstriebes den Unterhaltsmitteln anzupassen. Die Unterschicht reagiert deshalb nach Malthus’ Bevölkerungsgesetz auf eine Verbesserung ihrer ökonomischen Lage stets mit einer Erhöhung ihrer Geburtenrate, nicht mit einer Verringerung. Durch diesen gleichsinnigen Zusammenhang zwischen der Geburtenrate und der Höhe des Lebensstandards ist die Unterschicht in einem »Zirkel der Armut« gefangen: Sozialpolitische Reformen zur Linderung der Armut oder eine Anhebung der Löhne über das Existenzminimum hinaus müssen nach Malthus zwangsläufig an der von ihnen bewirkten Zunahme der Unterschichtbevölkerung scheitern. Nach Süßmilchs Theorie besteht kein gleichsinniger Zusammenhang zwischen der Geburtenrate und dem Lebensstandard der Bevölkerung, sondern ein gegenläufiger. Dieser Unterschied zu Malthus ist von größter Tragweite. Wie Süßmilchs Analyse der Geburtenrate in den Gemeinden Preußens ergab, variierte die Kinderzahl stark nach der Siedlungsgröße, mit der Folge, daß die Wachstumsrate der Bevölkerung mit zunehmender Verstädterung zurückging. Der Unterschied zu Malthus‘ Lehre ist keineswegs nur von akademischem Interesse, er ist für die Politik und das von ihr abhängige Überleben der Menschen entscheidend. Im Gegensatz zu Malthus trat Süßmilch für sozialpolitische Reformen zum Wohl der armen Bevölkerungsschichten ein. Er gründete Hebammenschulen und bemühte sich um die Schaffung von Gesundheitseinrichtungen, um die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit zu senken. Sein Ziel war es, Leben zu retten, und nicht durch die Bevölkerungstheorie zu begründen, warum eine Begrenzung des Bevölkerungszuwachses und eine Auslese »naturgesetzlich notwendig« waren. …. Wie die Menschen sind, wie viele es sind und wie viele auf der Erde leben können – diese Themen hängen miteinander zusammen, sie bilden den Kern von Süßmilchs Frage nach der »Tragfähigkeit der Erde«: »… im folgenden wird die Frage erörtert, ob Krieg und Pest notwendig zum öfteren vorkommen müssen, welches ich verneine. Weil aber der Beweis hiervon nicht hat können gegeben werden, ohne eine Kenntnis von dem Zustande und der Anzahl der Menschen auf der Erde zu haben: so bin ich daher genötigt worden zu untersuchen, wie viel Menschen zu gleicher Zeit auf dem Erdboden leben können und wie viele gegenwärtig wirklich leben mögen, um aus der Vergleichung der möglichen und wirklichen Anzahl zu urteilen, ob die Vermehrung notwendig müsse gehemmet werden oder nicht«. Das Ergebnis der Berechnungen lautet: » …es ist bewiesen, daß 4000 Millionen zugleich leben können, und daß gegenwärtig höchstens nur tausend Millionen wirklich zugleich leben«. Die Analysen wurden in der unruhigen Zeit nach der Thronbesteigung Friedrich II. unmittelbar vor dem Beginn des ersten Schlesischen Krieges in großer Eile zu Ende gebracht. An diesem Krieg hatte Süßmilch als Feldprediger teilgenommen, später hatte er neben seiner Tätigkeit als Gelehrter das Amt eines Propstes der brandenburgisch-lutherischen Kirche inne. In dieser Eigenschaft hatte er Zugang zu den Kirchenbüchern der preußischen Gemeinden, deren Eintragungen er für seine bevölkerungsstatistischen Analysen auswertete. Auf dieser Grundlage revidierte er in der zweiten, wesentlich erweiterten Ausgabe von 1762 seine Berechnungen und bezifferte die »Tragfähigkeit der Erde« nicht wie in der ersten Ausgabe auf vier, sondern auf vierzehn Milliarden Menschen. Die Reaktion der Gelehrten Europas war außerordentlich positiv. Über die Grenzen der Nationen und der wissenschaftlichen Disziplinen hinaus entwickelte sich ein enges Netz an fruchtbaren Kooperationen, das der Internationalität der heutigen Forschung in nichts nachstand. Diese positive Entwicklung endete mit dem Erscheinen des »Bevölkerungsgesetzes« von Malthus. Nach dessen Lehre war die Erde der Grenze ihrer Tragfähigkeit bereits gefährlich nahe, jeder weitere Bevölkerungszuwachs mußte verhindert werden. Die Abschaffung der Armenhilfe in England diente diesem Ziel. Der krasse Widerspruch zu Süßmilch blieb in der Ära des Malthusianismus unbeachtet. Der Siegeszug der Evolutionstheorie Darwins, der sich bei der Begründung seiner Evolutionstheorie auf Malthus berief, schien das »Bevölkerungsgesetz« und dessen Grundprinzip – die Selektion der Überlebenstüchtigen – unwiderruflich zu bestätigen. Das erste, grundlegende Kapitel des »Bevölkerungsgesetzes« sowie das besonders wichtige 18. Kapitel enthalten Aussagen, die sich wie eine Vorwegnahme der Evolutionstheorie lesen. In seinen Tagebüchern hat Darwin festgehalten, daß ihn bei der Lektüre des »Bevölkerungsgesetzes« eine Art Erleuchtung überkam, durch die er die Eingebung für seine Evolutionstheorie empfing. Die beiden Theorien schienen einander zu stützen und zu bestätigen, die Evolutionstheorie übertrug ihre Faszinationskraft auf die Bevölkerungstheorie. Eine Relativierung der Bevölkerungstheorie hätte zwar der Evolutionstheorie nicht den geringsten Abbruch getan, aber die geistige Verwandtschaft zwischen beiden Theorien – die Schlüsselrolle des ihnen gemeinsamen Grundprinzips der biologischen bzw. sozialen Auslese – ließ für den Gedanken einer Revision der einen unter Beibehaltung der anderen keinen Raum. Im geistigen Klima des Malthusianismus und Darwinismus entwickelte Francis Galton in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in England die Eugenik – eine Lehre von den erbbedingten Eigenschaften der Menschen und ihrer gezielten Beeinflussung mit Maßnahmen zur Förderung der Fortpflanzung von Menschen mit erwünschten Eigenschaften (»positive Eugenik«) bzw. zur Verhinderung der Fortpflanzung von Menschen mit unerwünschten Eigenschaften (»negative Eugenik«). In Frankreich entstand in dieser Zeit die von Arthur Graf von Gobineau 1853 veröffentlichte Theorie über die »Ungleichheit der Menschenrassen« bzw. über die »Überlegenheit der arischen Rasse«. In Deutschland verbreiteten sich die Ideen der Eugenik Jahrzehnte später als in England ….“ (Birg, 2005, S. 18-19, 19-20, 20-22).
In seinem Bevölkerungsgesetz (1798) ging Thomas Malthus (1766-1834) von 3 Prämissen aus: 1.) Die vom Menschen erzeugte Menge an Subsistenzmittel (Nahrungsmittel) folgt einem linearen Wachstumsgesetz; 2.) Die Bevölkerungszahl entwickelt sich im Gegensatz dazu nach einem geometrischen Wachstumsgesetz (vgl. Zinseszinsformel); 3.) Die Mehrheit der Menschen, die Arbeiter- bzw. Unterschicht („lower classes“, so Malthus), reagiert auf eine Verbesserung ihrer materiellen Lebensbedingungen mit einer Erhöhung der Fortpflanzungsrate. Malthus konnte sich in England durchsetzen: es kam dort zu einer Reform der Armengesetzgebung, die auf eine Abschaffung der staatlichen Armenhilfe hinauslief; die Ideen (besser noch: die Ideale!) des Bevölkerungsgesetzes zeitigten also die ihnen zugedachte Wirkung. Das Bevölkerungsgesetz von Malthus, der dem englischen Landadel angehörte, wurde zur Bekämpfung der revolutionären politischen Utopien geschaffen, die sich nach der französischen Revolution auch in England ausbreiteten. Doch laut Werner Sombart (1863-1941), Franz Oppenheimer (1864-1943), Herwig Birg (*1939) u.a. sind alle 3 Prämissen falsch!
Herwig Birg (*1939), Die ausgefallene Generation – Was die Demographie über unsere Zukunft sagt, 2005. Zum Thema Süßmilch (1707-1767) versus Malthus (1766-1834) heißt es an anderer Stelle bei Birg: „Das Potential zur Veränderung der realen Verhältnisse und nicht die Träume über eine Verbesserung der Welt und der Menschen bildet den Kern der klassischen, in ihren wichtigsten Kenntnissen heute noch gültigen Bevölkerungstheorie aus der Epoche vor (VOR!) Malthus, an die es anzuknüpfen gilt ….“ (Ebd., S. 11-12). Der Matlhusianismus sei von Anfang an falsch gewesen, so Birg: „Das »Bevölkerungsgesetz« von Malthus hat sich schon zu dessen Lebzeiten als ebenso falsch erwiesen wie die ihr vorangegangene Bevölkerungslehre von Süßmilch als richtig. …. Die malthusianische Bevölkerungstheorie wurde zwar längst durch die reale Bevölkerungsgeschichte widerlegt, während sich die von Süßmilch als richtig erwies, aber trotzdem ist Süßmilch heute außerhalb der Fachdemographie bzw. in der ausufernden Literatur der Gelegenheitsdemographie unbekannt, während Grundkenntnisse über Malthus weltweit zur Allgemeinbildung gehören. Wie ist es zu erklären, daß die Gedankenwelt von Malthus immer noch die Vorstellungen der Menschen über die demographische Entwicklung beherrscht ? Warum stehen seine längst widerlegten Thesen immer noch im Zentrum vieler Bestseller, die sich mit der Bevöllkerungsentwicklung befassen? … »Das unerschütterlichste und wichtigste Naturgesetz der ganzen bisherigen Nationalökonomie« – so urteilte der Gelehrte Gustav Cohn 1882 über das von Malthus anonym publizierte »Bevölkerungsgesetz«. »Das dümmste Buch der Weltliteratur« – so lautete hingegen das Urteil von Werner Sombart in seiner »Geisteswissenschaftlichen Anthropolgie« von 1938 (). … Malthus entstammte einem … Elternhaus des englischen Landadels. …. Das »Bevölkerungsgesetz« … wurde zur Bekämpfung der revolutionären politischen Utopien geschaffen, die sich nach der französischen Revolution auch in England ausbreiteten. …. Schon die 1. Prämisse (von Malthus) trifft im allgemeinen nicht zu: Die Nahrungsmittelproduktion folgt nicht der einer linearen, sondern meistens ebenso wie die Bevölkerung einer geometrischen Reihe. Überdies ist die Wachstumsrate der Nahrungsmittelmenge in der Mehrzahl der Industrie- und Entwicklungsländer bzw. im Weltdurchschnitt sogar größer als die der Bevölkerung, so daß die pro Kopf produzierte Menge ständig wächst, statt abzunehmen. Ende des 19. Jahrhunderts stellte Franz Oppenheimer () das »Bevölkerungsgesetz« folgerichtig auf den Kopf: »Die Bevölkerung hat nicht die Tendenz, über die Unterhaltsmittel hinauszuwachsen, vielmehr haben die Unterhaltsmittel die Tendenz, über die Bevölkerung hinauszuwachsen«. Weil dies nicht erst Ende des 19. Jahrhunderts, sondern schon zu Lebzeiten von Malthus so war (was er wußte oder aus Süßmilchs Bevölkerungslehre hätte wissen können), wuchs die Weltbevölkerung zum Zeitpunkt des Erscheinens des »Bevölkerungsgesetzes« bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts von einer Milliarde auf 6,5 Milliarden und sie wird sich im 21. Jahrhundert weiter in Richtung auf 9 bis 10 Milliarden bewegen (), weil sich die Nahrungsschranke laufend verschiebt. Die Zahl der Hungernden nimmt nach Feststellung der Vereinten Nationen trotz steigender Weltbevölkerung nicht zu, sondern leicht ab. Leider ist der Nachrichtenwert guter Botschaften geringer als der von schlechten, so daß dieses Faktum weitgehend unbekannt blieb. Auch die 2. und 3. Prämisse (von Malthus) sind falsch. Mit steigendem Wohlstand nahm die Kinderzahl pro Frau nicht zu, sondern ab. Auch dies hätte Malthus wissen können, denn in dem Buch von Süßmilch, seinem deutschen Vorgänger, wird dieser Sachverhalt breit erörtert, und zwar mit Schlußfolgerungen, die denen von Malthus diametral entgegengesetzt sind. Wie Süßmilch richtig sah, gehen die Geburtenzahl pro Frau und die Wachstumsrate der Bevölkerung mit dem steigenden Entwicklungsstand, mit der Industrialisierung und Verstädterung, tendenziell zurück. In … Industrieländern … wurde die Wachstumsrate in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich sogar negativ …. Viele Tierarten passen ihr Fortpflanzungsverhalten den Nahrungsquellen ihres Habitats durch eine Begrenzung der Zahl ihrer Nachkommen an. Sie investieren dann mehr in die Brutpflege und die Überlebensfähigkeit als in die Aufzucht einer maximalen Zahl von Nachkommen. Das war natürlich schon zu Malthus’ Zeiten so. Warum sollte der Mensch, das am höchsten entwickelte Wesen, nicht wie die Tiere dazu in der Lage sein, seine Fortpflanzung zu regulieren? Warum fand das »Bevölkerungsgesetz« trotz dieser wirklichkeitsfremden Prämisse so viel Zuspruch? Es gibt Theorien, die eine Art ewiges Leben haben, obwohl ihre Falschheit offen zutage liegt. ….“ (Ebd., S. 11, 12, 13, 15-16).
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832 ) könnte vielleicht sogar der eigentliche Begründer der abendländischen Lebensphilosophie () gewesen sein, doch war er in seiner Vielfältigkeit und in seinem Universalgelehrtentum mehr Genie und Künstler als Philosoph. Spengler meinte, Goethe sei „in seiner ganzen Denkweise, ohne es zu wissen, ein Schüler von Leibniz gewesen“. (). Leibniz (1646-1716 ) war als barock-absolutistischer „Denkmonarch“ ein „Philosophen-Sonnenkönig“ oder „Philosophen-Sonnenkaiser“ – als ein solcher „Einzelgänger“ war er selbst vielleicht die von ihm entwickelte göttliche „Ur-Monade“, jedenfalls ein „Universalgenie“.

Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

Goethe’sche Weltanschauung
Leben und Kampf der Kulturen

Geschichtsphilosophie
Zur Metaphysik
Zur Morphologie
Zum aktuellen Kampf
Fazit: Spiraltendenz
Mediatisierung

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Von Goethe und Schopenhauer über Nietzsche und Spengler zu Huntington
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Den Kampf der Kulturen prophezeite schon Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). Nach ihm rissen die Beschäftigungen mit diesem Thema nicht mehr ab, auch wenn es im Schatten anderer Leitthemen stand. Vollends ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt wurde dieses Thema 1917, als Oswald Spengler (1880-1936) im „Untergang des Abendlandes“ () , den er mittels der vergleichenden Methode auch mit dem „Untergang der Antike“ () konfrontierte, für das Abendland die schon Ende des 18. Jahrhunderts (Industrialisierung, Bürgerliche Revolution u.s.w.) begonnene kulturelle Vollendung – den Zivilisationsprozeß – und den damit verbundenen, zunächst aber noch schleichenden Synkretismus diagnostizierte und dessen Bekämpfung durch das Abendland in der Phase des Cäsarismus () prognostizierte. Daß es einen „Zusammenprall der Kulturen“ geben wird, war also schon seit Goethe klar – lange vor Huntingtons Buch „Clash of Civilizations“ (1996). Erkennbar, jedenfalls „für die Eingeweihten“, war auch „der militante Aufbruch islamischer Religiosität“ schon vor Huntingtons „Thesen über den weltweiten Kampf der Kulturen.“ (Peter Scholl-Latour, Weltmacht im Treibsand, 2004, S. 50). „Das Abendland ist immer noch immens reich, aber es ist schwach. Ihm fehlt die moralische Substanz zur dezidierten Selbstbehauptung. Kurzum, alle Prämissen eines fatalen »Untergangs« sind gegeben. So unrecht hatte Oswald Spengler wohl nicht.“ (Peter Scholl-Latour, Kampf dem Terror – Kampf dem Islam ?, 2002, S. 48). Wahrscheinlich hat Huntington auch die „Friktionen“ () von Carl Philipp Gottfried von Clausewitz (1780-1831) beachtet, denn Huntington sieht „in den Zusammenstößen, Reibungen, Konflikten zwischen den großen Kulturkreisen auf der Basis unterschiedlicher Religionen und divergierender Weltbilder die Hauptrolle künftiger Auseinandersetzungen.“ (Hans-Ulrich Wehler, Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2003, S. 61). „Daß die Herrschaft des Volkes nicht in den Kosmopolitismus, sondern in den Provinzialismus führt, hat Samuel Huntington als das demokratische Paradoxon bezeichnet.“ (Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002, S. 30). Ob, was, wie und wieviel Huntington aus Spenglers Werken abgeschrieben haben könnte, ist weniger entscheidend, mehr entscheidend ist, daß er von Spengler inspiriert wurde!Lange vor Huntington hatte auch Toynbee () an Spengler angeknüpft, und weil Spengler von Nietzsche und Goethe inspiriert worden war (), geht die kulturphilosophisch interessante Linie von Goethe und Schopenhauer über Nietzsche und Spengler zu Toynbee und Huntington:

Goethe befand sich mit seinem Geschichtsdenken ziemlich im Widerspruch zu demjenigen der Aufklärung. Er beurteilte die Möglichkeiten, Wesentliches aus der Geschichte zu erkennen, höchst skeptisch und verneinte den rationalistischen Gedanken des Fortschritts in der Geschichte der Menschheit. Goethe benutzte eine Analogie aus der Botanik, die „Spiraltendenz“, um seine Anschauung von der „Wiederkehr des ewig Gleichen“ darzustellen – später weiter entwickelt von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche sowie Oswald Spengler und nach diesem, weil mittlerweile von Deutschland auf die USA übergesprungen, auch: Huntington. Vgl. Lebensphilosophie: Alte Schule (), Mittlere Schule (), Junge Schule ().
„Der Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat, ist bestimmt genug und ungeachtet des großen Stillstandes, den die Barbarei machte, hat sie ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt. Will man ihr auch eine Spiralbewegung zuschreiben, so kehrt sie doch immer wieder in jene Gegend, wo sie schon einmal durchgegangen. Auf diesem Wege wiederholen sich alle wahren Ansichten und alle Irrtümer.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, 1810). Diesen Gedanken der Wiederholung zu bekräftigen, benutze Goethe gelegentlich einen alttestamentarischen Spruch (Prediger Salomo): „Die Geschichte sollte doch lehren, daß nichts Neues unter der Sonne geschieht.“ (Johann Wolfgang von Goethe zu Friedrich von Müller, am 08.12.1824). „Es ist mit der Geschichte wie mit der Natur, wie mit allem Profunden, es sei vergangen, gegenwärtig oder zukünftig: je tiefer man ernstlich eindringt, desto schwierigere Probleme tun sich hervor.“ (Johann Wolfgang von Goethe, in: Maximen und Reflexionen). Andererseits war die Geschichte für Goethe ein großes Sammelbecken zitierbarer Beispiele, aus denen er zeitlebens gern schöpfte. (Vgl. z.B. Westöstlicher Diwan, 1819). In diesem Punkt war Goethes Denken ganz an die aufklärerische Tradition gebunden. Er beachtete jedoch in angemessener Weise den subjektiven Faktor, ja die Parteilichkeit des Historikers. „Die Zeiten der Vergangenheit // Sind nur ein Buch mit sieben Siegeln. // Was ihr den Geist der Zeiten heißt, // Das ist im Grund der Herren eigner Geist, // In dem die Zeiten sich bespiegeln.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust (I), 1806, S. 34). Solche Exempla haben Goethes eigenes dichterisches Schaffen befruchtet – gut erkennbar an der dramatischen Ausgestaltung historischer Figuren wie z.B. Götz von Berlichingen (1773). Insofern Goethe in der Geschichte Entwicklungen und folgerichtige Prozesse wahrnahm und diese seinem evolutionären Denken entgegenkamen, unterzog er sie gern der Betrachtung: „Wenn wir uns aus dem bekannten Gewordenen das unbekannte Werden aufzubauen genötigt finden, so erregt es eben die angenehme Empfindung, als wenn wir eine uns bisher unbekannte gebildete Person kennen lernen und die Geschichte ihrer Bildung lieber herausahnden als herausforschen.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, 3. Abt., 1810). Die benutzbaren Exempla der Geschichte wurden von Goethe aus den Taten großer Persönlichkeiten abgeleitet. In dieser Neigung zu Personalisierungen ist wohl auch Goethes zwiespältiges Verhältnis zur Geschichte begründet: einerseits sei das Beste, was sie im Betrachter erregen könne, „Enthusiamus“, andererseits sei ihre Masse „nichts weiter als ein Klatsch.“ (Johann Wolfgang von Goethe zu Friedrich Wilhelm Riemer). Goethes Person und sein Schaffen haben bekanntlich schon zu seinen Lebzeiten nach allen Richtungen ein ausgesprochen ungemeines Interesse geweckt. Also war und ist auch Goethes Wirkung auf die Geschichtsforschung von großer Bedeutung. Durch sein Gesamtwerk übte Goethe auf die jüngere Geschichtsschreibung seiner Zeit und auf den Historismus großen Einfluß aus.

Leben / Kultur / Geschichte – Metaphysik und Religion –
– Schicksal und Pantheismus – Philosophie

Metaphysische Vorstellungen haben den Schicksalsbegriff des jungen Goethe bestimmt, wie er ihn im 2. Aufzug des Dramas Egmont (1788) für die Titelfigur formulierte: „Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksal leichtem Wagen durch: und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken.“ Im Alter trat der Begriff des „Dämonischen“ zu Goethes Schicksalsauffassung in spezifisch metaphysischem Sinn hinzu. In seiner Vorstellung konnte das „Dämonische“ Persönlichkeiten prägen und leiten sowie auch Konstellationen hervorrufen. In einigen Altersgesprächen und späten weltanschaulichen Gedichten hat Goethe dem Glauben an eine über das irdische Leben hinaus fortdauernde Beschäftigung des Geistes Ausdruck gegeben: „Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen! / Das Ew’ge regt sich fort in allen.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Vermächtnis, 1829). Häufiger jedoch hat er sich metaphysische Erwägungen als „Gegenstand täglicher Betrachtung und gedankenzerstörender Spekulation“ verbeten (vgl. Johann Wolfgang von Goethe zu Johann Peter Eckermann, am 25.02.1824). Und bekanntlich macht Mephistopheles in Faust I („Studierzimmer“) Ableitungen der Metaphysik lächerlich. Schon seit Goethe sich von dem Geschmackskanon des Rokoko losgelöst hatte, beherrschte ein starkes Naturgefühl, das aus dem unmittelbaren Erleben der Natur hervorging, seine sämtlichen Dichtungen. Dieses Naturgefühl umfaßte den religiösen Charakter von Goethes Naturerlebnis (vgl. Pantheismus) sowie das ganzheitliche Erkennen in den Naturwissenschaften; es berührte auch das denkerische Ergebnis von Goethes Naturanschauung, seine Naturphilosophie. Das Problem Natur und Kunst ist spezieller Gegenstand von Goethes philosophischer Ästhetik. Bei wechselnder Kritik an den positiven Formen geoffenbarter Religionen und einer nur vorübergehenden Annäherung an den Pietismus entwickelte Goethe zum Verhältnis von Gott und Welt eine Vorstellung, die ihn das „Dasein“ und die „Göttlichkeit“ (vgl. „leitendes Wesen“, „Vollkommenheit“) als Einheit begreifen ließ. Im Zusammenhang mit der von Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) verfaßten Schrift Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811) spricht Goethe von seiner „reinen, tiefen, angeborenen und geübten Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so daß diese Vorstellungsart den Grund meiner ganzen Existenz machte“ (Annalen, 1811). Schon in seiner ersten Naturforscher-Zeit sah sich Goethe als Pantheisten. „Man sieht die Neigung zu einer Art von Pantheismus, indem den Welterscheinungen ein unerforschliches, unbedingtes, humoristisches, sich selbst widersprechendes Wesen zum Grunde gedacht ist, und mag als Spiel, dem es bitterer Ernst ist, gar wohl gelten.“ (Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz: Die Natur, 1828). Goethe betrachtete Religion als eine den Verkehr der Menschen untereinander ordnende Macht. „Die allgemeine, die natürliche Religion bedarf eigentlich keines Glaubens: denn die Überzeugung, daß ein großes, hervorbringendes, ordnendes und leitendes Wesen sich gleichsam hinter der Natur verberge, um sich uns faßlich zu machen, eine solche Überzeugung drängt sich einem jeden auf.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit, 4. Buch, 1811-1822). Wie gesagt: Nur einmal in seinem Leben näherte sich Goethe vorübergehend dem der Amtskirche fernstehenden Pietismus, mit dessen Theologie er sich jedoch nicht befreunden konnte. Er bildete seine natürliche Religion mehr und mehr in Richtung auf einen Pantheismus hin aus, wobei ihn sein Naturgefühl und seine naturkundlichen Interessen anleiteten.
Die Populärphilosophie der Aufklärung befriedigte Goethe nicht, wenngleich er deren Lehrbücher seit der Knabenzeit benutzte. Erst das eingehendere Studium mit der Philosophie seit etwa 1784 festigte Goethes monistische und pantheistische Anschauung. Seit 1790 beschäftigte sich Goethe intensiv mit den drei „Kritiken“ von Immanuel Kant (1724-1804), besonders aber nahm er die „Monadenlehre“ von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) auf und arbeitete sie in seine eigene Lebensanschauung, seine Weltdeutung, seine Naturbetrachtung ein. („Goethe aber war in seiner ganzen Denkweise, ohne es zu wissen, ein Schüler von Leibniz gewesen“, so Oswald Spengler ). Goethe war seit seinem Eintritt in Weimar () der Universitätsstadt Jena eng verbunden. Für ihn waren beide Städte eine Einheit; er sorach von „Weimar-Jena der großen Stadt, / Die an beiden Enden / Viel Gutes hat.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenien, 1820-1824). Mit der Mitarbeit von Friedrich Schiller (1759-1805), Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854), den Brüdern August Wilhelm Schlegel (1767-1845) und Friedrich Schlegel (1772-1829), der Teilhabe der Brüder Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und Alexander von Humboldt (1769-1859) wurde die Universität Jena zu Goethes Zeit zum Zentrum der idealistischen Philosophie (des Deutschen Idealismus) und gewann einen über die Grenzen Deutschlands reichenden Ruhm. Für Goethe selbst war die Universität Jena ein Ort für seine naturwissenschaftlichen Studien. Als Staatsbeamter (Minister) war ihm von Anfang an der Zutritt zu sämtlichen Universitätsinstituten gewährt, und seit 1809 leitete er die „Unmittelbaren Anstalten für Wissenschaften und Kunst“.
In einem sehr späten Resümee über sein Verhältnis zum philosophischen Idealismus relativierte Goethe den Wert
philosophischer Erkenntnisse am umfassendsten: „Ich danke der kritischen und idealistischen Philosophie, daß sie
mich auf mich selbst aufmerksam gemacht hat, das ist ein ungeheurer Gewinn; sie kommt aber nie zum Objekt ….“ (Johann Wolfgang von Goethe zu C. L. F. Schulz, am 18.09.1831).
Goethe und Hegel lernten sich 1801 kennen. Im tragenden Begriff der „Totalität“ („Ganzheit“) berühren sich Goethes und Hegles Weltanschauung, und ihr Begriff der „Polarität“ deckt übereinstimmende Züge in ihrem dialektischen Erkenntnisverfahren. Nach seinem Fortgang aus Jena besuchte Hegel (von 1816 bis 1818 Professor in Heidelberg und seit 1818 Professor in Berlin) Goethe in Weimar, und zwar 1818, 1827, 1829. Auch der Briefwechsel zwischen beiden wurde nach Hegels Fortgang aus Jena fortgesetzt. Der historischen Stellung Goethes als Dichter und Naturforscher gemäß mischen sich in seinem Verhältnis zur Natur spekulative Elemente und empirisches Verfahren, so auch in seinem Verhältnis zur Naturphilosophie und in seiner eigenen Naturphilosophie. Über diesen Sachverhalt, der auch ein zwischen Induktion und Deduktion wechselndes Erkenntnisverfahren umschleißt, war Goethe sich im klaren: „Ich stehe gegenwärtig in eben dem Fall mit den Naturphilosophen, die von oben herunter, und mit den Naturforschern, die von unten hinauf leiten wollen. Ich wenigstens finde mein Heil nur in der Anschauung, die in der Mitte steht.“ (Johann Wolfgang von Goethe zu Friedrich Schiller, am 30.06.1798). Daß Goethe sich bei aller Anerkennung und Förderung empirisch-experimenteller Erkenntnisverfahren in den Naturwissenschaften von „Ideen“, von ideellen Abstraktionen leiten ließ, tritt in seiner Deutung von Naturphänomenen häufig deutlich hervor. In Goethes Verhältnis zu den einzelnen naturwissenschaftlichen Fachbereichen mischen sich (gemäß seiner historischen Stellung als Naturforscher) spekulativ-idealistische Elemente und experimentell-analytische Methoden. Nicht nur wegen seiner Oberaufsicht über die Universität Jena war Goethe mit fast allen wissenschaftlichen Fachbereichen und Fragestellungen vertraut; er selbst arbeitete im besonderen auf den Gebieten der Astronomie, Botanik, Chemie, Erdgeschichte, Geologie, Meteorologie, Mineralogie, Zoologie. Goethe schätzte auch Schellings Naturphilosophie sowie dessen Schriften Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur (1807) und Denkmal der Schrift Jacobis von den Göttlichen Dingen (1812). „Mit Schelling habe ich einen sehr guten Abend zugebracht. Die große Klarheit, bei der großen Tiefe, ist immer sehr erfreulich. Ich würde ihn öfters sehen, wenn ich nicht noch auf poetische Momente hoffte, und die Philosophie zerstört bei mir die Poesie und das wohl deshalb, weil sie mich ins Objekt treibt. Indem ich mich nie rein spekulativ verhalten kann, sondern gleich zu jedem Satze eine Anschauung suchen muß und deshalb gleich in die Natur hinaus fliehe.“ (Johann Wolfgang von Goethe zu Friedrich Schiller, am 19.02.1802). In Goethe und Schelling trat eine schöpferische Naturlehre der stoffgläubig-mechanistischen Naturwissenschaft gegenüber. Die späteren mystifizistischen Werke von Schelling, z.B. Die Gottheiten von Samothrake (1815), blieben Goethe jedoch fremd. Philosophischer Naturbetrachtung stimmte Goethe zu. „Erfreulich ist es, auf jenes wünschenswerthe Ziel hingewiesen zu werden, daß aller Zwiespalt aufgehoben, das Getrennte nicht mehr getrennt betrachtet, sondern alles aus Einem begriffen, gefaßt werden sollte ….“ (Johann Wolfgang von Goethe zu Wilhelm von Humboldt, am 22.08.1806). Über Wlhelms Bruder Alexander von Humboldt bemerkte Goethe: „Man könnte sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie es mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist.“ (Johann Wolfgang von Goethe zu Johann Peter Eckermann; 11.12.1826): Und „wir andern im mittleren Deutschland haben unser bißchen Weisheit schwer genug erkaufen müssen …, unsere sämtlichen Talente und guten Köpfe sind über ganz Deutschland ausgesäet. Da sitzt einer in Wien, ein anderer in Berlin, ein anderer in Königsberg, ein anderer in Bonn oder Düsseldorf, … so daß persönliche Berührungen und ein persönlicher Austausch von Gedanken zu den Seltenheiten gehört. Was dies aber wäre, empfinde ich, wenn Männer wie Alexander von Humboldt hier durchkommen, und mich in dem, was ich suche und mir zu wissen nötig, in einem einzigen Tage weiter bringen, als ich sonst auf meinem einsamen Wege in Jahren nicht erreicht hätte.“ (Johann Wolfgang von Goethe zu Johann Peter Eckermann; 03.05.1829).
Goethe wurde und wird beneidet, und nur wenige Menschen hatten und haben den Mut, dies zu bekennen: „So will ich jetzt endlich gestehen: es war der Neid. Zu meinem Lobe muß ich jedoch nochmals erwähnen, daß ich in Goethe nie den Dichter angegriffen, sondern nur den Menschen. Ich habe nie seine Werke getadelt. Ich habe nie Mängel darin sehen können, wie jene Kritiker, die mit ihren feingeschliffenen Augengläsern, auch die Flecken im Monde bemerkt haben; die scharfsinnigen Leute! was sie für Flecken ansehen, das sind blühende Wälder, silberne Ströme, erhabene Berge, lachende Täler.“ (Heinrich Heine, Die Romantische Schule, 1. Buch, 1833, S. 50). Auch als z.B. der 1794 an die Universität Jena berufene Fichte 1799 entlassen wurde – Auslöser war der sogenannte „Atheismusstreit“ -, waren Goethes Motive zur Befürwortung der Entlassung überhaupt nicht gegen Fichte und seine Thesen gerichtet: „… In Goethes Betragen gegen Fichte sehen wir also keineswegs die häßlichen Motive, die von manchen Zeitgenossen mit noch häßlicheren Worten bezeichnet worden. Dieser Riese war Minister in einem deutschen Zwergstaate. Er konnte sich nie natürlich bewegen. Man sagt von dem sitzenden Jupiter des Phidias zu Olympia, daß er das Dachgewölbe des Tempels zersprengen würde, wenn er einmal plötzlich aufstünde. Dies war ganz die Lage Goethes zu Weimar; wenn er aus seiner stillsitzenden Ruhe einmal plötzlich in die Höhe gefahren wäre, er hätte den Staatsgiebel durchbrochen, oder, was noch wahrscheinlicher, er hätte sich daran den Kopf zerstoßen. Und dies sollte er riskieren für eine Lehre, die nicht bloß irrig, sondern auch lächerlich? Der deutsche Jupiter blieb ruhig sitzen und ließ sich ruhig anbeten und beräuchern.“ (Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1834, S. 25). „Um seinen Mund will man einen kalten Zug von Egoismus bemerkt haben; aber auch dieser Zug ist den ewigen Göttern eigen, und gar dem Vater der Götter, dem großen Jupiter, mit welchem ich Goethe schon oben verglichen. Wahrlich, als ich ihn in Weimar besuchte und gegenüberstand, blickte ich unwillkürlich zur Seite, ob ich nicht auch neben ihm den Adler sähe mit den Blitzen im Schnabel. Ich war nahe dran ihn griechisch anzureden.“ (Heinrich Heine, Die Romantische Schule, 1. Buch, 1833, S. 58).
Begründete schon Goethe oder doch erst Schopenhauer die abendländische Lebensphilosophie () ? Kann man Goethe überhaupt einer philosophischen Richtung zuordnen, begründete er vielleicht doch selber eine solche, wer folgte seinem Denken ? Vor allem jedoch: Wer dachte schon zu Goethes Lebzeiten ähnlich wie er? „Die Denkweise Hegels ist von der Goetheschen nicht sehr entfernt: man höre Goethe über Spinoza, Wille zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens, um in seinem Anschauen und Ergründen Ruhe und Glück zu finden; Hegel sucht Vernunft überall, – vor der Vernunft darf man sich ergeben und bescheiden. Bei Goethe eine Art von fast freudigen und vertrauendem Fatalismus, der nicht revolutioniert, der nicht ermattet, der aus sich eine Totalität zu bilden sucht, im Glauben, daß erst in der Totalität Alles sich erlöst, als gut und gerechtfertigt erscheint.“ (Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 72).
Wie ist Goethe nur zu fassen? „Man kann diesen außerordentlichen Geist und Menschen mit Recht einem vielseitigen Diamanten vergleichen, der nach jeder Richtung hin eine andere Farbe spiegelt. Und wie er nun in verschiedenen Verhältnissen und zu verschiedenen Personen ein anderer war, so kann ich auch in meinem Falle nur in ganz bescheidenem Sinne sagen: dies ist mein Goethe. (Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens [1822-1832], Vorrede Eckermanns, 1836-1848, S. 6).
„»Ich habe den großen Vorteil,« fuhr er fort, »daß ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so daß ich vom Siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der französischen Revolution, und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hiedurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werden und die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen. Was uns die nächsten Jahre bringen werden, ist durchaus nicht vorherzusagen; doch ich fürchte, wir kommen so bald nicht zur Ruhe. Es ist der Welt nicht gegeben, sich zu bescheiden: den Großen nicht, daß kein Mißbrauch der Gewalt stattfinde, und der Masse nicht, daß sie in Erwartung allmählicher Verbesserungen mit einem mäßigen Zustande sich begnüge. Könnte man die Menschheit vollkommen machen, so wäre auch ein vollkommener Zustand denkbar; so aber wird es ewig herüber- und hinüberschwanken, der eine Teil wird leiden, während der andere sich wohl befindet, Egoismus und Neid werden als böse Dämonen immer ihr Spiel treiben, und der Kampf der Parteien wird kein Ende haben. Das Vernünftigste ist immer, daß jeder sein Metier treibe, wozu er geboren ist und was er gelernt hat, und daß er den andern nicht hindere, das seinige zu tun. Der Schuster bleibe bei seinem Leisten, der Bauer hinter dem Pflug, und der Fürst wisse zu regieren. Denn dies ist auch ein Metier, das gelernt sein will, und das sich niemand anmaßen soll, der es nicht versteht.«“ (Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens [1822-1832], 25.02.1824; 1836-1848, S. 83-84).
Die Moderne als das „Veloziferische“: „Denn Goethe wußte, daß das langsame Gehen spätestens seit der französischen Revolution passé war und daß der Lebensrhythmus sich seitdem dramatisch beschleunigt hatte.“ (Manfred Osten, Alles veloziferisch oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit, 2003, S. 9). Goethes kurzgefaßte Handlungsformel der Faust-Tragödie z.B. zeigt gleich zu Beginn – im Vorspiel auf dem Theater – die Richtung: „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ (S. 17); bei dieser Talfahrt steht die Ratio des Menschen im Verdacht, der eigentliche Quellgrund der rastlosen Begehrlichkeit, der Gefräßigkeit, der exponentiell steigenden Mobilmachung, der Beschleunigung, des Veloziferischen, der Moderne zu sein. „Mephisto meint jedenfalls ganz offensichtlich diesen Defekt, wenn er gegenüber Gott (im Prolog im Himmel) kurzerhand dessen Geschöpf, den Menschen, als korrekturbedürftig kritisiert: »Hätt’st du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; / Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, / Nur tierischer als jedes Tier zu sein.« (S. 19). Und was Francis Bacon im Novum organum () gegenüber der Überstürztheit des menschlichen Verstandes gefordert hatte, nämlich die Ratio »nicht mit Flügeln« zu versehen, »sondern eher mit Bleigewichten […], um so jedes Springen und Fliegen zu verhindern«, dies macht auch Mephisto dem Schöpfer des »Himmelslichts« zum Vorwurf, indem er den Menschen vergleicht mit einer »der langbeinigen Zikaden, / Die immer fliegt und fliegend springt / Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt; / Und läg‘ er nur noch immer in dem Grase! / In jeden Quark begräbt er seine Nase.« (S. 19). Goethe hat Andeutungen geliebt, und man findet bei ihm durchaus Andeutungen einer schwarzen Anthropologie im Zeichen der Übereilung, der Ungeduld“, so heißt es im 2003 erschienenen Buch von Manfred Osten, der darin diesen Andeutungen Goethes vor einem sich verdunkelnden Hintergrund nachgegangen ist: „Dies gilt nicht nur für den Faust. Auch am Beispiel anderer Werke der Spätzeit, anhand der Wahlverwandtschaften und des West-östlichen Divan, soll kursorisch verdeutlicht werden, welche Zukunft Goethe auf uns zukommen sah“, so Manfred Osten (ebd., 2003, S. 12-13): „Eine Zukunft, von der Grillparzer im März 1849 (in dem Gedicht Der Leopoldsritter) behauptete: »Der Wg der neuen Bildung geht / Von der Humanität / Durch die Nationalität / Zur Bestialität.« Goethe hatte diese Prognose schon im 5. Akt von Faust II gewagt. …. – Die anamnetische Kultur, das heißt, Gedächtnis und Erinnern als Bedingung der Humanität, fällt der Ungeduld zum Opfer.“ (Manfred Osten, ebd., S. 13). Im November 1825 schrieb Goethe an seinen Großneffen Alfred Nicolovius (): „So wenig nun die Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich: die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuern Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist [. ..].« Und zuvor, nämlich am 6. Juni 1825, hatte Goethe bereits gegenüber seinem Freund Carl Friedrich Zelter () den Phänotyp eines jungen Mannes für diese Zeit der „Lebhaftigkeit des Handels“ und des „Durchrauschens des Papiergeldes“ beschrieben. Dazu Manfred Osten: „Es ist der Phänotyp für die Stellenausschreibung einer Zeit auf dem Wege zum bereits global operierenden Dr. Faustschen Handelskonzern im 5. Akt des zweiten Teils des Faust. Ironisch heißt es in dem Schreiben an Zelter: »Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum höchsten begabt sind.« Gegenüber dieser »gewissen Gewandtheit« hat Goethe sich berufen auf das, was sich ihr entzog: die im sittlichen Charakter einer Person gründende Gesinnung, die er unterscheidet von den schnell wechselnden Meinungen des sich bereits ankündigenden Informationszeitalters. Goethes gegenläufiges Credo lautet: »Die Menschen werden durch Gesinnungen vereinigt, durch Meinungen getrennt.« (Johann Wolfgrang von Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi; 06.01.1813). Über diese Gesinnungen heißt es denn auch in dem genannten Schreiben an Zelter: »Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen, wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt.« – Goethes Gelassenheit ist auffällig. Er hält sich »an der Gesinnung« und verweigert sich der Versuchung, im Namen irgendeiner Gefolgschaft Jünger um sich zu scharen, um eine »Epoche« der langsamen Gangart zu restituieren. Vor allem widerstrebt er der Versuchung, andere in diesem Sinne belehren zu wollen. Und er bleibt seiner Einsicht treu: »Immer glaubt ich gutmütig, von anderen etwas zu lernen; / Vierzig Jahr war ich alt, da mich der Irrtum verließ. / Töricht war ich immer, daß andre zu lehren ich glaubte; / Lehre jeden du selbst, Schicksal, wie es bedarf.« (Johann Wolfgang von Goethe, Gedichte aus dem Nachlaß: Epigramme).“ (Manfred Osten, ebd., S. 14-15).
„»Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »ist die Welt jetzt so alt, und es haben seit Jahrtausenden so viele bedeutende Menschen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr zu finden und zu sagen ist. Meine Farbenlehre ist auch nicht durchaus neu. Platon, Leonardo da Vinci und viele andere Treffliche haben im einzelnen vor mir dasselbige gefunden und gesagt; aber daß ich es auch fand, daß ich es wieder sagte und daß ich dafür strebte, in einer konfusen Welt dem Wahren wieder Eingang zu verschaffen, das ist mein Verdienst.«“ (Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens [1822-1832], 16.12.1828; 1836-1848, S. 281).

