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Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

Glaube
(Religion – Theologie)|2| |2|

– E i n e G e s c h i c h t e –

Der Glaube ist ein „Für-wahr-Halten“ () bzw. die innere Gewißheit, die von Beweisen unabhängig ist. Man könnte auch sagen: „Der Glaube ist ein purer Antizipationseffekt insofern, als er schon wirksam wird, wenn er aufgrund der Antizipation die Existenz der Antizipanten zielwärts motiviert. Man müßte dies in Analogie zum Placebo, den Movebo-Effekt nennen.“ (Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 384). Sloterdijk glaubt sogar, daß „es keine »Religion« und keine »Religionen« gibt, sondern nur mißverstandene spirituelle Übungssysteme“ (ebd., S. 12 ). Also: „Religionen gibt es nicht“ (ebd., S. 133), sondern nur Übungen (Trainings). Oder? Was ist Religion?
Das, was verbindlich passiert, wenn wir kultisch etwas wiederholt und sorgfältig beachten, ist Religion. (). So ist sie eine vom Glauben an die Existenz eines Gottes, einer Gottheit bestimmte Weltanschauung und Lebensführung, das Gefühl der Verbundenheit, der Abhängigkeit, der Verpflichtung gegenüber einer geheimnisvollen haltgebenden und verehrungswürdigen Macht. Religion ist eine feste Rückbindung.
Da Menschen wohl niemals damit aufhören werden, etwas für wahr zu halten () und kultisch etwas wiederholt und sorgfältig zu beachten (), können wir davon ausgehen, daß es für sie den Glauben, die Religion und wahrscheinlich auch die Theologie immer geben wird. Ich gebe zu, dadurch Sloterdijks Satz „Religionen gibt es nicht“ () negiert zu haben, behaupte aber, daß Sloterdijk bei diesem Satz aus Gründen der Rhetorik eine andere Definition von Religion vor sich hatte – wahrscheinlich einen Teilaspekt der Religion. Denn schließlich meint Sloterdijk mit Religionen ja „mißverstandene spirituelle Übungssysteme“ (), und die gibt es! Ich sage: Religion in der oben geschilderten Definition, wozu ich also auch Sloterdijks spirituelles Übungssystem zähle, wird es für Menschen immer geben! Religionen bzw. spirituelle Übungssysteme müssen nicht an Gott gebunden sein, müsen nicht theistisch (), sondern können auch atheistisch () oder z.B. wissenschaftlich (theoretisch/empirisch u.s.w. ) begründet sein.
Was man wollte, war immer der Glaube – und nicht die Wahrheit.“
(Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 317 ).

„Daß aber ein Glaube, so notwendig er ist zur Erhaltung von Wesen, nichts mit der Wahrheit zu tun hat, erkennt man z.B. selbst daran, daß wir an Zeit, Raum und Bewegung glauben müssen, ohne uns gezwungen zu fühlen, hier absolute Realität zuzugestehen.“ (Ebd., S. 340 ). „Die bestgeglaubten apriorischen »Wahrheiten« sind für mich – Annahmen bis auf weiteres, z.B. das Gesetz der Kausalität, sehr gut eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daß nicht daran glauben das Geschlecht zugrunde richten würde. Aber sind es deswegen Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde, daß der Mensch bestehen bleibt!“ (Ebd., S. 344 ). „Erst Bilder – zu erklären, wie Bilder im Geiste entstehen. Dann Worte, angewendet auf Bilder. Endlich Begriffe, erst möglich, wenn es Worte gibt – ein Zusammenfassen vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern Hörbares (Wort). Das kleine bißchen Emotion, welches beim »Wort« entsteht, also beim Anschauen ähnlicher Bilder, für die ein Wort da ist – diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffes. Daß schwache Empfindungen als gleich angesetzt werden, als dieselben empfunden werden, ist die Grundtatsache. Also die Verwechslung zweier ganz benachbarter Empfindungen in der Konstatierung dieser Empfindungen; – wer aber konstatiert? Das Glauben ist das Uranfängliche schon in jedem Sinnes-Eindruck: eine Art Ja-sagen erste intellektuelle Tätigkeit! Ein »Für-wahr-halten« im Anfange! Also zu erklären: wie ein »Für-wahr-halten« entstanden ist! Was liegt für eine Sensation hinter »wahr«?“ (Ebd., 347 ). „Die Wertschätzung »ich glaube, daß das und das so ist«, als Wesen der »Wahrheit«. In den Wertschätzungen drücken sich Erhaltungs– und Wachstums-Bedingungen aus. Alle unsre Erkenntnisorgane und Sinne sind nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs-und Wachstums-Bedingungen. Das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die Wertschätzung der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit derselben für das Leben: nicht deren »Wahrheit«. Daß eine Menge Glauben da sein muß; daß geurteilt werden darf; daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werte fehlt: – das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Also daß etwas für wahr gehalten werden muß, ist notwendig, – nicht, daß etwas wahr ist. »Die wahre und die scheinbare Welt« – dieser Gegensatz wird von mir zurückgeführt auf Wertverhältnisse. Wir haben unsere Erhaltungs-Bedingungen projiziert als Prädikate des Seins überhaupt. Daß wir in unserm Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die »wahre« Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine seiende ist.“ (Ebd., 348 ). Laut Nietzsche brauchen wir diese und andere Irrtümer, „um zu gedeihen“ (ebd.), denn laut Nietzsche sind ja Irrtümer für unser Leben nützlich (vgl. ebd.).

„Das Urteilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes Für-Wahr- oder Für-Unwahr-halten, ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit, daß etwas so und nicht anders ist, ein Glaube, hier wirklich »erkannt« zu haben – was wird in allen Urteilen als wahr geglaubt?“ (Ebd, S. 365 ).

Im weiteren Sinne ist Religion eine zusammenfassende Bezeichnung für eine Fülle historischer Erscheinungen, denen ein spezifischer Bezug zwischen dem überweltlichen, transzendenten Heiligen in personaler Gestalt einer oder mehrerer Gottheiten einerseits und den Menschen andererseits in einer deren Verhalten normativ bestimmenden Weise zugrunde liegt. Die verschiedenen Termini lassen für Religion unterschiedliche Aspekte dieser komplexen Größe deutlich werden. Religion kann zweifach gedeutet werden: als wiederholt sorgfältige Beachtung des Kults und als Verbindung des Menschen mit Gott. Lateiner kannten diese Verbindung z.B. als ein „Zurück-Verbinden“ (lat. religare, „wieder verbinden“). In den nicht vom Latein beeinflußten Sprachen werden weitere Aspekte sichtbar: Griechisch eusébia bezeichnet Gottesfurcht und Frömmigkeit, das arabische din betont den rechtlichen Aspekt der Religion, das indische Dharma das unerschütterlich Feststehende, das chinesische chiao und das japanische kyo den Aspekt der Lehre. Innerhalb ein und derselben Religion sind unterschiedliche Wertsetzungen möglich, die in den Begriffen der Gesetzes- und der Gefühlsreligion ihren Ausdruck finden. Fast immer aber besteht eine Kluft zwischen der offiziellen Religion der Priester und den volkstümlichen Vorstellungen und Bräuchen. Jede Religion besitzt eine die Gesellschaft strukturierende Kraft, die zur Organisation von Gemeinden, Kirchen oder Orden und sogar bis zur Identifikation der Religion mit dem Staat führen kann.
Die Existenzweise des religiösen Menschen zeigt sich in Hingabe an die Gottheit, die vor allem in Gebet, Dank Opfer und in der Heiligung der wichtigsten Einschnitte im Leben zum Ausdruck kommt. Religion schafft menschliche Ausdrucksformen in Sprache und Kunst. Drama, Tanz und Musik sind aus religiösen Handlungen hervorgegangen. Auch wirken Normen der Religion rechtsbildend.
Da die Religion Werte und Normen menschlichen Handelns vermittelt, begründet sie auch Mentalität und Einstellung zum Leben und damit eben auch zum Wirtschaften. Weltweite Wirkung erzielte bisher nur das Wirtschaften der Abendländer. (Vgl. Seelenbild und Ursymbol der abendländischen Kultur ). Nicht im Morgenland (wo das Christentum entstand), sondern im Abendland entwickelte das Christentum seine wirtschaftlichen Unternehmungen. Insbesondere der kalvinistische Unternehmertyp wurde zu einem Vorbild jener, die Kapital durch harte Arbeit zu mehren suchen. Diese Orientierung im Diesseits fehlt allen anderen Religionen, also z.B. auch dem morgenländischen Islam.
Noch während der Hominisierung, also im Altpaläolithikum, führte der Weg zur Religion über die Entwicklung eines primären Sprachkulturgutes, d.h. einer Grundausstattung der menschlichen Kultur, die sich in dem ersten Feuergebrauch und seiner Begleiterscheinung, der rein kulturellen (früh-) menschlichen Sprache, manifestierte. Diese Primärsprachkultur war es, die Religion ermöglichte. Religiöse Vorstellungen gab es also bereits im Altpaläolithikum, z.B. Jagdzauber und Magie – und weil frühe Menschen großen Raubtieren zum Opfer fielen, wurden vielleicht auch blutrünstige Tiere und blutrünstige Götter in Zusammenhang gebracht, faszinierende Tiere zu kultureigenen Göttern gemacht (was einer symbolischen Zähmung der Raubtiere durch ihre potentielle Beute gleichkommt), Naturkatastrophen als Astroterror mit Götterterror gleichgesetzt sowie das Fasziniert-sein-Wollen durch befremdliche Götter befriedigt. Spätestens im Mittelpaläolithikum waren religiöse Vorstellungen so weit ausdifferenziert, daß Reiligionskulturen entstanden, z.B. die der Neandertaler (Grab, Grabbeigaben). Religiöse Weltanschauungen setzen aber nicht nur eine rein kulturelle Sprache und eine typisch menschliche Sprachentwicklung voraus, sondern auch eine kulturell-natürliche Sprache als Metasprache. Deshalb erreichte die Sprachentwicklung die Stufe der Metasprache sehr wahrscheinlich schon mit dem Höhepunkt (1. Kultursymbol) der Hominisierung, also noch im Altpaläolithikum und lange vor der Sapientisierung. Zum Hauptmerkmal der Religion wurde z.B. der Glaube an eine Fruchtbarkeitsgöttin (Magna Mater). Allgemein jedoch bleibt festzuhalten, daß der Mensch auch während des Jungpaläolithikums noch als Teil der Natur in ihr lebte und auch bestrebt war, durch sein Verhalten nicht in das Gleichgewicht der natürlichen Kreisläufe, die ihm Nahrung und Überleben boten, einzugreifen. Dies änderte sich grundlegend mit der Einführung der produzierenden Wirtschaftsweise. Die sogenannte Neolithische Revolution setzt Seßhaftigkeit voraus und war so etwas wie eine „Reformation“ im Rahmen der Historisierung. Der Vegetationszyklus „Säen, Reifen, Ernten“ fand seinen Niederschlag in religiösen Vorstellungen und wurde verglichen mit dem Lebenszyklus: „Geburt, Werden, Tod“. In der mesolithisch-neolithischen Religion spielte der Glaube an ein Fortleben nach dem Tode eine große Rolle. Aus Angst vor der Wiederkehr wurden Leichname umschnürt oder verbrannt. Der Ahnenkult dieser Zeit ergänzte den noch vorhandenen Fruchtbarkeitskult und war auf religiöser Ebene verbunden mit dem Glauben an einen Himmelsgott – zumeist identisch mit dem Donner- und Blitzgott. Die Sorge für die Toten wurde jedenfalls überall praktiziert, aber auch der Glaube an Zauber und Dämonen – fast wie heute!

– Die Quadratur des Machtkreises –
In Vor- bzw. Urkulturen werden die Naturreligionen zunehmend durch Wirtschaft und Technik zugunsten medialer Kunst (Kommunikation) eingeengt; fast gleichzeitig erfolgt der umgekehrte Prozeß: die künstlichen Medien (vielfältiger Sprachkontakt) verbreiten durch Technik und Wirtschaft neue (bzw. differenziertere) Naturreligionen. Diese Regel (Periode) gilt nicht nur für Vor- bzw. Urkulturen, sondern auch für Früh-, Hoch- und Spätkulturen (Zivilisationen). Als Periode erklärt sie letztlich auch den „neuzeitlichen“ Glauben an die Naturwissenschaft bzw. die „moderne“ Naturtheologie (die auf eine neue Naturreligion zusteuert) als eine technisch-ökonomisch motivierte „Natur-Geisteswissenschaft“ () . Macht ist der Kreis, der wegen der Pi-Transzendenz auf ein Quadrat nicht projeziert werden kann, aber mit dem Quadrat flächengleich ist:
Kultur
Wirtschaft

Technik
Kunst

Jede dieser 4 Geschichtsebenen spricht eine a) rein natürliche Sprache, b) natürlich-kulturelle Sprache, c) rein kulturelle Sprache und d) kulturell-natürliche Sprache. Menschliche Sprache ist nicht nur rein natürlich (kosmisch); natürlich-kulturell ist sie eingebettet in die Sprache aller Lebewesen; rein kulturell ist sie das, was allgemein unter Sprache (Mutter- oder Nationalsprache) verstanden wird, und kulturell-natürlich ist sie Metasprache: „Sprache-über-Sprache“ (Sprache höherer Ebene), mit der die Sprache (Objektsprache als Sprache niederer Ebene) beschrieben wird, z.B. auch als Sprachtheorie, im weiteren Sinne aber sogar überhaupt als Theorie (ursprüngliche Bedeutung: Gottesanschauung) bzw. Theologie, Philosophie, Mathematik, Weltanschauung u.ä.. Feuer ist die rein natürliche Sprache, die menschliche Sprache wirkt wie rein kulturelles Feuer.