Leben / Kultur / Geschichte – Morphologie und Weltgeschichte –
– Metamorphose und Pseudomorphose – Philosophie

Nur wenigen Menschen sind Gedanken zugänglich, wie sie Goethes Morphologie zugrunde lagen. Schließlich erwartet man von einem Dichter anderes. „Die Morphologie soll die Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der organischen Körper enthalten; sie gehört daher zu den Naturwissenschaften.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen, postum). Nach dieser Definition ist die Morphologie nicht interessiert, kausale Zusammenhänge herzustellen; sie beschreibt vielmehr die Organismen in ihrer Entwicklung unter Bedingungen und also in ihren Funktionen, wobei Goethes Hauptaufmerksamkeit darauf gerichtet war, das Hervorgehen der höheren aus den niederen Arten darzustellen. In Goethes Anschauungen durchdringen sich materialistisch-experimentelle und idealistisch-spekulative Ansätze. Die leztzteren treten deutlich zutage in gewissen abstrahierenden Grundbegriffen wie „Urphänomen“ () oder „Urpflanze“ (), unter denen Goethe letztgültige Erscheinungen verstanden wissen wollte. Eine Reihe anderer, entwicklungsgeschichtlich gedachter Grundbegriffe wie zum Beispiel „Metamorphose“ (), „Gestalt“, „Typus“, „Polarität“ u.a. erweisen sich noch heute als tragfähig. Zu den von Goethe morphologisch ermittelten Naturgesetzen gehören das Prinzip von einem „bestimmten Etat“ eines Organismus, die Gesetze der Koordination, Subordination und Superordination, das Prinzip der variablen Proportionen, die Wirbeltheorie des Schädels, die Spiraltendenz in der Vegetation. Nüchtern und realistisch dachte Goethe über die Möglichkeit gegenständlicher Erkenntnis: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre“. 1817 bis 1824 gab Goethe die Zeitschrift Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie heraus, in der er frühere und laufende Forschungen veröffentlichte. So wie Goethes „Spiraltendenz“, um seine Anschauung von der „Wiederkehr des ewig Gleichen“ darzustellen, die später von so vielen seiner Nachfolger (Goetheaner) übernommen wurde – wie auch Goethes entwicklungsgeschichtlich gedachter Grundbegriff der Metamorphose.
Wie gesagt: Goethe suchte zeitlebens nach dem „Urphänomen“ aller organischen Wesen, und deshalb sind die meisten seiner Werke auch für die Kulturmorphologie so bedeutungsvoll – diesbezüglich besonders inhaltsreich ist z.B. sein Aufsatz Geistesepochen von 1817, denn er gibt auf sehr prägnante Weise Einblicke in sein kulturmorphologisches Denken einer Zyklentheorie (vom [Ur-]Anfang bis zum Verfall) mit sechs Entwicklungsstufen, und zwar vom „Uranfange«, da der Mensch „staunend ängstlich umherblickt“ und so erst zur Poesie, dann zur Theologie und schließlich zur Philosophie gelangt, bis hin zur letzten Stufe der „Vermischung, Auflösung“ aller Dinge. „Und so wird denn auch der Wert eines jeden Geheimnisses zerstört, der Volksglaube selbst entweiht; Eigenschaften, die sich vorher naturgemäß auseinander entwickelten, arbeiten wie streitende Elemente gegeneinander, und so ist das Tohu wa Bohu wieder da: aber nicht das erste, befruchtete, gebärende, sondern ein absterbendes, in Verwesung übergehendes, aus dem der Geist Gottes kaum selbst eine ihm würdige Welt abermals erschaffen könnte.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Geistesepochen, 1817, a.a.O.). Mindestens genauso ergiebig und aufschlußreich in dieser Sache sind Goethes Gespräche mit Eckermann, in denen es z.B. am 29. Januar 1826 heißt: „Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen aber haben alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung. Unsere ganze jetzige Zeit ist eine rückschreitende, denn sie ist eine subjektive.“ (). Oder über die Entwicklung der Menschheit, ganz im Sinne seiner Geistesepochen, heißt es am 23. Oktober 1828: „Klüger und einsichtiger wird sie werden, aber besser, glücklicher und tatkräftiger nicht, oder doch nur auf Epochen. Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr hat und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung. … Aber bis dahin hat es sicher noch gute Weile, und wir können noch Jahrtausende und aber Jahrtausende auch auf dieser lieben alten Fläche, wie sie ist, allerlei Spaß haben.« Die Textstellen, in denen sich Goethe Eckermann gegenüber zu kulturphilosophischen Fragen äußert, sind sehr zahlreich. Wenn es um die Rätsel des Prozesses der Menschwerdung ging, sah Goethe jedoch auch klare Grenzen vor sich: „allein darüber nachzusinnen, wie es geschehen, halte ich für ein unnützes Geschäft, das wir denen überlassen wollen, die sich gern mit unauflösbaren Problemen beschäftigen und die nichts Besseres zu tun haben.“ (Notiz vom 07.10.1828).
Auch Schiller äußerte sich öffentlich zur Geschichtsmorphologie. In seiner berühmten Jenaer Antrittsrede von I789 (Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?) betonte er, »daß die Ereignisse des entferntesten Altertums, unter dem Zusammenschluß ähnlicher Umstände von außen, in den neuesten Zeitläufen wiederkehren.« Er warnt jedoch davor, aus dieser Erkenntnis zu schnell Parallelen zur Gegenwart zu ziehen. »Die Methode, nach der Analogie zu schließen, ist, wie überall, so auch in der Geschichte, ein mächtiges Hilfsmittel; aber sie muß durch seinen erheblichen Zweck gerechtfertigt und mit ebensoviel Vorsicht als Beurteilung in Ausübung gebracht werden.« (Friedrich Schiller, ebd., 1789, S. 17).
Johann Christian Friedrich Hölderlin (1770-1843)
war vom Zyklus des Weltgeschehens beeindruckt
und brachte ihn in reinster Form zum Ausdruck:
„Geh, fürchte nichts, es kehret alles wieder,
und was geschehen soll, ist schon vollendet.“
Über den „notwendigen Verfall“, den Untergang, die Vollendung der abendländischen Kultur wurde schon geschrieben, als dieser Prozeß noch in den Anfängen steckte. So schrieb z.B. Karl Vollgraff (1792-1863), den man zu den Vorläufern Spenglers zählen kann, ein immerhin zweitausend Seiten umfassendes Werk – Die Systeme der praktischen Politik im Abendland -, das 1829 erschien, nie abgeschlossen wurde und die Zeitgenossen dennoch stark beeindruckte, wozu vor allem eine drei Jahre später erschienene Kampfschrift gegen die liberalen Ideen beitrug: Die Täuschungen des Repräsentativsystems (1832). Diese Schrift fand so viel Aufmerksamkeit, daß sie von den aufgebrachten Marburger Burschenschaften auf dem Marktplatz der Stadt verbrannt wurde. Viele spätere Autoren übernahmen Vollgraffs Gedanken, waren zumindst von ihnen wesentlich beeinflußt. (). Zu diesen Gedanken gehörte vor allem ein „Organismus“-Begriff im Sinne der Spätromantik, der es ermöglichte, den natürlichen Prozessen analoge Vorgänge in der Geschichte zu beobachten. Auf entsprechende Vorstellungen waren zwar auch schon frühere Autoren gekommen, doch keiner hatte versucht, diese Idee so konsequent anzuwenden wie Vollgraff. Nach dessen Ansicht war sogar die Menscheit insgesamt in einem seit 6000 Jahren andauernden Prozeß der Kultivierung begriffen und stand am Ende ihrer Entwicklungsmöglichkeiten; auch die erst neu hinzugetretenen Völker hätten längst den Höhepunkt überschritten und gingen in Verfall über. (). Vollgraff hat sich vor allem dieser Dekadenz mit großer Akribie und unbestechlichem Blick zugewandt und auf diese Weise viel worweggenommen, was heute noch am Werk Spenglers fasziniert. (). Vollgraffs Erster Versuch einer wissenschaftlichen Begründung sowohl der allgemeinen Ethnologie durch die Anthropologie wie auch der Staats- und Rechtsphilosophie durch die Ethnologie oder Nationalität der Völker in drei Teilen – ein dreibändiges Werk, daß erst ab 1851 erschien – wirkte schon auf die Zeitgenossen wie eine Spätgeburt des Vormärz. Der Vormärz bezeichntet, wie bereits angedeutet, die Zeit zwischen Wiener Kongreß (1814/15) und Märzrevolution (1848), also die nationalen und liberalen Kräfte, die schließlich die Märzrevolution herbeiführten, und ist gekennzeichnet durch äußeren Frieden und gewaltsam erzwungene innere Ruhe, durch Zersplitterung des Deutschen Reiches in 38 (39 ) Einzelstaaten – im Deutschen Bund zwar de jure einheitlich, aber de facto nur locker verbunden -, durch eine reaktionäre Knebelung aller nationalen und liberalen Bewegungen im „System Metternich“ mit Hilfe von Bundesbeschlüssen und durch ein primär von der Industrialisierung ausgelöstes Massenelend (Pauperismus).
Auf Karl Vollgraff berief sich auch Ernst von Lasaulx (1805-1861), Professor der Altertumswissenschaft in Würzburg und München, z.B. in seinem kulturmorphologisch höchst interessanten Buch: Neuer Versuch einer alten auf die Wahrheit der Thatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte. Während Vollgraff sich zumeist darauf spezialisierte, die Symptome des Verfalls (von Kulturen, Völkern, Staaten u.ä.) zu sammeln, um herauszufindenen, wie weit die einzelnen Völker schon in die Todeszone, die das unabwendbare Ende aller Geschichte ist, hineingeraten sind, so stellte Lasaulx zwar die gleiche Verfallsdiagnose, versuchte diese aber künstlich mit der christlichen Heilslehre in Einklang zu bringen. Doch das war nicht nur inkonsequent, sondern auch fatal insofern, als er sich mit seinen eigenwilligen These zwischen alle Stühle setzte, besonders zwischen zwei, denn einerseits wurde er für die Kirche zum Häretiker wegen des Versuchs, die griechische Antike und das christliche Zeitalter in Analogie zu setzen und Sokrates mit Jesus Christus zu vergleichen (Lasaulx‘ Schriften standen zeitweilig sogar auf dem Index), und andererseits für die Wissenschaft wegen seines ausgeprägten Katholizismus zum Reaktionär. Tragisch daran ist nur, daß Lasaulx‘ Neuer Versuch nicht richtig zu Ende gedacht wurde. Interessant ist er trotzdem. Die Kulturen sterben laut Lasaulx nach Vollendung ihrer Entwicklung, nachdem sie hervorgebracht haben, wozu sie bestimmt waren. (Vgl. ebd., S. 24). Ihre „innere productive Zeugungskraft“ (ebd., S. 147) nehme ab, „Erschlaffung, Verweichlichung, Luxus“ trete ein, und danach „ein Zurücksinken in Barbarei“ (ebd., S. 28), „bis der ganze Organismus, nur auf die Befriedigung der materiellen Bedürfniss reducirt, seelenlos auseinanderfällt“ (ebd., S. 147). Man findet bei Lasaulx überwiegend biologisches (bzw. biographisches) Denken, das naturwissenschaftlich fundiert ist und auf eine Morphologie kultureller Weltgeschichte sowie eine lebensphilosophische Logik der Geschichte hinaus will. „Wenn ich es daher unternehme, mit mässigen Gaben ausgerüstet, nicht nur die Geschichte der alten Völker deren Leben vollendet ist, sondern auch jene der heutigen Völker Europas deren Schicksale noch schwebend sind, philosophisch zu beurtheilen, so kann dies nur unter mehrfachen Voraussetzungen geschehen …, daß der Gang der grossen Schicksale der Menschheit, wie die Folge der Naturerscheinungen durch feste ewige Gesetze bestimmt ist … und dass, nach den Gesetzen der Analogie im Leben der Völker des Alterthums, aus dem Bisherigen auf das Zukünftige ein wahrscheinlicher Schluss gezogen werden könne“ (ebd., S. 5-10). Per Analogie zur Prognose.
Das Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung vom Sprach- und Geschichtswissenschaftler Heinrich Rückert (1823-1875), dem Sohn des berühmten Dichters Friedrich Rückert (1788-1866), ist für die Kulturmorphologie ebenfalls sehr bedeutsam, stellt es doch den Versuch dar, eine „Weltgeschichte“ eben auch von Anfang an zu schreiben. In Rückerts Lehrbuch wird die Kulturmenschheit in drei (statt vier) Entwicklungsstufen eingeteilt, wobei zehn „Culturwelten“ bzw. „Culturkreise“ (= „Kulturkreise“) unterschieden werden (babylonisch, ägyptisch, chinesisch, indisch griechisch, römisch, phönizisch, semitisch, kaukasisch, islamisch), von denen eine einzige Kultur, nämlich die westeuropäische, sich wirklich lebendig erhalten hat. (Vgl. ebd., Bd. II, S. 911). Kultur bzw. ihre erste Stufe beginne, so Rückert, sobald der Mensch sich „außerhalb oder im Gegensatz zu der Natur gestellt“ (ebd., S. 20) wähne und erstmals „zum geschichtllichen Selbstbewußtsein“ (ebd., S. 78) gekommen sei. In der zweiten Stufe erkenne der Mensch die Vorteile, die der Zusammenschluß in Verbände mit sich bringe, weshalb sie bei Rückert „die sociale“ (ebd., S. 80) heißt. In der dritten Stufe schließlich entwickle sich aus dem Bedürfnis, die Welt und ihre Phänomene verstehen zu wollen, „das übersinnliche oder geistige Moment“ (ebd., S. 84), das bald zum religiösen werde. Es folge die zwangsläufige Auflösung der Kultur durch Säkularisation und Wissenschaft; sie wird aber nicht als eine eigene Stufe (oder doch als eine heimliche 4. Stufe?) gesehen, sondern nur als allmählicher Verfall. Nachdem die westeuropäische Kultur als die einzige sich wirklich lebendig erhaltene Kultur alle anderen Kulturen, ohnehin bereits abgesunken, durch Eroberung und Ausbeutung endgültig zerstört habe, komme ihr die Rolle (oder gar die Pflicht?) zu, durch Rückbesinnung auf ihr christliches Ideal der Menschheit das Heil zu bringen – doch Skepsis sei angebracht, so Rückert, ob ihr das gelinge. „Die Gegenwart und die Zukunft der europäischen Cultur, die selbst nichts weiter vermögen als das negative Werk, die Zerstörung gegen sich selbst als Vorbereitung für eine bessere Zukunft weiter fortzuführen, sind nicht dazu geschaffen, um die Regeneration jener noch mehr zerstörten eigenthümlichen Culturgebilde zu vollziehen“ (ebd., S. 919). Als leidenschaftlicher Patriot und später Romantiker glaubte Rückert zwar an eine „germanische Mission“ (vor allem der Deutschen), verurteilte aber, wie sehr viele deutsche Denker zu dieser Zeit, die Kolonialpolitik der Europäer, insbesondere der Engländer. Und als Idealist, der Rückert sicherlich auch war, schien er zu hoffen, das sich in Zukunft für die Menschheit eine „wahre Humanität“ durchsetzen werde, ganz in der Tradition des Neuhumanismus.
Goethes Geistesepochen () hatten z.B. 1897 auch Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931) zu seinem Vortrag Weltperioden () angeregt. In einer Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät Kaiser Wilhelms II. verglich der große Altphilologe die einzelnen Geschichtsperioden mit Gliedern einer Kette, die ziellos in die Zukunft laufe. Es gebe keine Fortschrittsgarantie, weil alles jederzeit vergehen könne, wie die Geschichte beweise. „Die Kultur kann sterben, denn sie ist mindestens einmal gestorben. …. Wer einmal mit Nachdenken über das Forum Roms gewandert ist, muß inne geworden sein, daß der Glaube an den ewigen kontinuierlichen Fortschritt ein Wahn ist.“ Wilamowitz-Moellendorff sah Analogien zwischen Antike und Abendland und Kulturen als biologische Organismen: „denn wir sehen nun in anderthalb Jahrtausenden eine Kultur den ganzen Kreislauf der Entwicklung durchmachen, wir sehen einen Ring an der Kette der Ewigkeit sich runden und schließen. Und ganz abgesehen von den Hervorbringungen dieser Kultur, schon daß sie abgeschlossen hinter uns liegt, so daß wir die Ursachen und Phänomene ihres Wachsens und Vergehens ganz verfolgen können, hat für die historische Methode überhaupt paradigmatische Bedeutung.“ (Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Weltperioden, 1897, S. 4). Hier sind die Ähnlichkeiten zu vielen Sätzen eines noch bekannteren Kulturmorphologen schon sehr deutlich – das gilt auch für viele Textstellen in der schon zwei Jahre vor den Weltperioden von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff veröffentlichten Geschichte des Untergangs der antiken Welt von Otto Seeck (1850-1921): „Es ist ein uralter Gemeinplatz, daß die Völker Individuen seien und in ihrem Leben ganz dieselben Entwicklungsstufen durchmachen müssen, wie das Einzelgeschöpf. Schon Varro versuchte, indem er Kindheit, Jugend, Mannesalter und Greisentum der Römer nach gleichen Zeiträumen abgrenzte, genau zu berechnen, wann sein Volk der Natur den unvermeidlichen Zoll werde bezahlen müssen, und durch einen wunderlichen Zufall ist seine Prophezeiung so ziemlich eingetroffen. Bis auf den heutigen Tag ist dann die Phrase, von dem allmählichen Altern und schliesslichen Tode der Nationen unzählige Male nachgesprochen worden, und den Meisten muss sie noch immer als die schlagendste Erklärung für den Untergang des römischen Reiches gelten.“(Otto Seeck, Geschichte des Untergangs der antiken Welt, 1895, S. 273-274). Seeck war vom Anspruch beseelt, dem Leser die großen Zusammenhänge eines komplizierten historischen Prozesses zu verdeutlichen, dabei nicht selten einen weiten Bogen oder oft auch mehrere spannend, immer wieder Bezug auf die Gegenwart nehmend, gut und gern viel spekulierend und mit eigenwilligen Thesen überraschend. Auch das ähnelt sehr der anregenden und geistreichen Weise jenes noch bekannteren Kulturmorphologen.
Noch einmal zurück: Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie; in dieser Zeitschrift, die Goethe 1817 bis 1824 herausgab, wurden frühere und laufende Forschungen veröffentlicht. Also auch Goethes „Spiraltendenz“, um dessen Anschauung von der „Wiederkehr des ewig Gleichen“ darzustellen, oder auch Goethes entwicklungsgeschichtlich gedachter Grundbegriff der Metamorphose. Besonders Oswald Spengler benutzte ihn als Grundlage – und in ganz spezieller Hinsicht die Pseudomorphose, die er als Theorem in seine Historiensicht einbaute: „Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 784). Der Untergang des Abendlandes trägt nicht umsonst den Untertitel Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Spengler bezog sich auf Goethe und Nietzsche, und es drängte ihn, „noch einmal die Namen zu nennen, denen ich so gut wie alles verdanke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen, und wenn ich mein Verhältnis zu diesem in eine Formel bringen soll, so darf ich sagen: ich habe aus seinem Augenblick einen Überblick gemacht.“ (Oswald Spengler, ebd., S. IX). „Das Bewußtsein davon, daß die Zahl der weltgeschichtlichen Erscheinungsformen eine begrenzte ist, daß Zeitalter, Epochen, Lagen, Personen sich dem Typus nach wiederholen, war immer vorhanden. …. Die Archäologie ist ja selbst ein Ausdruck des Gefühls, daß Geschichte sich wiederholt ….“ (Oswald Spengler, ebd., S. 4 und 4-5).
Die Kulturmorphologie zeichnet sich unter anderem auch dadurch aus, daß sie vom Zyklus der Geschichte ausgeht, vom zyklischen Geschichtsmodell also. Die zyklische Geschichtsdeutung ist übrigens viel älter als die lineare. Das zyklische Geschichtsmodell wurde zu der Zeit vom linearen Geschichtsmodell verdrängt, als das Christentum begann, genauer: als das Christentum allmählich mächtiger wurde (2. und 3. Jh.) und sich im Römischen Reich auch tatsächlich durchsetzte (4. Jh.). Das lineare Geschichtsmodell geht darauf zurück, daß nach christlicher Auffassung alles menschliche Geschehen in den Heilsplan Gottes eingebettet ist. Im Abendland hat es kanonische Bedeutung, was auch an unserem Kalender deutlich wird. Gemäß dieses christlichen Kanons hat alle Menschengeschichte einen Anfang, nämlich den Schöpfungsakt Gottes, und ein Ziel, nämlich das Jüngste Gericht und das Ewige Leben der als gerecht Befundenen im Paradies. Nicht nur die wesentlichen heilsgeschichtlichen Vorgänge – der Sündenfall, die Menschwerdung Gottes, der Erlösungstod und die erwartete Wiederkehr Christi -, sondern alles Geschehen überhaupt läßt sich damit im linearen Sinn deuten. Richtung und Ziel sind also eindeutig definiert. Zu dieser Richtschnur gab es in der abendländischen Geschichte zwar immer auch einige wenige Abtrünnige, die zurück zum zyklischen Geschichtsmodell wollten und als Ausnahmen doch immer nur die Regel bestätigten: Abweichlern drohte die Exkommunikation! Stärker wurden die Ausnahmen jedoch seit der „Bürgerlichen Revolution“, also seit Ende des 18. Jahrhunderts – Beispiele hierfür gibt es jedenfalls genug (). Trotzdem ist das zyklische Geschichtsmodell die Ausnahme der Regel geblieben, ist das lineare Geschichtsmodell ganz klar und deutlich vorherrschend geblieben. Es ist ein Verdienst von Karl Löwith (1897-1973), deutlich gemacht zu haben, daß die gesamte abendländische Geschichtsphilosophie auf diesem Dogma beruht. In seinem Buch Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1948) hat er eindrucksvoll nachgewiesen, daß sich alle bis zum Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert entwickelten abendländischen geschichtsphilosophischen Systeme von den heilsbringenden Grundmuster herleiten und daß das auch danach noch überwiegend galt und gilt. Besonders deutlich werde dies gerade beim Marxismus, denn genau wie das Christentum kennt ja auch der Marxismus ein ursprüngliches Paradies, einen Sündenfall (Übergang zum Privateigentum!), eine Menschheitserlösung (Weltrevolution der Arbeiterklasse!) und ein freilich irdisches Paradies – außerdem die vergleichbaren äußeren Formen, in denen sich dieser Glaube darstellt: Helden- und Märtyrerverehrung, „Exkommunikation“ von Abweichlern, „heilige Texte“, Prozessionen von Massenaufmärschen.
Von den erwähnten wenigen Ausnahmen abgesehen (), ist also auch die Geschichtsphilosophie seit der „Bürgerlichen Revolution“ – das heißt: seit Ende des 18. Jahrhunderts – eine säkularisierte Variante des christlichen Heilsmodells und demzufolge eine Geschichtsphilosophie mit linearem Geschichtsmodell. Dies gilt auch z.B für die Geschichtsphilosophien von Herder (1744-1803) oder Hegel (1770-1831) – obwohl gerade bei diesen beiden auch (auch!) Zyklentheorien thematisiert werden – und fast alle Philosophen nach ihnen, bis auf die eben erwähnten Ausnahmen – d.h.: Moderne (Zivilisation, Nihilismus) oder Historismus ist nicht gleichbedeutend mit der Abkehr vom linearen Geschichtsmodell, aber doch mit der Zunahme der Ausnahmen, die das zyklische Geschichtsmodell bevorzugen. Und: der Wunsch, zum alten zyklischen Geschichtsmodell zurückzukehren, wächst. Wie alt die zyklische Geschichtsvorstellung ist, ist nicht genau bekannt, wohl aber, daß durch die Seßhaftwerdung, die „Neolithische Revolution“, eben die produzierende Wirtschaftsweise () der Vegetationszyklus „Säen, Reifen, Ernten“ seinen Niederschlag in religiösen Vorstellungen fand und mit dem Lebenszyklus: „Geburt, Werden, Tod“ verglichen wurde, daß also die zyklische Geschichtsvorstellung kulturell sinnvoll war, weil es zwischen dem Glauben und der Produktion, zwischen der Religion (bzw. Theologie) und der Wirtschaft (bzw. Ökonomie) eine Rückkoppelung gab, die Kultur stiftet und damals zusammen mit Technik und Kunst Neues bewirkte: „Historienkulturen“ (). Das zyklische Geschichtsmodell blieb vorherrschend bis zum Christentum, wie bereits erwähnt, und das Christentum ist praktisch eine Synonym für die Vorherrschaft des linearen Geschichtsmodells. Das Christentum hatte eine durchaus realistische Vorstellung von der naturgegebenen Schwäche des Menschen, seiner „Sündhaftigkeit“; und die sogenannte Moderne ändert daran im Grunde nichts – auch dann nicht, wenn in ihr die Vorstellung vorherrscht, daß der Mensch von Natur aus gut sei. In beiden Fällen – ob realistisch-pessimistisch oder idealistisch-optimistisch – geht es um die permanente Aufwärtsentwicklung, mal mehr innerlich und geistig, mal mehr äußerlich und materiell. Andere als diese kleinen Unterschiede gibt es nicht. Es geht in beiden Fällen um eine „Himmelfahrt“! Der Fortschritt im Dieseits entspricht genau dem Zustreben auf das Paradies im Jenseits, doch nicht das aufstrebende Traditionschristentum, sondern das aufstrebende Bürgertum begeht den Fehler im Fortschrittsglauben, weil es die Fortschrittsidee auch auf den geistig-moralischen und den politischen Bereich überträgt, obwohl der Fortschritt nur in der Technik – in Wissenschaft, Medizin, Kommunikation u.s.w. – nicht zu leugnen ist, weil er ja ein technischer Fortschritt ist, sogar ein enormer und immer stärker sich beschleunigender (der übrigens deshalb auch nicht mehr als linear, sondern als stark exponentiell zu bezeichnen ist). Aber eben nur hier! Statt dies zu berücksichtigen, steht für die Modernen das Ziel der säkularen Heilserwartung außer Frage: die Menschheit wird immer mehr zu den Höhen des Paradieses emporsteigen. Kein Wort von Kultur, von Wirtschaft, von Kunst – nur von Menschheit, verstanden als ein Individuum auf der „Himmelfahrt“! Wie eine Bombe mußte hier Spenglers These einschlagen, daß es eine Menschheit in diesem Sinne gar nicht gibt, daß sich vielmehr jeweils untereinander nicht oder kaum verbundene Kulturkreise entwickeln, und zwar nach der Art organischer Wesen. Es war Goethe, dem Spengler ausdrücklich dankte (), auch für die Analogie aus der Botanik, die „Spiraltendenz“, die die „Wiederkehr des ewig Gleichen“ anschaulich verdeutlicht.
„Kulturen sind Organismen. Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie. …. Kultur ist das Urphänomen aller vergangenen und künftigen Weltgeschichte. Die tiefe und wenig gewürdigte Idee Goethes, die er in seiner »lebendigen Natur« entdeckte und seinen morphologischen stets zugrunde gelegt hat, soll hier in ihrem genauesten Sinne auf … die Geschichte angewendet werden. …. »Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen, und wenn ihn das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen: hier ist die Grenze.« Ein Urphänomen ist dasjenige, worin die Idee des Werdens rein vor Augen liegt. Goethe sah die Idee der Urpflanze in der Gestalt jeder einzelnen, zufällig entstandenen oder überhaupt möglichen Pflanze klar vor seinem geistigen Auge. Er ging bei seiner Untersuchung des os intermaxillare vom Urphänomen des Wirbeltiertypus, auf anderem Gebiete von der geologischen Schichtung, vom Blatt als der Urform aller pflanzlichen Organe, von der Metamorphose der Pflanzen als dem Urbild alles organischen Werdens aus. »Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen«, schrieb er aus Neapel an Herder, als er ihm seine Entdeckung mitteilte.“ (Oswald Spengler, 1917, ebd., S. 140-142 ). Spenglers Bezug auf Goethe ist eindeutig: Organisches Wachstum der Kulturen, wie es sich in Lebenssaltern Einzelner und in den Jahreszeiten naturhaft symbolisch darstellt.
Laut Spengler sind Kulturen „Einzelwelten des Werdens, die im Gesamtbilde der Geschichte … eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 24). „Ich erinnere an Goethe. Was er die lebendige Natur genannt hat, ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Geschichte genannt wird. Goethe, der als Künstler wieder und immer wieder das Leben, die Entwicklung seiner Gestalten, das Werden, nicht das Gewordne, herausbildete, wie es der »Wilhelm Meister« und »Wahrheit und Dichtung« zeigen, haßte die Mathematik. Hier stand die Welt des Mechanismus der Welt als Organismus, die tote der lebendigen Natur, das Gesetz der Gestalt gegenüber. Jede Zeile, die er schrieb, sollte die Gestalt des Werdenden, »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«, vor Augen stellen. Nachfühlen, Anschauen, vergleichen, die unmittelbare innere Gewißheit, die exakte sinnliche Phantasie – das waren seine Mittel, dem Geheimnis der bewegten Erscheinung nahe zu kommen. Und das sind die Mittel der Geschichtsforschung überhaupt. Es gibt keine andern. Dieser göttliche Blick ließ ihn am Abend der Schlacht von Valmy (20.09.1792) am Lagerfeuer jenes Wort aussprechen: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Kein Heerführer, kein Diplomat, von Philosophen zu schweigen, hat Geschichte so unmittelbar werden gefühlt. Es ist das tiefste Urteil, das je über einen großen Akt der Geschichte in dem Augenblick ausgesprochen wurde, als er sich vollzog. Und so wie er die Entwicklung der Pflanzenform aus dem Blatt, die Entstehung des Wirbeltiertypus, das Werden der geologischen Schichten verfolgte – das Schicksal der Natur, nicht ihre Kausalität – soll hier die Formensprache der menschlichen Geschichte, ihre periodische Struktur, ihre organische Logik aus der Fülle aller sinnfälligen Einzelheiten entwickelt werden.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 35). „Jede Kultur durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 144). „Jede Kultur, jede Frühzeit, jeder Aufstieg und Niedergang, jede ihrer innerlich notwendigen Stufen und Perioden hat eine bestimmte, immer gleiche, immer mit dem Nachdruck eines Symbols wiederkehrende Dauer.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 148).

„Man empfindet so etwa als Zufall, daß Goethe nach Sesenheim, und als Schicksal, daß er nach Weimar kam. (). Das eine scheint Episode, das andre Epoche zu sein. Indessen wird daraus deutlich, daß die Unterscheidung vom iunern Range des Menschen abhängt, der sie trifft. Der Menge wird selbst das Leben Goethes als eine Reihe anekdotischer Zufälle erscheinen; wenige werden mit Erstaunen empfinden, welche symbolische Notwendigkeit in ihm auch noch dem Unbedeutsamsten innewohnt. Aber war vielleicht die Entdeckung des heliozentrischen Systems durch Aristarch für die Antike ein belangloser Zufall, die vermeintliche Wiederentdeckung durch Kopernikus dagegen ein Schicksal für die faustische Kultur? War es ein Schicksal, daß Luther im Gegensatz zu Calvin kein Organisator war – und für wen? …. Hier bleibt das Gebiet der begrifflichen Verständigung weit zurück; was Schicksal, was Zufall ist, das gehört zu den entscheidenden Erlebnissen der einzelnen Seele wie derjenigen ganzer Kulturen. Hier schweigt alle gelehrte Erfahrung, jede wissenschaftliche Einsicht, jede Definition; und wer auch nur den Versuch wagt, beides erkenntnistheoretisch fassen zu wollen, der kennt es gar nicht. …. Wer urteilend an die Geschichte herantritt, wird nur Daten finden.““ (Oswald Spengler, ebd., S. 181).

„Schicksal und Zufall bilden jederzeit einen Gegensatz (), in den die Seele zu kleiden versucht, was nur Gefühl, nur Erlebnis und Schauen sein kann und was allein durch die innerlichsten Schöpfungen von Religion und Kunst denen verdeutlicht wird, die zur Einsicht berufen sind. Um dies Urgefühl des lebendigen Daseins, das dem Weltbilde der Geschichte Sinn und Gehalt verleiht, heraufzurufen – Name ist Schall und Rauch -, weiß ich nichts Besseres als eine Strophe von Goethe, dieselbe, die an der Spitze dieses Buches dessen Grundgesinnung bezeichnen soll:
Wenn im Unendlichen dasselbe
Sich wiederholend ewig fließt,
Das tausendfältige Gewölbe
Sich kräftig ineinander schließt;
Strömt Lebenslust aus allen Dingen,
Dem kleinsten wie dem größten Stern,
Und alles Drängen, alles Ringen
Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.

„An der Oberfläche des Weltgeschehens herrscht das Unvorhergesehene. Es haftet als Merkmal an jedem Einzelereignis, jeder Einzelentscheidung, jeder Einzelpersönlichkeit. … Daß in den Wirbeln des Werdens ein Element nur ein Schicksal erlitt und ein andres zum Schicksal wurde und oft geung für alle Zukunft, so daß jenes im Wellenschlag der historischen Oberfläche dahinschwand, dieses aber Geschichte schuf, das ist mit keinem Darum und Deshalb zu erklären und doch von innerster Notwendigkeit. Und deshalb gilt auch vom Schicksal, was Augustinus in einem tiefen Augenblick von der Zeit gesagt hat: Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 182-183).

Die Natur
ist nicht frei
vom Zufall. Was Gesetz, Regel, Ordnung, Schicksal, Notwendigkeit, Zwang oder der Wille Gottes genannt wird, ist nicht denkbar ohne die andere Seite: Zufall, Ausnahme, Chaos, Kontingenz, Freiheit, Glück oder der Wille Satans, also der Wille des Teufels – und auch deshalb sagt Mephistopheles: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, // Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. // …. Ich bin der Geist, der stets verneint! // Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, // ist wert, daß es zugrunde geht; // Drum besser wärs, daß nichts entstünde. // So ist denn alles, was ihr Sünde, // Zerstörung, kurz das Böse nennt, // Mein eigentliches Element.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust, 1808, S. 64-67): Faust wundert sich, daß jemand, der sich einen Teil nennt, trotzdem ganz vor ihm steht. Mephistopheles antwortet: „Bescheidne Wahrheit sprech ich dir. // Wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt, // Gewöhnlich für ein Ganzes hält“ (ebd., S. 67).
Gewöhnlich – so halten unter den Menschen auch die Wissenschaftler sich und ihre kleine Narrenwelt für ein Ganzes und suchen in ihren Phänomenen das Gesetzte, das Gesetz – aus ihnen spricht also immer noch der große Theologe, der, wenn er von Gottes Gesetz spricht, dasselbe meint wie der Theoretiker, der von den Naturgesetzen spricht. In Wahrheit ist es so, daß der Zufall das Gesetz und das Gesetz den Zufall erzwingt.
Es lauert im Zufall das Gesetz und im Gesetz der Zufall. Praktisch jedoch wollen die meisten der faustischen Abendländer – ob sie Wissenschaftler oder Intellektuelle, Juristen oder Politiker, Päpste oder Kritiker heißen – dieser Einsicht nicht folgen, denn für sie gilt, was der oberste Gesetzgeber gesetzt hat: das Gesetz. Der eine Gott für die Abendland-Christen läßt das „Wunder“ zu (und das ist kein Zufall!), auf der weltlichen Bühne gehen die Päpste des Abendlandes für ihre Christen von der menschlichen „Sünde“ aus (auch das ist kein Zufall!), gehen die juristischen Richter des Abendlandes für ihre Verbrecher vom menschlichen „Fehler“ aus (auch das ist kein Zufall!), gehen die intellektuellen Richter des Abendlandes für ihre Wissenschaftler u.s.w. vom technischen „Unfall“ aus (auch das ist kein Zufall!). Zwar haben immerhin einige Intellektuelle, zuerst die Philosophen und Juristen, es aus methodischen Interessen heraus geschafft, Handlungen von Ereignissen zu unterscheiden und überhaupt die Ereignisse ganz scharf zu trennen, nämlich das scheinbar willkürliche Ereignis (vgl. Vis maior, Höhere Gewalt, Act of God u.s.w.) von der Koinzidenz als dem Zusammenfall zweier Ereignisse, doch der Zufall selbst konnte dadurch und eben wegen jener methodischen Interessen lediglich ausgegrenzt werden. Und: Unsere Gesetzgeber kennen und unterstellen zwar eine Gewaltspirale, aber keine Geschichtsspirale, zudem akzeptieren die weltlichen Gesetzgeber zwar einen Wirtschaftszyklus, aber keinen Kulturzyklus.

„Geschichte ist die Verwirklichung einer Seele.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 192). Für die Kulturgeschichte gilt, auch nach dem Übergang der Kultur in ihre Zivilisation (zivile Kultur), daß der Zufall „wählt“ (), also ein zufälliges Ereignis starten läßt, und daß trotzdem das Schicksal „(zu)trifft“ (), ähnlich wie ein Gesetz (Gesetztes, nur ohne erkennbare Kausalität !) – zielsicher und: regelmäßig, notwendig, zwanghaft oder gar nach dem Willen Gottes (). Ein Beispiel: „Die französische Revolution konnte durch ein Ereignis von anderer Gestalt und an anderer Stelle, in England oder Deutschland etwa, vertreten werden. Ihre »Idee«, der Übergang der Kultur in die Zivilisation, der Sieg der anorganischen Weltstadt über das organische Land, das nun »Provinz« in geistigem Sinne wird, war notwendig, und zwar in diesem Augenblick. …. Ein Ereignis macht Epoche, das heißt: es bezeichnet im Ablauf einer Kultur eine notwendige, schicksalshafte Wendung. Das zufällige Ereignis selbst, ein Kristallisationsgebilde der historischen Oberfläche, konnte durch entsprechende andre Zufälle vertreten werden; die Epoche ist notwendig und vorbestimmt. Ob ein Ereignis den Rang einer Epoche oder einer Episode in bezug auf eine Kultur und deren Gang einnimmt, das hängt … mit den Ideen vom Schicksal und Zufall () … zusammen.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 193-194). „Als Nietzsche das Wort »Umwertung aller Werte« zum ersten Male niederschrieb, hatte endlich die seelische Bewegung dieser Jahrhunderte, in deren Mitte wir leben (Spengler schrieb dies 1911 bis 1917), ihre Formel gefunden. Umwertung aller Werte – das ist der innerste Charakter jeder Zivilisation. Sie beginnt damit, alle Formen der voraufgegangenen Kultur umzuprägen, anders zu verstehen, anders zu handhaben. Sie erzeugt nicht mehr, sie deutet nur um. Darin liegt das Negative aller Zeitalter dieser Art. Sie setzen den eigentlichen Schöpfungsakt voraus. Sie treten nur eine Erbschaft von großen Wirklichkeiten an. …. Die Kultur wird dialektisch vernichtet. Lassen wir die großen Namen des 19. Jahrhunderts vorüberziehen, an die sich für uns dies mächtige Schauspiel knüpft: Schopenhauer, Hebbel, Wagner, Nietzsche, Ibsen, Strindberg, so überblicken wir das, was Nietzsche in dem fragmentarischen Vorwort zu seinem unvollendeten Hauptwerk beim Namen nannte, die Heraufkunft des Nihilismus. Sie ist keiner der großen Kulturen fremd.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 448-450). Laut Spengler gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Formen kultureller Nihilismen: der faustische Nihilismus bedeute ein dynamisches Zertrümmern der Ideale, der apollinische Nihilismus bedeute ein statisches Zerfallenlassen der Ideale, und der indische Nihilismus bedeute ein In-sich-selbst-Zurückziehen vor den Idealen. (). Jeder Zerfall gehorcht einem Gesetz – er ereignet sich jedenfalls irgendwie gesetzmäßig, regelmäßig, ordnungsmäßig, schicksalhaft, zwanghaft, notwendig oder nach dem Willen Gottes (), warum er aber in verschiedenen Räumen und Zeiten auch völlig verschieden realisiert wird, ist eine Frage der Voraussetzungen und Bedingungen, die am Anfang vom Zufall gesetzt wurden. Schicksal und Zufall bilden also einen Gegensatz () und beeinflussen sich gegenseitig (), z.B. durch Öffnung und Schließung. Eine Wechselbeziehung.
Ob unser Universum und seine Galaxien zufällig oder schicksalhaft da sind, wissen wir nicht; dagegen aber kann als sehr wahrscheinlich gelten, daß Sterne, Planeten und Monde ihren Ort im Raum nicht in Freiheit wählen, sondern in Verbundenenheit einnehmen. Dieser Gedanke führt uns zwangsläufig zum „Sein“ (). Wir unterscheiden gewöhnlich das reale Sein (Existenz oder Dasein) und das ideale Sein (Essenz oder Sosein), aber es gibt kein Sosein ohne Dasein, kein Dasein ohne Sosein, denn alles Sosein von etwas „ist“ selbst auch Dasein von etwas, alles Dasein von etwas „ist“ selbst auch Sosein von etwas, und nur dieses Etwas ist hier nicht dasselbe. Es geht hier also um das Sein als das Etwas-Enthalten und das In-etwas-enthalten-Sein. Nur Anfang und Ende, nur das Kleinste und das Größte sind für uns unbekannt, denn vom Kleinsten () wissen wir nicht, ob es selbst auch etwas enthält, und vom Größten () wissen wir nicht, ob es selbst auch enthalten ist. Wenn wir vom Größten ausgehen, müssen wir vom Etwa-Enthalten ausgehen, und wenn wir vom Kleinsten ausgehen, müssen wir vom In-etwas-enthalten-Sein ausgehen. Alle und jede physikalisch-chemische Existenz ist, weil sie ja im Universum „ist“, ein „In-Sein“ (), ein „Im-Raum-Sein“ (). Daher die Frage, ob und warum welche Arten des „In-Seins“ mehr in Verbundenheit oder mehr in Freiheit „sind“. (1) Für alle Existenz, für alle Nicht-Lebewesen und alle Lebewesen ist das „In“ an dem „In-Sein“ ein Raum; (2) für Lebewesen ist dieser Raum unterschiedlich zu definieren: als (2.1) Umwelt, entweder mit (2.1.1) viel Verbundenheit (und wenig Freiheit) oder mit (2.1.2) viel Freiheit (und wenig Verbundenheit), und zusätzlich als (2.2) Welt, weshalb Menschen auch vom „In-der-Welt-Sein“ () sprechen können.
„Eine Pflanze … bildet einen Teil der Landschaft, in der ein Zufall () sie Wurzel zu fassen zwang. …. Ein Tier aber kann wählen. Es ist aus der Verbundenheit der ganzen übrigen Welt gelöst. … Verbundenheit und Freiheit: das ist der tiefste und letzte Grundzug in allem, was wir als pflanzenhaftes und tierhaftes Dasein unterscheiden. Doch nur die Pflanze ist ganz, was sie ist. Im Wesen eines Tieres liegt etwas Zwiespältiges. Eine Pflanze ist nur Pflanze, ein Tier ist Pflanze und noch etwas außerdem.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 557-558). Pflanzen sind also in enger Verbundenheit an ihre Umwelt gebunden, während Tiere in Freiheit ihre Umwelt wählen können und Menschen sogar in relativ großer Freiheit, weshalb man bei Menschen immer von Umwelt und Welt sprechen sollte. Nur Menschen sind, weil sie (nicht nur in der Umwelt, sondern zudem auch) in der Welt sind, dazu fähig, die Freiheit zu mißbrauchen und demzufolge neben der Umwelt sogar auch die Welt zu zerstören.
„Daß innerhalb der Menschengeschichte plötzlich der Typus der hohen Kultur erscheint, ist ein Zufall (), dessen Sinn nicht nachzuprüfen ist. Es ist auch ungewiß, ob nicht ein plötzliches Ereignis im Dasein der Erde eine ganz andre Form zum Vorschein bringt. Aber die Tatsache, daß acht solcher Kulturen () vor uns liegen, alle von gleichem Bau, gleichartiger Entwicklung und Dauer, gestattet uns eine vergleichende Betrachtung und damit ein Wissen, das sich über verschollene Epochen rückwärts und über bevorstehende vorwärts erstreckt, immer unter der Voraussetzung, daß nicht ein Schicksal () anderer Ordnung diese Formenwelt überhaupt plötzlich durch eine neue ersetzt. Ein Recht dazu gibt uns die allgemeine Erfahrung vom organischen Dasein.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 597).
„Es ist eine ganz entscheidende und in ihrer vollen Bedeutung nie gewürdigte Tatsache, daß alle großen Kulturen Stadtkulturen sind. Der höhere Mensch des zweiten Zeitalters ist ein städtebauendes Tier. Das ist das eigentliche Kriterium der »Weltgeschichte«, das sie von der Menschengeschichte überhaupt auf das Schärfste abhebt – Weltgeschichte ist die Geschichte des Stadtmenschen. Völker, Staaten, Politik und Religion, alle Künste, alle Wissenschaften beruhen auf einem Urphänomen menschlichen Daseins: der Stadt. Da alle Denker aller Kulturen selbst in Städten leben – auch wenn sie sich körperlich auf dem Lande befinden -, so wissen sie gar nicht, ein wie bizarres Ding die Stadt ist. Wir müssen uns ganz in das Erstaunen eines Urmenschen versetzen, der zum ersten Mal inmitten der Landschaft diese Masse von Stein und Holz erblickt, mit ihren steinumgebenen Straßen und steinbelegten Plätzen, ein Gehäuse von seltsamster Form, in dem es von Menschen wimmelt.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 661).
„Weltgeschichte ist die Geschichte der großen Kulturen. Und Völker sind nur die sinnbildlichen Formen, in welche zusammengefaßt der Mensch dieser Kulturen sein Schicksal erfüllt. In jeder dieser Kulturen … – ob unser Wissen dahin reicht oder nicht – gibt es eine Gruppe großer Völker von ein und demselben Stil, die am Eingang der Frühzeit entsteht und die, Staaten bildend und Geschichte tragend, im ganzen Lauf der Entwicklung auch die ihr zugrunde liegende Form einem Ziel entgegenführt.“ (Oswald Spengler, ebd., S. 761).
„Ich habe auf diese Weise mehr als fünfzig Vorgänger kennengelernt, darunter Lamprecht, Dilthey und sogar Bergson. Inzwischen werden es weit über hundert geworden sein. Hätte ich auch nur die Hälfte davon lesen wollen, so wäre ich noch heute nicht zu Ende …. Die beiden Denker, von denen ich mich durchaus abhängig fühle, sind Goethe und Nietzsche. Wer Vorgänger in den letzten zwanzig Jahren aufstöbert, scheint gar nicht zu ahnen, daß alle diese Gedanken, und zwar in weit vorausgreifender Fassung, schon in Goethes Prosaschriften und Briefen enthalten sind, die Folge von Frühzeit, Spätzeit und Zivilisation z.B. in dem kleinen Aufsatz Geistesepochen (), und daß es gar nicht möglich ist, heute etwas auszusprechen, was nicht in Nietzsches Nachlaßbänden berührt wäre.“ (Oswald Spengler im unveröffentlichten Brief an Oskar Beck, 18.09.1921).