Priester im Machtkreis
– Macht der Priester –
„Die Priester sind die Schauspieler von irgend etwas Übermenschlichem, dem sie Sinnfälligkeit zu geben haben, sei es von Idealen, sei es von Göttern oder von Heilanden; darin finden sie ihren Beruf, dafür haben sie ihre Instinkte; um es so glaubwürdig wie möglich zu machen, müssen sie in der Anähnlichung so weit wie möglich gehen; ihre Schauspieler-Klugheit muß vor allem das gute Gewissen bei ihnen erzielen, mit Hilfe dessen erst wahrhaft überredet werden kann.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 103 ).
„Der Priester will durchsetzen, daß er als höchster Typus des Menschen gilt, daß er herrscht, – auch noch über die, welche die Macht in den Händen haben, daß er unverletzlich ist, unangreifbar –, daß er die stärkste Macht in der Gemeinde ist, absolut nicht zu ersetzen und zu unterschätzen. Mittel: er allein ist der Wissende; er allein ist der Tugendhafte; er allein hat die höchste Herrschaft über sich; er allein ist in einem gewissen Sinne Gott und geht zurück in die Gottheit; er allein ist die Zwischenperson zwischen Gott und den andern; die Gottheit straft jeden Nachteil, jeden Gedanken wider einen Priester gerichtet. Mittel: die Wahrheit existiert. Es gibt nur eine Form, sie zu erlangen: Priester werden. Alles, was gut ist, in der Ordnung, in der Natur, in dem Herkommen, geht auf die Weisheit der Priester zurück. Das Heilige Buch ist ihr Werk. Die ganze Natur ist nur eine Ausführung der Satzungen darin. Es gibt keine andere Quelle des Guten als den Priester. Alle andere Art von Vortrefflichkeit ist rangverschieden von der des Priesters, z. B. die des Kriegers. Konsequenz: wenn der Priester der höchste Typus sein soll, so muß die Gradation zu seinen Tugenden die Wertgradation der Menschen ausmachen. Das Studium, die Entsinnlichung, das Nicht-Aktive, das Impassible, Affektlose, das Feierliche; – Gegensatz: die tiefste Gattung Mensch. Der Priester hat eine Art Moral gelehrt: um selbst als höchster Typus empfunden zu werden. Er konzipiert einen Gegensatz-Typus: den Tschandala. Diesen mit allen Mitteln verächtlich zu machen, gibt die Folie ab für die Kasten-Ordnung. – Die extreme Angst des Priesters vor der Sinnlichkeit ist zugleich bedingt durch die Einsicht, daß hier die Kasten-Ordnung (das heißt die Ordnung überhaupt) am schlimmsten bedroht ist …. Jede »freiere Tendenz« in puncto puncti (d.h.: hisnischtlich der Keuschheit; Anm. HB) wirft die Ehegesetzgebung über den Haufen.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 103-104 ).
„Der Philosoph als Weiter-Entwicklung des priesterlichen Typus: – hat dessen Erbschaft im Leibe; – ist, selbst noch als Rivale, genötigt, um dasselbe mit denselben Mitteln zu ringen wie der Priester seiner Zeit; – er aspiriert zur höchsten Autorität. Was gibt Autorität, wenn man nicht die physische Macht in den Händen hat (keine Heere, keine Waffen überhaupt …)? Wie gewinnt man namentlich die Autorität über die, welche die physische Gewalt und die Autorität besitzen? (Sie konkurrieren mit der Ehrfurcht vor dem Fürsten, vor dem siegreichen Eroberer, dem weisen Staatsmann.) Nur indem sie den Glauben erwecken, eine höhere stärkere Gewalt in den Händen zu haben – Gott –. Es ist nichts stark genug: man hat die Vermittlung und die Dienste der Priester nötig. Sie stellen sich als unentbehrlich dazwischen: sie haben als Existenzbedingung nötig:
1. daß an die absolute Überlegenheit ihres Gottes, daß an ihren Gott geglaubt wird,
2. daß es keine andern, keine direkten Zugänge zu Gott gibt.
Die zweite Forderung allein schafft den Begriff der »Heterodoxie«; die erste den des »Ungläubigen« (d.h. der an einen andern Gott [oder gar keinen; Anm. HB] glaubt –).“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 104-105 ).
„Kritik der heiligen Lüge. – Daß zu frommen Zwecken die Lüge erlaubt ist, das gehört zur Theorie aller Priesterschaften – wie weit es zu ihrer Praxis gehört, soll der Gegenstand dieser Untersuchung sein.
Aber auch die Philosophen, sobald sie mit priesterlichen Hinterabsichten die Leitung der Menschen in die Hand zu nehmen beabsichtigen, haben sofort auch sich ein Recht zur Lüge zurechtgemacht: Plato voran. Am großartigsten ist die doppelte durch die typischarischen Philosophen des Vedânta entwickelte: zwei Systeme, in allen Hauptpunkten widersprüchlich, aber aus Erziehungszwecken sich ablösend, ausfüllend, ergänzend. Die Lüge des einen soll einen Zustand schaffen, in dem die Wahrheit des andern erst hörbar wird ….
Wie weit geht die fromme Lüge der Priester und der Philosophen? – Man muß hier fragen, welche Voraussetzungen zur Erziehung sie haben, welche Dogmen sie erfinden müssen, um diesen Voraussetzungen genugzutun?
Erstens: sie müssen die Macht, die Autorität, die unbedingte Glaubwürdigkeit auf ihrer Seite haben.
Zweitens: sie müssen den ganzen Naturverlauf in Händen haben, so daß alles, was den einzelnen trifft, als bedingt durch ihr Gesetz erscheint.
Drittens: sie müssen auch einen weiterreichenden Machtbereich haben, dessen Kontrolle sich den Blicken ihrer Unterworfenen entzieht: das Strafmaß für das Jenseits, das »Nach-dem-Tode« – wie billig auch die Mittel, zur Seligkeit den Weg zu wissen.
– Sie haben den Begriff des natürlichen Verlaufs zu entfernen: da sie aber kluge und nachdenkliche Leute sind, so können sie eine Menge Wirkungen versprechen, natürlich als bedingt durch Gebete oder durch strikte Befolgung ihres Gesetzes. – Sie können insgleichen eine Menge Dinge verordnen, die absolut vernünftig sind, – nur daß sie nicht die Erfahrung, die Empirie als Quelle dieser Weisheit nennen dürfen, sondern eine Offenbarung oder die Folge »härtester Bußübungen«.
Die heilige Lüge bezieht sich also prinzipiell: (a) auf den Zweck der Handlung (– der Naturzweck, die Vernunft wird unsichtbar gemacht: ein Moral-Zweck, eine Gesetzeserfüllung, eine Gottesdienstlichkeit erscheint als Zweck –): (b) auf die Folge der Handlung (– die natürliche Folge wird als übernatürliche ausgelegt, und, um sichrer zu wirken, es werden unkontrollierbare andre, übernatürliche Folgen in Aussicht gestellt).
Auf diese Weise wird ein Begriff von Gut und Böse geschaffen, der ganz und gar losgelöst von dem Naturbegriff »nützlich«, »schädlich«, »lebenfördernd«, »lebenvermindernd« erscheint – er kann, insofern ein anderes Leben erdacht ist, sogar direkt feindselig dem Naturbegriff von Gut und Böse werden.
Auf diese Weise wird endlich das berühmte »Gewissen« geschaffen: eine innere Stimme, welche bei jeder Handlung nicht den Wert der Handlung an ihren Folgen mißt, sondern in Hinsicht auf die Absicht und Konformität dieser Absicht mit dem »Gesetz«.
Die heilige Lüge hat also 1. einen strafenden und belohnenden Gott erfunden, der exakt das Gesetzbuch der Priester anerkennt und exakt sie als seine Mundstücke und Bevollmächtigten in die Welt schickt; – 2. ein Jenseits des Lebens, in dem die große Straf-Maschine erst wirksam gedacht wird – zu diesem Zwecke die Unsterblichkeit der Seele; – 3. das Gewissen im Menschen, als das Bewußtsein davon, daß Gut und Böse feststeht – daß Gott selbst hier redet, wenn es die Konformität mit der priesterlichen Vorschrift anrät; – 4. die Moral als Leugnung alles natürlichen Verlaufs, als Reduktion alles Geschehens auf ein moralisch-bedingtes Geschehen, die Moralwirkung (d. h. die Straf- und Lohn-Idee) als die Welt durchdringend, als einzige Gewalt, als creator von allem Wechsel; – 5. die Wahrheit als gegeben, als geoffenbart, als zusammenfallend mit der Lehre der Priester: als Bedingung alles Heils und Glücks in diesem und jenem Leben.
In summa: womit ist die moralische Besserung bezahlt? – Aushängung der Vernunft, Reduktion aller Motive auf Furcht und Hoffnung (Strafe und Lohn); Abhängigkeit von einer priesterlichen Vormundschaft, von einer Formalien-Genauigkeit, welche den Anspruch macht, einen göttlichen Willen auszudrücken; die Einpflanzung eines »Gewissens«, welches ein falsches Wissen an Stelle der Prüfung und des Versuchs setzt: wie als ob es bereits feststünde, was zu tun und was zu lassen wäre – eine Art Kastration des suchenden und vorwärtsstrebenden Geistes; – in summa: die ärgste Verstümmelung des Menschen, die man sich vorstellen kann, angeblich als der »gute Mensch«.
In praxi ist die ganze Vernunft, die ganze Erbschaft von Klugheit, Feinheit, Vorsicht, welche die Voraussetzung des priesterlichen Kanons ist, willkürlich hinterdrein auf eine bloße Mechanik reduziert: die Konformität mit dem Gesetz gilt bereits als Ziel, als oberstes Ziel, das Leben hat keine Probleme mehr; – die ganze Welt-Konzeption ist beschmutzt mit der Strafidee; – das Leben selbst ist, mit Hinsicht darauf, das priesterliche Leben als das non plus ultra der Vollkommenheit darzustellen, in eine Verleumdung und Beschmutzung des Lebens umgedacht; – der Begriff »Gott« stellt eine Abkehr vom Leben, eine Kritik, eine Verachtung selbst des Lebens dar; – die Wahrheit ist umgedacht als die priesterliche Lüge, das Streben nach Wahrheit als Studium der Schrift, als Mittel, Theolog zu werden.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 105-108 ).
„Zur Kritik des Manu-Gesetzbuches. – Das ganze Buch ruht auf der heiligen Lüge. Ist es das Wohl der Menschheit, welches dieses ganze System inspiriert hat? Diese Art Mensch, welche an die Interessiertheit jeder Handlung glaubt, war sie interessiert oder nicht, dieses System durchzusetzen? Die Menschheit zu verbessern – woher ist diese Absicht inspiriert? Woher ist der Begriff des Bessern genommen? Wir finden eine Art Mensch, die priesterliche, die sich als Norm, als Spitze, als höchsten Ausdruck des Typus Mensch fühlt: von sich aus nimmt sie den Begriff des »Bessern«. Sie glaubt an ihre Überlegenheit, sie will sie auch in der Tat: die Ursache der heiligen Lüge ist der Wille zur Macht …. Aufrichtung der Herrschaft: zu diesem Zwecke die Herrschaft von Begriffen, welche in der Priesterschaft ein non plus ultra von Macht ansetzen. Die Macht durch die Lüge – in Einsicht darüber, daß man sie nicht physisch, militärisch besitzt …. Die Lüge als Supplement der Macht – ein neuer Begriff der »Wahrheit«. Man irrt sich, wenn man hier unbewußte und naive Entwicklung voraussetzt, eine Art Selbstbetrug… Die Fanatiker sind nicht die Erfinder solcher durchdachten Systeme der Unterdrückung …. Hier hat die kaltblütigste Besonnenheit gearbeitet; dieselbe Art Besonnenheit, wie sie ein Plato hatte, als er sich seinen »Staat« ausdachte. – »Man muß die Mittel wollen, wenn man das Ziel will« – über diese Politiker-Einsicht waren alle Gesetzgeber bei sich klar. Wir haben das klassische Muster als spezifisch arisch: wir dürfen also die bestausgestattete und besonnenste Art Mensch verantwortlich machen für die grundsätzlichste Lüge, die je gemacht worden ist …. Man hat das nachgemacht, überall beinahe: der arische Einfluß hat alle Welt verdorben ().“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 108-109 ).
„Im arischen Gesetzbuch reinster Rasse, im Manu, ist … „Priester-Geist“ schlimmer als irgendwo. – Die Entwicklung des jüdischen Priesterstaates ist nicht original: sie haben das Schema in Babylon kennengelernt: das Schema ist arisch. Wenn dasselbe später wieder, unter dem Übergewicht des germanischen Blutes, in Europa dominierte, so war dies dem Geiste der herrschenden Rasse gemäß: ein großer Atavismus. Das germanische Mittelalter war auf Wiederherstellung der arischen Kasten-Ordnung aus. – Der Mohammedanismus hat wiederum vom Christentum gelernt: die Benutzung des »Jenseits« als Straf-Organ. Das Schema eines unveränderlichen Gemeinwesens, mit Priestern an der Spitze – dieses älteste große Kultur-Produkt Asiens im Gebiete der Organisation – muß natürlich in jeder Beziehung zum Nachdenken und Nachmachen aufgefordert haben. – Noch Plato: aber vor allen die Ägypter. – Die Moralen und Religionen sind die Hauptmittel, mit denen man aus den Menschen gestalten kann, was einem beliebt: vorausgesetzt, daß man einen Überschuß von schaffenden Kräften hat und seinen Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109-110 ).