„Spenglers zentrale Denkerfahrung liegt in der Beobachtung, daß Formen ein Eigenleben haben – sein ganzes Genie steckt in diesem Motiv. Die Form, die Spengler vor allem interessiert, ist das, was er eine Kultur nennt.“ (Peter Sloterdijk, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 177). „Spengler redet in solchen Zusammenhängen ganz nietzscheanisch, wobei man wissen muß, daß Nietzsche in seinen besten Augenblicken als Immunologe spricht, wie ein Kulturarzt, der weiß, daß Kulturen und ihre Träger, die Menschen, Wesen sind, die mit dem Ungeheuren geimpft werden und eigensinnige Immunreaktionen entwickeln, aus denen verschiedene kulturelle Temperamente hervorgehen. In diesem Sinne muß man Spenglers These auffassen, daß es nur acht Hochkulturen im eigentlichen Wortsinn gegeben habe. Nur in dieser kleinen Zahl von Fällen haben sich die hochkulturschöpferischen Immunreaktionen vollzogen, von denen jede einzelne einen unverwechselbaren Charakter besaß. Die acht hohen Kulturen wären demnach die Abwicklung lokaler Immunreaktionen.“ (Peter Sloterdijk, ebd., S. 225-226).
„Biographie ist ein – Goethesches – Stichwort in Spenglers Untergang des Abendlandes“ (Jürgen Naeher, Oswald Spengler, 1984, S. 53), heißt es in einem mehr biographisch als monographisch zu verstehenden Buch. „Was Nietzsche … Schopenhauer, das ist Spengler Goethe und eben Nietzsche.“ (Ebd., S. 9). Vor allem zeitlich und wohl auch sonst war Spengler Nietzsche näher als Goethe, den er dafür mehr verehrte als Nietzsche. Spengler hat bestimmt oft genug gegen sich selbst anschreiben müssen; ob aber Naeher Spengler meint, der mit seiner Seele hart ins Privatgericht gehen konnte, oder doch nur sich selbst, bleibt unklar, wenn er behauptet: „Dies ist zunächst krude Individualpsychologie, »Psychoanalyse« im verkürzenden Sinne, und benennt dabei kaum den Begründungszusammenhang von »Einsamkeit: Verzweiflung, Angst und Schuldgefühl« als Zusammenhang, als kreisende Struktur.“ (Ebd., S. 53-54). Interessanter ist da schon eher, was Naeher über „Spenglers Anspruch, Goethe weiterentwickelt zu haben“ (ebd., S. 66), zu berichten weiß:
Zunächst behauptet Naeher, Spenglers Text sei „Text im Wortsinne, ein Gewebe (lat. texere: weben), denn „Spengler verstrickt seine Begriffe. Diese Verstrickung ist der mit dem Schicksal nicht unähnlich. Form und Inhalt seiner Philosophie drängen auf diese Weise, zusammenzukommen. Im »Schicksal« werden sie allerdings nicht weniger als aufgelöst – wird doch der Goethesche Schicksalsbegriff verkürzt, wird doch geschichtliche Dynamik stationär. Dabei ist Spenglers Denkweise, das Formprinzip seines Hauptwerks, erneut das der Assoziation. Der »Untergang des Abendlandes« artikuliert diese Denkweise nicht nur, er will sie methodisch begründen. Die Durchführung dieser »Methode« reflektiert auf sie. Aber auf eine Assoziation, die nicht willkürlich sein will, sondern es dem »Schicksal« anheimgibt, die Weise dieser verstrickten Erfahrung zu bestimmen. Spengler erfährt sich als dessen Organ. Assoziation greift nach »Analogien« – und »Homologien« – wie nach Gliedern einer Kette, eher: wie nach Zweigen eines Baumes. »Das Mittel, tote Formen zu erkennen, ist das mathematische Gesetz. Das Mittel, lebendige Formen zu verstehen, ist die Analogie« (UdA, S. 4). Spengler will sie gedanklich dorthin verlängern, wo sich e i n e monolithische, aber wachsende Einheit darstellt. Dies führt der Beantwortung von Spenglers zentraler Frage näher: Was muß »Morphologie der Weltgeschichte« bedeuten, was kann sie spezifisch leisten? Soll der »Untergang des Abendlandes« tatsächlich »ein nach Verlauf und Dauer« dem »Untergang des Antike« »völlig gleichartiges Ereignis« sein, so wird mit dieser »Analogie« – für Spengler: eher »Homologie« – zugleich die »Methode einer Morphologie der Weltgeschichte« grundsätzlich bestimmt. Sie soll wesentlich darin bestehen, Analogien von solcher welthistorischen Größenordnung zugleich bis ins kleinste Detail hinein durchzuführen, Übereinstimmungen und Unterschiede herauszuarbeiten. Werden gerade die »analogen« Details keineswegs durchgängig plausibel, weil verkürzt dargestellt, so verweist dies auf die prinzipielle Frage, ob nicht Spenglers Anspruch, Goethe weiterentwickelt zu haben, in erheblichem Maße kritisch einzuschränken ist: Spengler löst diesen Anspruch dort nicht ein, fällt im Gegenteil hinter von Goethe (aber auch von Hegel) Erreichtes zurück, wo die Methode, Analogien zu erkennen, »die überall wiederholte innere Form«, nicht so sehr durchgeführt wird, als daß solche Analogien behauptet werden. Es wird immer dann unzureichend herausgearbeitet, was das zu Vergleichende tatsächlich vermitteln soll. Philosophisch gesprochen entwickeln Spenglers Analogieschlüsse vielfach nicht die Identität in der Verschiedenheit. Die »metaphysische Struktur der historischen Menschheit«, eine »Logik der Geschichte«, soll offenbar Schlüsse auf Gleichförmiges zusammenhalten. (). Zumindest drängt diese »metaphysische Struktur« danach in einer – wie es heute auch heißt – Tiefenstruktur unter »den welthin sichtbaren, populären, geistig-politischen Gebilden der Oberfläche«, welche diese »Oberfläche, diese Wirklichkeit … erst hervorruft« (UdA, S. 3). Doch insgesamt ist diese Metaphysik konzipiert, wie wir bereits aus der Schrift Heraklit () wissen, als nicht-teleologische Auffassung des Seins, in seiner historischen Entwicklung. Gerade deshalb muß der Blick des Zuschauers, wenn er Spengler denn folgen wollte, zugleich hinter die Kulissen wie in den »Abgrund« blicken, sich seiner metaphysischen Schwere bewußt. »Untergang, Vollendung«, Erfüllung gerade der »abendländischen Kultur«: das »Erfahren« solchen Untergangs setzt die Erkenntnis dessen voraus, »was Kultur ist, in welchem Verhältnis sie zur sichtbaren Geschichte … steht, unter welchen Formen sie in Erscheinung tritt und inwiefern diese Formen – Völker, Sprachen und Epochen, Schlachten und Ideen, Staaten und Götter, Künste und Kunstwerke, Wissenschaften, Rechte, Wirtschaftsformen und Weltanschauungen, große Menschen und große Ereignisse – Symbole und als solche zu deuten sind« (UdA, S. 4). Auch die Kultur ist, wie – als »Symbol« – das Kunstwerk: geprägte Form, die lebend sich entwickelt; an dies Prinzip Goethes mag Spengler jedenfalls denken, wenn er, wie hier in der »Einleitung«, im »Untergang des Abendlandes« insgesamt, einen Fundus Goethescher Begriffe und Theorie-Stücke versammelt. Von diesem Fundus her sucht Spengler die Inhalte dieses Werkes in einer Art von Koordinatensystem zu verorten, in einem System mehrerer Koordinatensysteme, die er entsprechend von polaren Begriffen her konstruiert: zum Teil bereits im Inhaltsverzeichnis aber auch später – als jeweils »sehr bedeutungsvollen Gegensatz« (UdA, S. 7). »Heraklit, Der Kampf der Gegensätze« (in: RuA, S. 28-35), steht ihm durchaus noch vor Augen. Im »Untergang des Abendlandes« insbesondere als Versuch, »Das Problem der Weltgeschichte« (»Erster Band, Zweites Kapitel«) zu koordinieren. Die Pole heißen hier »Physiognomik und Systematik«, sowie »Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip«. Die Koordinaten des »Makrokosmos« (»Drittes Kapitel«) sind – leicht erkennbar – ungleichgewichtig. Figuriert die eine Koordinate als: »Die Symbolik des Weltbildes und das Raumproblem«, so wird die Polarität sogleich eingeebnet: »Es gibt nur sinnlich-räumliche Symbole« (UdA, S. 214). Hier liegt eine grundsätzliche Aporie des Spenglerschen Denkens offen zutage: Denn solche Einebnung vollzieht sich im Grunde von allem Anfang an, weil Spengler nicht nur mit der Polarität ansetzt, sondern zugleich mit einer übergroßen Macht des Schicksals. Ganz entsprechend verwässert sich Polarität, wenn das »Werden dem Gewordnen, die unaufhörlich lebende Geschichte der vollendeten und toten Natur zugrunde liegen« (UdA, S. 223) soll. Der Auflösung in das »Schicksal« entspricht die in das »Werden«. So, wie die »Schicksalsidee« das »Kausalitätsprinzip« überwertig dominiert; so, wie »Zeit und Schicksal«, »Raum und Kausalität« (»Zweites Kapitel«) einander nur gegenübertreten, um doch in der »Schicksalsidee« fast zur Unkenntlichkeit zu gerinnen, so dürfen »Symbole« nur zunächst als »geworden, nicht werdend«, mithin als räumlich, als »tote Natur« abgegrenzt werden. Da sie dies gerade in einem Denken nicht sein können, das Goethe folgen will, rettet sich Spengler in die Bestimmung, daß sie ein Werden immerhin »bezeichnen« (UdA, S. 214). Daß »alles Vergängliche« nur »ein Gleichnis« sei (vgl. UdA, S. 217), läßt Spengler in diesem Zusammenhang die gleichfalls Goethesche Bestimmung vergessen, nichts hinter den Dingen zu suchen, da diese selber die Lehre seien.“ (Jürgen Naeher, Oswald Spengler, 1984, S. 65-68). Goethe war zu groß für Spengler. Es könnte also sein, daß Spengler sich mit seinem Anspruch, Goethe weiterentwickelt zu haben, tatsächlich übernommen hat und dieser Anspruch „in erheblichem Maße“, wie Naeher behauptet, eingeschränkt werden muß. Trotzdem gebührt Spengler Respekt schon allein dafür, daß er diese Weiterentwicklung überhaupt versucht hat.
„Alles Gewordne ist vergänglich“ (), so Spengler, der Goethes Warnung kannte: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre“ (). „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ (), so Spenglers Goethe-Zitat, doch laut Naeher benutzte Spengler es wohl eher aus Gründen der Immunität oder um eine andere in diesem Zusammenhang wichtige „Goethesche Bestimmung“ – nämlich „nichts hinter den Dingen zu suchen, da diese selber die Lehre seien“ – einfach zu vergessen, denn, so Naeher: „Die Rede vom Gleichnischarakter alles Vergänglichen inspiriert Spengler vielmehr zu einer Lösung, einer »Deutung des Raumproblems«, die ähnlich der Deutung des »Zeitproblems aus der Schicksalsidee« konstruiert sein soll, und die tatsächlich auf eine vergleichende Weise eher mystisierende denn metaphysische oder gar rationalistische Züge trägt. Entsprechend zieht Spengler einen subjektiv erfahrbaren Schwebezustand herbei, an dem er zugleich die ganze Last seiner theoretischen Zentren festmacht – Schicksal und Tiefe: »Das schicksalhaft gerichtete Leben erscheint, sobald wir erwachen, im Sinnenleben als empfundene Tiefe. Alles dehnt sich, aber es ist noch nicht »der Raum«, nichts in sich Verfestigtes, sondern ein beständiges Sich-dehnen vom bewegten Hier zum bewegten Dort. Das Welterlebnis knüpft sich ausschließlich an das Wesen der Tiefe – der Ferne oder Entfernung ….« (UdA, S. 217).“ (Jürgen Naeher, Oswald Spengler, 1984, S. 68-69). Naeher behauptet weiter, daß durch Spenglers Zusammenbringen der „Zentralbegriffe Goethes“ mit Nietzsches Begriffen der „ursprüngliche Sinn solcher Begriffe … durch Isolation aus dem Kontext verändert“ worden sei, wobei Naeher Spengler vor allem vorwirft, aus Nietzsches „Begriffspaar apollinisch-dionysisch“ einen Begriff (apollinisch) für sich herausgebrochen zu haben. Denn danach seien diese Begriffe „nicht mehr die Goetheschen, die Nietzscheschen und wollen dies auch gar nicht mehr sein, sie erscheinen »erweitert … zu einer neuen Philosophie, der Philosophie der Zukunft« (UdA, S. 6). »Die Philosophie der Zukunft«: das ist hybrid. »Die Philosophie der Zukunft«: das ist wiederum doppelsinnig. Und Spengler weiß es, er spielt – oft scheint es bewußt- mit solchen Ambivalenzen: Wie der »Untergang« abendländischer Kultur selber, ist auch die Vollendung solcher Philosophie als Idee einem Wachstumsprozeß unterworfen. In diesem Sinne gibt der Untergang des Abendlandes »Umrisse«: … »zur Idee einer Morphologie der Weltgeschichte, der Welt als Geschichte, die im Gegensatz zur Morphologie der Natur, bisher fast dem einzigen Thema, der Philosophie, alle Gestalten und Bewegungen der Welt in ihrer tiefsten und letzten Bedeutung noch einmal, aber in einer ganz andern Ordnung, nicht zum Gesamtbilde alles Erkannten, sondern zu einem Bilde des Lebens, nicht des Gewordenen, sondern des Werdens zusammenfaßt« (UdA, S. 7).“ (Ebd., S. 69). Naeher bis hierher. Ich glaube, Spengler hat noch etwas mehr bewirkt als das, was z.B. Post-Interpreten ihm zugestehen wollen.
Historische Konstanten – Oberbegriff für Dauer und Wiederkehr – sind zyklisch zu verstehen (); und das zyklische Geschichtsmodell ist gerade auch in erkenntnistheortischer, in methodischer Hinsicht viel besser geeignet als das progressiv-lineare Geschichtsmodell. „Es besteht aller Anlaß, historischen Phänomenen wie Wiederholung und Regelmäßigkeit, Dauer und Wiederkehr erheblich mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als dies unter der suggestiven Einwirkung des progressiv-linearen Modells lange Zeit der Fall gewesen ist. Solche Konstanten sind geschichtswirksamer, als man sich das zumeist vorstellt, selbst in chaotisch-turbulenten Zeiten ….“ (Ulrich March, Dauer und Wiederkehr – Historisch-politische Konstanten, 2005, S. 13). Die Polarität zwischen Werden und Sein muß wieder mehr beachtet werden, weil es um Komplemetarität geht, weil „das eine ohne das andere nicht denkbar ist. Diese Polarität tritt in vielen Bereichen in Erscheinung, in der Physik beispielsweise als Gegensatz von »Bewegung« und »Trägheit«. Das Trägheitsgesetz besagt, daß jeder Körper im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung verharrt, solange keine entsprechend starke äußere Kraft auf ihn einwirkt. Entsprechend spielt sich alle Geschichte im Spannungsfeld zwischen Wandel und Beharrung ab, wobei – wie in der Welt der Physik – die Veränderungsdynamik stets auf den Widerstand der Beharrungskräfte stößt. Erst aus dieser bipolaren Spannung und der Wechselwirkung beider Kräfte ergibt sich Geschichte. Akzeptiert man diese Grundvorstellung, dann folgt daraus, daß bei der Interpretation historischer Erscheinungen stets beide Seiten zu berücksichtigen sind.“ (Ebd., S. 128). Auch Marchs „Untersuchung hat nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine Aufwärtsentwicklung des Menschen im Sinne einer qualitativen Verbesserung seiner Fähigkeiten ergeben. »Fortschritt« hat es nicht in der inneren, sondern allenfalls in der äußeren Welt des Menschen gegeben.“ (Ebd., S. 128). „Der Umstand, daß es Dauer und Wiederkehr in der Geschichte überhaupt gibt, und zwar in beträchtlichem Umfang, schließt eine unbegrenzte menschliche Willensfreiheit definitiv aus, ebenso die totale Plan- und Machbarkeit der menschlichen Verhältnisse. …. Weder eine fallende noch eine aufsteigende Gerade sind somit geeignet, den Gang der Geschichte zu veranschaulichen. …. Ein angemessenes Abbild des Geschichtsverlaufs könnte deshalb eine Kurve darstellen, die diese Mängel vermeidet: die unregelmäßige Spirale.“ (Ebd., S. 130-131).
Mit Bezug auf Spengler betont Huntington: „Die menschliche Geschichte ist die Geschichte von Kulturen. Es ist unmöglich, die Entwicklung der Menschheit in anderen Begriffen zu denken. …. Zu allen Zeiten waren Kulturen für die Menschen Gegenstand ihrer umfassendsten Identifikation. Infolgedessen sind Voraussetzungen, Entstehung, Aufstieg, Wechselwirkungen, Errungenschaften, Niedergang und Verfall der Kulturen von den hervorragendsten Historikern, Soziologen und Anthropologen erforscht worden. …. (»Weltgeschichte ist die Geschichte der großen Kulturen.« Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, S. 761) …. Für Spengler ist die Zivilisation »das unausweichliche Schicksal einer Kultur …. Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene ….« (Oswald Spengler, ebd., S. 43) …. Spengler unterscheidet acht hohe Kulturen (). (Vgl. Oswald Spengler, ebd., S. 597 & ff.) …. Spengler verurteilte schon 1918 die im Westen vorherrschende, kurzsichtige Auffassung von Geschichte mit ihrer säuberlichen Einteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit, die nur für den Westen relevant ist: »Ich nenne dies dem heutigen Westeuropäer geläufige Schema (), in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt alles Weltgeschehens ziehen, das ptolemäische System der Geschichte und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon, China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen Kultur – Einzelwelten des Werdens (), die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großzügigkeit der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen – eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.« (Oswald Spengler, ebd., S. 24). Einige Jahrzehnte später geißelte Toynbee die »Provinzialität und Impertinenz« des Westens mit seinen »egozentrischen Illusionen«, daß die Welt sich um ihn drehe, daß es einen »unwandelbaren Osten« gäbe und daß der »Fortschritt« unausweichlich sei. Wie Spengler hatte er keine Verwendung für die Annahme einer Einheit der Geschichte, die Annahme, daß es »nur einen einzigen Strom der Zivilisation, nämlich den unseren, gibt und daß alle anderen entweder Zuflüsse sind oder im Wüstensand versickern«. (Vgl. A. J. Toynbee, Study of History, 1934-1961, S, 149ff., 154, 157ff.). Fünfzig Jahre nach Toynbee hat auch Fernand Braudel die Notwendigkeit betont, zu einer umfassenderen Perspektive zu gelangen und die großen Kulturen in der Welt und die Mannigfaltigkeit ihrer »Zivilisationen« zu verstehen. (Vgl. F. Braudel, Schriften zur Geschichte [2], 1992). Doch die Illusionen und Vorurteile, vor denen diese Autoren warnten, leben fort und treiben Ende des 20. Jahrhunderts neue Blüten in der verbreiteten und provinziellen Einbildung, die europäische Kultur des Westens sei jetzt die universale Weltkultur. …Unter Berufung auf Theorien unter anderem von Frobenius, Spengler und Bozeman hebt Baum besonders das Ausmaß hervor, in dem Empfängerkulturen selektiv Dinge aus anderen Kulturen entlehnen und sie adaptieren, transformieren und assimilieren, um das Überleben ihre Paideuma [Kultursseele], der Kernwerte ihrer Kultur zu kräftigen und zu sichern. (Vgl. Oswald Spengler, ebd., besonders S. 617ff. []; Leo Frobenius, Paideuma, S. 11ff. []; Adda Bozeman, Civilizations under Stress, 1975, S. 5ff.). Fast alle nichtwestlichen Kulturen auf der Welt sind seit mindestens tausend Jahren und in einigen Fällen seit mehreren Jahrtausenden vorhanden. Sie haben nachweislich Entlehnungen aus anderen Kulturen so vorgenommen, daß sie ihre eigenen Überlebenschancen verbesserten. China importierte aus Indien den Buddhismus, was jedoch nach Meinung der Forschung keine »Indisierung« Chinas bewirkte. Die Chinesen paßten vielmehr den Buddhismus chinesischen Bedürfnissen an. Die chinesische Kultur blieb chinesisch. (Vgl. Spengler, ebd., S. 620 & ff.). Die Chinesen haben bis heute konsequent die heftigsten Anstrengungen des Westens abgewehrt, sie zu christianisieren. Sofern sie irgendwann einmal doch das Christentum importieren sollten, ist zu erwarten, daß sie es auf eine Weise absorbieren und adaptieren werden, die die fortdauernde chinesische Paideuma stärkt.“ (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1996, S. 49, 52, 57, 74-75, 110-111).
„Alle Kulturen machen einen ähnlichen Prozeß der Entstehung, des Aufstiegs und des Niedergangs durch. Der Westen unterscheidet sich von anderen Kulturen nicht durch die Art seiner Entwicklung, sondern durch die Eigenart seiner Werte und Institutionen.“ (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1996, S. 512-513). Man kann diese „Eigenart“, von der Huntington spricht, jedoch nur mit dem Seelenbild und dem Ursymbol der abendländischen Kultur beschreiben – wie es z.B. der von Goethe und Nietzsche beeinflußte Spengler getan hat: „Faustisch“ (Seelenbild) und „Unendlicher Raum“ (Ursymbol). Das Abendland ist so ziemlich exakt der Gegensatz zur Antike: „Apollinisch“ (Seelenbild) und „Einzelkörper“ (Ursymbol). Obwohl eher unbewußt, so beachtet dies doch auch Huntington, wenn er z.B. den Westen (eigentlich: das Abendland) in seiner Dynamik beschreibt, die z.B. in Bereichen der Technik, Wissenschaft, Rationalismus (Aufklärung u.s.w.) erst Industrialisierng bzw. Moderne ermöglichte (Huntington: „ermöglichte, die Modernität zu erfinden“). Das ist „faustisch“! Huntington spricht auch von den „universalistischen Ansprüchen“ der westlichen Kultur, meint diese Eigenart und spricht deshalb eigentlich von der Grenzenlosigkeit, vom Streben in die Unendlichichkeit, von der Seele des Wir-kennen-keine-Grenze. Das ist der „Unendliche Raum“! Auch wenn Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar gelten – wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung -, so sei hier darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Parallelenaxiom deutlich gemacht werden kann: Euklid () hat in seinen „Elementen“ (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung für das antike Beispiel gegeben und Gauß () ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Sie stehen – wie unzählige andere Beispiele auch – für einen metaphysischen Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol angetrieben und angezogen wird. (Vgl. dazu das Germanentum).

Leben / Kultur / Geschichte – Globalismus-Phase (Kulturen-Kampf) –
– Befruchtung oder Cäsarismus –
Philosophie

Huntingtons Thesen vom globalen Kampf der Kulturen waren 1993-1996, als sie veröffentlicht wurden, für Eingweihte längst keine Neuigkeit mehr, und „der militante Aufbruch islamischer Religiosität“ war schon in den 1970er und 1980er Jahren erkennbar, jedenfalls für Peter Scholl-Latour. (Vgl. Peter Scholl-Latour, Calvinismus und Neu-Heidentum, in: Weltmacht im Treibsand, 2004, S. 49-57). Scholl-Latour machte in seinen „Begegnungen mit der Islamischen Revlolution“ eine Voraussage des Politikers und Schriftstellers André Malraux (1901-1976 ) zu seinem Leitmotiv, denn der Autor der „Condition humaine“ (1933) hatte nämlich vorausgesagt, daß die Zukunft religiös oder gar nicht sein wird. „Düstere Prognose für das Abendland!“ (Peter Scholl-Latour, Kampf dem Terror – Kampf dem Islam?, 2002, S. 54).
Hans-Ulrich Wehler betont, der us-amerikanische Politikwissenschaftler Huntington habe „mit seinem Buch über den »Clash of Civilization«, den »Kampf der Kulturen«, die Prognose ausführlich begründet, daß nach dem Verfall des Staatskommunismus außer in China, Korea und Kuba die alte bipolare Welt des Kalten Krieges nicht mehr existiere, aber auch die naive Vision Fukuyamas von einem »Ende der Geschichte« () ewiger Kämpfe, da das westliche Modell gesiegt habe, keine gehaltvolle Analyse bietet. Vielmehr sieht Huntington in den Zusammenstößen, Reibungen, Konflikten zwischen den großen Kulturkreisen auf der Basis unterschiedlicher Religionen und divergierender Weltbilder die Hauptrolle künftiger Auseinandersetzungen. …. Warum? Der Islam ist die einzige noch auffällig rasch expandierende Weltreligion. Sie erfaßt jetzt mehr als eine Milliarde Menschen und wird in nächster Zeit die Anhänger des Christentums weit überholen. (). Aus Mohammeds synkretistischer Verschmelzung unterschiedlicher religiöser Elemente – auch vielfach aus der israelitischen und christlichen Religion, in deren Tradtion des Prophetentums er sich bewußt stellte – ist ein militanter, expansionslustiger Monotheismus hervorgegangen, der seine Herkunft aus der Welt kriegerischer arabischer Nomadenstämme nicht verleugnen kann. (). Das Weltbild des Islam stilisiert die diesseitige Welt als unablässigen Kampf zwischen dem »Haus des Friedens«, der »Umma« des Islam, und dem »Haus des Krieges«, dem Bereich der Ungläubigen. Wann immer und wo immer möglich müssen die Ungläubigen unterworfen und bekehrt werden, im Grenzfall durch den Dschihad, den Heiligen Krieg aller Muslims. Das galt wortwörtlich seit dem 7. Jahrhundert, als der Islam in einem gewaltigen Anlauf durch Nordafrika sogar bis nach Spanien expandierte, bis hin zur Vertreibung der muslimischen Türkei vom Balkan im 19. Jahrhundert. Und es gilt noch immer, etwa in Nigeria und im Sudan, auf den Philippinen und in Indonesien, inzwischen dem größten muslimischen Staat der Erde (). …. Die okzidentale Trennung von Papst und Kaiser, von Religion und weltlicher Herrschaft, die in Europa im Mittelalter mühsam erkämpft worden ist und den modernen, säkularisierten Staat erst auf seine eigene Bahn gesetzt hat, wird vom Islam seit jeher negiert. Alle Dimensionen des Lebens unterliegen seinem Anspruch nach dem religiösen Gesetz: der Scharia. Muslimische politische Herrschaft ist gehalten, die Scharia zu befolgen, in der barbarische Bräuche der arabischen Stämme, die Steinigung der Ehebrecherin z.B. und das Abhacken der Diebeshand, bis heute weiterleben. ().“ (Hans-Ulrich Wehler, Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2003, S. 61-62).
„Gebetsmühlenartig wiederholt man bis tief in die sozialdemokratische Linke hinein die liberalen Monstranz-Begriffe Demokratie, Toleranz und Dialog – und verstellt sich damit jeden Zugang zum Problem. Es ist nämlich, erstens, eine liberale Illusion zu glauben, Demokratisierung wäre gleichbedeutend mit Verwestlichung. Gerade durch fundamentalistische Appelle gewinnt man heute Wahlen. Daß die Herrschaft des Volkes nicht in den Kosmopolitismus, sondern in den Provinzialismus führt, hat Samuel Huntington als das demokratische Paradoxon bezeichnet. Es ist, zweitens, intellektuell unredlich, wechselseitige Toleranz als Heilsformel zu propagieren, ohne vorab das liberale Urdilemma des Umgangs mit der Intoleranz zu reflektieren. Und drittens: Auch hinter dem liberalen Dialog steht nicht etwa die Vernunft selbst, sondern ein Glaube: »faith in talk«. Wie schon für Carl Schmitt (1888-1985 ) ist für Stanley Fish das ewige Gespräch der Kern des Liberalismus. Dessen Commitment, also die selbstverpflichtende Wertbindung, ist paradox: »the deferring of commitment«. Die Liberalen können den Konflikt fundamentaler Glaubensüberzeugungen nur als Meinungsstreit modellieren, denn es gibt für sie prinzipiell keinen Konflikt, den man nicht in rationaler Deliberation auflösen könnte. Was aber eine Religion von einer bloßen Meinung unterscheidet, ist der Anspruch auf privilegierten Zugang zur Wahrheit. Und deshalb gibt es keine liberale Antwort auf die heute so dringliche Frage: Wie soll man mit Leuten diskutieren, die von der Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt sind? Der Fundamentalismus konfrontiert den Liberalismus mit Konflikten, die nicht auf Interessenkonflikte reduzierbar sind. Wer fromm ist, hat kein Interesse am Marktplatz der Ideen: Er hat die Wahrheit – und deshalb kein Interesse an einer anderen Wahrheit. Man kann es auch so sagen: Religion, die sich ernst nimmt, ist dogmatisch. Und im Dogma haben wir den eigentlichen Gegensatz zum liberalen Dialog. Es codifiziert die Wahrheit des rechten Glaubens und kann deshalb in unseren westlichen Spitzenwerten wie »Offenheit« und »othering« nur gottlose Verirrungen sehen. Für den Frommen sind die westlichen Werte schon deshalb unattraktiv, weil sie sich, inhaltlich völlig unbestimmt wie sie sind, bei näherem Hinsehen ganz in Verfahrensfragen auflösen: Variabilität, Offenheit, Andersheit, Dialogizität. Diese Neutralität unserer Spitzenwerte ist der Preis, den wir für unsere universalistischen Ansprüche zahlen müssen. …. Die neutralen Prinzipien des Liberalismus können nur operieren, wenn sie zuvor das geopfert haben, was die Leute wirklich interessiert. Vor allem der liberale Spitzenwert der Diversität entwertet alle anderen Werte. So könnte die westliche Welt im Zerrspiegel des Fundamentalismus etwas zu sehen bekommen, was sonst im blinden Fleck ihres universalistischen Selbstverständnisses verborgen bleibt. Die Lektion lautet: Es gibt keine Rationalität und Toleranz ohne Grenzen, das heißt ohne Exklusion. Und Liberalismus war bisher vor allem auch die Kunst, diese Geste unsichtbar zu machen. Die liberale Neutralität war stets eine Geste der Exklusion, die sich als Geste der Inklusion tarnte.“ (Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002, S. 29-32).
„»Verwerfungen zwischen den Kulturkreisen werden den Frontverlauf der Zukunft bestimmen«, schrieb Samuel Huntington 1993 in seinem berühmten Aufsatz über den drohenden clash of civilizations () und verlangte vom Westen, »ein tieferes Verständnis für die religiösen und philosophischen Grundlagen anderer Kulturen zu entwickeln«. Diese Forderung liegt im vitalen Interesse der Europäer, denn sie leben in unmittelbarer geographischer Nachbarschaft mit dem Islam.“ (Helmut Schmidt, Die Mächte der Zukunft, 2004, S. 171-172). „Ein düsteres Szneanrio“ nennt der deutsche Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt ein Kapitel seines 2004 erschienenen Buches. „Wer es heute unternimmt, die Tendenzen, die gegenwärtig in der Welt sichtbar sind, in die nähere Zukunft weiterzuführen, muß wohl mit der Möglichkeit eines clash of civilizations rechnen. Ein die Welt erschütternder Zusammenprall zwischen dem Islam und dem Westen ist tatsächlich denkbar geworden.“ (Ebd., S. 12). Schmidt weiß auch, daß die USA nicht mehr lange der Alternative ausweichen können: „entweder Respekt und Dialogbereitschaft gegenüber dem Islam oder aber clash of civilizations.“ (Ebd., S. 114).
„Die USA stehen … nicht nur vor der Frage nach ihrem künftigen Verhältnis zur EU, sondern auch vor der Frage nach dem künftigen Zweck der Allianz und der NATO. (). …. Es ist aber offensichtlich, daß eine Reihe europäischer Partnerstaaten einer wahrheitsgemäßen amerikanischen Antwort auf die Frage nach dem Zweck der Allianz nur mit erheblichen Einschränkungen zustimmen könnte. Falls die Nordatlantische Allianz zu einem amerikanischen Instrument der politischen Kontrolle Europas zu verkommen droht, würde dies wahrscheinlich … Widerstand auslösen. Ebenso wahrscheinlich bliebe in diesem Falle jedoch die englische Gefolgschaft erhalten; dabei würde England sich das Interesse der USA zu eigen machen und die Europäische Union daran hindern, gegenüber Amerika eine europäische Eigenständigkeit zu entfalten. Je mehr Mitgliedsstaaten die EU aufnimmt, um so weniger wird dieses amerikanische Interesse gefährdet. Schon früh und immer wieder haben die USA aus ihren eigenen geostrategischen Interessen die EU zur Aufnahme der Türkei gedrängt (); demnächst ist amerikanischer Druck zwecks Aufnahme der Ukraine, Armeniens, Jordaniens, sogar Israels und Ägyptens vorstellbar. Schon der NATO-Gipfel des Jahres 1999 deutete in diese Richtung. Die USA müssen sich in absehbarer Zeit entscheiden, ob es in ihrem langfristigen Interesse liegt, Europa politisch von sich abhängig zu machen. Sofern diese Option bejaht und tatsächlich verfolgt werden sollte, würde eine dauerhafte Aufspaltung des alten Kontinents denkbar werden. Damit wäre ein Teil der amerikanischen Aktivitäten in Europa gebunden, denn Amerika muß damit rechnen, daß viele europäische Staaten sich einer offensichtlichen Fremdbestimmung nicht willig unterwerfen – außer England und wahrscheinlich Polen. Die polnische Haltung ist durchaus verständlich, da Polen (oft nicht existent) fast ein Vierteljahrtausend zugleich aus dem Osten und aus dem Westen existentiell bedroht war und Amerika den Polen in dieser Zeit immer als Hort der Freiheit erschien.“ (Helmut Schmidt, Die Mächte der Zukunft, 2004, S. 108-110). Deshalb ist es auch kein Zufall, daß der 2. Weltkrieg in Polen begann (Anm. HB).
Helmut Schmidt weiß aus eigener Erfahrung, daß die Türkei schon seit Jahrzehnten die Vorstellung hegt, „angesichts der schnell wachsenden türkischen Bevölkerung einen Teil der nachwachsenden Generationen nach Westeuropa auswandern zu lassen; darin liegt eines der Motive für den türkischen EU-Beitrittswunsch. Wenn der Beitritt einschließlich voller Freizügigkeit für Personen tatsächlich erfolgen sollte, würden bald auch andernorts, zum Beispiel in Nordafrika, Beitrittsgesuche folgen. Die Europäer werden bald eine grundsätzliche Entscheidung treffen müssen. Eine türkische Vollmitgliedschaft könnte im Laufe weniger Jahrzehnte zu einer bedeutsamen Veränderung der Kultur des alten Kontinents führen.“ Und nicht nur die riesigen kulturellen Unterschiede, auf die neben Helmut Schmidt auch z.B. Hans-Ulrich Wehler () hinweist, sind „zu bedenken, sondern auch die kulturelle Verwandtschaft der Türken mit den Muslimen in Asien und Nordafrika. Es kommt hinzu, daß die Türkei das einzige Mitgliedsland mit einer wachsenden Bevölkerung wäre“, so Schmidt. Um das Unglück komplett zu machen: fast jede Initiative der USA ist ungenügend – natürlich auch bezüglich der Bevölkerungsexplosion. Die USA sind „das reichste Land der Welt, zugleich aber einer der Staaten, die am hartnäckigsten gegen die Gebote mitmenschlicher Vernunft verstoßen – beispielsweise bei den Agrarzöllen und -subventionen. Die Entwicklungshilfe der USA ist … geradezu beschämend gering. …. Bush jr. hat sogar … Zahlungen zugunsten von Organisationen und Projekten verweigert, die Familienplanung (geplante Elternschaft) betreiben.“ (Helmut Schmidt, Die Mächte der Zukunft, 2004, S. 34-35, 210, 124-125). Verhalten sich die Europäer etwa besser?
Weil auch die Weltwirtschaft keineswegs vor finanziellen Krisen sicher ist, verlangt Schmidt nach einem globalen finanzwirtschaftlichen Ordnungsrahmen. „Tatsächlich braucht die Welt ein zwar flexibles, im Grunde aber einigermaßen stabiles Verhältnis von Dollar, Euro (vorher: D-Mark) und Yen – und etwas später Yuan! …. Nicht zuletzt braucht die globale Wirtschaft ein Minimum an Wettbewerbsregeln – sowohl für Banken und Unternehmen als auch für die Staaten selbst. In Industriestaaten müssen Subventionen für eigene Wirtschaftszweige und künstliche Hürden für den Import durch Wettbewerber unzulässig werden; vor allem müssen die Schutzmauern zugunsten der jeweils eigenen Landwirtschaft abgebaut werden. …. Zusammengefaßt: Es gibt für (US-) Amerika vieles zu tun. Dazu gehört auch die Abwehr des islamistischen Terrorismus. Aber diese Aufgabe darf die Vielfalt der anderen Aufgaben nicht verdecken – und nicht die hohe Verantwortung (US-) Amerikas für die Zukunft der Welt.“ (Helmut Schmidt, Die Mächte der Zukunft, 2004, S. 130-131).
Warum „wählen“ die USA bei Konflikten den Iran statt Israel, warum den Irak statt Saudi-Arabien, warum Serbien statt Rußland, warum Korea statt China – warum picken sie sich ihre Gegner heraus und säen unter 80 Prozent der Weltbevölkerung (in Zukunft vielleicht sogar 90 Prozent der Weltbevölkerung) immer mehr Haß?
Daß es zu dem von Huntington postulierten Zusammenprall der Kulturen kommen kann (aber nicht muß), betont also auch Deutschlands Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt. (). Diejenigen, die glauben, eine EU-Mitgliedschaft der Türkei () könne zur Demokratisierung der türkischen Nachbarn führen, bezeichnet Schmidt als „noch optimistischer als die US-Amerikaner“ und betont, daß keines der islamischen Länder dem Beispiel der Türkei folgen werde, weil gerade die arabischen Völker mit der Türkei lediglich negative Erinnerungen verbinden, denn die Unterdrückung der Araber durch die türkischen Osmanen dauerte sehr lange und endete bekanntlich erst 1919. (). Außerdem betrachten die Araber die Türkei wegen ihrer Zusammenarbeit mit Israel als Verräter. Die Araber denken nicht einmal im Traum daran, in der Türkei ein Vorbild zu sehen, so lautet Schmidts Fazit. Für Schmidt wie für viele andere (aber eben nicht regierende) Menschen ist klar, daß hinter der Forderung nach der türkischen EU-Mitgliedschaft die USA stecken, weil die USA den Konkurrenten EU spalten wollen – auch die EU-Osterweiterung diente den USA zu diesem Zweck. Die USA treiben seitdem einen Keil zwischen Willige und Nichtwillige, suchen nach einer neuen „Mauer“, einem neuen „Eisernen Vorhang“ und erweisen sich erneut als der „heimliche Mauerarchitekt“, indem sie Europa teilen: Alt-Europa versus Neu-Europa. (). Außerdem fällt auf, daß die USA, wenn sie ihre EU-Kandidaten auswählen, dreierlei garantiert sehen wollen: ihre Macht, ihr Öl ( die USA empfehlen der EU nur solche Staaten, durch die ihre Öl-Pipeline verläuft) und ihr Israel. Die USA wollen also auch mit ihrer „EU-Politik“ nur ihre Macht erweitern (globalisieren), und für dieses Ziel sind drei Wege wichtig: 1.) Schwächung der EU-Wirtschaftskraft bis zur Konkurrenzunfähigkeit; 2.) Sicherung der Rohstoffe (und noch – noch! – ist das Öl der begehrteste Rohstoff); 3.) Schutz Israels – denn die US-Präsidentenwahlen sind über Finanzierungen von der jüdisch-israelischen Lobby in den USA stark beeinflußt. Wer den Trick unserer angeblichen „Verbündeten“ nicht durchschaut und an den Ernst der Lage nicht glauben will, sollte sich erst einmal vergewissern, daß seit Ende des Kalten Krieges eine andere Beziehung zwischen den USA und Europa vorherrscht; deshalb hätte z.B. die NATO längst reformiert werden müssen. (). Die Vorgehensweisen der US-Amerikaner – viele ihrer Regierenden sind von der Prädestination völlig überzeugte protestantische Puritanisten () – sind die Vorgehensweisen einfältiger Cowboys und Revolverhelden: Blitzreaktionen naiver und von sich selbst überzeugter Kraftprotze. Der angeblich „grenzenlose Optimismus“ läßt sich oft als die grenzenlose Naivität der USA enttarnen. Wer aber als Europäer der typischen USA-Naivität folgt, handelt fahrlässig – auch wenn er nur schläft und träumt. („Europäischer Michel“ = „Deutscher Michel“). Zur Naivität der USA gehört natürlich der Glaube, man könne die selbst verschuldeten Fehler ja hinterher reparieren – die USA sind zu jung und zu unerfahren. Imperialistisch sind die USA seit ihrer Entstehung am Ende des 18. Jahrhunderts (), wie auch der Altbundeskanzler Helmut Schmidt betont. (). Daß die USA auch in Zukunft ihre typischen Fehler wegen ihrer Unerfahrenheit und ihres imperialistischen Charakters machen werden, ist sicher, aber sie werden diese vielleicht erstmals nicht mehr reparieren können. Werden die USA, die schon heute an ihrer Grenze zum vergleichsweise harmlosen Mexiko eine streng bewachte Mauer errichtet haben, im Kampf gegen den Konkurrenten Europa, dem sie schon heute eine grenzenlose Islamisierung und Terrorisierung zumuten, den kritischen Zeitpunkt, an dem eine Rettung gerade noch möglich ist, verpassen, also eine für sie neue und wahrscheinlich letzte Erfahrung machen? Oder werden sie Glück haben? Wenn ja, dann werden sie wieder einmal ihre „Auserwähltheit“ preisen, ihr Glück im Risiko als „Vorhersehung“ interpretieren, ihre Naivität als „Optimismus“ vermarkten.

Leben / Kultur / Geschichte – Mein Fazit: Spiraltendenz –
– Skeptizismus: Lebensphilosophie – Philosophie

Wiederholungen sind ein Lieblingsthema aller abendländischen Lebensphilosophen (), weil sie immer auch abendländische Skeptizisten sind (mal mehr, mal weniger) und z.B. auch das Runde an der ewigen und unendlichen Vorwärtsbewegung, die in den Köpfen, Seelen und Körpern der Abendländer tief verankert ist, berücksichtigen. Kein Wunder, daß für Lebensphilosophen Wiederholungen auch das Phänomen Geburt betreffen. Die Geburt ist eines der wichtigsten Themen für die Lebensphilosophie. Sloterdijks „Zur-Welt-Kommen“ () geht zurück auf Heideggers „In-der-Welt-Sein“ (), das wiederum, wie auch Spenglers „Primär-Raum“ () und Nietzsches „Ewige-Wiederkehr“ (), zurückgeht auf Schopenhauers eurobuddhistische Gelassenheit im Nirwana, verstanden als eine abendländische „Radikal-Skepsis“ (), genauer: ein abendländischer Skeptizismus, der Lebensphilosophie heißt. „Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen und endgültige Ergebnisse stets als vorläufige hinzustellen. …. Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen.“ (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet – Versuche nach Heidegger, 2001, S. 263, 273). Mit etwas Übertreibung läßt sich feststellen: Abendland-Skeptizisten faszinieren Wiederholungen. Und deshalb kommen sie alle, auch Huntington, immer wieder zürück auf Goethe, der eine Analogie aus der Botanik, die „Spiraltendenz“ benutzte, um seine Anschauung von der „Wiederkehr des ewig Gleichen“ darzustellen. ().

Das absolut untragbar gewordene progressiv-lineare Geschichtsmodell wird wohl erst in Zukunft durch das zyklisch-spiralförmige Geschichtsmodell ersetzt werden. Es ist in der Geschichte nahezu immer so gewesen, daß Modelle sich nicht dann durchgesetzt haben, wenn mit ihnen theoretische Triumphe einhergingen, sondern dann, wenn mit ihnen ebenso praktische Triumphe einhergingen. Kopernikanische Wenden soll es angeblich schon viele gegeben haben, und die echte war auch zunächst nur für Theoretiker interessant, sichtbar geworden ist sie erst durch die Praktiker.

Anmerkungen:

Seit es Menschen gibt, seit der „Menschen-Kultur“ (vgl. „Menschengeschichte“) hat die raubtierhafte Ausbeutung und Zerstörung – zunächst nur langsam, dann linear und schließlich exponentiell ansteigend – zugenommen. Seit Menschen zudem auch noch verschiedenen „Historienkulturen“ (vgl. 8 „Kulturen“) angehören, hat die Ausbeutung von Umwelt und Welt exponentiell zugenommen, und seit der „Industriellen Revolution“ () hat die Zerstörung von Umwelt und Welt exponentiell zugenommen. Doch gerade die heutige Ökobewegung ist, weil sie politisch instrumentalisiert und wirtschaftlich kapitalisert ist, ein lobbyistisches Blockierungssystem für die Überwindung der tatsächlichen Probleme von Umwelt und Welt. Und sogar selbst da, wo die Ökobewegung fest an ihre durchaus guten Ziele glaubt, denkt sie (oder wird in ein solches Denken hineinlobbyisiert), daß die ökologischen Ziele über ein mechanistisches Gesetz, also rein linear (laut Revolutionärsprache: „progressiv“), erreicht werden könnten. Das ist ein fataler Irrglaube, weil der Zufall () ausgeklammert oder zumindest unterschätzt wird, weil die nicht-linearen Effekte, so Heinz-Otto Peitgen (), nicht berücksichtigt werden. Der Zufall spielt eine außerordenlich wichtige Rolle, z.B. bei der Bildung von Trends – als ob er Banden bilden könnte, denn wie sagt man so schön: Ein Zufall kommt selten allein. Daher mein Tipp an die Ökobewegten: Ihr könnt auch ohne eine hysterisch-zwanghafte Gesetzesgläubigkeit (an den Gesetzgeber Natur als Gott) an Euer gutes Ziel glauben – den Zufall kann man nicht eliminieren, wie schon der seit Ende des 18. Jahrhunderts auch diesbezüglich experimentierende Deutsche Idealismus () eindrucksvoll bewiesen hat! Also, liebe Ökobewegung: Gesetz ohne Zufall gibt’s nicht (christlich gesprochen: Schicksal ohne Wunder gibt’s nicht); versprecht euch nicht zu viel (ein Minmalversprechen reicht) und laßt euch nicht von den großen Versprechungen der großen Politik einlullen, laßt euch nicht von Politik und Lobby instrumentalisieren, kapitalisieren, sozialisieren, kommunisieren oder sonstwie euren Glauben pervertieren.
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Geistesepochen, 1817, in: (Nachgelassene) Werke (Hamburger Ausgabe), Band 12, S. 300.
Friedrich Schiller (1759-1805), Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, 1789, in: Sämtliche Werke, Teil: Schriften zur Geschichte, S. 17.
Zum zyklischen Geschichtsmodell: Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), Johann Christian Friedrich Hölderlin (1770-1843), Arthur Schopenhauer (1788-1860), Karl Vollgraff (1792-1863), Ernst von Lasaulx (1805-1861), Heinrich Rückert (1823-1875), Friedrich Nietzsche (1844-1900), Oswald Spengler (1880-1936), Arnold Joseph Toynbee (1889-1975), Fritz Schachermeyr (1895-1987), Julius Evola (1898-1974), Henry Kissinger (*1923), Samuel Phillips Huntington (*1927), Patrick Buchanan (*1938), um nur einige Beispiele zu nennen.
Carl Friedrich Zelter (1758-1832), Berliner Maurermeister, Komponist und Musikpädagoge, war mit Goethe befreundet, der seine zruückhaltenden Gedichtvertonungen schätzte. 1796 erhielt Goethe Zelters Veröffentlichung Zwölf Lieder am Klavier zu singen mit Vertonungen einiger Gedichte aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre durch dessen Verleger zugesandt. Hierdurch wurde Goethes Wunsch, Zelter kennenzulernen, geweckt. 1799 eröffnete Zelter die lebenslängliche Korrespondenz, die die freimütigsten und gehaltvollsten Selbstdarstellungen des alten Goethe enthält und die unverhüllte, derbe Urteile über die verschiedensten Bereiche des geistig-künstlerischen und des praktischen Lebens umfaßt. Zelter war ab 1800 Leiter der Berliner Singakademie, gründete 1808 die erste Liedertafel und 1819 das Königlich Akademische Institut für Kirchenmusik in Berlin.
Carl August (1757-1828) war der Sohn des Herzogs Ernst August Constantin (1737-1758) und seiner Frau Anna Amalia (1739-1807), der Tochter des Herzogs Karl I. von Braunschweig-Lüneburg und seiner Frau Philippine Charlotte (1716-1801), einer Schwester des König Friedrich II. von Preußen. Carl August war also auch ein Großneffe des Königs Friedrich II. von Preußen. Anfang September 1775 übernahm Carl August die Regierung des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. Während eines abermaligen Aufenthalts in Frankfurt (Main) Ende September 1775 lud er Goethe zu einem Besuch nach Weimar ein, und im November 1775 traf Goethe in Weimar ein. (). Am 11. Juni 1776 ernannte Carl August Goethe zum Geheimen Legationsrat. (). Goethe verfaßte von 1775 bis zum Tod Carl Augusts (1828) mehrfach an diesen gerichtete Gelgenheitsgedichte. In dem Gedicht Ilmenau (1783) hat er sein Freundschaftsbündnis mit dem Herzog umfänglich beschrieben. Der 1815 durch den Wiener Kongreß vom Herzog zum Großherzog erhobene Carl August starb am 14.06.1828, und Goethe, sich Anfang Juli 1828 für zwei Monate nach Dornburg (nahe Jena) zurückziehend, reflektierte und betrauerte den Verlust in Briefen an Karl Friedrich Zelter () und Friedrich August von Beulwitz.
Goethe wurde am 11. Juni 1776 von Herzog Carl August () von Sachsen-Weimar-Eisenach gegen den Widerstand einiger Räte und des Vorsitzenden des Geheimen Consiliums, Jakob Friedrich von Fritsch, zum Geheimen Legatiosnrat mit Sitz und Stimme im Geheimen Consilium, der obersten Landesbehörde des Herzogtums (seit 1815: Großherzogtum) ernannt. Bis 1785 nahm Goethe regelmäßig an dessen Sitzungen teil. Er gehörte dem Geheimen Consilium nominell bis zur Umwandlung der Behörde in ein Staatsministerium (1815) an. Am 5. September 1779 wurde Goethe aus Anlaß seines 30. Geburtstages (28.08.) zum Geheimen Rat ernannt. 1782 eröffnete Carl August der Herzöglichen Kammer, daß „über alle etwas beträchtlichen Verfallenheiten“ mit Goethe Rücksprache zu nehmen sei. Bis zu seiner ersten Reise nach Italien (sie begann 1786) leitete Goethe verschiedene Verwaltungskommissionen: die Bergwerkskommission zur Wiederinstandsetzung des Ilmenauer Erzbergwerks (das Bergwerk wurde 1784 wiedereröffnet), die Kriegskommission – Goethe reduzierte die Armee von 800 auf 200 Mann -, die Wasserbau-, Wegebau- und Schloßbaukommission. Goethe war in seiner politischen Tätigkeit mit den vielfältigsten Aufgaben befaßt. Er mußte sich in etliche Ressorts einarbeiten, schrieb Reskripte, ritt – was vor ihm kein fürstlicher Rat getan hatte – durch Wind und Wetter über grundlose Wege in entlegene Täler, um dort wirtschaftliche Erschließungsarbeit zu leisten. Er entwarf Maßnahmen zur Verbesserung der verarmten Gemeinde Melpers, schlug längere Verpachtungszeiten für Hofgüter vor, um die Investitionen rentabel zu machen. Gegenüber der routinemäßigen fürstlichen Verwaltung verhielt sich Goethe nachgerade fortschrittlich, im großen und ganzen schon im Sinne einer liberalen Wirtschaftstheorie. Nach der Rückkehr aus Italien, 1788, entlastete der Herzog Goethe auf dessen Wunsch von vielen früheren Ämtern. Zu Goethes amtlichen Tätigkeiten gehörte auch die Leitung des Herzoglichen Hoftheaters in Weimar, das er 1791 im Auftrag des Herzogs einrichtete. 1804 erfolgte Goethes Ernennung zum Wirklichen Geheimen Rat. Ab 1809 führte Goethe die seit 1815 so benannte „Unmittelbaren Anstalten für Wissenschaften und Kunst“ in Weimar und Jena: die Bibliotheken in beiden Städten, das Münzkabinett, das Kunstkabinett, die Freie Zeichenschule, die Gemälde- und Kupferstichsammlung in Weimar, die Universitätsinstitute, die Museen und wissenschaftlichen Sammlungen, die Tierarzneischule, die Sternwarte und den Botanischen Garten in Jena. Auch nach der Umwandlung des Herzogtums in ein Großherzogtum, 1815, behielt Goethe diese Tätigkeiten bei (ab 1815 war ihm sein Sohn August [1789-1830] als Assistent beigeordnet): nach der Erhebung Sachsen-Weimar-Eisenachs zum Großherzogtum wurde Goethe zum Staatsminister ernannt. Unter Goethes Leitung erlangte die Universität Jena () ein weit über Deutschland hinausreichendes Ansehen. Goethe beschäftigte sich nicht nur mit den wissenschaftlichen Ereignissen in allen Fakultäten, förderte nicht nur modernste naturwissenschaftliche Entwicklungen, sondern setzte seine kulturpolitischen Ziele auch durch seine Teilnahme an jeder Berufung durch. Vgl. z.B.: Friedrich Schiller (1759-1805), Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854), August Wilhelm Schlegel (1767-1845), Friedrich Schlegel (1772-1829) u.a.. Goethe war nicht nur wegen seiner Oberaufsicht über die Universität Jena mit fast allen wissenschaftlichen Fachbereichen und Fragestellungen vertraut. Im besonderen arbeitete er auf folgenden Gebieten: Astronomie, Botanik, Chemie, Erdgeschichte, Geologie, Meteorologie, Mineralogie, Zoologie. (Alphabetische Reihenfolge). Über seine amtliche Tätigkeit bemerkte Goethe: „Ich wirke nun 50 Jahre in meinen öffentlichen Geschäften nach meiner Weise, als Mensch, nicht kanzleimäßig, nicht so direkt und folglich etwas minder platt. Ich suche jeden Untergebenen frei im gemeßnen Kreise sich bewegen zu lassen, damit er auch fühle, daß er ein Mensch sei. Es kommt alles auf den Geist an, den man einem öffentlichen Wesen einhaucht und auf Folge.“ (Johann Wolfgang von Goethe zu Friedrich von Müller, am 23.08.1827).

Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

IMMUNITÄTSPROBLEME
Kulturelle Geburtenkontrolle, Fehlgeburten, Brutkästen, Waisenhäuser
Glück und Unglück der Kulturen

Leben wie Kulturen (aus der Sicht eines Lebensphilosophen*)
Geburtenkontrolle gibt es so lange, wie es „Leben“ gibt. Entweder ist es die Natur (bzw. die Gottheit), die für eine solche Kontrolle sorgt, oder das Sozialsystem der Lebewesen selbst. Warum auch immer so geplant, selektiert, entschieden und gehandelt wird: eine Notwendigkeit oder ein Interesse an Geburtenkontrolle hat es immer gegeben. Der Mensch bildet da keine Ausnahme. Eher im Gegenteil. Der Mensch war und ist als Kultur-Ökowesen (Ökonom, Ökologe, Ökosoph) immer auch ein Anthropotechniker und Menschenkünstler. So bedeutet Haustierzucht nicht nur, wilde Tiere zu zähmen, sondern auch, daß man sich selbst zähmt und züchtet. Für die große und kleine Politik gilt, daß zur Familienplanung immer auch Geburtenkontrolle gehört. Aber nicht nur bewußt vollzogene Kontrollen begleiten alle Politik, sondern auch die, die nicht gewollt und beabsichtigt sind. Nicht alle Eltern können sich während der gesamten Schwangerschaft glücklich schätzen. Nicht alle Staaten können immer nur selbst bestimmen, wieviel Menschen in ihnen leben sollen. Immer schon ist durch Naturkatastrophen, Seuchen und andere Krankheiten die Zahl der Menschen vermindert worden, und immer schon haben Menschen darauf entsprechend mehr oder weniger erfolgreich reagiert. Jeder Existenzphilosoph oder Lebensphilosoph und jeder Anthropologe, der Sprachspiele benutzt, um Kulturen als Lebewesen gelten zu lassen, wird Naturkatastrophen und Geburtenkontrollen auch im Hinblick auf Kulturen untersuchen.
Die magische Kultur (Arabien) ist nur eines der vielen Beispiele für eine „schwere Geburt“. (). Diese Kultur „erlebte“ eine problematische Geburt, weil sie lange Zeit im Schatten der apollinischen Kultur (Antike) stand. Im Gegenteil zur magischen Kultur hatte die faustische Kultur (Abendland) Glück, weil die Franken Karl Martell (688-741) und Karl der Große (747-814) zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Dazwischen gab es auch noch eine Pippinsche Schenkung (754).
Im Kulturkreißsaal gelang die Geburt des Abendlandes mit Hilfe einer Hebammentechnik, dem Franken-Papst-Bündnis. Das Glück, das dem Abendland beschert war, war der arabischen Kultur zuvor verwehrt, anders gesagt: „Die Seleukiden wollten Hellenen, nicht Aramäer um sich sehen.“ (). Ähnliches hätte dem Abendland auch passieren können, wenn in der Schlacht von Tours und Poitiers (732) nicht die Franken unter Karl Martell, sondern „die Araber gesiegt und »Frankistan« zu einem Kalifat … gemacht hätten. Arabische Sprache, Religion und Gesellschaft wären in einer herrschenden Schicht heimisch geworden. Riesenstädte wie Granada und Kairuan wären an Loire und Rhein entstanden, das gotische Gefühl wäre gezwungen worden, sich in den längst erstarrten Formen von Moschee und Arabeske auszudrücken und statt der deutschen Mystik besäßen wir eine Art Sufismus. Daß das Entsprechende in der arabischen Welt geschah (*gemeint ist die Zeit ihrer „Geburt“ und die relativ lange Zeit danach), war die Folge davon, daß die syrisch-persische Bevölkerung keinen Karl Martell hervorgebracht hat.“ (). Die arabische Kultur wurde also unter ganz merkwürdigen Bedingungen geboren und blieb lange Zeit, unter Aufsicht der apollinischen Kultur, in einem kulturellen Hospital oder Waisenhaus. Ähnliches hätte dem Abendland, nämlich unter Aufsicht der arabischen Kultur, auch passieren können. Doch die Araber hatten schon nach der Eroberung Spaniens (711) Elemente von den Goten übernommen, z.B. auch den Hufeisenbogen, den sie überall in ihre Bauwerke integrierten. (). Und 732 unterlagen sie den Franken: das weitere Vordringen der Araber, also auch ihre dadurch möglich gewordene Aufsicht über eine junge Kultur, wurde von den Franken unter Karl Martell verhindert, und Karl der Große setzte „planmäßig und mit seiner ganzen Energie durch, was Karl Martell durch seinen Sieg verhindert hatte: die Herrschaft des maurisch-byzantinischen Geistes.“ (). Natürlich ist die Frage, ob auch das Abendland mit seinem Vordringen die Chance einer Aufsicht über eine Kultur, die zur Welt kommen will, ergriffen hat, zu bejahen. Dazu folgendes Beispiel:

Rußland
Vorausgesetzt, es gibt tatsächlich einen „unermeßlichen Unterschied zwischen der russischen ( oder auch slawischen ) und der faustischen Seele“ (), so ist davon auszugehen, daß hier eine Kultur von einer anderen auf eine ähnliche Weise überschattet und hospizartig eingesperrt bleiben soll wie die arabisch-magische damals durch die antik-apollinische Kultur. Zu einer solchen Verwaisungsgeschichte gehört übrigens auch und je nach Fall die Art der Überbehütung, die kaum Luft zum selbständigen Atmen läßt – sie ist lediglich die andere Seite einer Behandlung, über die wohl jeder Waise eine Geschichte erzählen kann. Im Kern geht es dabei um Isolierung und um den verzweifelten Versuch der Isolierten, dennoch zum Ganzen zu gehören und sich in ihm doch noch eigenständig zu entwickeln. Aber wie? Laut Spengler war Peter der Große (1672-1725), der von 1689 bis 1725 regierte, „das Verhängnis des Russentums. …. Es bestand die Möglichkeit, die russische Welt nach Art entweder der Karolinger oder der Seleukiden zu behandeln, altrussisch nämlich oder »westlich«, und die Romanovs haben sich für das letzte entschieden.“ (). Dem Russentum erging es also ähnlich wie 2000 Jahre zuvor dem Arabertum. Denn, wir erinnern uns, auch die Seleukiden wollten ja lieber Hellenen als Aramäer um sich sehen. Für Spengler war klar, daß seit der Gründung von Petersburg (1703) „die primitive russische Seele erst in die fremden Formen des hohen Barock, dann der Aufklärung, dann des 19. Jahrhunderts gezwungen wurde. Der primitive Zarismus von Moskau ist die einzige Form, welche noch heute dem Russentum gemäß ist, aber er ist in Petersburg in die dynastische Form Westeuropas umgefälscht worden. Der Zug nach dem heiligen Süden, nach Byzanz und Jerusalem, der tief in allen rechtgläubigen Seelen lag, wurde in eine weltmännische Diplomatie mit dem Blick nach Westen verwandelt. Auf den Brand von Moskau, die großartig symbolische Tat eines Urvolkes, aus welcher der Makkabäerhaß gegen alles Fremde und Fremdgläubige redet, folgt der Einzug Alexanders in Paris, die heilige Allianz und die Stellung im Konzert der westlichen Großmächte. Ein Volkstum, dessen Bestimmung es war, noch auf Generationen hin geschichtslos zu leben, wurde in eine künstliche und unechte Geschichte gezwängt, deren Geist vom Urrussentum gar nicht begriffen werden konnte. Späte Künste und Wissenschaften wurden hereingetragen, Aufklärung, Sozialethik, weltstädtischer Materialismus, obwohl in dieser Vorzeit Religion die einzige Sprache war, in der man sich und die Welt verstand; in das stadtlose Land mit seinem ursprünglichen Bauerntum nisteten sich Städte fremden Stils wie Geschwüre ein. Sie waren falsch, unnatürlich, unwahrscheinlich bis in ihr Innerstes. »Petersburg ist die abstrakteste und künstlichste Stadt, die es gibt«, bemerkt Dostojewski (1821-1881). Er hatte, obwohl er dort geboren war, ein Gefühl, als ob sie sich eines Morgens mit den Sumpfnebeln zugleich auflösen könnte. So geisterhaft, unglaubwürdig, lagen auch die hellenistischen Prunkstädte überall im aramäischen Bauernland.“

Im Falle des Arabertums dauerten diese Verhältnisse noch lange an. Bald sah es nicht mehr nur die rein hellenistischen, sondern auch die von den Römern gigantisierten hellenistisch-römischen Prunkstädte, und darin konnte es nur noch mehr geisterhafte Städte erkennen. „So hat Jesus sie in seinem Galiläa gesehen. So muß Petrus empfunden haben, als er das kaiserliche Rom erblickte.“ (). Ob es den Russen (oder Slawen) auch weiterhin ähnlich ergehen wird wie damals dem Arabertum, ist heute noch nicht absehbar, aber sehr wahrscheinlich. Auch der Zwitter Sowjetunion folgte ebenso wenig einer typisch russischen Entwicklung, wie es das heutige Rußland tut. Es ist immer eine westliche Herrschaft, die eine typisch russische Entwicklung verhindert, und trotzdem sind es die russischen Herrscher selbst, die mit einer vom Westen übernommenen Idee das russische Volk in diese Lage bringen. Rußland wird also immer noch von dem Zwang beherrscht, westlich (abendländisch) zu werden, und muß sich immer noch mit einer Kopie zufrieden geben. Eine eigenständige Entwicklung ist immer noch nicht gelungen, und die Kopie wird nie echt werden. Rußland wird nie abendländisch, wird nie westlich werden können, sondern höchstens halbabendländisch oder halbwestlich. Es steckt immer noch im selben Dilemma wie zu der Zeit, als Petersburg gegründet wurde (1703). Wer meint, das heutige Rußland sei auf einem guten Weg, der möge sich vorher fragen, warum Rußland weder „westliche Werte“ akzeptiert noch auf die „eigenen Beine“ kommt. Den einen Weg kann es nicht beschreiten, den anderen Weg darf es nicht beschreiten. Und das schon seit Jahrhunderten! (). Die Geschichte des Russentums, und dazu gehören die 3 Phasen seiner Vor-/Urkultur und die 1. Phase seiner Frühkultur, denn weiter ist das heutige Rußland noch nicht, verlief jedenfalls auf ganz verblüffende Weise ähnlich wie die des Arabertums in den entsprechenden Phasen. Der Unterschied zwischen ihnen liegt somit hauptsächlich in der Zeit: ca. 2 Jahrtausende!

Auch Huntington () weiß, daß „Rußlands … vier Phasen“ eine vom Abendland isolierte Entwicklung darstellen. Bis zur Regierungszeit Peters des Großen existierten die „Kiewer Rus und das Moskauer Reich separat vom Westen und hatten wenig Kontakt zu westeuropäischen Gesellschaften.“ Auch für Huntington entwickelte Rußland sich als ein Ableger des Byzantinischen Reiches – also eines Teils der magischen Kultur, um mit Spengler zu reden – und stand danach „zweihundert Jahre lang, von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, unter mongolischer Suzeränität.“ Rußland kam wenig oder gar nicht in Berührung mit den „definierenden historischen Phänomenen“ der abendländischen Kultur: „dem römischen Katholizismus, dem Feudalismus, der Renaissance, der Reformation, der überseeischen Expansion und Kolonialisierung, der Aufklärung und dem Aufkommen des Nationalstaates.“ Sieben von acht typischen Wesensmerkmalen des Abendlandes – Huntington: „Religion, Sprachen, Trennung von Kirche und Staat, Rechtsstaatlichkeit (rule of law), sozialer Pluralismus, Repräsentationskörperschaften, Individualismus“ – waren der russischen Erfahrung völlig fremd. Rußland, Weißrußland, Ukraine u.s.w. sind, das betont auch Hans-Ulrich Wehler immer wieder, „nie Teil Europas gewesen. Sie haben kein europäisches Bürgertum, keine Bürgerstädte, kein europäischen Adel, keine europäischen Bauern gehabt; sie haben keine Reformation erlebt, keine Wissenschaftsrevolution, keine Aufklärung; und seit Peter dem Großen jagt nun Rußland – und die Bolschewiken haben das noch mal 70 Jahre getan – in einer atemlosen Aufholjagd hinter Europa her, um endlich sozusagen europaähnlich zu werden, aber es ist nicht Europa !“ (). Russen waren und sind, so auch Huntington, „ein Produkt ihrer einheimischen Verwurzelung in der Kiewer Rus und dem Moskauer Reich, des nachhaltigen byzantinischen Impaktes und der langen Mongolenherrschaft. Diese Einflüsse prägten eine Gesellschaft …, die wenig Ähnlichkeit mit jenen hatte, die sich in Westeuropa unter dem Einfluß ganz anderer Kräfte entwickelten.“ Und 1697 bis 1698 stellte Peter der Große bei seiner Reise durch Europa fest, wie rückständig Rußland im Vergleich zu Europa war. „Er kehrte nach Rußland mit dem Entschluß zurück, sein Land zu … verwestlichen. Um sein Volk europäisch aussehen zu lassen, nahm Peter, in Moskau angekommen, als erstes seinen Adligen die Bärte ab und verbot ihnen ihre langen Gewänder und Spitzhüte. …. Entschlossen, Rußland nicht nur zu einer europäische Macht, sondern auch zu einer Macht in Europa zu machen, gab er Moskau auf, gründete eine neue Hauptstadt in St. Petersburg und führte den großen Nordischen Krieg gegen Schweden, um Rußland als beherrschende Macht an der Ostsee zu etablieren und eine Präsenz in Europa zu schaffen.“ Peter verstärkte „jedoch auch die asiatischen Charakteristika Rußlands: Er perfektionierte den Despotismus und beseitigte jede potentielle Quelle eines sozialen oder politischen Pluralismus. Der russische Adel war niemals mächtig gewesen. Peter stutzte ihn noch weiter, indem er den Dienstadel einführte und ein Klassement schuf, das auf Verdienst, nicht auf Geburt oder sozialer Stellung basierte.“ Es entstand jene „kriechende Aristokratie“, die später Custine so erzürnen sollte (vgl. Marquis Astolphe de Custine, La Russie en 1839, 1844). Die Leibeigenen wurden sogar noch abhängiger als je zuvor. Die orthodoxe Kirche, die zuvor „stets unter der umfassenden Kontrolle des Staates gestanden hatte, wurde reorganisiert und einem vom Zaren persönlich bestimmten Synod unterstellt. Der Zar erhielt auch die Vollmacht, ohne Rücksicht auf die bisher herrschenden Erbfolgepraktiken seinen Nachfolger zu bestimmen. Mit diesen Veränderungen stiftete und veranschaulichte Peter den engen Zusammenhang in Rußland zwischen … Verwestlichung einerseits und Despotie andererseits. Im Anschluß an dieses petrinische Modell versuchten auch Lenin, Stalin und in geringerem Maße auch Katharina II. und Alexander II. auf unterscheidliche Weise Rußland zu … verwestlichen und die autokratische Macht zu stärken. Mindestens bis um 1980 waren die Demokratisierer in Rußland für gewöhnlich Westler, aber die Westler waren keine Demokratisierer. Die Lehre aus der russischen Geschichte lautet, daß Zentralisierung der Macht die unabdingbare Voraussetzung für soziale und wirtschaftliche Reformen ist. Ende der 1980er Jahre bedauerten Weggefährten Gorbatschovs, Diese Tatsache nicht ausreichend gewürdigt zu haben, als sie über die Hindernisse klagten, die Glasnost der wirtschaftlichen Liberalisierung in den Weg legte.“ Es war zuerst Peter der Große, der mit seinen Reformen zwar einige Veränderungen bewirkte, aber dafür sorgte, daß Rußland ein „Zwitter“ blieb: Außer bei einer kleinen Elite überwogen asiatische und byzantinische Methoden, Institutionen und Überzeugungen in der russischen Gesellschaft und wurden sowohl von Europäern als auch von Russen in dieser Weise perzipiert. »Kratze einen Russen, und du lädierst einen Tartaren«, bemerkte de Maistre. Peter schuf ein zerissenes Land (), und im 19. Jahrhundert beklagten Slawophile (vgl. Panslawismus) wie Westler gemeinsam diesen unglücklichen Zustand und stritten heftig darüber, ob man ihn durch gründliche Europäisierung oder durch Ausschaltung europäischer Einflüsse und Rückkehr zur wahren Seele Rußlands beseitigen solle.“ Slawophile wie Danilewski () verurteilten „die Europäisierungsbemühungen mit Worten, die man auch um 1990 hören konnte: »Sie verrenken das Leben des Volkes und ersetzen seine Formen durch fremde, ausländische Formen«, »sie entlehnen ausländische Einrichtungen und verpflanzen sie in russischen Boden«, »sie betrachten die innen- wie die außenpolitischen Beziehungen und Fragen von einem ausländischen, europäischen Standpunkt aus und sehen sie gleichsam durch eine Brille, die für einen europäischen Brechungswinkel gemacht ist.« In der weiteren russischen Geschichte wurde Peter der Heros der Westler und der Satan ihrer Gegner, deren Extremposition um 1920 die Eurasier vertraten. Diese brandmarkten Peter als Verräter und jubelten den Bolschewisten zu, die die Verwestlichung ablehnten, Europa herausforderten und die Hauptstadt wieder nach Moskau verlegten. Die bolschewistische Revolution … schuf ein politisch-wirtschaftliches System, das im Westen nicht existieren konnte, im Namen einer Ideologie, die aus dem Westen stammte.“ (). Und die sollte den Streit zwischen Slawophilen und Westlern dauerhaft entscheiden können? Wohl kaum! Aber der Haß auf Peter den Großen und alles Westliche wuchs ja ständig, und das schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts.
„Alles, was rings umher entstand, ist von dem echten Russentum seitdem als Gift und Lüge empfunden worden. Ein wahrhaft apokalyptischer Haß richtet sich gegen Europa auf. Und »Europa« war alles, was nicht russisch war, auch Rom und Athen, ganz wie für den magischen Menschen damals auch das alte Ägypten und Babylon antik, heidnisch, teuflisch war. »Die erste Bedingung der Befreiung des russischen Volksgefühls ist: von ganzem Herzen und aus voller Seele Petersburg zu hassen«, schreibt Aksakow 1863 an Dostojewski. Moskau ist heilig, Petersburg ist der Satan; Peter der Große erscheint in einer verbreiteten Volkslegende als der Antichrist. Genau so redet es aus allen Apokalypsen, vom Buche Daniel und Henoch zur Makkabäerzeit bis auf die Offenbarung Johannis, Baruch und den IV. Esra nach der Zerstörung Jerusalems (70), gegen Antiochus, den Antichrist, gegen Rom, die babylonische Hure, gegen die Städte des Westens mit ihrem Geist und Pomp, gegen die gesamte antike Kultur. Alles, was entsteht, ist unwahr und unrein: diese verwöhnte Gesellschaft, die durchgeistigten Künste, die sozialen Stände, der fremde Staat mit seiner zivilisierten Diplomatie, Rechtsprechung und Verwaltung.“
Für Spengler war „Dostojewski ein Bauer und Tolstoi ein Mensch der weltstädtischen Gesellschaft. Der eine konnte sich innerlich vom Lande nie befreien, der andere hat es trotz allen verzweifelten Bemühens niemals gefunden. (). Tolstoi ist das vergangene, Dostojewski das kommende Rußland. Tolstoi ist mit seinem ganzen Innern dem Westen verbunden. Er ist der große Wortführer des Petrinismus, auch wenn er ihn verneint. Es ist stets eine westliche Verneinung. … Sein mächtiger Haß redet gegen das Europa, von dem er selbst sich nicht befreien kann. Er haßt es in sich, er haßt sich. Er wird damit der Vater des Bolschewismus. Die ganze Ohmacht dieses Geistes und »seiner« Revolution von 1917 spricht aus den nachgelassenen Szenen: »Das Licht leuchtet in der Finsternis«. Diesen Haß kennt Dostojewski nicht. Er hat alles Weltliche mit einer ebenso leidenschaftlichen Liebe umfaßt. »Ich habe zwei Vaterländer, Rußland und Europa«. Für ihn hat alles, Petrinismus und Revolution, bereits keine Wirklichkeit mehr. Aus seiner Zukunft blickt er wie aus weiter Ferne darüber hin. Seine Seele ist apokalyptisch, sehnsüchtig, verzweifelt, aber dieser Zukunft gewiß. »Ich werde nach Europa fahren«, sagt Iwan Karamasoff zu seinem Bruder Aljoscha (), »ich weiß es ja, daß ich nur auf einen Friedhof fahre, doch auf den teuersten, allerteuersten Friedhof, das weiß ich auch. Teure Tote liegen dort begraben, jeder Stein über ihnen redet von einem so heißen vergangenen Leben, von so leidenschaftlichem Glauben an die vollbrachten eigenen Taten, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene Erkenntnis, daß ich, ich weiß es im voraus, zur Erde niederfallen, diese Steine küssen und über ihnen weinen werde.« (). Der echte Russe ist ein Jünger Dostojewskis, obwohl er ihn nicht liest, obwohl und weil er überhaupt nicht lesen kann. Er ist selbst ein Stück Dostojewski. Wären die Bolschewisten, die in Christus ihresgleichen, einen bloßen Sozialrevolutionär erblicken, geistig nicht so eng, sie würden in Dostojewski ihren eigentlichen Feind erkannt haben. Was dieser Revolution ihre Wucht gab, war nicht der Haß der Intelligenz. Es war das Volk, das ohne Haß, nur aus dem Trieb, sich von einer Krankheit zu heilen, die westlerische Welt durch ihren Abhub zerstörte und diesen selbst ihr nachsenden wird; das stadtlose Volk, das sich nach seiner eigenen Lebensform, seiner eigenen Religion, seiner eigenen künftigen Geschichte sehnt. Das Christentum Tolstois war ein Mißverständnis. Er sprach von Christus und meinte Marx. Dem Christentum Dostojewskis gehört das nächste Jahrtausend.“
Man muß berücksichtigen, daß Spengler diese Sätze 1917-1922 schrieb, als die bolschwistische Revolution gerade vollzogen wurde. Aber das heutige Rußland hat er natürlich nicht erfahren, denn Spengler starb 1936. (). Was also bedeuten die Umwälzungen durch den letzten Sowjetherrscher Gorbatschov und die seitdem andauernden Reformen seiner Nachfolger in Rußland? Ist es so, daß die Slawen schon wieder in die Falle des Westens getappt sind ? Wenn man den letzten im Ostfrankenreich (also: im Deutschen Reich) regierenden Karolinger Ludwig IV. („das Kind“ regierte 900-911) mit Michail Gorbatschov (regierte 1985-1991) und den nach dem Aussterben der ostfränkischen (deutschen) Karolinger von den Großen des Deutschen Reiches in Forchheim gewählten Franken Konrad I. (regierte 911-918) mit dem ersten frei gewählten russischen Präsidenten Boris Jelzin (regierte 1991-2000) vergleichen wollte, dann müßte man den von Franken und Sachsen in Fritzlar zum König gewählten Sachsen, Heinrich I. (regierte 919-936) mit Wladimir Putin (regierte 2000-2008) vergleichen. Heinrich I. mußte die süddeutschen Stämme durch militärische Drohung und durch Kompromiß zur Akzeptanz seiner Macht zwingen. Die Ungarngefahr bannte Heinrich I. im Jahre 926 durch einen 9jährigen Waffenstillstand, den er für expansive Züge gegen Slawen und Böhmen nutzte; beide gerieten unter Oberhoheit des Deutschen Reiches – 934 auch Teile der Dänen. Nach Aufkündigung des Tributs besiegte Heinrich I. die Ungarn 933 bei Riade mit einem Heer aus allen deutschen Stämmen, wodurch er innenpolitisch das Reich konsolidierte. Außenpolitischer Höhepunkt war 935 der endgültige Verzicht Rudolfs von Frankreich und Rudolfs II. von Hochburgund auf Lothringen. Heinrich I. hat es also geschafft, daß Deutsche Reich zusammzuhalten, aber Putin hat große Probleme, sein Reich zusammenzuhalten. Ob und wie er scheitern oder erfolgreich sein und ob es einen Nachfolger geben wird und mit dem Sachsenkaiser Otto I. („dem Großen“), der von 936 (als König) und von 962 (als Kaiser) bis 973 regierte, zu vergleichen wäre, wird die Zukunft zeigen. Es spricht jedoch vieles dafür, daß der russischen (slawischen) Kultur eher ein ähnliches Schicksal ereilen wird wie der arabischen (magischen) Kultur () und daß dem Russentum, das extrem früh auf die Welt kommen und im „Brutkasten“ aufwachsen sollte, in einem vom Abendland beaufsichtigten „Waisenhaus“ die nächsten Jahrhunderte verbringen wird. Das russische Volk wird seine Herrscher weiterhin als „Fremde“ ansehen, so wie das persisch-aramäisch-arabische Volk die hellenistischen Seleukiden als „Fremde“ angesehen hatte. Zwischen ca. 200 und 168 hatte es vielleicht eine Chance zur Realisierung einer Selbständigkeit gesehen, doch seit der Schlacht bei Pydna (168 v. Chr.) wurde das Volk aus den westlichen Teilen des Seleukidenreiches statt dessen nach und nach von einer noch ferneren Macht im Westen – Rom – dominiert, bevor auch der Rest des Seleukidenreiches endgültig unter dieser Macht zusammenbrach, als Pompeius 64 v. Chr. den Osten neu ordnete. (). Und zwischen 1953 (Tod Stalins) und 1989 haben Teile des sowjetrussischen Volkes sicherlich ebenfalls eine Chance zur Realisierung einer Selbständigkeit gesehen, doch seit dem „Mauerfall“ (1989) wird das Volk aus den westlichen Teilen der Sowjetunion nach und nach von einer noch ferneren Macht im Westen – USA – dominiert, bevor auch der Rest … () … (). Doch man soll bekanntlich keine voreiligen Schlüsse ziehen, sondern die Entwicklungen abwarten und sie dann an Spenglers Thesen messen.