Die Beziehung zwischen Mensch und Priesterlogik (-„gesetz“). Der Zweck als die Macht heiligt das Mittel als das „Gesetz“ der Lüge, die als „Wahrheit“ geglaubt werden soll
Begonnen haben also die Arier (Indogermanen) mit der Macht durch das priesterliche „Gesetz“, das „Gesetzbuch Manus“ (), die schriftliche Lüge! „An der Vergöttlichung des Machtgefühls im Brahmanen“ ist laut Nietzsche „interessant, daß es in der Krieger-Kaste entstanden und erst übergegangen ist auf die Priester.“ (). Sie wollten die Mittel, weil sie den Zweck wollten. (). In der nebenstehenden Abbildung ist zu sehen, wie die Beziehung zwischen Mensch und Priesterlogik (-„gesetz“) funktioniert, wie der Zweck als die Macht das Mittel als das „Gesetz“ der Lüge, die als „Wahrheit“ geglaubt werden soll, heiligt. Mam beachte hierfür insbesondere die roten gestrichelten Linien: Mensch Priesterlogik (-„gesetz“), Sozialwesen Berechnung (hier im Sinne von Kalkül, nämlich: Machtkalkül). Sie sollen diese direkte Beziehung bzw. die direkte Bezugnahme, den direkten Einfluß, also die Machtverhältnisse der kürzesten Wege darstellen, wobei allerdings zu beachten ist, welche der jeweils zwei Richtungen dominiert: die der Entwicklung (in der Abbildung: gegen den Uhrzeigersinn) oder die des Erwerbs (in der Abbildung: im Uhrzeigersinn): (1.) Der gegen den Uhrzeigersinn verlaufende weiße Pfeil (<==) zwischen den Bereichen „Biologie“ und „Philosophie“ (also: von dem Bereich „Biologie“ über die Bereiche „Ökonomie“, „Semiotik“, „Lingustik“ zu dem Bereich „Philosophie“) bedeutet den Entwicklungsweg eines Lebewesens in Richtung Macht durch so etwas wie Philosophengeist; (2.) der gegen den Uhrzeigersinn verlaufende weiße Pfeil () zwischen den Bereichen „Biologie“ und „Philosophie“ (also: von dem Bereich „Biologie“ über die Bereiche „Chemie“, „Physik“, „Mathematik“ zu dem Bereich „Philosophie“) bedeutet den Weg des Erwerbs des Inhalts der Lüge über den wahren Entwicklungsweg (siehe: 2.), die als „Wahrheit“ erworben, d.h. für-wahr-gehalten (), d.h. geglaubt werdern soll (in der Abbildung ist diese Lüge über die wahre Entwicklung quasi als exakte Umkehrung dargestellt); (4.) der im Uhrzeigersinn verlaufende weiße Pfeil (==>) zwischen den Bereichen „Philosophie“ und „Biologie“ (also: von dem Bereich „Philosophie“ über die Bereiche „Linguistik“, „Semiotik“, „Ökonomie“ zu dem Bereich „Biologie“) bedeutet den Weg des Erwerbs der Lüge, durch die Religion entstehen und aufrechterhalten werden soll, denn durch die Lüge werden die Metasprache (im Sinne von Philosophie, Wissenschaft, Theorie u.s.w.), die Sprache, das Verhalten, die sozio-ökonomischen und die biologischen Verhältnisse (z.B. die Gesundheit bzw. Krankheit) der Erwerbenden, Fürwahrhaltenden, d.h. Glaubenden beeinflußt. – Bezüglich dieser Beispiele betreffen also die Entwicklungswege 1 und 2 die Entwicklung der Macht-durch-Geist-Menschen (1.) und dem, an dem sie ihre „Gesetze“ orientieren (2.), und die Erwerbswege 3 und 4 den Erwerb des Glaubens (3.) und der Religion (4.).
„Nehmen wir …den Fall der Züchtung einer bestimmten Rasse und Art. Das großartigste Beispiel dafür gibt die indische Moral, als »Gesetz des Manu« zur Religion sanktioniert. Hier ist die Aufgabe gestellt, nicht weniger als vier Rassen auf einmal zu züchten: eine priesterliche, eine kriegerische, eine händler- und ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse, die Sudras. Ersichtlich sind wir hier nicht mehr unter Tierbändigern: eine hundertmal mildere und vernünftigere Art Mensch ist die Voraussetzung, um auch nur den Plan einer solchen Züchtung zu konzipieren. Man atmet auf, aus der christlichen Kranken- und Kerkerluft in diese gesündere, höhere, weitere Welt einzutreten. Wie armselig ist das »Neue Testament« gegen Manu, wie schlecht riecht es! – Aber auch diese Organisation hatte nötig, furchtbar zu sein – nicht diesmal im Kampf mit der Bestie, sondern mit ihrem Gegensatz-Begriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen, dem Tschandala. Und wieder hatte sie kein andres Mittel, ihn ungefährlich, ihn schwach zu machen, als ihn krank zu machen – es war der Kampf mit der »großen Zahl«. Vielleicht gibt es nichts unserm Gefühle Widersprechenderes als diese Schutzmaßregeln der indischen Moral. Das dritte Edikt zum Beispiel (Avadana-Sastra I), das »von den unreinen Gemüsen«, ordnet an, daß die einzige Nahrung, die den Tschandala erlaubt ist, Knoblauch und Zwiebeln sein sollen, in Anbetracht, daß die heilige Schrift verbietet, ihnen Korn oder Früchte, die Körner tragen, oder Wasser oder Feuer zu geben. Dasselbe Edikt setzt fest, daß das Wasser, welches sie nötig haben, weder aus den Flüssen, noch aus den Quellen, noch aus den Teichen genommen werden dürfe, sondern nur aus den Zugängen zu Sümpfen und aus Löchern, welche durch die Fußtapfen der Tiere entstanden sind. Insgleichen wird ihnen verboten, ihre Wäsche zu waschen und sich selbst zu waschen, da das Wasser, das ihnen aus Gnade zugestanden wird, nur benutzt werden darf, den Durst zu löschen. Endlich ein Verbot an die Sudra-Frauen, den Tschandala-Frauen bei der Geburt beizustehn, insgleichen noch eins für die letzteren, einander dabei beizustehn. …. – Der Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei blieb nicht aus: mörderische Seuchen, scheußliche Geschlechtskrankheiten und daraufhin wieder »das Gesetz des Messers«, die Beschneidung für die männlichen, die Abtragung der kleinen Schamlippen für die weiblichen Kinder anordnend. – Manu selbst sagt: »die Tschandala sind die Frucht von Ehebruch, Inzest und Verbrechen (– dies die notwendige Konsequenz des Begriffs Züchtung). Sie sollen zu Kleidern nur die Lumpen von Leichnamen haben, zum Geschirr zerbrochne Töpfe, zum Schmuck altes Eisen, zum Gottesdienst nur die bösen Geister; sie sollen ohne Ruhe von einem Ort zum andern schweifen. Es ist ihnen verboten, von links nach rechts zu schreiben und sich der rechten Hand zum Schreiben zu bedienen: der Gebrauch der rechten Hand und des Von-links-nach-rechts ist bloß den Tugendhaften vorbehalten, den Leuten von Rasse.«“ (Friedrich W. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 426-427 bzw. 980-981 ).
„Diese Verfügungen sind lehrreich genug: in ihnen haben wir einmal die arische Humanität, ganz rein, ganz ursprünglich – wir lernen, daß der Begriff »reines Blut« der Gegensatz eines harmlosen Begriffs ist. Andrerseits wird klar, in welchem Volk sich der Haß, der Tschandala-Haß gegen diese »Humanität« verewigt hat, wo er Religion, wo er Genie geworden ist …. Unter diesem Gesichtspunkte sind die Evangelien eine Urkunde ersten Ranges; noch mehr das Buch Henoch. – Das Christentum, aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als Gewächs dieses Bodens, stellt die Gegenbewegung gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar – es ist die antiarische Religion par excellence: das Christentum die Umwertung aller arischen Werte, der Sieg der Tschandala-Werte, das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesamt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Mißratenen, Schlechtweggekommenen gegen die »Rasse« – die unsterbliche Tschandala-Rache als Religion der Liebe.“ (Friedrich W. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 427-428 bzw. 981-982 ).
„Die Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung sind in den Mitteln, sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig: wir dürfen als obersten Satz hinstellen, daß, um Moral zu machen, man den unbedingten Willen zum Gegenteil haben muß. Dies ist das große, das unheimliche Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die Psychologie der »Verbesserer« der Menschheit. Eine kleine und im Grunde bescheidne Tatsache, die der sogenannten pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus, das Erbgut aller Philosophen und Priester, die die Menschheit »verbesserten«. Weder Manu, noch Plato, noch Konfuzius, noch die jüdischen und christlichen Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz andren Rechten nicht gezweifelt …. In Formel ausgedrückt dürfte man sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch.“ (Friedrich W. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, 1889, in: Werke III, S. 428 bzw. 982 ).
„Die »heilige Lüge«- dem Konfuzius, dem Gesetzbuch des Manu, dem Mohammed, der christlichen Kirche gemeinsam –: sie fehlt nicht bei Plato. »Die Wahrheit ist da«: dies bedeutet, wo nur es laut wird, der Priester lügt.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 669-670 bzw. 1223-1224 ).
„Ich lese mit einem entgegengesetzten Gefühle das Gesetzbuch des Manu, ein unvergleichlich geistiges und überlegenes Werk, das mit der Bibel auch nur in einem Atem nennen eine Sünde wider den Geist wäre. Man errät sofort: es hat eine wirkliche Philosophie hinter sich, in sich, nicht bloß ein übelriechendes Judain von Rabbinismus und Aberglauben.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 670 bzw. 1224 ).
„Ein solches Gesetzbuch, wie das des Manu, entsteht wie jedes gute Gesetzbuch: es resümiert die Erfahrung, Klugheit und Experimental-Moral von langen Jahrhunderten, es schließt ab, es schafft nichts mehr. Die Voraussetzung zu einer Kodifikation seiner Art ist die Einsicht, daß die Mittel einer langsam und kostspielig erworbenen Wahrheit Autorität zu schaffen, grundverschieden von denen sind, mit denen man sie beweisen würde. Ein Gesetzbuch erzählt niemals den Nutzen, die Gründe, die Kasuistik in der Vorgeschichte eines Gesetzes: eben damit würde es den imperativischen Ton einbüßen, das »du sollst«, die Voraussetzung dafür, daß gehorcht wird. Das Problem liegt genau hierin. – An einem gewissen Punkte der Entwicklung eines Volks erklärt die einsichtigste, das heißt rück- und hinausblickendste Schicht desselben, die Erfahrung, nach der gelebt werden soll – das heißt kann –, für abgeschlossen. Ihr Ziel geht dahin, die Ernte möglichst reich und vollständig von den Zeiten des Experiments und der schlimmen Erfahrung heimzubringen. Was folglich vor allem jetzt zu verhüten ist, das ist das Noch-Fort-Experimentieren, die Fortdauer des flüssigen Zustands der Werte, das Prüfen, Wählen, Kritik-Üben der Werte in infinitum. …. Ein Gesetzbuch nach Art des Manu aufstellen, heißt einem Volke fürderhin zugestehn, Meister zu werden, vollkommen zu werden – die höchste Kunst des Lebens zu ambitionieren. Dazu muß es unbewußt gemacht werden: dies der Zweck jeder heiligen Lüge. – Die Ordnung der Kasten, das oberste, das dominierende Gesetz, ist nur die Sanktion einer Natur-Ordnung, Natur-Gesetzlichkeit ersten Ranges, über die keine Willkür, keine »moderne Idee« Gewalt hat. Es treten in jeder gesunden Gesellschaft, sich gegenseitig bedingend, drei physiologisch verschieden-gravitierende Typen auseinander, von denen jeder seine eigne Hygiene, sein eignes Reich von Arbeit, seine eigne Art Vollkommenheits-Gefühl und Meisterschaft hat. Die Natur, nicht Manu, trennt die vorwiegend Geistigen, die vorwiegend Muskel- und Temperaments-Starken und die weder im einen, noch im andern ausgezeichneten dritten, die Mittelmäßigen, voneinander ab – die letzteren als die große Zahl, die ersteren als die Auswahl. Die oberste Kaste – ich nenne sie die Wenigsten – hat als die vollkommne auch die Vorrechte …. Die Ordnung der Kasten, die Rangordnung, formuliert nur das oberste Gesetz des Lebens selbst; die Abscheidung der drei Typen ist nötig zur Erhaltung der Gesellschaft, zur Ermöglichung höherer und höchster Typen – die Ungleichheit der Rechte ist erst die Bedingung dafür, daß es überhaupt Rechte gibt. – Ein Recht ist ein Vorrecht. In seiner Art Sein hat jeder auch sein Vorrecht. Unterschätzen wir die Vorrechte der Mittelmäßigen nicht. Das Leben nach der Höhe zu wird immer härter – die Kälte nimmt zu, die Verantwortlichkeit nimmt zu. Eine hohe Kultur ist eine Pyramide: sie kann nur auf einem breiten Boden stehn, sie hat zu allererst eine stark und gesund konsolidierte Mittelmäßigkeit zur Voraussetzung. Das Handwerk, der Handel, Ackerbau, die Wissenschaft, der größte Teil der Kunst, der ganze Inbegriff der Berufstätigkeit mit einem Wort, verträgt sich durchaus nur mit einem Mittelmaß im Können und Begehren; dergleichen wäre deplaziert unter Ausnahmen, der dazugehörige Instinkt widerspräche sowohl dem Aristokratismus als dem Anarchismus. Daß man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu gibt es eine Naturbestimmung: nicht die Gesellschaft, die Art Glück, deren die allermeisten bloß fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen. Für den Mittelmäßigen ist mittelmäßig sein ein Glück; die Meisterschaft in einem, die Spezialität ein natürlicher Instinkt. Es würde eines tieferen Geistes vollkommen unwürdig sein, in der Mittelmäßigkeit an sich schon einen Einwand zu sehn. Sie ist selbst die erste Notwendigkeit dafür, daß es Ausnahmen geben darf: eine hohe Kultur ist durch sie bedingt. Wenn der Ausnahme-Mensch gerade die Mittelmäßigen mit zarteren Fingern handhabt, als sich und seinesgleichen, so ist dies nicht bloß Höflichkeit des Herzens – es ist einfach seine Pflicht. …. Wen hasse ich unter dem Gesindel von Heute am besten? Das Sozialisten-Gesindel, die Tschandala-Apostel, die den Instinkt, die Lust, das Genügsamkeits-Gefühl des Arbeiters mit seinem kleinen Sein untergraben – die ihn neidisch machen, die ihn Rache lehren …. Das Unrecht liegt niemals in ungleichen Rechten, es liegt im Anspruch auf »gleiche« Rechte. Was ist schlecht? Aber ich sagte es schon: alles, was aus Schwäche, aus Neid, aus Rache stammt. – Der Anarchist und der Christ sind einer Herkunft.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Antichrist, 1889, in: Werke III, S. 671-674 bzw. 1225-1228 ).

Ist Nietzsche nicht selbst auch jener Priester im Sinne des von mir oben beschriebenen Lebewesens, das die Macht durch so etwas wie Philosophengeist anstrebt? (). Oder ist er eher jener Philosoph, der – neutral, objektiv wie ein Wissenschaftler – nur beschreibt, was er entdeckt und beobachtet hat? Er ist wohl beides. Jedenfalls aber hat er einen großen Beitrag zur Aufklärung über die Möglichkeiten, Macht durch Lüge zu bekommen, geleistet!

B = „Biologie“; P = „Philosophie“;
Ö = „Ökonomiie“; M = „Mathematik“;
S = „Semiotik“; L = „Linguistik“.
Da besonders seit der abendländischen Neuzeit bzw. Moderne () die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse deutlich zugenommen haben, haben die Lügen bzw. Umkehrungen der Tatsachen aus den naturwissenschaftlichen Bereichen deutlich abgenommen. Hier besteht also eine Korrelation, die man auch Zunahme des exakten Wissens bei gleichzeitiger Abnahme des traditionellen Glaubens nennen kann. Klar, daß die „Priester“ umdenken mußten und müssen, um „überzeugen“ zu können. Da der „B/P-Direktbezug“ (vgl. Abbildung), der beispielhaft auch in der obigen Abbildung () dargestellt ist, immer mehr an Glaubwürdigkeit verloren hat und angefeindet worden ist, müssen die Mächtigen ebenfalls „Neues“ entwickeln oder die Macht verlieren. Dazu gibt es viele Möglichkeiten. Sie können z.B. ihren „heiligen“ Direktbezug zwischen der Priesterschaft – dem Bereich „Philosophie“ (P) – und den heilgen Ahnen – dem Bereich „Biologie“ (B) – lockern, wodurch sie allerdings auch ihren Mangel an diesbezüglicher Weisheit, diesbezüglichem Wissen, also ihre „Wahrheit“ teilweise als Lüge erkennen lassen müssen, jedoch im Gegenzug ihre Macht-durch-Lüge dadurch retten, daß sie den Direktbezug auf zwei andere Bereiche verlegen, z.B. auf die Bereiche „Mathematik“ (M) und „Ökonomie“ (Ö), indem sie auf den Ö(B)/M(P)-Direktbezug (vgl. Abbildung) setzen. Für die Mächtigen liegt der Vorteil des Ö(B)/M(P)-Drektbezugs darin, daß sie den neuen Direktbezug (Ö/M) auch wieder zurückverlegen können in den klassischen, alten Direktbezug (B/P), und das bedeutet: Mehr Lügen! Die Priester müssen noch intelligenter werden, um noch besser lügen zu können. Eine der wichtigsten Folgen: sie wirken zwar nicht mehr ganz so „glaubhaft“ wie vorher, dafür aber viel „überzeugender“ als vorher – sie haben eben dazugelernt und ihre „Argumente“ ihrer „Wahrheit“, also ihrer Lüge angepaßt. Ging es vorher darum, wie die „Priester“ mit ihren „Gesetzen“ es schaffen (vgl. die oben beschriebenen „Wege“ 1 und 2 und die Abbildung dazu), den die Lüge-erwerben-Sollenden ihre Ahnen, Heiligen oder Götter glaubhaft und sie darin religiös zu machen (vgl. die oben beschriebenen „Wege“ 3 und 4 und die Abbildung dazu), so geht es jetzt darum, wie die „Experten“ und „Priester“ es schaffen, den die Lüge-erwerben-Sollenden den neuen Direktbezug (Ö/M) glaubhaft und sie darin religiös zu machen, ohne den alten Direktbezug (B/P) unglaubwürdig erscheinen zu lassen, weil der ja immer noch, wenn auch nur noch teilweise, benötigt wird. Durch diesen neuen Direktbezug ist jeder der oben beschrieben vier „Wege“ () kürzer geworden. Noch daramtischer ist es z.B. beim „S(Ö,B)/L(P,M)/P-Direktbezug“ (vgl. Abbildung), der für den „Weg“ 1 zwischen den Bereichen „Semiotik“ (S) und „Linguistik“ (L) als Enttwicklungsweg und für den „Weg“ 4 zwischen den Bereichen „Linguistik“ (L) und „Semiotik“ (S) als Erwerbsweg keinen Platz läßt und dessen neuester Direktbezug (S/L) nicht mehr in einem „Gegenüber“ (vgl. Abbildung), sondern in einer „Nachbarschaft“ (vgl. Abbildung) besteht, wodurch die Mächtigen viel mehr als zuvor, ja fast permanent in der Lage sein müssen, die älteren Dierktbezüge (B/P und Ö/M) zu bevorzugen. Überall Diktatur (bekanntes ähnliches Beispiel: der „Orwell-Staat“). Hier zeigt sich das, was ebenfalls verleugnet und verborgen wird: der Wille zur Welt-Diktatur, und in Richtung Welt-Diktatur tendiert das heutige westliche System! Man gibt (als „Wahrheit“, also: Lüge!) vor, daß z.B. „Privatisierung“ „mehr Freiheit“ und „mehr Wohlstand“ bedeute, und in Wirklichkeit überläßt man das „privatisierte“ Volk dem „privatisierten“ Schicksal, läßt eventuelle Gefahren für einen Machtwechsel, die vom nur noch „privaten“ Volk ausgehen können, von „Privat“-Armeen, „Privat“-Sicherheitsdiensten und „Privat“-Polizisten bekämpfen, diktiert diesem Volk eine strengstens überwachte Zensur (die heutige „Politikorrektheit“ ist nur der Anfang davon) und wechselt fast permanent auf die älteren Direktbezüge (B/P und Ö/M), weil es ohne sie nicht geht, obwohl man die doch selbst noch unglaubwürdiger als jemals zuvor gemacht hat. Es dient nicht der Freiheit, sondern der Unfreiheit und Diktatur, wenn alle semiotischen und linguistischen Systeme der Macht-durch-Lüge unterstehen, auch dann, wenn die körperliche Gesundheit und der materielle Wohlstand der unter der Diktatur leidenden Menschen noch wächst. Dies dürfte nicht schwer einzusehen sein – doch Vorsicht: die meisten Menschen bemerken den Trick der Machthaber gar nicht.