– Willenlose Seele und unendliche Ebene (Mangel jeder Vertikaltendenz) –
„Eine Wahlverwandtschaft zwischen der russischen und magischen Seele ist wohl zu fühlen, aber das Ursymbol des Russentums, die unendliche Ebene, findet wie religiös, so auch architektonisch noch keinen sicheren Ausdruck. Das Kirchendach hebt sich hügelartig kaum von der Landschaft ab, und auf ihm sitzen die Zeltdachspitzen mit den »Koschnicks«, welche das Aufstreben verschleiern und aufheben sollen. Sie steigen nicht auf wie gotische Türme und decken nicht zu wie die Kuppeln der Moschee, sondern sie »sitzen« und betonen damit das Horizontale des Baus, der lediglich von außen aufgefaßt sein will. Als der Synod um 1670 die Zeltdächer verbot und die orthodoxen Zweibelkuppeln vorschrieb, wurden die schweren Kuppeln auf schlanke Zylinder aufgesetzt, die in beliebiger Zahl (auf der Kirche in Kishi sind es 22) auf der Dachebene »sitzen«. Das ist noch kein Stil, aber das Versprechen eines Stils, der erst mit der eigentlich russischen Religion erwachen wird.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 259f.). „Die russische, willenlose Seele, deren Ursymbol die unendliche Ebene ist, sucht in der Brüderwelt, der horizontalen, dienend, namenlos, sich verlierend aufzugeben. …. Etwas davon liegt auch dem magischen Seelenbild zugrunde.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 394f.).

– Der verpaßte Geburtstermin –
Der russische Naturforscher und Kulturhistoriker N. J. Danilewski (1822-1885), ein früher Exponent des Panslawismus, sah im Slawentum den Erben der „abtretenden“ germanisch-abendländischen Kultur. Durch sein Werk Rußland und Europa (1869) wurde er zum Wegbereiter des militanten Panslawismus, in dem er Rußland die Aufgabe der politischen Vereinigung aller Slawen und dem „slawischen Kulturtyp“ unter russischer Führung die Aufgabe zuwies, das „alternde“, vom germanisch-romanischen Kulturtyp bestimmte Abendland, also Europa, abzulösen. Doch beide Aufgaben scheiterten und mündeten in Projekte, die nicht von Slawen, sondern von Germanen stammten, also Projekte des Westens waren und dadurch auch unter Aufsicht des Westens blieben, denn aus der westlichen Idee des Überbehütenden, insbesondere dem gut getarnten Kommunismus, entstand eine ebenso westlich gesteuerte „russische Revolution“, die aus dem russischen Lehnswesen einen ersten Lehnsstaat machte: die totalitäre Sowjetunion (). Aber das „russische Dilemma“ („Slawen-Problem“ ) blieb bestehen. Die Überwindung des Kulturminderwertigkeitslomplexes scheiterte an der ihnen weit überlegenen germanisch-abendländischen Kultur!

Alle Kulturen, und zwar ausnahmslos, sind durch den vor-/urkulturen „Uterus“ gegangen, mit mehr oder weniger Immunität, und haben mit abenehmender Tendenz – vor allem frühkulturell, aber auch noch hochkulturell – weiterhin Immunität durch Behütung seitens ihrer Elternkulturen erfahren, besonders durch die jeweilige Mutterkultur, aber auch durch die jeweilige Vaterkultur. Alle Kulturen mußten durch die „Kinderstube“, und sie mußten auch noch in ihrer „Jugend“ die „Eltern“ anrufen und aufsuchen, besonders dann, wenn trotz Selbstversuch die Eltern für die Lösung der Probleme gerade gut genug waren. Zum Beispiel war die apollinische Kultur (Antike) vor ihrem „Erwachsensein“ von den beiden Elternkulturen Sumer und Ägypten () zunächst hauptsächlich körperlich, dann hauptsächlich seelisch und schließlich hauptsächlich geistig abhängig. Dies alles aber nur in dem Maß, daß sie zunehmend selbständiger werden konnte. Das mag vielleicht trivial klingen, doch ein solcher Prozeß ist in seiner Wirklichkeit ein schmaler Grat, wenn er als Projekt erfolgreich sein soll. Auch das Abendland war vor seinem „Erwachsensein“ erst mehr und dann weniger abhängig von seinen beiden Elternkulturen Antike und Arabien (): zunächst hauptsächlich körperlich, nämlich in der „christlichen Welthöhle“ (dem „Uterus der magischen Kultur“), dann hauptsächlich seelisch, nämlich durch das von der magischen Kultur weitergegebene „Christus-Reich“ und die von der nun bereits verstorbenen apollinischen Kultur ererbten „Reichsidee“ (eine Mischung aus griechisch-hellenistischem Idealismus und römisch-kaiserlichem Imperium) und schließlich geistig, nämlich durch die Reformation oder andere Rückbesinnungen auf alte christlich-testamentarische Evangelien und durch die Renaissance oder andere antikisierende Formen (z.B. auch an der Architektur vom 16. bis 18. Jh. erkennbar: Villa, Tempel, Rundtempel, Wandelhalle u.s.w.). Der Prozeß verläuft stets umgekehrt (geistig-seelsich-körperlich), sobald er den Geist erfaßt hat und die Kulturen (d.h. ihre Menschen) plötzlich glauben, den Prozeß endgültig erfaßt zu haben, denn sie definieren sich stets zuerst über den Geist als „Erwachsene“, obwohl gerade der noch nicht erwachsen ist, aber immerhin bemerkt, daß die Seele kurz davor sein muß. Sie zielen auf ihre Seele ab, wenn sie geistig „das Erwachen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) bemerken. Erst nach diesem Erwachen ist ihre Seele erwachsen. (). Die erwachsene Seele ist die Seele der Moderne. Und sie ist so, wie sie nun mal ist. Erwachsensein heißt nämlich nicht, komplett, vollständig oder gar fehlerlos zu sein. Erwachsensein ist lediglich erwachsenes Sein, also Erwachsen-Sein (wie Heidegger sagen würde). Jede Kultur hat von Beginn an eine Seele, aber wenn sie erwachsen ist, gibt es kein Zurück mehr.
Aber der kulturelle Geist ist erst dann erwachsen, wenn der erste Herbst in den zweiten Winter übergeht (vgl. kulturelle „Sonnenwende“ und „Schlüpfung“), wenn also das Erwachsene als das Zivilisierte die kulturelle Seele bereits zum Erstarren gebracht hat. Für eine werdende Kultur ist diese Zeit von größter Bedeutung, während eine alte Kultur, wenn sie den Winter „überleben“ und den überall lauernden Tod „überlisten“ will, den Weg zu einer neuen Kultur beschreiten muß – zum Schein (!), weil es um Ur-Sprung als Ur-Geburt geht. Wer die kulturelle Geburtenkontrolle beherrscht, kann zwar verhindern, daß eine neue Kultur entsteht, aber nicht, daß er selbst vergeht. (). Die Kultur, die Kulturgeburten verhindern will, muß sich deshalb zu dieser Zeit stets selbst als „Neu-Kultur“ () definieren oder zumindest: sich nach außen (scheinbar) als eine solche präsentieren. Dadurch erhöht sie ihre „Überlebenschancen“ und kann sich deshalb nur noch auf die andere Gefahr konzentrieren, nämlich die, die sie von außen erfährt. Der Antike ist das z.B. nur zum Teil geglückt, denn sie verstarb in ihrem zweiten Winter. (). Indien, China und Arabien sind die bisher einzigen Kulturen, die es geschafft haben, ihren zweiten Winter zu überleben. (). Im Falle Indiens war es der Hinduismus, im Falle Chinas der aus der indischen Kultur stammende (mit dem chinesischen Taoismus synthetisierte) Buddhismus und im Falle Arabiens der Islam, der das „Überleben“ sicherte. (). Wenn man diese Entwicklungen auf die Zukunft des Abendlandes übertragen wollte, müßte man unseren lutherisch-calvinistischen Protestantismus (bzw. Puritanismus) und eventuell auch eine fremdkulturelle Religion in Betracht ziehen. Eine zweite Religiosität! (). Anstelle der Begriffe Protestantismus und Puritanismus könnte man auch die des Humanismus und Rationalismus setzen. Manche sehen die eigentliche Religion der Abendländer auch im puren Kapitalismus und im Konsumismus deren erwachsene „Weltreligion“ (Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, 2002, S. 9 ). Jedenfalls versuchen die Abendländer seit einger Zeit, sich neu zu orientieren, und zwar, wie sollte es anders sein, entsprechend dem Seelenbild und dem Ursymbol des Abendlandes: faustisch im räumlichen Unendlichkeitswahn (), z.B. im Universal-Globalismus. (). Man kann nicht bestreiten, daß Abendländer, entweder als Universal-Weltler oder als Eurozentriker, stets die Anderen vergessen, wenn sie die Welt „verbessern“ wollen. Das wollen die Anderen auch, aber anders. Und wenn sie uns dabei vergessen ?

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Anmerkungen:

Kulturen und ihre Träger, die sich Menschen nennen, sind als Immunsysteme „geimpft“ worden – von wem auch immer. Sie entwickeln eigenständige Immunreaktionen, aus denen dann die verschiedenen „kulturellen Temperamente“ hervorgehen.
Vom 43. Jh. v. Chr. bis heute entwickelten sich deshalb nicht mehr als 8 Kulturen (ich definiere sie als Historienkulturen, Spengler definierte sie als „Einzelwelten des Werdens“), weil besonders für Menschen und ihre Kulturen gilt, daß das Verhältnis zwischen Geburten und Fehlgeburten „schief“ ist, und zwar zugunsten der Fehlgeburten!
Wie Menschen haben auch viele Kulturen die problematischen Erfahrungen in Brutkästen oder in Waisenhäusern machen müssen. Vielleicht haben Menschen, gearde weil sie in unterschiedlichen Kulturen aufwuchsen, die Institution Waisenhaus erfunden, und die abendländischen Menschen als die größten Techniker aller Zeiten dazu noch den Brutkasten. Aber als ein „Vorgriff“ hierauf oder als eine „kontrollierende Instanz“ gibt es beide schon viel länger. Kein Wunder, sind Kulturen, ja: ist Kultur selbst mit einem Brutkasten vergleichbar: „Das Metawerkzeug Kultur hat in seiner Gesamtheit die Wirkung eines Brutkastens, in dem ein Lebewesen chronisch das Privileg der Unreife genießen darf. Seit Julius Kollmann heißt die biologische Grundlage dieses Effekts Neotenie.“ Dank der Körperausschaltung (Distanz) „ist ein Lebewesen entstanden, „das es sich leisten kann, in seiner biologischen Ausstattung pluripotent, unspezialisiert, langfristig unreif und lebenslang juvenil zu bleiben – und all dies, weil die unvermeidliche Anpassung an den Umweltdruck vom Körper auf die Werkzeuge verschoben wurde.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 368).
Lebensphilosophische Sprachspiele erlauben es, Kulturen als Lebewesen aufzufassen.
Zum Thema „Zur-Welt-Kommen“ vgl. z.B. Peter Sloterdijk (*26.06.1947).
Sloterdijk z.B. möchte Spenglers These, daß es bisher nur 8 Kulturen gab, nietzscheanisch-immunologisch auffassen (). „Nur in dieser kleinen Zahl von Fällen haben sich die hochkulturschöpferischen Immunreaktionen vollzogen, von denen jede einzelne einen unverwechselbaren Charakter besaß. Die acht hohen Kulturen wären demnach die Abwicklung lokaler Immunreaktionen. …. Man darf sich von Spenglers botanischen Metaphern nicht in die Irre führen lassen. Seine Kulturen sind nicht so sehr Pflanzen höchster Ordnung, wie er vorgibt, sondern Generationsprozesse über dem Input einer schöpferischen Immunantwort, die sich immer mehr formalisiert, bis zur Erstarrung. … Spengler gibt sein Bestes, darüber sind sich auch seine skeptischen Leser einig, wenn er über die faustische und die arabische Kultur spricht.“ (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 226). „Spenglers zentrale Denkerfahrung liegt in der Beobachtung, daß Formen ein Eigenleben haben – sein ganzes Genie steckt in diesem Motiv. …. Die Form, die Spengler vor allem interessiert, ist das, was er eine Kultur nennt. Nun ist Spenglers Formbegriff, der über Goethes Idee der Urpflanze bis auf die aristotelische Zoologie zurückgeht, durch und durch organologisch geprägt, er gehört zu einem lebensphilosophischen Sprachspiel, in dem das Leben als Substanz betrachtet wird und die Individuen als Akzidentien. Nur darum konnte Spengler die von ihm so genannten Kulturen als »Lebewesen höchsten Ranges« bezeichnen. Er meint damit, daß es ein Gestaltgesetz gibt, ein strukturelles Muß, welches bewirkt, daß in einer Kultur an dieser oder jener Stelle ihres Gestaltbogens nur Ereignisse, Akteure und Institutionen von einer gewissen formal vorherbestimmten Qualität auftreten müssen und keine anderen. Man kann dieser Idee eine gewisse logische Mächtigkeit nicht absprechen ….“ (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 177-178). – (Vgl. Spenglers Frage: „Gibt es eine Logik der Geschichte? Gibt es jenseits von allen Zufällen und Unberechenbaren der Einzelereignisse eine sozusagen metaphysische Struktur der historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren, populären geistig-politischen Gebilden der Oberfläche wesentlich unabhängig ist ?“ ; und vgl. Spenglers Danksagung: „Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen ….“ ). – Sloterdijk rät: „Man sollte Spengler progressiv fruchtbar machen und ihn als einen Experten in Primärraumfragen hören.“ (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 228). Sloterdijk würdigt Spengler als einen der bedeutendsten Theoretiker des Raums.
Urpflanze ist ein Begriff aus der Naturbetrachtung Goethes für das Urbild (Idee, begriffliche Urgestalt), nach dem alle anderen Pflanzenarten durch Abwandlungen entstanden sein sollen. Goethe suchte die Urpflanze in der Natur als eine noch unbekannte Art, oder auch etwa in der Grundgestalt eines Blattes oder eines Stammes zu finden, während Schiller in einem Gespräch mit ihm darüber auf den platonischen Ideencharakter der Urpflanze hinwies. (Vgl. Urphänomen).
Urphänomen ist nach Goethe das empirische Phänomen, das jeder Mensch in der Natur erkennen kann und das durch Versuche zum wissenschaftlichen Phänomen erhoben wird, indem man es unter anderen Umständen und Bedingungen und in einer mehr oder weniger glücklichen Folge darstellt, so daß zuletzt das reine Phänomen als Resultat aller Erfahrungen und Versuche dasteht. Es ist ideal als das letzte Erkennbare, real als erkannt, symbolisch identisch mit allen Fällen, weil es alle Fälle begreift. (Vgl. Urpflanze).
„Die arabische Kultur bleibt problematisch, weil sie nie einen eigenen Körper ausbilden, sich nie überzeugend territorialisieren konnte und darum nur als höhere Gespenstergeschichte möglich war – Spengler nennt das vornehm eine Pseudomorphose. Vergessen wir nicht, daß nach ihm das Christentum in seinem ersten Zyklus nur eine Metastase der übervölkisch herumspukenden arabischen Seele gewesen sein soll.“ (Peter Sloterdijk / Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod, 2001, S. 226-227).
„Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 784). Auch eine junge Kultur kann so mächtig sein, daß sie eine alte dort, wo sie zu Hause ist, überlagert. Das Beispiel zwischen der (alten) apollinischen Kultur, auch kurz „Antike“ genannt, und der (jungen) magischen Kultur, auch „Persien/Arabien“ genannt, macht es deutlich: „Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die Pseudomorphose darin, daß alle östlichen Kirchen zu Kulten westlichen Stils wurden. Dies ist eine wesentliche Seite des Synkretismus. …. Mit dem Hinschwinden der apollinischen und dem Aufblühen der magischen Seele seit dem zweiten Jahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetzt Kulte des Westens, die zu einer neuen Kirche des Ostens werden. Aus der Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des Persertums und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische Nation.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 800-801).
Oswald Spengler (1880-1936), Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 788. Beispiele für die „faustische Seele, deren Ursymbol der reine grenzenlose Raum und deren Leib die abendländische Kultur ist“ (ebd., S. 234), findet man in Spenglers Werk zuhauf. (). Alle abendländischen Projekte sind laut Spengler Entwürfe „von einem riesenhaften Wollen“ (ebd., S.238), die sich natürlich auch an der Sprache erkennen lassen, denn schon früh begann die faustische Seele, ererbte Formen für sich umzuprägen, d.h. ins Abendländische zu übersetzen, z.B. „grammatische Zeichen verschiedenster Herkunft“, und z.B. durch das Hervorrufen des „»Ich«“, als „Idee der Persönlichkeit“. Auch ersetzte z.B. „»ego habeo factum«, die Einschaltung der Hilfszeitwörter haben und sein zwischen einen Täter und eine Tat an Stelle des feci, eines bewegten Leibes, … die Welt von Körpern durch eine solche von Funktionen zwischen Kraftmittelpunkten, die Statik des Satzes durch Dynamik.“ (Ebd., S. 335-336).
„Die faustische, westeuropäische Kultur ist vielleicht nicht die letzte, sicherlich aber die gewaltigste, leidenschaftlichste, durch ihren inneren Gegensatz zwischen umfassender Durchgeistigung und tiefster seelischer Zerissenheit die tragischste von allen. Es ist möglich, daß noch ein matter Nachzügler kommt, etwa irgendwo zwischen Weichsel und Amur und im nächsten Jahrtausend, hier aber ist der Kampf zwischen der Natur und dem Menschen, der sich durch sein historisches Dasein gegen sie aufgelehnt hat, praktisch zu Ende geführt worden.“ (Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik – Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, 1931, S. 63).
Oswald Spengler (1880-1936), Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 789.
Oswald Spengler (1880-1936), Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 789-790.
Oswald Spengler (1880-1936), Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 790.
Oswald Spengler (1880-1936), Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 791-792 und S. 794.
Diese Krankheit ist in etwa das, was nach Oswald Spengler eine historische „Pseudomorphose“ ist. Es sei hier jedoch darauf hingewiesen, daß meine Definition für Pseudomorphose davon ein wenig abweicht, denn für mich ist sie gleichbedeutend mit „Schwangerschaft, und zwar in zweifacher Hinsicht, nämlich die Bedeutung einer Schwangerschaft für: a) die werdenden Eltern (Eltern-Kulturen bzw. Spätkulturen), b) die werdenden Kinder (Kind-Uterus-Kulturen bzw. Vor-/Urkulturen). Für mich gehören Pseudomorphosen, von denen alle betroffen sein können, also sowohl Vor-/Urkulturen und Spätkulturen als auch Frühkulturen und Hochkulturen, eher in die Kategorie der Krankheit, genauer: der Immunitätsprobleme.
Nach Heidegger (26.09.1889 – 26.05.1976) entspringt das Sein aus dem „Nichten“ des „Nichts“, indem das Nichts das Seiende versinken läßt und dadurch das Sein enthüllt.
Elternkulturen der Antike: „Vaterkultur“ Ägypten (konservierende Kultur, Weg [Pyramide, Nil] als Ursymbol) und „Mutterkultur“ Sumer (mesopotamische Kultur, Mauer [Tempel, Kreis, Verwaltung] als Ursymbol). Elternkulturen des Abendlandes: „Vaterkultur“ Antike (apollinische Kultur, Ursymbol Einzelkörper) und „Mutterkultur“ Arabien (magische Kultur mit dem Ursymbol Welthöhle), d.h besonders die Komponente Christentum innerhalb des Monotheismus. Die spannende Frage ist, ob auch das Abendland und mit ihm welche andere Kultur zu Elternkulturen werden oder bereits geworden sind. Man kann das deshalb noch nicht wissen, weil ja Kulturen nicht so direkt beobachtbar und feststelltbar sind wie die Lebewesen, die ihre Träger sind. Jedenfalls wäre für die russisch-slawische (nordasiatische) Kultur, wenn es sie tatsächlich geben sollte, die abendländische (westeuropäisch-nordamerikanische) Kultur – der „Nordwesten“ sozusagen – die Vaterkultur, d.h. eine der beiden Elternkulturen, jedenfalls ein „Elter“. Vgl. Eltern (Gen-Code) und Kontrollgene.
Seelenbild der Antike und Seelenbild des Abendlandes sind gegensätzlich: apollinisch und faustisch; ihre Ursymbole ebenfalls: Einzelkörper und Unendlicher Raum. Wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung, gelten auch Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar, deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Beispiel „Parallelenaxiom“ deutlich werden kann: Euklid hat in seinen „Elementen“ (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung für das antike Beispiel gegeben und Gauß ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Sie stehen – wie unzählige andere Beispiele auch – für einen metaphysischen Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol angetrieben und angezogen wird. (Vgl. Oswald Spengler, 1917, S. 155, 227ff., 234, 390). Vgl. dazu auch das Germanentum.
Das Seelenbild der magischen Kultur ist ein dualistisches: Geist und Seele, ihr Ursymbol die Welthöhle. (Vgl. Spengler, 1922, S. 847f.).
Römisch-katholische Interpretationen attestieren dem Abendland zumeist, daß in ihm die Dominanz des Christlichen überwiege. Diese Meinung teilen vor allem kirchliche und vornehmlich christlich orientierte Vertreter. Theodor Heuss (31.01.1884 – 12.12.1963) soll einmal gesagt haben, daß Europa von 3 Hügeln ausgegangen sei: von der Akropolis, von Golgatha und vom Kapitol. Diese Sichtweise würde eher, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt, auf eine Dominanz der Antike verweisen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß aus einem antik-apollinischen Einzelkörperund einer magisch-seelengeistigen Welthöhle ein abendländisch-faustischer Unendlichkeitsraum entstehen kann, dann muß unbedingt ein dritter Faktor hinzukommen, den ich die Kulturpersönlichkeit nenne: das Germanentum. Ohne das Germanentum versteht man die Willensdynamik eines Faust nicht, und ohne das germanische Element ist die Raumtiefe, aber auch die in jeder Hinsicht sowohl ins Mikrokosmische als auch ins Makrokosmische gehende Unendlichkeit nicht als distinktives Merkmal der abendländischen Kultur zu identifizieren. Diese Merkmale treffen auf keinen antiken Menschen zu, aber insbesondere auf die Abendländer, die germanischen Ursprungs sind (). Scharfe Gegensätze, wie die zwischen Antike und Abendland, sind zwar unbedingt ein Indiz für Verwandtschaft, weil beide Kulturen so auffallend gegensätzlich sind: aktiv und reaktiv. Offenbar hat die Antike auf das Abendland aber nicht persönlichkeitsstiftend gewirkt und konnte auch erzieherisch nicht tätig werden, weil sie so früh verstarb. Die Biogenetik und Sozialisation geraten nicht selten so weit auseinander, wenn ein Elternteil früh verstirbt, d.h. nicht wirklich erlebt wird. Dem Abendland scheint es auch so ergangen zu sein. Die Auseinandersetzungen mit der magischen Mutter hat beim Kind jedoch zu einer enormen, fast schon verdächtigen Erinnerung bis hin zur Vergötterung des antiken Vaters Beitrag geleistet. Aber liegt deshalb immer auch schon ein Vaterkomplex vor? Es bleibt zunächst festzuhalten, daß auch kulturell zwischen Genetik und Sozialisation, zwischen Anlage und Umwelt, zwischen angeboren und anerzogen ganz klar unterschieden werden muß. Dazwischen bewegt sich die Persönlichkeit. Man kann sie nicht isolieren, folglich auch nicht isoliert betrachten, aber man kann sie beschreiben, und ich beschreibe die Kulturpersönlichkeit des Abendlandes als germanisch, weil dieser Raum zwischen Anlage und Umwelt für die Kulturpersönlichkeit zwanghaft unendlich werden muß, wenn sie die verlorene Vaterkultur zurückholen will. Der unendliche Raum und Wille sind auch deshalb Ursymbol und Urwort des Abendlandes. Wenn der Mensch eine Grundlage von etwa 60 Billionen Zellen hat und einer Umwelt von praktisch unendlicher Vielfalt ausgesetzt ist, so gilt für eine Kultur, daß sie Völker, Staaten oder Nationen zur Grundlage hat und einer Umwelt von unendlichen Möglichkeiten, aber auch gähnender Leere gegenübersteht. Mit dem Germanentum fiel eine faustische Entscheidung zugunsten der unendlichen Möglichkeiten. Die Eltern des Abendlandes waren also antik-magisch, ihre gentragenden Chromosomen römisch-christlich, aber die Kontrollgene germanisch.
Zum Vergleich die antike Vor-/Urkultur und die abendländische Vor-/Urkultur:
Zum Vergleich die antike Frühkultur und die abendländische Frühkultur:
Zum Vergleich die antike Hochkultur und die abendländische Hochkultur:
Zum Vergleich die antike Spätkultur und die abendländische Spätkultur:
Zum 1. kulturellen Winter vgl. Vor-/Urkultur. Der 2. kulturelle Winter ist dagegen ein zivil-erwachsener Winter, d.h. ein Zivilisationswinter, wie ihn z.B. die Antike in der Zeit, als z.B. Marc Aurel r(egierte 161-180) oder Diokletian (regierte 284-305) herrschten und der Tod der antiken Kultur bereits an ihre Haustür klopfte. Die Antike starb in ihrem 2. Winter, sie hat dessen Ende also nicht mehr erlebt. Das haben bisher nur drei Kulturen geschafft: Indien, China, Arabien. (). Dagegen steht das Abendland heute erst am Anfang der letzten Phase ihres kulturellen Herbstes (vgl. Spätkultur).
Es waren Germanen, die Europa gründeten (). Germanische Schriftquellen sind uns überliefert seit dem 2. Jahrhundert vor Christus als Runenschriften auf Waffen oder Schmuckstücken und seit dem 4. Jh. n. Chr. auch als literarisch umfassendere Schriftquellen, z.B. die gotische Bibel von Wulfila (ca. 311-383). Germanische Historiographie gibt es etwa seit dem 5. / 6. Jh. n. Chr., die auch die germanischen Anfänge zu schildern versuchte, über Jahrhunderte zurückgriff, aber eher Sagen als Historie hinterließ. Nicht Sage, sondern historische Tatsache ist, daß die Germanen die Gründer Europas sind. Kontrollgene sind, wie „Kybernetiker“, auch Begründer bzw. Gründer.
Schon sehr alt war die Geschichte der Germanen, als sie mit der Geschichte der Antike in Berührung kam. (). Doch die Geschichte des Abendlandes wurde erst möglich, nachdem die drei unenbehrlichen Faktoren aufeinander getroffen waren: Germanentum, Römerreich, Christenheit. Hierbei spielte auch die „Mythomotorik“ eine Rolle. Vor allem der Gedanke an ein Reich spielte von Beginn an eine ganz besonders wichtige, weil „kulturgenetisch“ bedingte Rolle, nämlich reichshistorisch (römisch), reichsreligiös (christlich) und reichskybernetisch (germanisch), denn eine „Kultur“ kann nur dann Kultur werden, wenn sie auch sich selbst steuern kann. Ohne die Germanen gäbe es keine Abendland-Kultur, kein Europa. Ohne die Germanen hätte sich das Abendland nicht zu einer selbständigen Kultur entwickeln können. Die Germanen sind die Gründer Europas.
Die Goten in Spanien (also die Westgoten) entwickelten den Hufeisenbogen. Das, was oftmals maurisch genannt wird, ist in Wahrheit gotisch, genauer: westgotisch.
Während des Zerfalls der Karolingermacht im 9. Jh. erstarkten in den Abwehrkämpfen die deutschen Stammesherzogtümer: Sachsen, Bayern, Schwaben, Lothringen, Franken, Thüringen. Allerdings bildeten die Franken und die Thüringer kein geschlossenes Stammesherzogtum.
Als „das Kind“ (Ludwig IV.; *893, †911) regierte (900-911), führte das Versagen der königlichen Zentralgewalt gegenüber den Angriffen der eindringender Feinde (Ungarn, Normannen) zur endgültigen Bildung der 6 deutschen Stammesherzogtümer: Sachsen, Thüringen, Bayern, Schwaben, Franken, Lothringen. () Die Franken (das „Reichsvolk“) bildeten allerdings, wie die Thüringer, kein geschlossenes Stammesherzogtum. Ludwig IV. („das Kind“) war der letzte in Deutschland regierende Karolinger. Nach dem Aussterben der deutschen (ostfränkischen) Karolinger wählten die Großen des Deutschen Reiches in Forchheim Konrad I. von Franken (aus dem Geschlecht der Konradiner) zum König. Konrad I. regierte von 911 bis 918 und versuchte, die zentralisierende Politik der deutschen Karolinger weiterzuführen, scheiterte aber an der Opposition der Stammesherzogtümer Sachsen, Schwaben, Bayern. Während der Frankenkönig Konrad I. sich im Kampf gegen die Stämme auf die Bischöfe stützte, lehnte der Sachsenkönig Heinrich I., der von 919 bis 936 regierte, nach der Wahl Salbung und Krönung ab und wollte als Volksherrscher mit den Herzögen zusammenarbeiten. Zuerst nur von Franken und Sachsen anerkannt, beseitigte er allmählich auch die Opposition der oberdeutschen Stämme. Durch seinen Tod wurden ein Romfeldzug und die Gewinnung der Kaiserkrone verhindert. Dies änderte erst sein Sohn, denn Otto I. sicherte als erster sächsischer Kaiser (von 962 bis 973) sich und allen folgenden Sachsenkaisern die Rechtsnachfolge des fränkischen Imperiums, und erst durch Otto I. erhielten die Sachsenkaiser die Oberhoheit über das „Patrimonium Petri“ sowie die Schutzherrschaft über die Kirche, die ihrerseits Verfechterin der Reichseinheit war. (Vgl. Reichskirchenpolitik bzw. Reichskirchensystem). Von 962 an, als Otto I. (deutscher König seit 936) auch König des langobardisch-italienischen Reiches und römisch-deutscher Kaiser wurde, blieb Italien bis 1268 unter deutschen Kaisern: unter deutscher Herrschaft.
Der Puritanismus ging aus der Reformation, insbesondere aus dem Calvinismus hervor. Der Calvinismus, anfangs ein antischolastischer Humanismus, machte die Prädestination zu seinem Inhalt und Mittelpunkt. Diese Prädestination, die man auch Prädetermination nennt, meint die Vorbestimmung des Menschen schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschbaren Willen, und zwar entweder als Gnadenwahl zur Seligkeit ohne Verdienst oder als Prädamnation zur Verdammnis ohne Schuld. Sie wurde schon von Augustinus (354-430) gelehrt und nach ihm von Luther (1483-1546), Zwingli (1484-1531), Calvin (1509-1564) und dem Jansenismus (nach Cornelius Jansen, 1585-1638). Auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Calvinismus, besonders aber dem aus ihm entwickelten Puritanismus, und dem modernen Kapitalismus der abendländischen Kultur hat vor allem Max Weber (1864-1920) hingewiesen. (). Die Puritaner (die „Reinen“) sind die Vertreter einer Reformbewegung, die besonders in England seit etwa 1570 die Reinigung der englischen Kirche von katholisierenden Elementen in Verfassung, Kultus und Lehre betrieben. Strenger Biblizismus, eine Gewissenstheologie und die konsequente Sonntagsheiligung beeinflußten das englische Geistesleben bis in die Gegenwart. Die Puritaner brachten eine ausgedehnte Erbauungs- und Predigtliteratur hervor. 1604 wurden sie durch die Ablehnung ihrer „Millenary Petition“ enttäuscht, wandten sich der politischen Opposition zu oder emigrierten in großer Zahl nach Nord-Amerika. Mit dem Sieg Oliver Cromwells (1599-1658) 1648 zur Herrschaft gelangt, beseitigten die Puritaner das „Common Prayer Book“ und das Bischofsamt, vertrieben anglikanische Pfarrer, entfernten die Orgeln aus den Kirchen u.a.. Nach der Restauration der Stuarts wurden die Puritaner ihrerseits rigoros aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt – bis zur Toleranzakte von 1689. Die englischen Puritaner waren und sind also Vertreter eines speziellen Puritanismus. Diesen „Insel-Puritanismus“ der Engländer kann man auch „Angelsachsen-Puritanismus“ nennen. Für den Puritaner ist das genaue Gegenteil der „Weltfreude“ charakteristisch. Die „Weltfremdheit“ gehört zu den wichtigsten Charakterzügen des Puritanismus. Max Webers Beispiele „zeigen alle das eine: »der Geist der Arbeit«, des »Fortschritts« oder wie er sonst bezeichnet wird, dessen Weckung man dem Protestantismus zuzuschreiben neigt, darf nicht, wie es heute zu geschehen pflegt, als »Weltfreude« oder irgendwie sonst im »aufklärerischen« Sinn verstanden werden. Der alte Protestantismus der Luther, Calvin, Knox, Voët hatte mit dem, was man heute »Fortschritt« nennt, herzlich wenig zu schaffen. Zu ganzen Seiten des modernen Lebens, die heute der extremste Konfessionelle nicht mehr entbehren möchte, stand er direkt feindlich. Soll also überhaupt eine innere Verwandtschaft bestimmter Ausprägungen des altprotestantischen Geistes und moderner kapitalistischer Kultur gefunden werden, so müssen wir wohl oder übel versuchen, sie … in seinen rein religiösen Zügen zu suchen.“ (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904, S. 37-38). Laut Weber ist im Abendland nämlich vor allem die Frömmigkeit (der Pietismus) das „rein religiöse“ Glied – als Berufung (Beruf) – zwischen dem alten Protestantismus bzw. Puritanismus und dem modernen Kapitalismus: Abendländischer Kapitalismus ist laut Weber nämlich eigentümlich, hat ein eigentümliches Ethos. Allgemein ist Kapitalismus kein Charakteristikum einzelner (Historien-)Kulturen, sondern der Menschen-Kultur überhaupt: „Aber eben jenes eigentümliche Ethos fehlte ihm …. In der Tat: jener eigentümliche, uns heute so geläufige und in Wahrheit doch so wenig selbstverständliche Gedanke der Berufspflicht: einer Verpflichtung, die der Einzelne empfinden soll und empfindet gegenüber dem Inhalt seiner »beruflichen« Tätigkeit, gleichviel, worin sie besteht, gleichviel insbesondere, ob sie dem unbefangenen Empfinden als reine Verwertung seiner Arbeitskraft oder gar nur seines Sachgüterbesitzes (als »Kapital«) erscheinen muß: – dieser Gedanke ist es, welcher der »Sozialethik« der kapitalistischen Kultur charakteristisch, ja in gewissem Sinne für sie von konstitutiver Bedeutung ist. – …. – Arbeit als Selbstzweck, als »Beruf«, wie sie der Kapitalismus fordert …. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung braucht diese Hingabe an den »Beruf« des Geldverdienens: sie ist eine Art des Sichverhaltens zu den äußeren Gütern, welche jener Struktur so sehr ädaquat, so sehr mit den Bedingungen des Sieges im ökonomischen Daseinskampfe verknüpft ist ….“ (Max Weber, ebd., 1904, S. 43, 45, 53, 61). Innerweltliche Askese bedeutet bei Max Weber die Verwendung der durch Ablehnung der religiösen Askese frei gewordenen Energie in der Berufsarbeit, wie eben besonders gefordert und gefördert durch den Puritanismus.
„Beruf“ (NHD; aus MHD: „beruof“, „Leumund“) – die neuhochdeutsche Bedeutung hat Martin Luther (1483-1546) geprägt! In der Bibel benutzte er es zunächst als „Berufung“ durch Gott für klesis (griech.) bzw. vocatio (lat.), dann auch für Stand und Amt des Menschen in der Welt, die schon Meister Eckhart (1250-1327) als göttlichen Auftrag erkannt hatte. Dieser ethische Zusammenhang von Berufung und Beruf ist bis heute wirksam geblieben, wenn das Wort jetzt auch gewöhnlich nur die bloße Erwerbstätigkeit meint. „Nun ist unverkennbar, daß schon in dem deutschen Worte »Beruf«, ebenso wie in vielleicht noch deutlichere Weise in dem englischen »calling«, eine religiöse Vorstellung: – die einer von Gott gestellten Aufgabe – wenigstens mitklingt und, je nachdrücklicher wir auf das Wort im konkreten Fall den Ton legen, desto fühlbarer wird. Und verfolgen wir nun das Wort geschichtlich und durch die Kultursprachen hindurch, so zeigt sich zunächst, daß die vorwiegend katholischen Völker für das, was wir »Beruf« (im Sinne von Lebensstellung, umgrenztes Arbeitsgebiet) nennen, einen Ausdruck ähnlicher Färbung ebenso wenig kennen wie das klassische Altertum, während es bei allen vorwiegend protestantischen Völkern existiert. Es zeigt sich ferner, daß nicht irgendeine ethnisch bedingte Eigenart der betreffenden Sprachen, etwa der Ausdruck eines »germanischen Volksgeistes« dabei beteiligt ist, sondern daß das Wort in seinem heutigen Sinn aus den Bibelübersetzungen stammt, und zwar aus dem Geist der Übersetzer, nicht aus dem Geist des Originals. Es erscheint in der lutherische Bibelübersetzung zuerst an einer Stelle des Jesus Sirach (11,20,21) ganz in unserem heutigen Sinn verwendet zu sein.“ (Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904, S. 66). Seit Luther also gibt es das Wort „Beruf“ in der noch heute gültigen Bedeutung: die hauptsächliche Erwerbstätigkeit des Einzelnen, die auf dem Zusammenwirken von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten beruht (also auf Bildung bzw. Ausbildung) und durch die er sich in die Volkswirtschaft eingliedert. Der Beruf dient meist der Existenzbasis. Es war vor allem der Protetestantismus mit seiner Askese (vgl. Puritanismus), der die sittliche Leistung der Arbeit stark betonte und den Beruf zum Gebot der Pflichterfüllung steigerte. Diese Haltung hat sich als Berufsethos, als innere, enge Verbundenheit des abendländischen Menschen mit seinem Beruf erhalten. Moderne Antriebe zur Verweltlichung gingen vom Deutschen Idealismus aus, der im Beruf das Postulat der Persönlichkeitsentfaltung entdeckte.
„Es ist bewunderungswürdig, mit welcher Sicherheit der englische Instinkt aus der … ganz doktrinären und kahlen Lehre Kalvins sein eignes religiöses Bewußtsein formte. Das Volk als Gemeinschaft der Heiligen, das englische insbesondere als das auserwählte Volk, jede Tat schon dadurch gerechtfertigt, daß man sie überhaupt tun konnte, jede Schuld, jede Brutalität, selbst das Verbrechen auf dem Wege zum Erfolg ein von Gott verhängtes und von ihm zu verantwortendes Schicksal – so nahm sich die Prädestination im Geiste Cromwells und seiner Soldaten aus. Mit dieser unbedingten Selbstsicherheit und Gewissenlosigkeit des Handelns ist das englische Volk emporgestiegen.“ (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1919, S. 41 ). Wenn in England die Tat oder die Arbeit „für sich“ und daher der persönliche Erfolg als göttliches Zeichen der Erlösung heilig ist, so in Preußen die Tat oder die Arbeit „für andere“. So formuliert es Ehrhardt Bödecker. „Die Bezeichnung Pietismus, ursprünglich ein akademischer Spitzname für Streber und Pedanten, haben die Calvinisten in Halle von den orthodoxen Lutheranern in Leipzig erhalten.“ (Ehrhardt Bödecker, Preußen und die Wurzeln des Erfolgs, 2004, S. 113). Halle fiel 1680 an Brandenburg-Preußen (), August Hermann Francke (1663-1727) wurde zum Hauptvertreter des Pietismus in Halle und dadurch auch in Brandenburg-Preußen – seit der Königskrönung (1701) hieß es nur Preußen. Nicht der englische Kapitalismus, sondern der preußische Pietismus – der soziale Gemeingeist – führte zur modernen Sozialversicherung. Nicht England mit seinem eigenbrötlerischen Parlamentarismus, sondern Deutschland mit seinem sozialen Gemeingeist hatte die weltweit erste soziale Versicherungsgesetzgebung. Was wir heute als Soziale Marktwirtschaft oder etwas ungenau als Rheinischen Kapitalismus bezeichnen, ist nur sekundär rheinisch und primär preußisch (), also insgesamt als deutsch zu bezeichnen: Deutscher Kapitalismus ist Deutsche Marktwirtschaft, weil sozial! Gerechtigkeit ohne Gemeingeist gibt es nicht.
Puritanismus und Malthusianismus, Darwinismus bzw. Sozialdarwinismus (bzw. Soziobiologismus) sind durchaus verwandt. Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Johannes Calvin (1509-1564), der von Martin Luther (1483-1546) beeinflußt war, und Charles Darwin (1809-1882), der von Thomas Malthus (1766-1834) beeinflußt war (), und in den angelsächsichen Ländern, gerade auch seit Herbert Spencer (1820-1903), faßt man ja „die Auslese als einen individuellen Kampf ums Dasein auf (), der – weil quasi naturrechtlich den Abläufen inhärent – an und für sich nützlich und wünschenswert sei. Insbesondere dürfe er nicht durch staatliches – etwa sozialpolitisches – Eingreifen behindert werden. Die weitreichende Rezeption solcher Ideen wurde wohl auch dadurch gefördert, daß sie mit dem Puritanismus kompatibel waren. Wegbereitend für diese Koexistenz wirkte hier – worauf Max Weber (1864-1920) mit Nachdruck hinwies – im Grunde bereits die Prädestinationslehre des schweizerischen Reformators Johannes Calvin. Calvins Auffassung von der göttlichen Vorsehung unterschied sich scharf von der katholischen Lehre der Werkgerechtigkeit und nahm ethische Grundprinzipien vorweg, wie sie charakteristisch werden sollten für den englischen Puritanismus und den modernen Kapitalismus westlicher Prägung. Das Schicksal eines Menschen galt Calvin als schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschlichen Willen vorherbestimmt: entweder- ohne Verdienst – als Gnadenwahl zur Seligkeit, oder – ohne Schuld – als Prädamnation zur Verdammnis. Ihren irdischen Status quo verdankten die Menschen daher allein Gottes freier Entscheidung. Diese Lehre deckt sich mit Extrempositionen, die sich Spencers Nachfolger zu eigen machen. sollten – beispielsweise wenn das besitzlose Proletariat als ein Rückstandsprodukt der »natürlichen Auslese« erscheint und das Zugrundegehen der Armen als ein Naturgesetz. Insbesondere der (us-)amerikanische Sozialdarwinismus – wie ihn etwa William Graham Sumner (1840-1910) an der Yale-Universität und William James (1842-1910) an der Harvard-Universität propagierten – machte in letzter Konsequenz den gesellschaftlichen Erfolg von Individuen oder den geschichtlichen Erfolg von Gruppen zum Kriterium der Lebensbewährung und biologischen Wertigkeit, baute er doch auf folgende Argumentationsstränge: (A) Struggle tor existence und survival of the fittest sind ein Teil der Gesamtökonomie der Natur. Da die menschliche Gesellschaft ihrerseits Teil der Natur ist, gelten auch für sie eben diese Naturgesetze. (B) Die Menschen sind von Natur aus ungleich, weshalb die soziale Stufenleiter diese Ungleichheit widerspiegelt. (C) Da der soziale Fortschritt sich nach Naturgesetzen vollzieht, soll man ihn ungehindert vonstatten gehen lassen. (D) Hieraus resultiert eine streng deterministische Auffassung der Gesellschaft. Staatliche Interventionen sind in gewissem Sinne gegen die Religion, da das Walten der Naturgesetze mit dem Willen Gottes zusammenfällt (vgl. Wilhelm E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, 1984, S. 110-115). Auch dem Lebenswerk von Darwins Vetter Francis Galton (1822-1911) liegen sozialdarwinistische Ideen zugrunde. Seine auf das Zustandekommen von Hoch- und Höchstbegabungen ausgerichteten Familienstudien überzeugten Galton davon, die Erblichkeit habe für schöpferische Leistungen mehr Bedeutung als die Umwelt. Die Auffassung, nature dominiere über nurture, machte Galton zum Begründer der Eugenik. Der Darwinsismus wurde also in dem Moment zum Steinbruch von Moral und Ideologie, als die Spenceristen und Sozialdarwinisten aus dem survival of the fittest unbedenklich ein survival of the best machten.“ (Volker Sommer, Grundzüge des Sozialdarwinismus, in: Soziobiologie: Wissenschaftliche Innovation oder ideologischer Anachronismus?, in: Eckart Voland, Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, 1992, S. 54-56 ). Wie schon gesagt: Darwin war Malthusianer oder zumindest doch sehr stark von Malthus beeinflußt; Spencer war Darwinianer bzw. Darwinist in dem Sinne, als daß er Darwins Theorie ausbaute und zum Hauptvertreter des Evolutionismus wurde; der Evolutionismus und der Sozialdarwinismus sind verwandt, doch der Sozialdarwinismus ist wohl eher, jedenfalls wenn man ihn als ein Extrem der Soziobiologie verstehen will, als Soziobiologismus zu bezeichnen.
Die typisch angelsächsische Vorstellung, die „Auslese“ sei nur (nur!) ein „individueller Kampf ums Dasein“, ist nicht richtig, also auch wissenschaftlich nicht haltbar. (). Früher hieß es z.B., daß neue Arten spontan durch Mutation(en) entstünden, also demnach die Artbildung (Speziation) eine spontane Entwicklung sei und von den einzelnen „Individuen“ ausginge; doch wir wissen längst, daß die weitaus häufigste Form der Artbildung auf den allmählichen Wandel ganzer Populationen beruht. Außerdem „ist der temporäre Verzicht auf direkte eigene Reproduktion bei gleichzeitiger Unterstützung der Aufzucht genetisch naher Verwandter mittlerweile von etlichen Tierarten bekannt – beispielsweise bei einigen Vogelarten, wo die älteren Geschwister – anstelle selbst ein Nest zu bauen – ihren Eltern bei der Aufzucht jüngerer Geschwister helfen. Hamiltons Prinzip der kin selection ließ sich ebenfalls bei taxonomisch so verschiedenen Gruppen wie Hautflüglern, Zwergmungos, Nacktmullen, Wildhunden oder Krallenaffen nachweisen, bei denen sich einige Individuen unter Verzicht auf direkte Reproduktion als »Helfer-am-Nest« betätigen.“ (Volker Sommer, Grundzüge des Sozialdarwinismus, in: Soziobiologie: Wissenschaftliche Innovation oder ideologischer Anachronismus?, in: Eckart Voland, Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, 1992, S. 69 ). Der Fortpflanzungserfolg – quantitativ ausgedrückt: die Anzahl der Nachkommen – ist das Maß für die biologische Fitneß als Währung(seinheit) der Evolution. Manche Biologen formulieren verkürzter: „Die Währung der Evolution sind die Nachkommen, und die Gewinne des Konkurrenzkampfes werden nicht den konkurrierenden Individuen gutgeschrieben, sondern ihren genetischen Programmen. …. Jene genetischen Programme hatten von jeher die besseren Ausbreitungschancen, die ihre individuellen Träger dazu veranlaßten, sich auch ohne Rücksicht auf etwaige eigene Nachteile und Risiken für die optimale Produktion von Nachwuchs einzusetzen: Wen könnte es da wundern, daß der Drang zur Fortpflanzung allen Organismen genetisch seit Jahrmilliarden so unauslöschlich eingepflanzt ist? Und noch etwas ist wichtig, um den auch die Familie betreffenden Selektionsprozeß zu verstehen: Da es in der Evolution letztlich nicht um Individuen geht, sondern um die genetischen Programme, werden sich jene genetischen Programme via natürliche Selektion besonders erfolgreich ausbreiten können, die ihre Träger dazu veranlassen, andere Träger identischer Erbprogramme in ihrer Reproduktion intensiv zu unterstützen. Daraus resultiert der im Organismenreich (wie in allen menschlichen Gesellschaften) so weit verbreitete Nepotismus, die bevorzugte Verwandten-Unterstützung (kin selection), sorgfältig abgestuft nach Maßgabe des genetischen Verwandtschaftsgrades (je näher verwandt, deso höher der Wahrscheinlichkeitsgrad gemeinsamer identischer Gene), jeweils im Dienste der eigenen Gesamtfitneß (inclusive fitness), also letztlich genetisch eigennützig. Es ist daher evolutionsbiologisch geradezu vorhersagbar, daß menschliche Gesellschaften in nepotistische Verwandtschaftssysteme gegliedert sind und daß Muster abgestufter Verwandtschaft eine zentrale Rolle für die Art und Intensität des Miteinanders spielen, kurz, daß sich Familienstrukturen in mehr oder weniger erweiterter Form herausbilden. (). Die Familie liefert also zugleich das sozio-ökonomische Milieu für die biogenetische Reproduktion und das strukturelle Netz nepotistischer Interaktionen.“ (Christian Vogel, Die Rolle der Familie im biogenetischen Geschehen, in: Eckart Voland, Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, 1992, S. 145-146 ). Die Familie ist eine kulturelle Institution auf natürlicher Basis: „Biologisch betrachtet, obliegt ihr die Funktion, die Reproduktion sicherzustellen, das heißt Nachwuchs zu zeugen, ihn aufzuziehen und möglichst gut ausgerüstet und vorbereitet in die Selbständigkeit zu entlassen, was in evolutionsbiologischer Perspektive wiederum bedeutet, dem Nachwuchs seinerseits gute Reproduktionschancen mit auf den Weg zu geben. Die Familie soll für diesen Prozeß ein in biologischer, ökonomischer und soziokultureller Hinsicht möglichst optimales Milieu herstellen, und so wird es nicht wundern, daß die Familienstruktur, den jeweiligen Bedingungen angepaßt, durchaus unterschiedliche Formen annehmen kann. Durch ihre biologische Hauptfunktion, Fortpflanzung abzusichern, ist die Familie unmittelbar in den biogenetischen Evolutionsprozeß eingespannt und unterliegt somit den Bedingungen der natürlichen Selektion. Natürliche Selektion arbeitet über differentiellen Reproduktionserfolg, und das ist der Grund, weshalb alle Organismen (Menschen eingeschlossen) via Selektion programmiert sind, mit ihren benachbarten Artgenossen um jeweils höheren Reproduktionserfolg zu konkurrieren. Das steckt zwangsläufig in ihren Erbprogrammen ….“ (Ebd., S. 145).
„In jüngster Zeit setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß – obwohl die natürliche Selektion an der Variabilität der Phänotypen ansetzt – die Ebene biologischer Anpassungsvorgänge die der Gene ist und nicht etwa die der Individuen () …. Beim Studium der Evolution und gerade auch beim Studium biologischer Verhaltensanpassungen ist deshalb deutlich zu unterscheiden zwischen den Replikationen (Genen), in denen die stammesgeschichtlich akkumulierte Information gespeichert ist und deren potentielle Unsterblichkeit die Kontinuität der biologischen Evolution begründet, einerseits und den vergänglichen Individuen (Phänotypen) andererseits, die als kurzlebige Vehikel den evolutiv einzigen Zweck verfolgen, ein optimales Medium für maximale Genreplikation zu liefern. …. Interessant erscheint mir, daß bei aller intrapersonalen Komplexität von Fruchtbarkeitsentscheidungen sozioökonomische Gesichtspunkte als die letztlich wohl doch bedeutsamsten Einzelfaktoren zu wirken. Die Entscheidung für oder gegen (weitere) Kinder ist auf diese Weise eingebunden in die Szenerie gesellschaftlicher Konkurrenz, in eine Szenerie also, deren Funktionslogik vom fitneßmaximierenden Darwinischen Prinzip geprägt wurde. Die Entscheidung für Kinder oder sozialen Erfolg ist deshalb keine Entscheidung für oder gegen den biogentischen Imperativ, sondern lediglich eine taktische Entscheidung für oder gegen eine bestimmnte Strategie, ihm zu gehorchen! …. Es erscheint nicht abwegig, daß während des Pleistozäns, also während jener 99,7% unserer Geschichte, in der Menschen als Wildbeuter den formenden Einflüssen der natürlichen Selektion ausgesetzt waren, die individuellen Reproduktionserfolge nicht durch die Anzahl der Konzeptionen beschränkt waren, sondern von der Verfügbarkeit der immer irgendwie knappen Ressourcen. Nicht Maximierung der Fertilität, sondern Maximierung der Aufzuchtleistung wurde genetisch belohnt …. Vielleicht zéigt sich in der bevorzugten Wahrnehmung ökonomischer Opportunitäten, die für Frauen zu Lasten reproduktiver Erfolge geht, eine im Pleistozän erworbene und evolutiv fixierte, an Bedingungen latenter Ressourcenknappheit angepaßte Präferenz, die unter modernen Bedingungen im Durchschnitt nicht mehr zu fitneßmaximierenden Resultaten führt. Wie dem auch sei, eine mögliche Diskrepanz zwischen einem theoretisch maximal möglichen und dem tatsächlichen Reproduktionserfolg ändert nichts an der Tatsache, daß die Mechanismen der Verhaltnessteuerung aus der Stammesgeschichte resultieren und Bestandteil unserer adaptiven bilogischen Ausstattung sind. Das ökologische und soziokulturelle Milieu, in dem sich die Hominisation mit den sie kennzeichnenden Anpassungsvorgängen abgespielt hat, ist nicht identisch mit den zeitgenössischen oder historisch noch halbwegs überschaubaren Lebensbedingungen, also mit jenem überaus kurzen Ausschnitt aus der menschlichen Geschichtlichkeit …. Zu den frühesten Ergebnissen verhaltensökologischer Theoriebildung gehört die Einsicht, daß Organismen in ihrem Leben entweder viele Nachkommen zeugen, in die sie dann allerdings vergleichsweise wenig investieren, oder aber im reproduktionsgeschäft auf weniger, dafür aber gut ausgestattetet Nachkommen setzen. Dieser Quantität/Qualität-Abgleich ist zwangsläufig notwendig, weil elterliche Investmentmöglichkeiten immer irgendwie begrenzt sind. Je nach Art der Selektionsfaktoren favorisiert die natürliche Selektion eher die eine oder die andere Strategie. …. Im Verlauf ihrer Stammesgeschichte haben Menschen generell eher die zweite Option verfolgt und damit einen Evolutionstrend innerhalb der Primatenreihe fortgesetzt. () …. Aber auch innerhalb der Kollektive kommt es je nach sozialer Schichtzugehörigkeit der Eltern zu unterschiedlichen Justierungen in der Quantität/Qualität-Koordinate. Dabei zeigt sich interessanterweise, daß genau die Gruppen, die aufgrund ihrer sozialen Potenz besser als andere das zukünftige Schicksal ihrer Kinder beeinflussen konnten, auch tatsächlich diejenigen waren, die historisch damit begonnen haben, auf Kosten der Kinderzahl vermehrt in die soziale Konkurrenzfähigkeit ihrer Nachkommen zu investieren. (Demographisch-ökonomisches Paradoxon: Je mehr Kinder die Menschen sich leisten könnten, desto weniger haben sie!). Der mit dem demographischen Übergang () verbundene Rückgang der durchschnittlichen Kinderzahl pro Familie ist aus biologischer Sicht eine durchaus angepaßte reproduktionsstrategische Antwort auf veränderte Investitionsmöglichkeiten …. Die auf Kosten/Nutzen-Abwägungen beruhende »Quasi-Rationalität« menschlicher Reproduktion manifestiert sich freilich nicht allein in Fruchtbarkeitsentscheidungen, sondern umfaßt auch das postnatale Fürsorgeverhalten. …. Das menschliche Brutpflegesystem ist von der natürlichen Selektion so modelliert worden, daß es – unter gegebenen Umständen – je nach Geschlecht der Kinder, ihrem Geburtstag und der genetischen Verwandtschaft zu ihnen (um nur einige der wichtigsten Merkmale zu nennen) zu unterschiedlichen Fürsorgeverhalten motiviert.“ (Eckart Voland, Fortpflanzung: Natur und Kultur im Wechselspiel, 1992, S. 347-348, 354-359 ).
Daß die Konkurrenz zwischen Gruppen und nicht zwischen Individuen stattfindet – dies behaupteten schon früh einige Gegner von Darwins Survival of the Fittest. (). Einer dieser Gegner war z.B. der Staatssoziologe Ludwig Gumplowicz (1838-1909), der auch das Konzept vom Resultat der „Höherentwicklung“ ablehnte. Es sind auch nicht ihr innewohnende natürliche Anlagen, die den Erfolg einer Gruppe bewirken, sondern ihre überlegene soziale Organisation. Eine darüber hinausgehende Qualität ist mit einer höheren gesellschaftlichen Positionierung nicht verbunden, diese ist zudem beständig durch die Beherrschten in Frage gestellt. Der „Sozialdarwinismus“ ist somit laut Gumplowicz eine Rechtfertigungsideologie für Klassenherrschaft und nicht eine wissenschaftliche Begründung. (). Die „Rassen“ – soziologisch verstanden als „soziale Gruppen“ – mit ihrem Kampf seien die treibende Kraft der Geschichte. Zu sozialen Vorgängen und somit auch zum Staat komme es nicht durch freie Individuen, sondern durch die Unterwerfung einer Gruppe durch eine andere. Dies sei der „ereignisgeschichtliche“ Grund dafür, daß Recht ohne Ungleichheit nicht vorstellbar ist. Außerdem gibt es kein überzeitliches Recht, sondern nur ein situativ gebundenes. Die Abschaffung der Klassen und ihres Gegensatzes sei gleichbedeutend mit der Abschaffung des Staates und der Begründung von Anarchie, und dies könne, so Gumplowicz, keinesfalls als „moralischer Fortschritt“ angesehen werden, sondern im Gegenteil: als Rückschritt, weil der Staat, unbeschadet der in ihm zum Ausdruck kommenden Herrschaftsverhältnisse eine „Kulturleistung“ ist – nicht zuletzt verdankt ihm ja auch das Recht seine Entstehung. Die Theorie des Rechtsstaats, deren mustergültige und abschließende Formulierung laut Gumplowicz Robert Mohl (1799-1875) zu verdanken sei, sei ein Kompromiß zwischen den beiden antagonistischen Prinzipien der (absolutistischen) Herrschersouveränität und der (demokratischen) Volkssouveränität. Ihr zufolge gründe die Herrschaft nicht im Herrscher, sondern im Staat, der das Recht als ihren Zweck bestimmt und ihr damit die Grenzen setzt. Das Recht, das den Herrschenden zur Durchsetzung aufgegeben ist, steht auch über ihnen selbst. Ihnen die Befugnis einzuräumen, nach Belieben mit ihm zu verfahren, wäre somit paradox. Und die Gleichheit vor dem Gesetz ist allenfalls im Privatrecht möglich, denn nur hier trete der Staat nicht als Partei auf, sondern sei bestrebt, durch sein Machtwort anders nicht zu findende Entscheidungen herbeizuführen, um den inneren Frieden zu wahren. Die Verpflichtung auf politische Freiheits-, Gleichheits- und gar Mitwirkungsrechte muß jeden realen Staat überfordern. Politische Freiheit und rechtliche Gleichheit mögen konstitutionell verbürgt und sogar demokratische Partizipation unter Anwendung des Mehrheitsprinzips zugelassen sein: es herrsche dennoch weiterhin eine Minderheit, und dies könne auch gar nicht anders sein. Die systematische Diskreditierung der beschworenen Prinzipien durch die Realität läßt sich nicht verbergen. Allen theoretischen Bemühungen, einen einmal erreichten staatlichen Zustand als den Rechtsstaat und damit die 1789 begonnene „Revolution“ für beendet zu erklären, mangelt es an Glaubwürdigkeit, Die sozialistische Kritik hat leichtes Spiel, und sie kann vor allem eine plausible „Ursache“ dafür identifizieren, daß politische Freiheit und rechtliche Gleichheit bislang noch nicht mit „Leben“ erfüllt wurden: die materielle Ungleichverteilung. (Vgl. Peter Boßdorf, Ludwig Gumpowicz als materialistischer Staatssoziologe, 2003). – Ludwig Gumplowicz, der eine Übertragung von Erklärungsmustern aus der Biologie auf die Soziologie ablehnte und auch die „organische Staatsauffassung“ seines Zeitgenossen Albert Schäffle (1831-1903) scharf kritisierte (vgl. Organismustheorie), wurde schon zu seinen Lebzeiten als Einzelgänger bzw. Außenseiter angesehen, doch trotz (oder wegen?) seines Einzelgängertums war er ein Soziologist.
So forderte z.B. der Sozialdarwinist Sumner, daß der Wettbewerb – darwinistisch gesagt: Auslesprozeß – nicht durch humanitär gestimmte Reformen und staatliche Sozialgesetzgebung beeinträchtigt werden dürfe, damit sich die Tüchtigsten durchsetzen können. Laut Darwin heißt das Lebensprinzip Kampf ums Dasein (und der Fitteste überlebt); laut Sumner heißt das Gesellschaftsprinzip Kampf um Lebenschancen (und der Tüchtigste gewinnt). In der Evolution führt laut Darwin der Kampf ums Dasein zur Differenzierung bzw. Vielfalt der Arten; in der Geschichte führt laut Sumner der Kampf um Lebenschancen zur Vielfalt bzw. Differenzierung der Talente.
Die Organismustheorie ist ein theoretischer Ansatz in Geschichtsphilosophie, Kulturphilosophie (vgl. auch: Lebensphilosophie) und Soziologie, der von der Vorstellung der Ganzheit und Einheit der Gesellschaft (Gemeinschaft) ausgeht – im Gegensatz also zur „individualistischen“ Interpretation, die von der Ganzheitslehre (auch Holismus genannt) allenfalls als bloße Summation oder Aggregation von handelnden „Individuen“ angesehen wird. Die Hervorhebung der gesellschaftlichen Ganzheit ist verbunden mit der Betonung ihrer Gliedhaftigkeit, d.h. der Unselbständigkeit ihrer Teile und der prinzipiellen Abhängigkeit aller Teile von einem umschließenden Gemeinsamen. Der Gedanke dieser Gliedhaftigkeit der Teile zum Ganzen leitet über zum Gliederbau, d.h. zur harmonischen, proportionierten, ausgelichenen und im „gesunden“ Zustand konfliktfreien Struktur, innerhalb derer jedes Teil seine Aufgabe, seinen Zweck zur Erhaltung und Förderung des Ganzen erfüllt. Auf diese Weise wird die Gesellschaft zum organismus umgedeutet. im dem alles nach immanenten Gesetzen verläuft und mechanistische Kausalität ebenso ausgeschlossen ist wie die subjektive Willkür irgendeines Teiles. Gesellschaftliche Prozesse erhalten dadurch die Weihe des „Natürlichen“, Unabänderlichen. In einer für die deutsche Soziologie richtungweisenden Differenzierung trat die Organismustheorie z.B. bei Ferdinand Tönnies (1855-1936) in der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft auf, denn diese zwei Grundbegriffe bringen die prinzipielle Verschiedenheit von organischer und mechanischer Auffassung zum Ausdruck. Gegenüber der willkürlichen, künstlich aus den Interessen „autonomer Individuen“ kontraktuell entstandenen Gesellschaft ist die Gemeinschaft ein gewachsenes, „lebendiges“, in ihrem eigenen Zweck beschlossenes soziales Gebilde. Auch z.B. die universalistische Gesellschaftslehre von Othmar Spann (1878-1950) behauptet, daß die Gesellschaft nicht als die Summe oder das Produkt „autonomer Individuen“, sondern selbst als gliedhafte, funktional interdependente Ganzheit sui generis zu betrachten ist. Andere, wie z.B. Herbert Spencer (1820-1903), erkannten in der natürlichen und sozialen Welt ein allgemeines Entwicklungsgesetz, wonach für organische Lebewesen wie für soziale Gebilde nach den gleichen Prinzipien Wachsen und Vergehen sowie die Prinzipien des inneren Aufbaus und Funktionierens der Teile erklärt werden können (vgl. Biosoziologie; vgl auch die von Goethe benutzte Analogie aus der Botanik: Spiraltendenz). – Den natürlichen Organismen vergleichbar bilden die in einer gegenseitigen Abhängigkeit aufgebauten (Positionen) und ablaufenden (Rollen) Handlungen einen Zusammenhang, der für die Existenz des Handlungssystems (= Gemeinschaft/Gesellschaft) notwendig ist und der wiederum die Handlungseinheiten einer Tendenz zur Anpassung an die Systemnotwendigkeiten unterwirft.
Das Abendland (Alt-Europa / West-Europa) hat seit seinem Ursprung, seit seinem von Kontrollgenen (Germanen) gesteuerten Keim, einen „Kern“, ein „Herz“ (Deutschland), aber auch Grenzen! „Die Grenze der abendländischen Kultur lag immer dort, wo die deutsche Kolonisation zum Stillstand gekommen war.“ (Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, 1933, S. 17). Das Abendland bzw. „Europa“ muß auch heute (als „EU“ !) zu seinen Grenzen stehen, denn es kommt nicht einseitig darauf an, unsere „Nachbarn“ zu verstehen; noch mehr kommt es nämlich darauf an, daß wir wieder lernen, uns selbst zu definieren, z.B. auch um zu verhindern, daß wir uns gar nicht mehr begreifen – wie sie uns (!). „Nur ein Dummkopf kann sich heute schämen, ein »alter Europäer« zu sein.“ (Peter Scholl-Latour, Rumsfeld gegen das »Alte Europa«, in: Weltmacht im Treibsand, 2004, S. 14 ). „In meinen Augen sind die russischen Gebiete nie Teil Europas gewesen. Sie haben kein europäisches Bürgertum, keine Bürgerstädte, keinen europäischen Adel, keine europäischen Bauern gehabt; sie haben keine Reformation erlebt, keine Wissenschaftsrevolution, keine Aufklärung; und seit Peter dem Großen jagt nun Rußland – und die Bolschewiken haben das noch mal 70 Jahre getan – in einer atemlosen Aufholjagd hinter Europa her, um endlich sozusagen europaähnlich zu werden, aber es ist nicht Europa! (). Und dasselbe gilt seit Kemal Atatürk, also seit den 1920er Jahren, für die Türkei in noch viel strengerem Maße.“ (Hans-Ulrich Wehler, im Fernsehsender ZDF: Wo endet Europa?, in: Im Glashaus – Das Philosophische Quartett, 02.05.2004). Ähnlich wie Wehler argumentiert auch Huntington ().
Die „EU“ hat nicht einmal „riskiert …, ihre Grenzen im Osten, im Südosten und im Mittelmeerraum zu definieren. (). Freundschaftliche Nachbarschaft darf nicht quai-automatisch auf Vollmitgliedschaft in der EU hinauslaufen. Sie muß ein Privileg bleiben, Dutzende von anderen Möglichkeiten erlauben auch noch enge Beziehungen. Weißrußland, die Ukraine, Rußland selber haben nie zu Europa gehört.“ Wehler betont immer wieder, daß dort das Europäische immer schon fehlte, fehlt und wohl auch in Zukunft fehlen wird, denn es gab dort z.B. keine Reformation, keine Renaissance, keine Wissenschaftsrevolution, keine Aufklärung u.s.w.; es gab dort „kein Bürgertum, keine autonomen Städte, keinen Adel und keine Bauernschaft wie in Europa.“ (Hans-Ulrich Wehler, Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2003, S. 65).
Das Wort „Europa“ war im Abendland anfangs selten zu hören, danach lediglich ein gelehrter Ausdruck der geographischen Wissenschaft, die sich seit der Entdeckung Amerikas (1492) „am Entwerfen von Landkarten entwickelt hatte“, bevor es später allmählich immer mehr und „unvermerkt auch in das praktische politische Denken und die geschichtliche Tendenz“ eindrang. (Vgl. Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, 1933, S. 17; vgl. auch meine Definition für „Europäismus“).
Je häufiger „Europa“ zu hören war (ist), desto moderner wurde (wird) die Moderne. Der Begriff „Europäismus“, für mich ein Synonym für die abendländische Moderne, betrifft alles, was die abendländische Kultur aus einem Selbstverständnis heraus in Verbindung mit Europa brachte, bringt und bringen wird. Eines der frühen Beispiele hierfür ist Karl der Große (747-814; 754 Königssalbung, 768 König, 800 Kaiser), der „Vater Europas“ genannt wurde. Der Begriff „Europa“ war im Abendland zwar von Beginn an präsent, wurde aber erst später häufiger (vor allem auch im geographischen Sinne) verwendet, z.B. seit der „Neuzeit“ und besonders seit der „Industriellen Revolution“ (bzw. seit der „Bürgerlich-Napoleonischen-Revolution“ ).
Russische Kultur (im engeren Sinne) ist auch slawische Kultur (im weiteren Sinne), und damit sind in erster Linie die von der griechischen „Christen-Orthodoxie“ (griechisch-orthodoxe Christenheit) bekehrten Menschen gemeint: Russen, Weißrussen, Ukrainer, Moldawier, Rumänen, Bulgaren, Serben u.a. – und als deren Bekehrer auch die Griechen. Es handelt sich hierbei also nicht nur um Slawen. Erst an zweiter Stelle geht es hier also um die Völker slawischer Sprachen, zu denen bekanntlich auch Polen, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Kroaten u.a. zu zählen sind. Diese Slawen sind jedoch (wie auch die Ungarn und Skandinavier) von Deutschen bekehrt worden und deshalb zumeist katholische Christen. Während also die westlichen Slawen von den Deutschen abendländisiert (verwestlicht) worden sind, sind die östlichen Slawen von den Griechen morgenländisiert worden. (). So kann man alle Christ-Orthodoxen, ob z.B. griechisch-orthodox, serbisch-orthodox oder russisch-orthodox, als eine mögliche Kultur ansehen – ansonsten bliebe sie Aufgabe der Russen allein, nur: die Russen sind dazu nicht fähig ! (). Spengler nannte das „Ursymbol des Russentums die unendliche Ebene“ (ebd., S. 259) und die russische Seele die „willenlose Seele“; sie „sucht in der Brüderwelt, der horizontalen, dienend, namenlos, sich verlierend aufzugeben.“ (Ebd., S. 394 ).
Der Panslawismus ging hervor aus dem Slawophilentum: einer geistigen Bewegung der Slawen unter Berufung auf die Geschichtsphilosophie von Hegel (1770-1831) und auf das besonders von Herder (1744-1803) geweckte Interesse für die slawischen Völker sowie aus dem Bedürfnis einer Überwindung des Kulturminderwertigkeitslomplexes angesichts der ihnen weit überlegenen westlichen Kultur. Der Terminus Panslawismus wurde zunächst für die slawische Sprachverwandtschaft (z.B. „allslawisch“) eingeführt, bekam in den 1830er Jahren politische Stoßkraft und erhielt bereits in dieser Zeit auch Wünsche nach nationaler Staatswerdung der slawischen Stämme. Panslawismus ist somit auch die Bestrebung nach einem politischen und kulturellen Zusammenschluß aller Slawen. (). In Rußland entwickelte M. P. Pogodin (1800-1875) Ideen über eine russische Hegemonie über die anderen slawischen Völker. Diese Ideen wurden von N. J. Danilewski (1822-1885) erweitert und verstärkt. (). Deswegen wurde der Panslawismus allmählich militant. Die Panslawisten gerieten in eine intolerante Haltung gegenüber der westeuropäischen Denkweise (dem „Westlertum“) und dem nicht-orthodoxen Christentum. Der russische Panslawismus (Panrussismus) wandelte sich immer mehr zu einer Bewegung gegen das angeblich die Slawen unterdrückende Deutschland, in Wirklichkeit aber sollte dieser Panrusismus Rußland dazu dienen, die Hegemonie über alle Slawen übernehmen zu können. Diese politische Richtung beherrschte auch den Prager Slawenkongress von 1908, doch wollte der dort formulierte Neoslawismus nicht mehr russische Hegemonie, sondern Rußland und Österreich-Ungarn als Verbündete. Die Haltlosigkeit dieser Idee besiegelten die bosnische Krise von 1908, die Balkankriege von 1912 und 1913 und die Julikrise von 1914 (Auslöser des 1. Weltkriegs). Die heutige Balkankrise, die schon seit 1989 andauert, und der 1998 begonnene Jugoslawien-Krieg, an dem sich auch die deutsche Rot-Grün-Regierung (bei Verstoß gegen das Grundgesetz! ) beteiligte, beweisen, daß heute die meisten „Westler“ völlig verlernt haben, die tatsächlichen Ursachen für Krisen und Kriege wirklich zu verstehen. Das beste Beispiel hierfür lieferten unsere verwöhnten „Interpreten“ durch ihre Überreaktion im Jahre 1998.
Vgl. Samuel Phillips Huntington (*18.04.1927), Kampf der Kulturen, 1996, S. 218ff.. Mehr zu Rußland von Huntington:
Ein zerissenes Land ist laut Huntington zwar Teil einer einzigen, herrschenden Kultur, doch die Führer des Landes haben den Wunsch, es einer anderen Kultur zuzuordnen: „Sie sagen praktisch: »Wir sind ein Volk und gehören gemeinsam an einen Ort, aber wir wollen diesen Ort ändern«. Etwas ganz anderes sei, so Huntington, ein gespaltenes Land, das große Gruppen aus zwei oder mehr Kulturen umfasse, „die praktisch sagen: »Wir sind verschiedene Völker und gehören zu verscheidenen Orten«. Die Kräfte der Abstoßung sprengen sie auseinander …“ Laut Huntington gravitieren sie zu kulturalistischen Magneten in anderen Gesellschaften. Anders als die Menschen in einem gespaltenen Land seien „die Menschen eines zerrissenen Landes sich darüber einig, wer sie sind“, aber „uneinig darüber, welche Kultur eigentlich ihre Kultur ist.“ (S. P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1996, S. 216-217).
Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) wurde wegen Teilnahme an Treffen des utopisch-sozialistischen Petraschewski-Kreises zum Tode verurteilt, kurz vor der Hinrichtung zu 4jähriger Verbannung nach Sibirien „begnadigt“. Vgl. Dostojewskis Werke
Das Reich der Seleukiden, einer hellenistischen Herrscher-Dynastie, entstand (aus der ehemaligen Satrapie Babylon) in der Zeit der Diadochenkämpfe (323-281) und umfaßte um 312-284 ein Territorium vom Ägäischen Meer bis nach Ost-Gedrosien (etwa Belutschistan im östlichen Iran) und Arachosien (östlicher Iran und Süd-Afghanistan, um Kandahar), vom Kaukasus bis zum Persischen Golf. Es zerfiel zunächst durch Selbständigwerden einzelner (z.T. nie ganz unterworfener) Gebiete wie z.B.: Bythinien (endgültig 297), Pergamon (280 / 262), Partherreich (ab 250 / 247), Baktrien (endgültig wohl 239 / 238), Judäa (ab 167). Dazu kamen die Kriege an die Ptolemäer (bzw. Ptolemaier in Ägypten) in den Syrischen Kriegen (ab 274); 188 ging West-Kleinasien an Pergamon und Rhodos, 129 Mesopotamien an die Parther verloren. Den Reststaat wandelte Pompeius in die römische Provinz Syria um (64-63).
Gnaeus Pompeius (29.09.106 – 28.09.48) machte während seiner Neuordnung des Ostens (64-63) Syria, Pontus und Cilicia zu römischen Provinzem und Armenia, Cappadocia, Galatia, Colchis und Judaea zu Klientelstaaten.
Das Reich der Sowjets, einer europäistischen „Herrscher-Dynastie“, entstand, weil in Rußland ganz bestimmte europäische Autoritäten, z.B. vor allem Hegel, und deren Botschaften wie eben der Hegelianismus, von den geistigen Hintergründen der (slawisch-russischen) revolutionären Bewegung, und zwar beginnend mit dem Panslawismus () , nicht zu trennen sind und folglich die radikale Variante des Linkshegelianismus, der Marxismus, nach der 1917 erfolgten „Revolution“ hier und nur hier zur Basis werden konnte. (). Die europäische Vorherrschaft (für Russen immer schon fern liegend) wird sich nach und nach verwandeln in eine amerikanische Vorherrschaft (für Russen noch ferner liegend). Die früheren sowjetischen Gebiete wie Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Aserbaidschan und Armenien sind schon heute mehr oder weniger („Öl“-) Klientelstaaten der USA. Sie haben hier längst auch militärische Stützpunkte errichtet. (). Rußland ist immer noch ein Entwicklungsland, wie auch Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt betont und hinzügt: „Das im Laufe seiner Geschichte leidgeprüfte russische Volk erträgt seine Situation mit einem für Westeuropäer erstaunlichen Gleichmut.“ (Helmut Schmidt, Die Mächte der Zukunft, 2004, S.178-179).
Rußland schwankt immer zwischen großer und nicht ganz so großer Orientierungskrise. Es scheint immer nur die ‚Wahl zwischen Pest und Cholera‘ zu haben. In der russischen Geschichte ist bisher jede ‚West-Orientierung‘ früher oder später gescheitert, und das erste slawische „Zur-Welt-Kommen“, der „Selbstversuch“ (Panslawismus), mißglückte angesichts der weitaus überlegenen westlichen (= germanisch-abendländischen) Kultur. Und auch der Bolschewismus war und ist ja eine Orientierung am Westen: am Kommunismus bzw. Sozialismus der Deutschen Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895). Fast alle russischen Herrscher waren ‚Deutschland-Schwärmer‘. Ihre Vorliebe galt meistens Deutschland oder Holland, manchmal auch England, aber genützt hat es in Rußland immer nur wenigen ‚Feudalisten‘. Rußland schaffte es nie wirklich, das zu werden, was es nach Meinung der Herrscher werden sollte: westlich; denn Rußland war nie Teil der abendländischen Kultur, und konnte es deshalb auch mit bestem Willen nie werden. Russen wurden ja auch nicht von Deutschen christianisiert wie andere Slawen, z.B. Polen, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Kroaten u.a. () , doch auch die blieben eher ‚abendländische Sklaven‘ (wie ihr Name verrät: Slawen = Sklaven) und beklagen noch heute lieber ihre Opferrolle als sich selbst aktiv zu beteiligen. Diebstahl und andere Verbrechen sind für Slawen keine Delikte, sondern Alltag. Auch Rußlands Präsident Putin schwärmt für Deutschland, wie schon vor ihm Zar Peter I., seine Nachfolger und die Sowjet-Kommunisten. Doch genau wie sie versucht auch Putin, Rußland mit aller Gewalt zu verwestlichen, während der Westen (vor allem Westeuropa mit seiner ‚Schwäche-Strategie‘!) Rußland integrieren will (?), obwohl Rußland ständig gegen die Menschenrechte verstößt, die Mafia nicht kontrollieren kann (will?), das Volk auf den Müllhalden verhungern läßt, die Straße der Kriminalität und dem extremistischen und terroristischen Mob überläßt sowie überhaupt einen Staatsterrorismus pflegt, der dem israelischen Staatsterrorismus ähnelt und deshalb nicht besser, sondern nur staatlicher ist als der islamistische Terrorismus. (Vgl. Islamismus und Primitivismus).
„Nimmt man Marx (ähnlich: Engels; Anm HB) beim Wort, war auch ihm das Motiv einer Kehre des Kapitalismus gegen sich selbst nicht fremd (). Er hat, im Gegenteil, nie aufhören wollen zu glauben, daß erst die »Vollendung« der kapitalistischen Umwälzung aller Dinge, und nur sie, imstande wäre, eine neue Wirrtschaftsweise aus sich herauszutreiben. Die Möglichkeit der Kehre, die Revolution heißt, wird im Bogen der Evolution selbst erzeugt. Die ganze Fatalität des Marxismus liegt in seiner Unentschiedenheit hinsichtlich der Frage, wieviel Zeit der kapitalistische Prozeß im ganzen braucht, um die Voraussetzungen für die postkapitalistische Umlenkung des Reichtums zu produzieren. Aus heutiger Perspektive ist evident, daß das große Match des Kapitals um 1914 allenfalls bis zur Halbzeit gespielt war. Ihm stand noch eine lange Serie von Steigerungen, Auseinandersetzungen und Sturmläufen bevor, weswegen es weit davon entfernt war, sich selbst zugunsten einer nachfolgenden Formation transzendieren zu können. Die Führer der russischen wie der chinesischen Revolutionen waren völlig im Unrecht, wenn sie sich auf Marxsche Theorien beriefen. Beide politische Unternehmen stellten Amalgame aus politischem Fundamentalismus und kriegerischem Opportunismus dar, durch die jeder Sinn für Wirtschaftserfolg, Evolution und Reihenfolge verlorenging. Während den Basistexten von Marx zufolge die postkapitalistische Situation nur als die reife Frucht des »zu Ende« entwickelten Kapitalismus vorgestellt werden durfte, haben Lenin und Mao aus dem Prinzip der terroristischen Ausnutzung unreifer Verhältnisse den Schlüssel zum Erfolg gemacht. Nach ihren Darbietungen ist evident geworden, was das Diktum vom »Primat der Politik« in radikaler Interpretation besagt. Man muß zugeben, daß das Konzept des »vollendeten Kapitalismus« für seine Interpreten voller Zumutungen steckt, heute nicht weniger als zu Marx‘ und Lenins Zeiten. Es verlangt von seinen Benutzern einen Grad an Einsicht in die noch unrealisierten Potentiale der ökonomischen, technischen und kulturellen Evolution, den sie aus begreiflichen Gründen nicht erreicht haben können. Zudem fordert es von den Benachteiligten des Spiels ein Maß an Geduld, das aufzubringen ihnen unmöglich zuzumuten wäre, wenn sie wüßten, wohin für sie die Reise führt und wie lange sie dauert. So verwundert es nicht, wenn die Denkfigur »reife Verhältnisse« den Kommunisten über den Kopf wuchs, indem sie gerade dort die Revolution erzwangen, wo die Evolution ihre Arbeit kaum begonnen hatte und fruchtbare eigentumswirtschaftliche Verhältnisse noch auf ganzer Linie fehlten. Als Evolutionsbetrüger ohne Vorgänger versuchten sie sich an dem Kunststück, über den Kapitalismus hinauszugehen, ohne ihn gekannt zu haben. Die Flirts der Sowjets unter Stalin und der Chinesen in der Maozeit mit der beschleunigten Industrialisierung waren kaum mehr als ohnmächtige Bemühungen, den evolution ären Schein zu wahren. In Wahrheit war die Leninsche Wahl des revolutionären Moments von Anfang an rein opportunistisch motiviert – der Machiavellischen Lehre von der günstigen Gelegenheit gemäß -, und Mao Zedongs analoge Angriffe waren in noch höherem Maß voluntaristisch verzerrt. Übereilung blieb das Kennzeichen aller Initiativen, die von Revolutionären dieses Schlages im Namen einer nachkapitalistischen Zukunft ausgingen. Wo aus sachlogischen Gründen mit Jahrhunderten zu rechnen gewesen wäre, wurden ohne jedes zureichende Motiv – da Ungeduld und Ambition nie genügen – nur wenige Jahrzehnte in die historischen Rechnungen eingesetzt, bei den Ultras sogar nur wenige Jahre. Die verzerrte Optik, mit welcher der revolutionäre Wille seine Pläne rechtfertigte, ließen das kriegerische Chaos, das postzaristische in Rußland, das nachkaiserliche in China, wie eine jeweils »reife Situation« erscheinen. Tatsächlich produzierte der Kommunismus nicht eine postkapitalistische, sondern eine postmonetäre Gesellschaft, die, wie Boris Groys gezeigt hat, das Leitmedium Geld aufgab, um es durch die reine Sprache des Kommandos zu ersetzen, hierin einer orientalischen Despotie (und einem verkrüppelten Philosophenkönigtum) nicht unähnlich. (Vgl. Boris Groys, Das kommunistische Postskriptum, 2006). Der Geburtsfehler der kommunistischen Wirtschaftsidee lag jedoch nicht allein in der magischen Manipulation des evolutionären Kalenders. Es ist ja nie ausgeschlossen, daß eine Revolution der Evolution zu Hilfe kommt. Ihr unheilbares Gebrechen war das glühende Ressentiment gegen das Eigentum – das man gern mit der bitter gefärbten Bezeichnung »Privateigentum« belegte (auch bekannt als »Privateigentum an Produktionsmitteln«) -, als ob man alles Private per se zum Geraubten erklären wollte. Dieser Affekt mag sich auf hohe moralische Prinzipien berufen – er ist jedenfalls außerstande, dem Wesen der modernen Ökonomie, die von Grund auf Eigentumswirtschaft ist, gerecht zu werden. Nach einem von Gunnar Heinsohn geprägten Vergleich kommt die kommunistische Absage an das Prinzip Eigentum dem Kunststück gleich, ein Fahrzeug zu beschleunigen, indem man den Motor aus ihm entfernt. (Zur diskursiven Begründung des Bildes vgl. Gunnar Heinsohn / Otto Steiger, Eigentumsökonomik, 2006). Mehr noch: Die sich von Marx herleitenden Bewegungen der Linken (wie auch manche ihrer rechtsfaschistischen Rivalen) konnten ihr Mißtrauen gegen den Reichtum als solchen zu keiner Zeit ablegen, selbst dann, wenn sie, an die Staatsmacht gelangt, laut verkündeten, ihn intelligenter erzeugen und gerechter verteilen zu wollen. Ihre ökonomischen Fehler waren stets zugleich psychopolitische Geständnisse. Dem Kommunismus an der Staatsmacht war die Befriedigung des philisterhaften Enteignungsrauschs und des Verlangens nach Rache an den Privatvermögen im ganzen stets viel wichtiger als die Freisetzung der Wertströme. Daher blieb von dem großen Elan der egalitaristischen Menschheitswende schließlich nicht viel mehr übrig als die unverhohlene Selbstprivilegierung der Funktionäre – um von dem Erbe an Paralyse, Resignation und Zynismus nicht zu reden. …. Wer heute die Erinnerung an den sowjetischen Kult um die »Helden der Arbeit« bloß für ein wirtschaftsgeschichtliches Kuriosum hält, sollte bedenken, daß der linke Produktivismus den Versuch bedeutete, einen Hauch von Größe in ein System zu tragen, das unter seinen eigenen vulgären Prämissen litt. – Die in Nietzsches Moralkritik latent enthaltene thymotische Ökonomie stimuliert eine alternative Geldwirtschaft, in der Reichtum in Verbindung mit dem Stolz auftritt. Sie will dem modernen Wohlstand die klagende Maske vom Gesicht reißen, hinter der sich die Selbstverachtung von kleinlichen Besitzern großer und sehr großer Vermögen verbirgt – eine Verachtung, die im Sinn der platonischen thymós-Lehre völlig legitim ist, da die Seele der Vermögenden sich zu Recht selbst angreift, wenn sie nicht aus dem Zirkel der Unersättlichkeit herausfindet. Dagegen hilft auch das milieuübliche Kulturgetue nicht – das Interesse an Kunst ist in der Regel nur das Sonntagsgesicht der Gier. Die Heilung von der Selbstverachtung fände die Seele der Vermögenden allein in den schönen Handlungen, die den inneren Beifall des vornehmen Seelenteils zurückgewinnen. – Die Thymotisierung des Kapitalismus ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts; sie mußte nicht auf Nietzsche und Bataille warten, um ihren modus operandi zu entdecken. Sie ist von sich her immer dann am Werk, wenn der Unternehmermut Neuland betritt, um die Voraussetzungen für neue Wertschöpfungen und deren distributive Ausstrahlungen zu schaffen. Was schöpferische Aggression angeht, brauchte der Kapitalismus zu keiner Zeit Nachhilfeunterricht seitens philosophischer Mentoren in Anspruch zu nehmen. Daß er dabei allzusehr unter moralischen Hemmungen gelitten habe, wird man nicht sagen können. Doch auch nach seiner generösen Seite hin hat er sich eher eigensinnig und abseits der Philosophie entwickelt, allenfalls von christlichen Motiven inspiriert … Einer der bekanntesten Fälle von generösem Geben aus Kapitalgewinnen ist mit dem Namen Friedrich Engels verknüpft, der über dreißig Jahre hin die nicht allzu üppigen Überschüsse aus seiner Fabrik verwendete, um die Familie Marx über Wasser zu halten, indessen deren Vorstand die Zuwendungen benutzte, um die Ordnung der Dinge zu verwerfen, in der ein Engels möglich und nötig war. Wie dem auch sei, die Großzügigkeit der Geber läßt sich nicht auf den Liberalismus der »kleinen Taten« reduzieren, wie er für bürgerliche Reformansätze bezeichnend war. Es wäre gleichfalls unangebracht, solche Gesten als Paternalismus abzufertigen. In ihnen wird eher der metakapitalistische Horizont erkennbar, der sich abzeichnet, sobald sich das Kapital gegen sich selber kehrt. – »Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das.« (Friedrich Nietzsche, Sprüche und Pfeile [12.], in: Götzen-Dämmerung, 1889). Als Nietzsche dieses Bonmot notierte, ließ er sich wohl zu sehr von den antiliberalen Klischees seiner Zeit bestimmen. Was den Aphorismus trotzdem bedeutend macht, ist der Umstand, daß er an eine Zeit erinnert, in der der Widerstand gegen die Propaganda der Erotisierung und Vulgarisierung sich auf die heute fast vergessenen Regungen des Stolzes und des Ehrgefühls berufen konnte. Sie brachten eine Kultur der Generosität mit bürgerlichem Antlitz hervor – ein Phänomen, das in den Zeiten der anonymen Fonds zunehmend verschwindet. Beschränken wir uns auf die Feststellung, wonach der thymotische Gebrauch des Reichtums in der angelsächsischen Welt, vor allem in den USA, zu einer gesicherten zivilisatorischen Tatsache hat werden können, während er auf dem europäischen Festland, aufgrund von staatsgläubigen, subventionalistischen und miserabilistischen Tradtionen, bis heute nie wirklich heimisch werden wollte.“ (Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 55-61).
Marx (Engels), Lenin und Stalin waren und sind noch heute für viele Kommunisten so etwas wie ‚Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist‘. (). Stalin (21.12.1879 – 05.03.1953) wurde von vielen Sowjetbürgern ganz sicher als Gott angesehen, obwohl er mehr als 40 Millionen Menschen in seinen Todeslagern töten ließ, indem er z.B. willkürlich Namen auf seiner Liste durchstrich – das reichte, denn den Rest besorgten die Funktionäre. Viele Russen bekunden noch heute, daß sie damals an Stalin glaubten und ihn (Gott) ‚Vater‘ nannten. Sie waren festen Glaubens, wenn Stalin sie nicht in die Todeslager bringen würde, dann seien sie von ihm als ‚Gute‘ auserwählt. Eine Frau z.B., die nichts verbrochen hatte, behauptet noch heute, daß es damals absolut legal und legitim gewesen wäre, wenn Stalin sie als Todeskandidatin hätte abholen lassen. Denn wenn sie ins Todeslager gekommen wäre, dann hätte Stalin richtig entschieden. Auch wenn sie unschuldig sei, hätte sie kein Recht, über Schuld und Unschuld zu spekulieren, denn das sei ausschließlich Stalins Recht gewesen. Davon sei sie überzeugt und daran glaube sie auch heute noch. Solche unterwürfigen Opferhaltungen und solche grausamen Täterverhaltensweisen sind, wie alle sadomasochistischen Beziehungen, kaum erklärbar, weil sie Teil russisch-orthodoxer Religion sind. Verstehen kann man die russische oder sowjetische Herrscher-Volk-Beziehung nur, wenn man Analogien heranzieht, z.B. Jesus und seine Jünger – dieses Motiv hat es übrigens auch im stalinistischen Rußland häufig gegeben: ‚Stalin und seine Jünger‘! Aus der Überlieferung kennt man die Bereitschaft von Jesus und den meisten seiner Jünger, ganz konsequent auch das eigene Leben zu opfern; aber der ‚göttliche‘ Stalin und seine ‚Jünger‘ opferten in wenigen Jahren nicht sich, sondern mehr als 40 Millionen Menschen. Und tatsächlich: so wie seine Jünger Jesus‘ Wiederkehr erwarteten, so erwarten heute nicht wenige Russen die ‚Wiederkehr‘ ihres ‚Gottes‘ Stalin – trotz seines überdimensionalen Terrors, trotz des Bolschewismus, des sowjetischen Kommunismus, dieser slawischen Abart eines vom Abendland (‚kulturgenetisch‘) weitergegebenen Erbes, das der ‚Erblasser‘ Hegel (1770-1831) ‚testamentarisch‘ so sicherlich nicht beabsichtigt hatte, aber dennoch aus dem ‚Hegelianismus‘ hervorging, nämlich als ‚Links-Hegelianismus‘, genauer als ‚Marxismus‘, und 1917 vom völlig rückständigen, ‚agrarischen‘ Rußland mit ‚Feudalfreude‘ als ‚Erbgut‘ angenommen und später in ‚Marxixmus-Leninismus‘ umbenannt wurde. Vielleicht wird ja darum noch heute (nicht nur) in Rußland immer noch verdrängt, daß Stalin und seine Funktionäre mindestens 40 Millionen Menschen ermordeten. In den 1990er Jahren gab es in Rußland jedoch auch einen offeneren, fast sogar schon wissenschaftlichen Umgang mit diesem Tabuthema. „In der heutigen russischen Presse werden die Opfer des Bolschewismus in der UdSSR von der Oktoberrevolution bis 1989 auf zwischen 40 Mio. und 100 Mio. Menschen beziffert [vgl. auch: Robert Conquest, Der große Terror, 1992; Anton Antonov-Owssejenko, Stalin – Porträt eines Tyrannen, 1986], eine historisch singuläre Größenordnung.“ (Klaus Kunze, Der totale Parteienstaat, 1994, S. 92). Und die in China „herrschende Sprachregelung, das Erbe Maos sei zu 70% gut, zu 30% schlecht, läßt die 60 bis 70 Millionen Menschenleben, die auf das Konto des Maoismus nach 1949 gehen, als eine Last erscheinen, die nur durch die landeseigene Kunst des Bilanzenziehens zu bewältigen ist.“ (Peter Sloterdijk, Die thymotische Revolution, in: ders., Zorn und Zeit, 2006, S. 268). Faßt man diese nach 1949 gemachten Menschenopfer des Maoismus (60 Mio. bis 70 Mio.) und Menschenopfer des Bolschewismus (40 Mio. bis 100 Mio.) zusammen, so ergeben sich sogar mindestens 100 Mio. bis 170. Mio. Menschenopfer!