Welterzeugungen
Schon die ersten Religionen erzeugten Welten, denn das, was sie geistig entwickelten, waren Kosmogonien (Welterzeugungen), bei denen auch die Herkunft der Menschen eine Rolle spielt. (Vgl. ). Diese Schöpfungsmythen sind natürlich noch vorrationale, vorwissenschaftliche mythisch-religiöse Lehren von Weltenstehung und Weltentwicklung. Man kann mindestens drei Hauptarten der Kosmogonien unterscheiden: sie ist Schöpfungsgeschichte, wenn sie die Welt in ihrer Gesamtheit als das Produkt eines göttlichen Willens betrachtet; Bildungsgeschichte, wenn die Gottheit einen als vorhanden gedachten, nicht erschaffenden Stoff zur Welt bildet; Entwicklungsgeschichte, wenn ein als ewig angenommener Stoff als sich aus einen Kräften zur Welt in ihrer Mannigfaltigkeit bildend gedacht wird. Kosmogonie ist also die Bezeichnung für die Entstehung der Welt nach mythischer Auffassung sowie für den Mythos, der von ihr berichtet. Diese Berichte geben die religiös intendierte Versicherung einer Ordnung, durch die die Mächte des Chaos gebannt sind. Meist liegt den Kosmogonien die Vorstellung von einem vorzeitlichen Urstoff oder Urwesen zugrunde, aus dem oder durch deren Umbildung die Welt entstanden sei. Von dieser Annahme ist die Anschauung von der „Schöpfung aus dem Nichts“ zu unterscheiden, nach der die Kosmogonie zunächst als Gedanke einer Gottheit konzipiert und dann durch deren Wort verwirklicht wird.
Die Provinz des Göttlichen
Thanatotop (Theotop)
Das Thanatotop ist ein Ort der Heimsuchung durch abgelebtes Leben. Wo Menschen beisammen sind, sind auch die Zeichen der Abwesenden und der Transzendenz beharrlich und subtil zugegen.
„Das Böse und Furchtbare, das von außen kommt, ist für das Verständnis der Menschensphären so bedeutsam, weil es auf doppelte Weise in die Konstitution der kulturellen Kapseln einbezogen ist: Zum einen haben Menschen zu den ontologischen Insulanern (), die sie sind, erst werden können, weil es ihnen in einer langen evolutionären Drift gelungen war, sich von der schädlichen Umwelt freizumachen und sich auf die anthropogene Insel – die klingende Verwöhnungskapsel – zurückzuziehen; zum anderen führt dieser Rückzug nie bis zur völligen Unbelangbarkeit; die kulturelle Einkapselung gewährt den Sapienten nie mehr als eine partielle Freiheit von Nöten und Verletzungen. Die Überwältigung durch das Außen bleibt als Möglichkeit ständig gegenwärtig – erst recht durch die Gewalt, die aus dem Gruppeninneren kommt. Das heißt: das Prinzip Distanz wird durch das Prinzip Invasion unterwandert, das Ringen zwischen beiden Tendenzen bestimmt die Geschichte der Organismen wie der Kulturen. Man kann zeigen, wie der Humanraum durch die Anstrengung geformt wird, den Vorgang der Distanzierung vor der Invasion zu behaupten oder diese auch nach Niederlagen wiederherzustellen. Der typische Invasionsstreß verkörpert sich in drei Kategorien von Eindringlingen; zum einen in den Ahnen und Wiedergängern, mit deren Eindringen in die Gruppenpsyche regelmäßig zu rechnen ist; zum anderen in den natürlichen Aggressionen und Katastrophen, die aus der Umwelt in die Physis der Gruppe einfallen; und schließlich in den Neuwahrheiten, die aus den Erfindungen und Entdeckungen der Neuerer hervorgehen. Weil der menschliche Raum trotz seiner Abrundung in sich selbst unvermeidlich auch Invasionsraum bleibt, nimmt er die Züge eines kulturellen Immunsystems an. … Durch Immunsysteme bauen lernende Körper ihre regelmäßig wiederkehrenden Stressoren in sich selbst ein. Genau dies entspricht der Funktion des Theotops (das aus dem Thanatotop emergiert): Die primitiven Götter sind die nach innen gezogenen Kategorien von Invasoren und Verletzern, mit denen eine gegebene Kulturgruppe chronisch rechnet.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004; S. 447-449).

Gott gilt als der oberste, in der Mythologie und den Religionen meist als Person gefaßte Gegenstand des Glaubens, geglaubt als ein Wesen mit „übernatürlichen“ d.h. außergewöhnlichen Eigenschaften und Kräften; im höchsten Sinne ein Wesen mit allen Eigenschaften der Vollkommenheit, der Inbegriff der Vollkommenheit als seiend geglaubt und verehrt.
Im Lichte der Gottesvorstellung erschienen von Anfang an auch mächtige Naturkräfte und Naturdinge; der lichte Tageshimmel, die Sonne, der Mond u.s.w., zuerst noch naiv als die Erscheinung selbst verehrt, später in den von ihnen beherrschten Erscheinungen als hinter oder in den Naturereignissen wirkend gedachte unsichtbare, unfaßbare Kräfte (vgl. Animismus), als „geistige“ Wesenheiten gefürchtet oder verehrt. Damit wurden sie zugleich zu ldeal- und Wunschwesen: sie sind, was und wie der Mensch nicht ist, aber sein möchte. Sie bringen Klarheit und Festigkeit in das verworrene und labile Dasein. Wer ihnen gehorcht, ihre Gebote befolgt, sich ihnen mit Opfern angenehm macht, den begaben und begnaden sie; zuerst nur mit materiellen, später auch mit geistigen Gütern, und lassen ihn an ihrer Einsicht, ihrer Macht, endlich auch an ihrer Unsterblichkeit im „Jenseits“ teilnehmen. Sie verleihen dem Leben einen höheren Sinn und gelten als die Vertreter eines allg. Prinzips, durch das die Welt samt ihren Übeln und Leiden verständlich wird, durch das auch die Rätsel der eigenen Seele – z.B. der „Kampf zwischen Tier und Engel“ (A. Gide) – eine Erklärung finden; auch Erlösung.
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„Der Mensch hat alle seine starken und erstaunlichen Momente nicht gewagt, sich zuzurechnen, – er hat sie als »passiv«, als »erlitten«, als Überwältigungen konzipiert: die Religion ist eine Ausgeburt eines Zweifels an der Einheit der Person, eine altération der Persönlichkeit: insofern alles Große und Starke vom Menschen als übermenschlich, als fremd konzipiert wurde, verkleinerte sich der Mensch, – er legte die zwei Seiten, eine sehr erbärmliche und schwache und eine sehr starke und erstaunliche in zwei Sphären auseinander, hieß die erste »Mensch«, die zweite »Gott«. Er hat das immer fortgesetzt. Er hat, in der Periode der moralischen Idiosynkrasie seine hohen und sublimen Moral-Zustände nicht als »gewollt«, als »Werk« der Person ausgelegt. Auch der Christ legt seine Person in eine mesquine und schwache Fiktion, die er Mensch nennt, und eine andere, die er Gott (Erlöser, Heiland) nennt, auseinander.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 101-102 ).

„Die Religion hat den Begriff »Mensch« erniedrigt; ihre extreme Konsequenz ist, daß alles Gute, Große, Wahre übermenschlich ist und nur durch eine Gnade geschenkt.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 102 ).

„Ein Weg, den Menschen aus seiner Erniedrigung zu ziehen, welche der Abgang der hohen und starken Zustände, wie als fremder Zustände, mit sich brachte, war die Verwandtschafts-Theorie. Diese hohen und starken Zustände konnten wenigstens als Einwirkungen unserer Vorfahren ausgelegt werden, wir gehörten zueinander, solidarisch, wir wachsen in unseren eigenen Augen, indem wir nach uns bekannter Norm handeln. Versuch, vornehmer Familien, die Religion mit ihrem Selbstgefühl auszugleichen. – Dasselbe tun die Dichter und Seher, sie fühlen sich stolz, gewürdigt und auserwählt zu sein zu solchem Verkehre,—sie legen Wert darauf, als Individuen gar nicht in Betracht zu kommen, bloße Mundstücke zu sein (Homer). Schrittweises Besitz-ergreifen von seinen hohen und stolzen Zuständen, Besitz-ergreifen von seinen Handlungen und Werken. Ehedem glaubte man sich zu ehren, wenn man für die höchsten Dinge, die man tat, sich nicht verantwortlich wußte, sondern – Gott – die Unfreiheit des Willens galt als das, was einer Handlung einen höheren Wert verlieh: damals war ein Gott zu ihrem Urheber gemacht.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 102 ).

Nietzsche zufolge gibt es „ja-sagende“ und „nein-sagende“ Religionen: „Wie eine ja-sagende arische Religion, die Ausgeburt der herrschenden Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Manus. (Die Vergöttlichung des Machtgefühls im Brahmanen: interessant, daß es in der Krieger-Kaste entstanden und erst übergegangen ist auf die Priester.) Wie eine ja-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der herrschenden Klasse, aussieht: das Gesetzbuch Mohammeds, das alte Testament in den älteren Teilen. (Der Mohammedanismus, als eine Religion für Männer, hat eine tiefe Verachtung für die Sentimentalität und Verlogenheit des Christentums …, einer Weibs-Religion, als welche er sie fühlt –.) Wie eine nein-sagende semitische Religion, die Ausgeburt der unterdrückten Klasse, aussieht: das neue Testament (– nach indisch-arischen Begriffen: eine Tschandala-Religion). Wie eine nein-sagende arische Religion, gewachsen unter den herrschenden Ständen: der Buddhismus. – Es ist vollkommen in Ordnung, daß wir keine Religion unterdrückter arischer Rassen haben: denn das ist ein Widerspruch: eine Herrenrasse ist obenauf oder geht zugrunde.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 110-111 ). Aus Gründen der Übersicht hier nun folgend das an vier von Nietzsche gegebenen Beispielen orientierte Schema:
„JA-SAGENDE“ RELIGION „NEIN-SAGENDE“ RELIGION

ARISCH (INDOGERMANISCH) Brahmanismus (Manu) Buddhismus

SEMITISCH Mohammedanismus (Islam) Christentum

„Manu“ ist in der indogermanischen Mythologie der erste Mensch, Held und heilige König der Erde, siehe „Mannus“ (Gott; sagenhafter Stammvater der Germanen [Tacitus zufolge]). „Manu“ ist verwandt mit dem gemeingermanischen (urgermanischen) Wort manna / mannuz / mannaz mit der Bedeutung „Mann“ / „Mensch“. Im Hinduismus ist Manu (vgl. sanskrit manu = Mann, Mensch, Menschheit) der Urvater der Menschheit, jedoch auch die Menschheit an sich (vgl. Manusmriti = „Gesetzbuch des Manu“, „Manugesetzbuch“).

Vom Theismus bis zum Atheismus
Theismus ist der Glaube an einen Gott, der perönlich, außer- und innerweltlich, selbstbewußt und selbsttätig, als Schöpfer, Erhalter und Lenker der Welt gedacht wird. Gegensätze dazu sind: Deismus und Atheismus.
Theismus | Deismus Atheismus

|Kosmotheismus| |Polytheismus| |Monotheismus| |Henotheismus| |

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Gott exisitiert zwar als
Urgrund der Welt,
aber greift nicht ins
Weltgeschehen ein
(auch nicht durch
ein Wunder) Gott
existiert
nicht
|Pantheismus|
(1) theomonistisch,
(2) physiomonistisch,
(3) panentheistisch,
(4) immanent-transzendent.

Wissenschaftliche Erkenntnis und philosisches Denken führen zum Atheismus oder zum Deismus oder, um den Theismus noch ein wenig zu retten, zum Pantheismus. Der Atheismus leugnet, daß Gott existiert, der Deismus leugnet, daß Gott die Welt lenkt, der Pantheismus leugnet, daß Gott und Welt verschieden sind, denn er behauptet, daß beide im wesentlichen identisch bzw. relativ identisch sind, ganz genau behauptet er: daß (1) nur Gott oder (2) nur Welt (aber mit dem Namen „Gott“!) existiert oder (3) Gott transzendent (die Welt sich in ihm verwirklichend) oder (4) Gott immanent-transzendent (in der Welt sich verwirklichend) ist.
Für den Gläubigen steht Gott am Anfang, für den Wissenschaftler am Ende aller seiner Überlegungen. Nach dem Physiker Steven Hawkins erkennt man Gottes Willen dadurch, daß man die Gesetze der Natur erkennt. Für ihn und viele andere Wissenschaftler ist der Gotteswille identisch mit Naturgesetz. Und: „Pantheismus ist die heimliche Religion der Deutschen“ (Friedrich E. D. Schleiermacher, 1768-1834 ). Der Pantheismus macht die Natur (die Welt, das All) zu Gott oder Gott zur Natur (zur Welt, zum All), und ist – so gesehen – religiöser Naturalismus oder naturalistische Religion. Und: „Pantheismus ist die vornehme Form des Atheismus.“ (Arthur Schopenhauer, 1788-1860 ).
Der Pantheismus tritt in 4 Hauptströmungen auf als:
[1] Theomonistischer Pantheismus. Allein Gott besteht. (Vgl. Weltlosigkeit, Akosmismus). Die Eigen-Existenz der Welt wird aufgehoben.
[2] Physiomonistischer Pantheismus. Allein die Welt besteht, die nur Gott genannt wird. Die Eigen-Existenz Gottes wird aufgehoben.
[3] Transzendenter Pantheismus, den man auch Panentheismus nennt, weil er Theismus und Pantheismus in sich vereinen soll. Das Weltall ruht in Gott, die Welt ist eine Erscheinungsweise Gottes. Es ist weniger eine All-Gott-Lehre (Pantheismus) als viel mehr eine All-in-Gott-Lehre (Panentheismus), denn behauptet wird nur das Enthaltensein des Weltganzen in Gott. (Synonym: Mystischer Pantheismus). Die Eigen-Existenz der Welt wird nicht aufgehoben, aber relativiert.
[4] Immanent-transzendenter Pantheismus. Gott verwirklicht sich in den Dingen der Welt. Die Eigen-Existenz Gottes wird nicht aufgehoben, aber relativiert.

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Bedenklich macht, daß auch heute noch die Vorstellung, böse Geister seien imstande, in jeden Körper zu fahren, so weit verbreitet ist, „daß man berechtigt ist, in ihr einen Elementargedanken zu sehen. Nach der Auffassung der Gläubigen dient eine solche Invasion dem Zweck, Menschen in Automaten der Dämonen umzuwandeln. Da die Eindringlinge vor Toten nicht halt machen, haben die Chinesen des Altertums zuweilen Mund und Anus von Verstorbenen mit Pfropfen aus Wachs oder Jade versiegelt. Bei manchen altgermanischen Stämmen fesselte man die Beine der Toten an den Rücken und begrub sie mit dem Gesicht zur Erde, um ihnen die Rückkehr zu erschweren.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 457).
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„Ohne Glauben könnten wir gar nicht leben. In der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft lebt jeder, was das Wissen betrifft, aus zweiter oder dritter Hand. Bei den meisten Dingen, die unseren unmittelbaren Lebens- und Kompetenzbereich überschreiten, bleibt uns nichts anderes übrig, als an das Wissen der anderen – zu glauben. In den meisten Angelegenheiten sind alle dazu verurteilt, gläubige Mitwisser zu sein. Da jeder nur Spezialist für Bestimmtes ist und Laie in Bezug auf den riesigen Rest, wächst mit der spezialisierten Wissensgesellschaft auch die Glaubensgemeinschaft. Je mehr Wissen, desto mehr Glauben an das Wissen der anderen. Diese Art des Glaubens hat also auf jeden Fall eine große Zukunft.“ (Rüdiger Safranski, in: Cicero, 05 / 2004).
„Es gibt in der Wissensgesellschaft Felder, wo in diesem Sinne besonders intensiv geglaubt wird. Wenn die Wirtschaftsweisen im Fernsehen wie Schamanen aus den Kulissen treten und ihre Orakelsprüche verkünden, dann sollen wir an die verkündeten Konjunkturprognosen glauben. Aber so glauben wir auch an die Psychoanalyse, an den Urknall, an das Chaos in der Natur, an die künftige Klimakatastrophe, an die Entropie samt kosmischem Wärmetod, an die egoistischen Gene und an vieles andere mehr. Zwar könnte man sagen, das seien nur Formen des Für-wahrscheinlich-Haltens (und: Glauben = „Für-wahr-Halten“; auch Wissenschaften entstehen aus dem „Fürwahrhalten“, also: Glauben; Anm. HB ), die deshalb wenig mit dem religiösen Glauben zu tun hätten. Und doch nähern wir uns dabei dem religiösen Feld, weil es hier um Zuversicht oder Angst in Bezug auf Themen geht, die lange Zeit genuin religiöse Themen waren. Wer an den Urknall glaubt, hält nicht nur eine wissenschaftliche Hypothese für wahrscheinlich, sondern glaubt daran wie an die göttliche Weltschöpfung. Und an die Entropie-Hypothese mit dem schließlichen Wärmetod kann man auch glauben wie an die Apokalypse.“ (Rüdiger Safranski, in: Cicero, 05 / 2004).
„Noch in einem anderen Sinne leben wir alltäglich aus dem Glauben. Der Mensch ist das Tier, das versprechen kann, hat Nietzsche (1844-1900 ) einmal gesagt. Der eine verspricht, der andere glaubt ihm. Glauben ist auf beiden Seiten im Spiel, denn auch der Versprechende muß an sich selbst glauben, genauer: an sein künftiges Selbst, das ein gegebenes Versprechen einhalten soll. Ich verspreche, weil ich an mich glaube und du glaubst mir, weil ich verspreche. Diese Art des Glaubens zirkuliert zwischen den Menschen und ist so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen. Es ist ein Glaube, dem wir im Interesse unserer Lebensfähigkeit eine Zukunft wünschen müssen. Der Mensch lebt, anthropologisch gesehen, auf Kredit.“ (Rüdiger Safranski, in: Cicero, 05 / 2004).

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„Unsichtbaren Religion“ ist eine religiöse Glaubensvorstellungen und Praktiken, an denen man gleichzeitig (oder in Verbindung) mit denen der offiziellen Religion, zu der man gehört, festhält: diese hat damit eine enge Verbindung zu der nichtoffiziellen Religion. Dazu gehören z.B. solche Fälle wie der Aberglaube und das Paranormale und auch (weil diese wahrscheinlich von der offiziellen Religion zurückgewiesen werden) jene Glaubensvorstellungen und Praktiken, die aus anderen Religionen stammen. Im erweiterten Sinne unterstützt die These von der „Unsichtbaren Religion“ die Argumentation von Thomas Luckmann (in seinem Buch: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, 1963), daß die These von Émile Durkheim (1858-1917) und Max Weber (1864-1920 ) richtig ist, daß die Religion den Schlüssel zum Verständnis der Gemeinschaft und den Standort der Einzelnen in der Gemeinschaft darstellt. Laut Luckmann ist die Religion das, was die Einzelnen in die Lage versetzt, über ihre biologische Natur hinauszugehen, wodurch Luckmann Religion beinahe zu einem Syonym für Kultur macht. Der Einzelne wird laut Luckmann „zur Person, indem er seine biologische Natur transzendiert. Sinnhaftigkeit ist ein spezifisch menschliches und zugleich das grundlegende gesellschaftliche Phänomen. Es ist bestimmend für das in der Gesellschaft geprägte Selbst des Menschen. In der Begegnung mit anderen wird das Individuum auf sich verwiesen als ein einheitliches Selbst. Von diesem ihrem wichtigsten Aspekt her gesehen ist Vergesellschaftung ein Prozeß der religiösen Individuation.“ (Ebd.). Dies ist zwangsläufig „unsichtbar“, denn es liegt doch jeder bestimmten sichtbaren Religion zugrunde und ist weitgestreuter als diese.
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Indogermanen
Die Indogermanen (auch: Indoeuropäer, Arier) sind uns dank der Historisch-Vergleichenden Sprachwissenschaft sehr gut bekannt (vgl. Indogermanistik). Die Religion der Indogermannen kennt keinen mit demjenigen des Morgenlandes verwandten Schöpfungsgedanken. Der Indogermnane steht zu seiner Gottheit in keinem Untertanen- oder Knechtverhältnnis. In der indogermnaischen Religiosität gibt es auch keinen Gegensatz von Leib und Seele. „Nie haben Indogermannen gewähnt, frömmer zu werden, wenn sie von ihrem Diesseits ein Jenseits ablösten und dann das Diesseits entwerteten zu einem Schauplatz des Jammers, der Heimsuchungen und der erlösungsbedürftigen Gebrechklichkeit, dafür aber dem Jenseits alle Seelenwonnen zuschrieben, zu denen eine diesseitsflüchtige Seele sich ein Menschenleben lang hinübersehnen müsse.“ (Hans Friedrich Karl Günther, Frömmigkeit nordischer Artung, 1934 ).
Wie schon gesagt: Das priesterliche „Gesetz“ erfanden also die Indogermanen: das „Gesetzbuch Manus“ () in Indien ist die älteste schriftliche Legitimation priesterlicher Macht (). „Man hat das nachgemacht, überall beinahe: der arische Einfluß hat alle Welt verdorben.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109 ). Laut Nietzsche ist der Brahmanismus eine „ja-sagende“ Religion.
Lesen wir mehr Wissenswertes über den Glauben, und
wählen wir dazu 6 Beispiele indogermanischer Völker:
Inder, Perser, Griechen, Kelten, Germanen, Faustiker.

Griechen

*) Okeaniden (Eltern [Titanen]: Okeanos und Thetys) u.a.: Pleione, Dione,Doris, Styx, Tyche, Kallirhoe, Eurynome, Metis. *) 3 Gorgonen (Eltern [Meerestitanen]: Phorkys und Keto): Stheno, Oryale, Medusa (die einzige Sterbliche unter ihnen). *) Skylla (Eltern [Meerestitanen]: Phorkys und Keto). *) 3 Graien: (Eltern [Meerestitanen]: Phorkys und Keto): Enyo, Pemphredo, Deino. *) 4 Harpyien (Eltern: Thaumas [Meerestitan] und Ozomene/Elektra [Okeanide {nicht verwechseln mit der Pleiade Elektra!}]): Aello, Okypete, Kelaino, Podarge.*) Iris (Eltern: Thaumas [Meerestitan] und Ozomene/Elektra [Okeanide {nicht verwechseln mit der Pleiade Elektra!}]). *) Nereiden (Meeresnymphen) u.a. (Eltern: Nereus [Meerestitan] und Doris [Okanide]): Agaue, Aktaia, Amathia, Amphinome, Amphithoe, Amphitrite, Apseudes, Arethusa, Asia, Autonoe, Beroe, Deiopea, Dero, Dexamene, Dione, Doris, Doto, Drymo, Dynamene, Eione, Ephyra, Erato, Euagore, Euarne, Eudore, Eukrante, Eulimene , Eumolpe, Eunike, Eupompe, Eurydike, Galateia, Galene, Glauke, Glaukonome, Halie, Halimede, Hipponoe, Hippothoe, Iaera, Ianassa, Ianira, Ione, Kallianassa , Kallianira, Kalypso, Keto, Klio, Klymene, Kranto, Kreneis, Kydippe, Kymatolege , Kymo, Kymodoke, Kymothoe, Laomedia, Leiagore, Leukothoe, Ligea, Limnoria, Lykorias, Lysianassa, Maera, Melite, Menippe, Nausithoe, Nemertes, Neomeris, Nesaia, Neso, Opis, Orithynia, Panopaea, Panope, Pasithea, Pherusa, Phyllodoke, Plexaure, Polynome, Ploto, Pontomedusa, Pontoporia, Poulunoe, Pronoe, Proto , Protomedia, Psamathe, Sao, Speio, Thalia, Themisto, Thetis, Thoe, Xantho.
Am Anfang steht (das) Chaos, aus dem als erste Göttergeneration die Erde Gaia (Gäa), die Unterwelt Tartaros, die Liebe Eros, die Finsternis Erebos und die Nacht Nyx entstehen. Aus der Verbindung von Nyx und Erebos gehen der Tag Hemera und die Luft Aither (Äther) hervor, Nyx bringt aus sich selbst eine Reihe von Gottheiten hervor, die entweder Personifikationen von mit der Nacht assoziierten Phänomenen oder von menschlichen Übeln sind.
Der erste Herrscher über die Welt, Uranos, wird von seinem Sohn, dem Titanen Kronos entmannt und entmachtet, woraufhin die Titanen über die Welt herrschen. Die Titanen werden wiederum von Kronos‘ Sohn Zeus gestürzt, im Anschluß beginnt die Herrschaft der olympischen Götter. Zeus sichert seine Herrschaft, indem er seine schwangere Gattin Metis verschlingt, da es deren ungeborenem Sohn bestimmt gewesen wäre, die Stelle des Zeus einzunehmen.
Als Olympische Götter (auch Olympier oder Zwölfgötter) werden die (meist zwölf) Hauptgötter in der griechischen Mythologie bezeichnet. In engerem Sinne werden als olympische Götter jene Götter bezeichnet, die auf dem Olymp residieren – daher zählen Hades, der in der Unterwelt herrscht, und seine Gemahlin Persephone nicht zu den Olympiern. Auch Hebe, die als Mundschenk wirkt, und Eileithyia werden nicht dazu gezählt. Herakles und Dionysos, die erst später in den Olymp aufgenommen wurden, werden ebenfalls meist nicht mitgerechnet.
Zwölf-Götter-Altar
So ergibt sich eine Gesamtzahl von zwölf olympischen Göttern im engeren Sinne (griech. to dodekaqeon, tó Dodekatheon = die zwölf Götter, von griech. dodeka, dodeka = zwölf). Diese sind: Zeus, Hera, Demeter, Hestia, Poseidon, Ares, Hephaistos, Artemis, Aphrodite, Hermes, Apollon und Athene. Nicht dem Wohnsitz auf dem Olymp gemäß, sondern als Göttergeschlecht, das nach dem Sturz des Kronos und der Titanen die Weltherrschaft antrat, werden zu den Olympiern Zeus, dessen Geschwister und Kinder gerechnet, also: Zeus, alle fünf Geschwister des Zeus, die göttlichen Kinder des Zeus und jene von Zeus mit zwei sterblichen Frauen (Alkmene und Semele) gezeugten zwei Kinder, die später in den Olymp aufgenommen wurden: Herakles und Dionysos.
Die frühesten literarischen Quellen zu der griechischen Götterwelt lieferten v.a. Hesiod und Homer. Von den verschiedenen Versionen des Mythos hat sich die von Hesiod überlieferte durchgesetzt, die Kronos zu einem Sohn von Uranos und Gaia macht. Weil Uranos seine Kinder – die Kyklopen und Hekatoncheiren – so sehr haßt, daß er sie in den Tartaros verbannt, bingt Gaia ihre weiteren Kinder – die Titanen – im Geheimen zur Welt. Sie stiftet schließlich Kronos an, den Vater mit einer Sichel zu entmannen. Kronos wird damit zum Herrscher der Welt und Begründer des Goldenen Zeitalters. Gemäß der Darstellung Hesiods (Theogonie, 446ff.) wird Kronos von seiner Schwester Rhea (Rheia) zum Gatten genommen. Aus Angst, selbst entmachtet zu werden, frißter jedoch alle Kinder, die aus dieser Verbindung entstanden sind: Hestia, Demeter, Hera, Hades und Poseidon, die Kroniden. Den jüngsten Sohn jedoch, Zeus, versteckt Rhea auf Anraten von Gaia und Uranos in der Höhle von Psychro im Dikti-Gebirge auf Kreta und überreicht danach Kronos einen in eine Windel gewickelten Stein, den dieser verschlingt, ohne den Betrug zu bemerken. So kann Zeus ungestört heranwachsen. Später gelingt es Zeus, seinen Vater mit List und Gewalt zu überwinden, worauf Kronos erst den Stein und dann seine verschlungenen Kinder ausspuckt. Den Stein stellt Zeus an der Kultstätte Pytho (Delphi) auf, damit er dort von den Sterblichen bestaunt werde. Gemäß der Orphiker ist Kronos eines Tages von dem damals aus den Eichen fließenden Honig berauscht, so daß er von Zeus gefesselt werden kann. Anschließend bingt dieser ihn auf die „Insel der Seligen“, die Elysischen Gefilde, die am Rande des Erdkreises liegen, wo Kronos bis heute weilen soll. Daher soll dort noch immer das Goldene Zeitalter andauern, das ja für den Rest der bekannten Welt mit seiner Entmannung sein Ende gefunden haben soll. Laut der Bibliotheke des Apollodor ist Metis, die erste Geliebte des Zeus, diesem bei der Entmachtung des Vaters behilflich, indem sie ihm den Trank reicht, der Kronos betäubt und ihn schließlich dazu zwingt, alle zuvor verschlungenen Kinder wieder von sich zu geben.
Kronos war eine relativ schattenhafte Gestalt aus der Mythologie, die nur in sehr geringem Maße kultisch verehrt wurde. Allerdings gab es ein ihm zu Ehren gefeiertes ländliches Fest, die Kronien. Der von ihm ausgespuckte Stein wurde in Delphi verehrt; man salbte ihn täglich mit Öl und umwickelte ihn an Festtagen mit wollenen Binden. Er ist nicht zu verwechseln mit einem anderen ebenfalls in Delphi aufgestellten und verehrten Stein, dem Omphalos. Der Steinkult war in der Antike im Mittelmeerraum verbreitet.
Wie bei keinem olympischen Gott sonst sind bei Zeus die indogermanische Etymologie und Bedeutung und damit bereits vormediterane, aus der indogermanischen Religion stammende Ursprungs- und Wesensmerkmale zweifelsfrei. Zeus, mit diphtongischem Wurzelnomen, geht etymologisch zurück auf das indogermanische Nomen agentis * dieu-s mit der Grundbedeutung „hell Aufleuchtender“, „Glänzer“, „Wetterleuchtender“. Zeus wurde zwischen 2300-1900 v. Chr. von den einwandernden Indogermanen bzw. Protogriechen (Achäer, Ionier) importiert. Er kann aber sogar noch früher von diesen indogermanischen Gruppen in den Nordwesten Griechenlands importiert worden sein (vielleicht als * Teus). Erst im Verlauf des 2. Jt. v. Chr. trat zu dieser indogermanischen Komponente die mediterane, und erst in der Mittelmeerwelt wurde Zeus zum Kroniden.

Göttervater Zeus ist mit seiner Schwester Hera verheiratet, mit der er mehrere Kinder hat (siehe Abbildung). Aber er hat auch viele Liebschaften, unter anderem mit der Göttin Leto, einer Tochter des Titanen Koios, die ihm Apollon, den Gott des Lichts und der Musik und Artemis, heilbringende Göttin der Natur und der Jagd, gebärt, oder Leda, mit der er die Dioskuren Kastor (Castor) und Polydeukes (Pollux) zeugt. Daneben ist er auch Vater vieler Nymphen, Halbgöttinnen und Sterblicher. Diese Liebschaften sind nie von Dauer, vor allem wegen Heras maßloser Eifersucht. Um die Kinder, die aus diesen Seitensprüngen entstanden sind (unter anderem Herakles und die schöne Helena), kümmert er sich aber. Die einzige Liebschaft von Dauer ist wahrscheinlich die zum Königssohn Ganymed. Dieser war so schön, daß Zeus ihn in Gestalt eines Adlers auf den Olymp entführte. Dort dient er ihm als Mundschenk. Auch die Göttin Aphrodite soll gemäß Homer eine Tochter von Zeus und der Dione sein. Geläufiger ist jedoch die Version des Hesiod, nach der sie aus dem Schaum (daher ihr Name, von griech: „aphros“ = Schaum) entsteht, der sich um die abgeschnittenen Genitalien des Uranos im Meer vor Kythera gebildet hat. Zeus‘ Lieblingstochter Athene, die Göttin der Weisheit, entspringt aus seinem Kopf. Doch auch andere Götter stammen von ihm ab, wie Dionysos, der Gott des Weines, die Göttin Iris, die als Botschafterin die Kommunikation zwischen Menschen und Göttern sicherstellt, oder Hermes, der Götterbote.
Die Olympier regieren die Welt angenehmer als ihre Vorgänger. Zeus bleibt zwar unangefochtener Herrscher über die Götter und die Menschen, aber er teilt seine Macht mit seinen Geschwistern und gewährt auch nachgeordneten Gottheiten ihre Zuständigkeiten (man könnte auch sagen: Zeus herrscht als Vater bzw. „Kaiser“, „König“ oder „Präsident“ monarchisch über eine „Götter-Republik“ bzw. „Götter-Demokratie“). Jeder der auf dem Olymp residierenden Götter ist für seine Taten und Entscheidungen selbst verantwortlich.

Egon Friedell zum Thema Götter der Griechen
„Aus Homer und Hesiod schöpften die Hellenen ihre theologischen Vorstellungen auf ganz ähnliche Weise wie wir aus dem Alten und Neuen Testament. Ihre heiligen Schriten waren profane Gedichte, und dies ist sehr bezeichnend für den Charakter ihres Glaubens, im guten wie im schlechten Sinne. Die griechische Religion ist nicht minder ein Kunstwerk der Plastik als die griechische Sprache und das griechische Epos, und wie eine Genietat ist sie plötzlich da. Die finsteren Sagen von Kronos und den Titanen sind vielleicht die letzten dumpfen Klänge, die von der kretischen Religion in die Zeit Hesiods herüberwehten, und der Kampf des Zeus und seiner Mitgötter gegen diese ganz anders geartete Dämonenwelt symbolisiert den Sieg des olympischen Glaubens. In dem bekannten Zwölfgötterstaat ist Hestia, die im ionischen Epos noch nicht vorkommt, bloß zur Abrundung hinzugefügt: sie bedeutet einfach »Herd« und hat es zu keiner rechten Personifikation gebracht. Dagegen fehlt (noch; Anm. HB) der so wichtige Dionysos. Der »blitzefrohe« Zeus ist pater andron te qeon te, Vater der Menschen und Götter, als Horkios Hüter des Eids, als Xenios Schützer der Gastfreunde, in beiden Funktionen nicht immer zuverlässig. Als Himmelsgott hat er die Herrschaft über die ganze Natur, die er aber andrerseits wieder mit seinen beiden Brüdern Poseidon, dem Herrn der Gewässer, und Hades, dem Fürsten der Unterwelt, dem »verhaßtesten der Götter« teilen muß. Apollon ist der Patron der Musik und der Mantik, der Heilkunst und Schützenkunst, aber seine Pfeile senden auch Seuchen. Er ist die Gottheit der Sonne, aber als »Silberbogiger« auch des Mondes wie seine Zwillingsschwester Artemis, die als »pfeilfrohe« Jägerin und als Beschützerin des Wildes ebenfalls eine Doppelrolle spielt. Die Bedeutung der anderen drei Göttinnen Hera, Aphrodite, Athene und des Hephaistos, Ares und Hermes ist allgemein bekannt. Besonders die beiden letzteren sind ausgesprochen unmoralisch! Ares ein Rowdy, Hermes ein Dieb. Hinter diesen Hauptgöttern rauscht eine leuchtende Schleppe von niederen Gottheiten: Seirenen und Nereiden, deren Gesang und Geplauder das Meer tönen macht, Dryaden und Oreiaden, die in Wäldern und Bergen hausen, Satyrn und Silenen, die als Halbböcke und Halbpferde umhertollen, Moiren und Erinyen, die die ernste Seite des Lebens verkörpern, Wiesen- und Quellnymphen, Chariten und Musen.“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, 1936, S. 79-80).

„Was an den griechischen Göttern zuvörderst auffällt, ist die vornehme Schönheit und geschmackvolle Einfachheit, man möchte fast sagen: Eleganz ihrer Erscheinung. Auch in Nahrung, Wohnung, Hofstaat herrscht bei ihnen eine edle Frugalität. Ihre Paläste sind schlicht, die ganze Dienerschaft des Olymp besteht aus den drei Personen Hebe, Iris, Ganymed, und Nektar und Ambrosia sind offenbar sehr bescheidene Genüsse, übrigens, ebenso wie Ichor, das Blut der Götter, merkwürdig materialistische Begriffe: die Himmlischen bedürfen der Speise, des Tranks und des Lebenssafts nicht minder als die Irdischen, nur eben in »unsterblicher« Form. Überhaupt besitzen sie die wenigsten von jenen Eigenschaften, die man von einer Gottheit erwarten würde. Sie sind nicht allgütig, sondern voll Tücke, Rachsucht und Parteilichkeit, nicht allgegenwärtig, können aber allerdings blitzschnell überall erscheinen, nicht allmächtig, schon wegen ihrer gegenseitigen Konkurrenz und weil über ihnen die Moira steht, nicht allwissend (nur Apoll in seiner Erscheinungsform als Helios ist es bisweilen), vielmehr täuschbar und manmmal geradezu beschränkt. Athene rühmt sich, die Götter an Klugheit ebenso zu übertreffen wie Odysseus die Menschen: sie weiß, daß es unter den Unsterblichen auch einige ziemlich Dumme gibt. Auch Zeus wird mehr als einmal überlistet. Die Heimkehr des Odysseus wird im Götterrat hinter dem Rücken des ahnungslosen Poseidon beschlossen (was übrigens auch die Ohnmacht des Götterkönigs beweist, sonst hätte er diese Völkerbundsitzung nicht nötig). Zwar heißt es bei Homer des öftern: »Zeus wird’s wissen und die andern unsterblichen Götter«; aber das ist bloß Redensart. Andrerseits wieder wissen sie um das Zukünftige: eine Gabe, die allerdings nicht bloß Zeus und den Hauptgöttern, sondern auch Halbgöttern, Heroen, sogar Pferden verliehen ist. Aber wenn sie es wissen, warum greifen sie dann so leidenschaftlich in den Kampf ein? Übrigens ist ihnen nur ein gelegentliches Intervenieren verstattet, denn sie sind nicht Weltregenten und nom weniger Weltschöpfer, vielmehr selber geschaffen, weswegen auch ihre Geburtstage gefeiert werden. Es ist aber bemerkenswert, daß der griechische Mythos wohl eine Götterentstehung, aber keine Götterdämmerung kennt.“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, 1936, S. 80-81).

„Eine eigene Welt bilden die »chthonischen« Götter der Erdtiefe, die bei Homer fast gar keine, bei Hesiod schon eine wesentlich größere und im Volksglauben eine sehr gewichtige Rolle spielen. Demeter, die eigentlich Gemeter, »Mutter Erde« heißt, ist die Patronin des Ackerbaus und ihre Tochter Persephone die Herrin des Todes, meist Kore, die »Jungfrau«, genannt, da man ihren schrecklichen Namen nicht auszuspremen wagte. Auch Dionysos ist ein chthonischer Gott. Am Wochenbett und an der Totenbahre steht Hekate, sonst haust sie zwischen Grabsteinen. Dem Menschen begegnet sie an Kreuzwegen, im Mondschein, in der Mittagsglut, immer zu seinem Schaden. Die Schreckgestalten der Gorgo und Mormo, die Lamia und die Empusa sind ihre Doppelgängerinnen. Oft ist sie von einer richtigen »wilden Jagd« begleitet: feurigen Höllenhunden und der Gespensterschar der unerlösten Seelen, die ohne ehrliches Begräbnis, durch Gewalt oder »vor der Zeit« abgeschieden sind: einer ihrer vielen Namen, Baubo, äfft tonmalend das Jammergeheul ihrer Meute nach. Sie ist die Stammutter aller Hexen der Welt.“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, 1936, S. 81-82).

Egon Friedell zum Thema Glaube der Griechen

„Einen richtigen Klerus gab es in Griechenland nicht. Der Priester bedient das Heiligtum, opfert für die Gläubigen, verwaltet die Tempeleinkünfte und legt den Willen der Gottheit aus. Er ist ein gewöhnlicher Staatsbeamter oder auch nur Privatmann, der über gewisse technische Kenntnisse verfügt oder zu verfügen vorgibt, von keiner besonderen Heiligkeit umgeben, höchstens durch einen ebvorzugetne Platz im Theater und in der Volksversammlung geehrt, auch keine »unsichtbaren Kirche« oder sonstigen höheren Gemeinsmaft angehörig und weder Prediger noch Jugendlehrer. An großen Heiligtümern gebietet er über ein zahlreiches Personal von Opferdienern und Tempelsklaven, Wächtern und Schatzmeistern, aber sonst bestand keinerlei Hierarchie als die des persönlichen Ansehens. Man wird die Stellung des griechischen Priesters vielleicht am ehesten mit der unserer Professoren und Doktoren vergleichen können, die man in allerlei wissenschaftlichen Fragen konsultiert und nach dem Grade ihres Renommees und der Bedeutung der Anstalt schätzt, der sie an angehören, im übrigen aber weder für unentbehrlich noch für sakrosankt hält. Zum Verkehr mit der Gottheit bedurfte es keines Vermittlers; der König opferte für die Gemeinde, der hausvater für die Familie. Das Wichtigste blieb überhaupt zu allen Zeiten der der Hauskult. Die Staatsfeste trugen durchwegs religiösen Charakter; an Zahl kamen die Feiertage, an denen alle Geschäfte ruhten, etwa den unserigen gleich; etwas, das unserem regelmäßigen Sonntag entsprochen hätte, gab es aber nicht.“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, 1936, S. 87-88).

„Jakob Burckhardt nennt die griechische Religion sehr schlagend »eine Temperamentsform des griechischen Volkes«. Sie war die prachtvollste Mythologie, die ein Volk je besessen hat, und später bei einigen Philosophen Metaphysik und Ethik, aber eine Religion im höheren Sinne kann man sie schon deshalb nimt nennen, weil sie den Schidtsalsbegriff nie losgeworden ist. Auch dieser ist, wie alle Glaubensvorstellungen, etwas recht Widerspruchsvolles: er bedeutet bald eherne Notwendigkeit, bald launischen Zufall, bald klare Vergeltung, bald geheimnisvollen Erbfluch, immer aber ist er höchst fatalistisch. Ananke ist das fühllose Verhängnis, heimarmene die unentrinnbare Bestimmung, aisa (= h iVe, episch eiVh) das für alle gleiche Geschick; tyche das unberechenbare Glück (oder Unglück), patmos das fallende Los, ate die gottgesandte Verblendung; auch agos, die Blutsmuld, und alastor, der Rachegeist, sind, wie jedermann aus der Tragödie weiß, blindwaltende Mächte. Der landläufigste Begriff aber ist die moira, der »Anteil«, der dem Menschen bei seiner Geburt unwiderruflich zugesponnen wurde. Gegen die Moira vermögen die Götter nichts, wenigstens für gewöhnlich: denn manchmal sieht es auch so aus, als ob sie ihr Werkzeug sei. Manchmal auch versuchen sie sie wenigstens zu beeinflussen oder mit ihr sozusagen auf Teilung zu arbeiten. Und es kommt sogar der Fall vor, daß einzelne besonders begnadete oder besonders ruchlose Menschen gegen Götter und Moira ihren Weg gehen: dies ist das hypermoron: was »über das Geschick hinaus«, gegen die Fügung geschieht, eine ebenso furchtbare wie bewunderte Sache, die Schuld und Verdienst zugleich ist.“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, 1936, S. 88-89).

„Nach alledem ist es verständlich, daß die Griechen übrerhaupt kein Wort für »Religion« besitzen. Eusebes (von sebein, verehren), das wir mit »fromm« übersetzen, bedeutet: den heiligen Gebräuchen getreu, und eusebeia, «Frömmigkeit», ist nach der Definition der Stoa dicaioVunh proV qeouV, Gerechtigkeit gegen die Götter (die ihnen an Ehren zuwendet, was ihnen gebührt). Fromm sein heißt für den Griechen, die Himmlischen kultisch verehren, und weiter nichts. Da diese nicht den Weltlauf lenken, liegt auch kein Anlaß vor, sie sich als besonders moralisch zu denken. »Das Sittliche«, sagt Wilamowitz-Moellendorf, «haben die Götter nicht gelehrt, man kann sagen, sie haben es von den Menschen lernen müssen.« Ihr Zorn braucht durchaus nicht immer Veschuldung zur Ursache zu haben, der Mensch empfindet ihn auch gar nicht als Strafe, sondern bloß als Unheil. Am meisten erbittert werden sie, wenn der Irdische sich vermißt, es ihnen gleichzutun, und ihre weitaus stärkste Triebfeder ist der Neid: man kann daraus schließen, wie neidisch die Griechen selber waren. Das Grundverhältnis zu ihnen ist daher das Mißtrauen, und wenn man ihren Geboten gehorcht, so tut man es nicht aus Ergebenheit, sondern aus Klugheit, um sie nicht zu reizen. Frevel ist: wenn man sie beleleilgt; anderes Unrecht erregt nicht ihren Unwillen. Prozesse wegen »Beleidigung der Götter« waren ziemlich häufig, aber man fragt sich, was denn eigentlich an diesen Göttern zu beleidigen war. Mitleid, und oft ein sehr unangebrachtes, haben sie nur mit ihren Lieblingen; sonst sind sie ganz erbarmungslos. Auch untereinander lieben sie sich nicht. In der Ilias entspricht der Zustand im Himmel genau dem der menschlichen Gesellschaft: Zeus ist Agamemnon, die Götter sind bloße Titularvasallen, ihm ebenbürtig und stets zur Renitenz bereit. Der Olymp ist eine Akropolis, und seine Bewohner sind Ritter und Rosse, beide gleich göttlich, gleich unvergänglich, von Nektar und Ambrosia genährt.“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, 1936, S. 89-90).

„Die Natur und überhaupt die »Wirklichkeit« ist amoralisch. Von echter Religion kann man daher erst reden, wenn eine andere und höhere Welt der natürlichen entgegengesetzt wird. Dies tut aber die homerische Religion nie: ihre Götterwelt ist eine gesteigerte Wiederholung der irdischen: verklärte Animalität, schlackenlose Physik. Die Olympier unterscheiden sich von den Erdenbewohnern lediglich dadurch, daß sie unsterblich sind, also in ihnen die menschliche Unvollkommenheit verewigt ist und daß kein Alter, keine Schwäche, kein Kummer, keine Krankheit sie berührt, was aber auch nicht konsequent durchgeführt ist: auch ihr Dasein verläuft nicht ungetrübt (schon allein ihr ewiger Neid vergällt es ihnen) ; sie haben einen Arzt, Paieon, der Hades und Ares von ihren Verletzungen heilt, auch Aphrodite wird verwundet; Hermes ist vom weiten Weg ermüdet, Zeus schläft sogar einmal ein. Den Höhepunkt dieses in seiner Naivität und Bildhaftigkeit bezaubernden Realismus bildet der Moment, wo Ares in der Wolke, die ihm Kleid, Bett, Fahrzeug und Inkognito ist, vom Kampf ausruht, nachdem er den Speer an sie gelehnt hat. Die Orphik mitihren Ansätzen zu einer wirklichen Theologie war niemals Nationalreligion, man kann sie nicht einmal (wie wir vorhin taten) eine Sekte nennen, da es ja nicht den Gegenbeggriff der orthodoxen Kirche gab. Die Religion war nur Kultus, nur dieser Pflicht, nur dessen Verletzung Gottlosigkeit, »Asebie«. Es war ähnlich wie in der Renaissance, wo man denken, reden und schreiben durfte, was mall wollte, wenn man sich nur der Kirche, ihrer Macht und ihren heiligen Bräuchen unterwarf; in Hellas spielte diese keine Rolle.“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, 1936, S. 90).

„Schließlich ist diese ganze Konzeption von finsterm, fühllosem Schicksal, wahllos würfelnder Tyche, eiteln und jähzornigen Göttern gerade wegen ihrer Irrationalität dazu da, damit irgend jemand schuld habe, wenn der Mensch sich nicht zu seinen Handlungen bekennen will, den Geburten seiner Leidenschaft und seiner Torheit. Die Gottheit ist nicht das Lamm, das die Erbschuld der Menschheit trägt sondern der Bock, dem die Sünde aufgeladen wird. Nur unter einem solchen Regiment wurde die Last des Frevels überhaupt ertragbar, unter einem sittlichen Gott wäre der Grieche der durchschnittlichen Moralität zusammengebrochen. Von Ausnahmsnaturen, die uns an allen Wegmarken begegnen werden, ist hier nicht die Rede. Die Gottheit des Sokrates um Beispiel war dem Volk so unfaßbar, daß es ihn, und zwar in voller Ehrlichkeit, für einen Gotteslästerer hielt.“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, 1936, S. 90-91).

„Bei Homer ist bekanntlich alles göttlich: nicht bloß die Sonne und die Morgenröte, der Tag und die Nacht, sondern auch der Ölbaum und der Weinstock, der Arzt und der Herold, der Bettler und der Sauhirt, selbst der verächtliche Paris und die abscheuliche Schar der Freier, und es fehlte nur noch, daß Thersites göttlich genannt wird. Kein Wunder, das Göttliche ja nichts anderes ist als das Menschliche. Die Griechen waren Lehrer der Humanität, aber in einem ganz anderen Sinne, als der Neuhumanismus es meinte, nämlim der Nurmenschlichkeit, indem sie alles in rein anthropomorphen Formen und Dimensionen sahen. Der Satz »der Mensch ist das Maß der Dinge«, den die Sophisten als ihr Programm aufstellten, leuchtete von allem Anfang an als Leitstern über der Erdenbahn der Griechen. Darum haben sie nie den Sinn des Daseins erfahren; aber darum sind sie auch das größte Künstlervolk geworden.“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, 1936, S. 91).

„Die Griechen glaubten also im Grunde an gar nichts, nämlich an nichts als an gewisse allzu menschliche Vorurteile; auch als diese im Laufe der Zeit sich läuterten, brachten sie es nur zu einem matten Deismus (**) oder nackten Atheismus (**). Und dennoch hat sich, ohne daß sie es ahnten, in ihrem historichen Schicksal der Finger Gottes aufs deutlichste offenbart. Oder vielleicht wirklich das Walten ihrer eigenen Götter, die, Symbole der griechischen Seele, tückisch zur Hybris lenkten. Zugleich aber ist, da jedes Volk der Dichter seiner eigenen Historie ist, wie jedes Individuum der Dichter seiner Biographie (darin besteht die menschliche Willensfreiheit **), auch die griechische Geschichte in Anstieg und Gipfel, Krise und Verfall ein vollendetes plastisches Kunstwerk, gemeißelt von der Hand der bildnerisch begabtesten Nation der Welt. Die einzelnen »Perioden«, sonst meist im berechtigten Verdacht subjektiver Willkür oder lebensferner Konstruktion, springen hier in die Augen, als ein leuchtendes Paradigma des Erblühens, Reifens und Welkens der Menschenpflanze.“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte Griechenlands, 1936, S. 91-92).

Germanen
Die in Skandinavien und Norddeutschland beheimateten Germanen der Bronzezeit bestatteten ihre Toten unter großen Grabhügeln. (Vgl. Hügelgräber-Kultur). Aus nicht ganz geklärten Gründen gingen sie in der späten Bronzezeit dazu über, die Toten zu verbrennen. (Vgl. Urnenfelder-Kultur). Ihre Religion bestand aus einem Sonnenkult, wie u.a. der „Sonnenwagen von Trundholm“ beweist, aber auch goldene Sonnenbarken und Darstellungen auf Felsbildern wie Sonnenscheibe, Schiffe, Götterbilder, Gott mit Speer, Gott mit Axt bzw. Hammer u.s.w. (vgl. Götterwelt). Die Germanen betrieben eine gut entwickelte Seefahrt und erkundeten bereits die Küsten. Während der Spät-Bronzezeit begann allmählich die Ausbreitung der Germanen nach Süden. (Vgl. ).
Germanische Seefahrt ist, und zwar von Beginn an, eine sehr wichtige Vor- und Urform der abendländischen Kultur,
also eine ihrer Voraussetzungen. Die Segelschiffahrt der Germanen reichte bereits im 2. Jahrtausend v. Chr.
von Island und der Nordsee über die iberische Westküste bis zu den Kanarischen Inseln und Westafrika.
Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Vor- und Uraussetzung für alle späteren Entdeckungen.
Die Germanen, in Wäldern lebend, verehrten „Höhere Kräfte“ in heiligen Hainen. „Übrigens glauben die Germanen, daß es mit der Hoheit der Himmlischen unvereinbar sei, Götter in Wänden einzuschließen und sie irgendwie menschlichem Gesichtsausdruck anzunähern: sie weihen Lichtungen und Haine und geben die Namen von Göttern jener Macht, die sie allein in frommem Erschauen erleben“. (Tacitus, ca. 55-120, Germania). Diese religiöse Schlichtheit schilderte der gebildete Römer Tacitus in seiner Germania mit Erstaunen und Bewunderung, denn er selbst lebte am Vorabend des Christentums in einer Weltstadt voller Tempel und Götterstatuen, die keine wahre Frömmigkeit mehr wecken konnte. Das Pathos des Autors prägte bis auf den heutigen Tag die Vorstellungen von germanischer Religiosität, denn die Germania blieb für Jahrhunderte die einzige einigermaßen zuverlässige Quelle. Grabungsfunde und Religionsforschung der letzten Jahrzehnte haben das Bild inzwischen bestätigt und zugleich korrigiert. Tacitus berichtete nicht nur von den germanischen „Buchenstäben“ (vgl. Buchstaben und Runen), sondern auch von jenen heiligen „Rossen“, aus deren Wiehern und Schnauben die Priester die Zukunft deuteten: „Die Tiere werden auf Kosten des Stammes in den bereits erwähnten Hainen und Lichtungen gehalten, weißglänzend und durch keinerlei irdischen Dienst entweiht.“ Tatsächlich vollzogen die Germanen in heiligen Eichenhainen kultische Handlungen. Aber auch Quellen und Moore waren heilige Stätten, weshalb man Verbrecher im Moor versenkte, d.h. opferte. Unser Volksmund spricht vom Froschteich, aus dem die Kinder kommen; hier hat sich eine Ahnung aus jener Frühzeit erhalten, ebenso in den Sagen von Wasser- und Waldgeistern, Erdmännchen und Irrlichtern. Jahrtausende hat sich deren Geschichte erhalten, vor allem in Sagen und Märchen. (Vgl. auch die Rückbesinnung in der deutschen Romantik, z.B. durch die Märchensammlungen der Gebrüder Grimm).
Wotan (Wodan bzw. Odin), in der späteren Sage der „unheimliche wilde Jäger“ der Lüfte mit kläffender Meute, ist der Gott des Windes, des Sturmes, des Atems und damit der Seelen, der Toten und des Jenseits („Walhalla“). Daß dieser Gott kulturell der jägerischen Frühzeit angehörte, zeigen seine schamanistischen Züge: die Erinnerung an schreckliche Prüfungen, die ein Schamane, ein Jagdzauberer, vor Ausübung seiner Macht durchstehen mußte, ist in dem Bericht der „Edda“ erhalten, der erzählt, wie Odin (Wotan) ans Stammholz der Weltesche „Yggdrasil“ geschlagen, die Runen findet. Der „Wodanstag“, von den Christen zum „mittleren Tag“ der Woche erklärt, ist der Mittwoch (ahd. Mettawech, engl. Wednesday); die Namen Godesberg (bei Bonn), aus Wodansberg entstanden, Gutmannshausen (bei Weimar), einst Wodanshusen, und Wodeneswege (bei Magdeburg), das heutige Gutenswegen, sind einige der vielen Beispiele, die auf die alten Kultstätten verweisen. Odin, wie ihn die nordgermanische Edda überliefert, und Wodan (Wotan), der im südgermanischen Raum verehrt wurde, bedeuten im Grunde die gleiche Gestalt. Wodan (Wotan) war allerdings nicht zunächst Gott, sondern der Zauberer, wie ihn auch noch der zweite Merseburger Zauberspruch (10. Jh.) überliefert, in dem Wodan (Wotan) zi holza fährt, ins Holz, in den Wald. Aus diesem Bereich dürfte die Runenfindung stammen, hier bietet die Archäologie die meisten runengeritzten Lanzenspitzen, so kommt der Mythos der Runenfindung wohl von Wodan (Wotan) auf Odin.
Donar (nordisch: Thor), den Tacitus mit Herkules gelichsetzte, war der zweitwichtigste Gott der Germanen, der den Hammer schwingt und Blitze schleudert. Begleitet von den Böcken „Zähneknirscher“ und „Zähneknisterer“ oder auf einem Ziegenwagen fahrend, deutet er auch in die Richtung der Fruchtbarkeiskulte. Er wurde schon in der Jungsteinzeit verehrt, wie Felszeichnungen beweisen. Auch sein Hammer galt noch bis ins Mittelalter als Symbol der Fruchtbarkeit. Donar (Thor) bingt Regen, vertreibt den Frost, zerschmettert die Eisriesen, ist der zuverlässige Gott der Bauern. Wenn er mit seinem Wagen über den Himmel rollte, hörte man den Donar, den Donner; er schützt mit dem Hammer die heiligen Ordnungen, weiht Ehen wie der Schmied von Gretna Green, bekräftigte Verträge: noch heute kommt Versteigerungsgut „unter den Hammer“. Mit seiner gewltigen Kraft war Donar (Thor) der Schrecken der Gegner. Diesem Gott ist die Eiche heilig. Orte wie Donnersberg, Donnern oder Donnersdorf u.s.w. erinnern am seinen Namen. Natürlich auch der Donnerstag, der Tag des Donar bzw. des Thor (engl. Thursday).
Auch einen echten Fruchtbarkeitsgott, den altorientalischen Göttern Adonis oder Dionysos vergelichbar, gab es bei den Germanen: Baldur, der lichte Frühlingsgott, dessen Sterben und Auferstehung im Mythos verklärt wurde. Die altnordischen Sagen berichten auch von Loki, dem Blutsbruder Odins (Wodans). Loki ist Gott des Feuers und der Unruhe, des Schöpferischen und der Zerstörung. Loki hütet das Herdfeuer, das er Freya, der Göttin der Liebe, Ehe und Fruchtbarkeit gestohlen hat. Er schmiedet Schwerter, sticht als Floh die hehre Freya, gebärt als Stute Wodans achtbeinigen Hengst Sleipnir – halb Kobold, halb Prometheus, häufig in Tiergestalt, ist er der witzige, eigenwillige Helfer. Freya, die Göttin der Fruchtbarkeit, und ihr Bruder Freyr (Fro), dem der Eber geweiht war und ebenso der Schimmelhengst, sind Fruchtbarkeits- und deshalb auch Liebesgötter. Freya rief man an, wenn man Liebesglück suchte (daher: freiern = werben, heiraten wollen). Und wenn zu Ehren des Freyr das Bild seiner mythischen Gattin auf dem heiligen Wagen durch das Gebiet eines Stammes rollte, feierte man diesen Kult mit sexuellen Praktiken wie in Griechenland den Dionysos: das war zwingende Sexualmagie. (Vgl. die antiken „Mysterien“). Freya und ihrem Bruder Freyr war natürlich der Freitag (engl. Fryday) gewidmet.
Die germanischen Kultgemeinschaften – z.B. die der Mannus-Stämme oder die Kulte um die Göttin Nerthus (Hertha) – sind mit den griechischen oder römischen Kultgemeinschaften durchaus vergleichbar. Bestimmte Heiligtümer durften nur Priester berühren, z.B. den geweihten Wagen, der mit einer Decke verhüllt war und sich auf einer Insel im Ozean im heiligen Hain befand. Freudig waren da die Tage, festlich geschmückt die Stätten, die der Gott oder die Göttin mit Ankunft und Besuch würdigte. Dann zog niemand in den Krieg, griff niemand zu den Waffen. Alles Eisen war eingeschlossen. Bekannt und geliebt waren jetzt nur Friede und Ruhe, bis der Priester der Gottheit des Umgangs mit den Menschen müde wurde. Den Gottesdienst verrichteten Sklaven, die danach von der See verschlungen wurden; daher auch: „Seele“ als „zur See gehörig“. Nur Todgeweihte durften hier schauen. ().
Die Entstehung der Welt vollzog sich für Germanen aus den Körperteilen des riesenhaften Urwesens Ymir: Aus seinem Fleisch entstand die Erde, aus seinem Blut das Meer, aus seinen Knochen die Berge, sein Haar wurde zu Bäumen, sein Schädel bildete den Himmel. Im räumlichen Weltbild nimmt die Weltesche Yggdrasil, die ihre Äste über das All breitet, die zentrale Stellung ein. An ihren Wurzeln sind die Quellen der Weisheit und des Schicksals, an der sich die drei Schicksalsgöttinnen (Nornen) Urd, Werdandi und Skuld aufhalten. Mittelpunkt der Welt ist der Lebensraum des Menschen, das Reich Midgard, das von der Midgardschlange umgeben ist; außerhalb (in Utgard) wohnen die Riesen, unterhalb liegt die Unterwelt Hel und über der Erde Asgard, das Land der Götter. Die Götter gehören zwei verschiedenen Geschlechtern an, den (älteren) Wanen und den (jüngeren) Asen, die mit Wotan (Wodan, Odin), Donar (Thor) und Tyr (Tiu, Ziu) besondere Bedeutung haben.

Quellen und Felsen, eigenartige Bäume oder Berggipfel werden von den sogenannten
Naturvölkern (Urkulturen) häufig verehrt, weil sich hier die höhere Kraft, die alles durchdringt,
gleichsam zu verdichten scheint. Noch heute ist ja z.B. ein schwarzer Meteorstein, die „Kaaba“,
heiliger Mittelpunkt einer Weltreligion, des Islam; er war schon lverehrt worden,
lange bevor Mohammed zu predigen begann.

Kelten
Sie ist die nur spärlich und nie authentisch überlieferte Religion und Mythologie der Kelten, die deshalb nur unvollständig v.a. aus Berichten der römischen Eroberer, aus erst in christlicher Zeit schriftlich festgehaltenen irischen Sagen und Märchen sowie aus Bräuchen und archäologischen Befunden erschlossen werden kann. Die keltischen Götter wurden meist mit griechischen und römischen Göttern in Verbindung gebracht, ohne jedoch in jedem Fall mit ihnen identifiziert zu werden; auch ihre Hierarchie war nicht die der klassischen römischen Zeit. Hauptgötter waren Grannos, Belenus, Esus, Teutates, Taranis und Minerva. Der gallischen Minerva entsprach wohl eine britannische Göttin Brigantia, die irische Brigit, die später ganz von der irischen Nationalheiligen Brigid verdrängt wurde. Weitere Entsprechungen zwischen lateinischen Benennungen und keltischen Gottheiten beruhen auf bloßer Vermutung, z.B. zwischen Vulcanus und Goibniu (Gott der Schmiedekunst), zwischen Neptun und Manannán mac Lir (Gott des Meeres), zwischen Herkules bzw. Mars und Ogma (Gott des Krieges, der Gelehrsamkeit und Schreibkunst, dem die Erfindung der Oghamschrift (4. bis 7.Jh.; ältestes irisches Schriftsprachdenkmal) zugeschrieben wird, zwischen Dispater und Donn (Gott derToten und der Unterwelt), zwischen Bellona und Morrigan (Kriegsgöttin) u.a.. – Die hohe soziale Stellung der Frau bei den Kelten (also: wie bei den Germanen) spiegelte sich in einer großen Zahl weiblicher, v. a. Muttergottheiten wider, z.B. die Pferdegöttin Epona und die drei irischen Göttinnen Fódla, Banba und Ériu (letztere ist noch im heutigen Namen Irlands – „Eire“ – enthalten). Neben den vielen Götterpaaren und -triaden war das häufige Auftreten von Göttern in Tiergestalt für die keltische Religion charakteristisch: Epona, Cernunnus, Cúchulainn (Hund) u.a.. – Die Träger der keltischen Religion waren die Druiden, nach deren Lehre es ein Weiterleben nach dem Tod im Jenseits, einem Land der Glückseligkeit gab. Über einen Kult der keltischen Religion ist wenig bekannt. Es gab v.a. vier große rituell gefeierte agrarische Feste, die das Jahr aufteilten: Imbolc (1. Februar), Beltene (1. Mai), Lugnasad (1. August), Samhain (1. November).
Die Druiden waren die Priesterklasse der Kelten. Mit den Barden (Sänger und Dichter) und Vaten bildeten die Druiden den das kulturelle Leben der keltischen Völker bestimmenden Gelehrtenstand. In erster Linie oblag ihnen die Pflege der Religion und des Opfers. Daneben übten sie auch richterliche Funktionen aus und befaßten sich u.a. auch mit Medizin, Geographie, Astronomie und Traumdeutung.
Festzustellen bleibt die Ähnlichkeit von Germanen und Kelten.

Polytheismus oder Henotheismen?
Der Polytheismus geht von mehreren Göttern aus, deren Gemeinschaft, ihr Pantheon, in Zahl und Bedeutung Schwankungen unterworfen ist: durch die Aufnahme von Gottheiten der eroberten Gebiete sowie durch die Hypostatisierung göttlicher Qualitäten wird die Anzahl der Gotteheiten vergrößert. Eine Ordnung erhält das polytheistische Pantheon durch Göttergenealogien und familiäre Gliederungen nach Analogie der jeweiligen soziokulturellen menschlichen Verhältnisse. Häufig korrespondiert einem obersten Himmelsgott, der als Schöpfer und väterlicher Weltenherrscher gilt, eine mütterliche Erdgöttin, die Geburten und Vegetation schützt. Für die menschliche Moral besitzt der Glaube an einen allwissenden Gott, der Hüter des Rechts ist, vorrangige Bedeutung. Der Polytheimus kennt Götter aus allen Bereichen – hier ist alles möglich -, also nicht nur Natur-, Kultur-, Funktions-, Universal- und Lokalgötter. Hera z.B. war als Göttin des Herdes nicht zufällig auch die Frau des Göttervaters Zeus; sie war auch die Göttin des kriegerischen Adels und der Ehe. Gerade aber als Göttin des Herdes stand sie, wie auch ihre spätere römische Kopie Vesta, im Mittelpunkt des alltäglichen Lebens. Die Göttinen des häuslichen Herdes (Herdfeuers) hatten auch menschliche Dienerinnen, die der römischen Vesta z.B. nannten sich Vestalinnen und hatten das heilige Herdfeuer, das den Bestand des Staates symbolisierte und sicherte, zu hüten. Es ging hier also um die Bewahrung eines Staatsfeuers im Tempel der Vesta am Fuße des Palatins, die den Vestalinnen oblag. Sie waren Jungfrauen aus vornehmen römischen Familien, mußten sich zu einem 30jährigem Dienst verpflichten, genossen besondere Ehrenrechte und trugen den Ehrentitel Virgines sanctae („heilige Jungfrauen“). Auf verlust ihrer Jungfäulichkeit stand die Strafe der lebendigen Einmauerung.
Ein gutes Beispiel auf die Frage, ob jeder Polytheismus vielleicht doch eher nur verschiedene Henotheismen bedeutet, bieten die indischen Glaubensrichtungen, Religionen und Theologien. Der Brahmanismus ist einer der Vorläufer des Hinduismus, der aus verschiedenen Richtungen mit recht unterschiedlichen Schulen und Ansichten besteht. Die Lehre von Brahman (Weltseele) und Atman (Seele) ist als die philosophische Basis des Brahmanismus anzusehen, wie sie seit ca. 1700 v. Chr. in den Veden, seit ca. 1200 v. Chr. in den Brahmanas und seit ca. 800 v. Chr. in den Upanischaden bis ca. 500 v. Chr. – also insgesamt in 1200 Jahren (1700-500) – formuliert wurde. Brahman und Atman gelten hier als wesensgleich, der Mensch müsse diese Identität jedoch erst spirituell erkennen, bevor er die Erlösung, die Mokscha, erreichen kann. Die wesentlichen Fundamente aller indischen Religionen wurden in dieser Zeit gelegt, wie z.B die Vorstellung von Samsara, dem sich wiederholenden Kreislauf von Geburt und Tod, sowie das Gesetz des Karma. Die Lehre wurde von den Brahmanen formuliert, die in der hinduistischen Gesellschaft die Priester und Gelehrten stellten, und von Lehrern an die Schüler weitergegeben. Mit dem Aufkommen des Buddhismus im 6. / 5. Jh. v. Chr. trat die dominante Position der Brahmanen zeitweise in den Hintergrund und der Brahmanismus verlor etwas an Bedeutung. Brahma ist einer der Hauptgötter, ja sogar unter den Hauptgöttern der oberste Hauptgott im Hinduismus. Die weiteren Hauptgötter sind Wischnu (Bewahrung) und Schiwa (Zerstörung) – mit diesen beiden bildet Brahma die Trimurti (vgl. Trinität, Dreifaltigkeit). Der Hinduismus ist laut Josef Schüßlburner „ein Konstrukt, das aus politischen Gründen sich widersprechende religiöse Glaubensvorstellungen zusammenfaßt, nämlich im Kern drei an sich unvereinbare Monotheismen.“ (Josef Schüßlburner, Indien, in: Sezession, Oktober 2008, S. 53 ).
Jan Asmman, der Experte für Theismus, glaubt, daß die Polytheismen gar keine Polytheismen sind, sondern Kosmostheismen. „Überall dort, wo viele Götter verehrt werden, geht es laut Assmann um den Gott »Welt«. Der Kosmos ist die Manifestation Gottes. Diesen »Kosmostheismus« stellt Assmann dem Monotheismus (bzw. Henotheismus; Anm. HB ) gegenüber:- Die Anhänger des Kosmotheismus bekennen sich zum Gott »Welt«.
– Die Verfechter des Monotheismus (bzw. Henotheismus; Anm. HB ) bekennen sich zu dem einen Schöpfer-Gott außerhalb der Welt.
Echnaton steht mit der von ihm gestifteten Religion um den einzigen Gott Aton () in einer vertrackten Weise zwischen den beiden Polen: Er betet die Sonne an – also eine »innerweltliche« Macht. Zugleich ist er aber der erste, der sagt: Es gibt keine anderen Götter.“ (Michael Zick, Der Glaube an den Einzigen, in: Bild der Wissenschaft, 11 / 2002, S. 76). Das ist ein Postulat, das der Glaube der Perser (Parsen ) nicht kennt, das nicht einmal der Glaube der Israeliten (Juden ) kennt, das auch der Glaube der Christen () nicht kennt, wohl aber der Glaube der Mohammedaner (Moslems ). Obwohl Jan Asmman ein Theismus-Experte ist und behauptet, daß der Polytheismus eher Kosmostheismus genannt werden sollte, so muß doch daran erinnert werden, daß dafür um so mehr der Monotheismus eher Henotheismus genannt werden sollte ().

Vergleiche von Glaubensrichtungen:
Gläubige Gottheit(en) „Gegenspieler“ Bezugnahme Gott-Volk-Bezug Begründung Andersgläubige

„Polytheisten“ Götter Götter Mythos / Mythographie Geister / Mythos Bewältigung des Schicksals ?

„Monotheisten“
„Aton-Ägypter“ Aton ? Natur / Kosmos Vermittlung Echnaton ?
Parsen Ahura Mazda Ahriman Awesta Beistand Ethik ?
Juden Jahwe Satan (Teufel) Thora Auserwähltheit Volk / Rasse Nokhri (Heiden)
Christen Gott Teufel (Satan) Evangelien
(Neues Testament der Bibel) Liebe durch Trinität Heilsbotschaft Heiden
Moslems Allah Iblis (Teufel) Koran Ergebenheit (Islam) Umma (Volk / Gemeinschaft) Ungläubige

„Atheisten“
Wissenschaftler „Objekt“ „Subjekt“ Gesetze / Regeln / „Prädikate“ Naturkräfte Ratio / Beobachter Unwissende
„Historizisten“ Historienziel Historienzyklen Lineare Geschichte „End(er)lösung“ „Fortschritt“ „Heilsfeinde“
Nationalisten
(inklusive Faschisten, Nationalsozialisten) Nation
(Volk, Rasse) Andere Nationen Evolution und völkische / nationale Geschichte Evolutionsbiologie
und Geschichte
(Auserwähltheit [NS]) Volk / Rasse Volksfeinde
Kommunisten Arbeiter (Proletarier) Kapitalisten Kommunistisches Manifest Dialektik einer materialist. Historie Proletarier / Klasse Klassenfeinde
Liberalisten „Individuum“ Gemeinschaft Liberalistische Marktwirtschaft Liberalistischer
Kapitalismus Individualismus
/ Wettbewerb Egalitaristen
(Kommunisten/Sozialisten)
Feministen
(inklusive Genderisten) Frau
bzw. Mann Mann
bzw. Frau Feministische Trias (nur der sexistische [siehe: 1.] Feminismus will den Androzid):
(1.) Sexismus; (2.) Egalitarismus (Kommunismus u.ä.); (3.) Nationalismus u.ä.. „Patriachalisten“,
„Maskulisten“,
(Haus-)Frauen.
Ökologisten „Umwelt“ „Welt“ Neo-Trinität: (1.) „Mutter Natur“ als „Gott Vater“; (2.) „Vater Staat“
als „Gott Sohn“; (3.) „Politkorrektheit als „Gott Heiliger Geist“. „Umweltsünder“

Monotheismus oder Henotheismus?

Henotheismus (zu altgriechisch: hen, „eins“ + theos, „Gott“) bezeichnet die Verehrung eines unter mehreren Göttern bevorzugten Gottes. Der Sprach- und Religionsforscher Friedrich Max Müller (1823-1900) führte diesen Begriff in die Religionswissenschaft ein: zur Bezeichnung eines subjektiven Monotheismus innerhalb polytheistischer Religionen. Die kultische Verwirklichung des Henotheismus nennt man Monolatrie. Zur Problematik der Unterscheidung von Henotheismus und Monotheismus: „Von der magischen Gottheit gilt das Wort Jesu: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Es versteht sich, daß für jeden Gläubigen nur ein Gott der wahre und gute sein kann, die Götter der andern aber falsch und böse sind. Und nicht etwa »nicht vorhanden«. Es heißt das magische Weltgefühl mißverstehen, wenn man in die Bezeichnung »der wahre Gott« eine faustisch-dynamische Bedeutung legt. Der Götzendienst, den man bekämpft, setzt die volle Wirklichkeit der Götzen und Dämonen voraus. Die israelitischen Propheten haben nicht daran gedacht, die Baale zu leugnen und ebenso sind Mithras und Isis für die frühen Christen, Jehovah für den Christen Marcion, Jesus für die Manichäer teuflische, aber höchst reale Mächte. Daß man »an sie nicht glauben« soll, ist ein Ausdruck ohne Sinn für das magische Empfinden; man soll sich nicht an sie wenden. Das ist, nach einer längst geläufigen Bezeichnung, Henotheismus, nicht Monotheismus. Die Beziehungen zwischen diesem Gott und dem Menschen ruht nicht im Ausdruck, sondern in der geheimen Kraft, in der Magie gewisser symbolischer Handlungen: damit sie wirksam sind, muß man ihre Form und Bedeutung genau kennen und sie danach ausüben. Die Kenntnis dieser Bedeutung ist ein Besitz der Kirche – sie ist die Kirche selbst als die Gemeinschaft der Kenner – und damit liegt der Schwerpunkt jeder magischen Religion nicht im Kult, sondern in einer Lehre, im Bekenntnis.“ (Oswald Spengler, a.a.O., S. 799-800).
Also sind die Monotheismen gar keine echten Monotheismen, sondern Henotheismen. Unter ihnen steht das Christentum sogar dem Polytheimus relativ nahe, denn sein Glaube an die „Trinität“ (Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist) und zusätzlich an eine „Gottesmutter“ deutet auf mehrere göttliche „Personen“ – und das heißt nun eben doch: mehrere Götter. Das Polytheistische an der „Dreieinigkeit“ wird zwar immer wieder bestritten und von einem Gott gesprochen, der „dreieinig“ sei, doch reicht das als Erklärung nicht aus. Noch weniger reicht als Erklärung aus, wenn die „unbefleckte Empfängnis“, die „Empfängnis vom Heiligen Geist“, dafür hergenommen wird, um die „Gottesmutter“ ebenfalls auf keinen Fall als eine unter mehreren göttlichen „Personen“ anzunehmen. Eine Gottesmutter ist doch nun mal die Mutter eines Gottes und darum mit sehr großer Wahrscheinlichkeit selbst eine Göttlichkeit. Der Kult der „Mutter-Gottes-Verehrungen“ stellte und stellt einen der größten christlichen Kulte dar. Ist die Mutter Gottes etwa trotzdem keine Göttlichkeit? Oder doch? Wie auch immer: Christen wollten und wollen Monotheisten sein. Darum (und nur darum!) wird das Christentum hier wie jeder der anderen Monotheismen bzw. Henotheismen besprochen.
Dafür, daß „Monotheismen“ Henotheismen sind, spricht auch, daß sie auch durch das Wort, den Namen ihres Gottes sich voneinander abgrenzen und dadurch den jeweils anderen Gott in seiner Existenz anerkennen. Gerade weil sie sich von den jeweils anderen Götter abgrenzen wollen, müssen sie seine Existenz anerkennnen. Sie anerkennnen sich (ungewollt!), indem sie sich (gewollt!) verneinen. Daß der Gott der Mohammedaner ein anderer als der Gott der Christen und dieser wiederum ein anderer als der der Juden ist, ist für die Gläubigen dieser „Monotheismen“, die in Wirklichkeit Henotheismen sind, eindeutig klar: ihr jeweiliger Gott soll ein anderer sein als jeder andere, er soll sich von ihnen abgrenzen, er soll in ihnen gefährliche Feinde haben u.s.w. – die Gläubigen sollen das glauben. Der „Monotheist“ sagt: es gibt nur einen Gott. Der Henotheist sagt: es gibt für mich nur einen Gott („für mich“ inkludiert auch: möglcherweise für andere nicht, möglicherweise haben andere einen anderen Gott). Es geht hierbei also u.a. um den Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit: Realität schließt Möglichkeit aus, Wirklichkeit schließt sie mit ein (Wirklichkeit = Realität + Möglichkeit!). Der „Monotheist“ geht von einer Idealität aus, von der er glaubend sagt, sie sei Realität; der Henotheist geht von einer Idealität aus, von der er glaubend sagt, sie sei Wirklichkeit; und weil Wirklichkeit auch Möglichkeit einschließt, akzeptiert der Henotheist auch die Möglichkeit, während der „Monotheist“ diese gerade nicht akzeptiert und dadurch, daß er Idealität und Realität gleichsetzt, ist er wohl auch kaum ein Realist, jedenfalls sehr viel weniger ein Realist als der Henotheist. Schlußfolgerung: Einen echten „Monotheismus“ kann es – abgesehen von der einzigen möglichen Ausnahme: dem „Ur-Monotheismus“ als dem 1. Glauben an Gott (1. Theismus) – nie gegeben haben, kann es nicht geben und wird es auch nie geben.
Der Einfachheit halber wird hier aber das Wort „Monotheismus“ auch in dem Sinne verwendet, wie wir es aus der Alltagssprache kennen, obwohl dabei immer berücksichtigt werden soll, daß diese Wortverwendung relativ unangemessen ist, weil es hier eben nicht so sehr um Monotheismen, sondern viel mehr um Henotheismen geht.

Erster Monotheismus bzw. Henotheismus: die Religion der „Aton-Ägypter“
Amenophis IV., ein ägyptischer König der 18. Dynastie, regierte von ca. 1377 bis 1358 (es gibt heirfür auch andere Datierungen, z.B.: 1353–1336; 1351–1334; 1340–1324), erhob den Sonnengott Aton zum alleinigen Gott und änderte seinen Namen um in Echnaton (altägyptisch: „er gefällt Aton“). Schon sein Vater Amenophis III. hatte den Sonnengott Aton stärker verehrt, zumal innere Kontakte zum Königreich Mitanni und dem Reich der Hethiter bestanden, wo ebenfalls die Sonne die Hauptgottheit darstellte. Amonephis IV. ging jedoch noch einen Schritt weiter: er baute in seinem 6. Regierungsjahr eine neue Stadt, die er Echetaton („Lichtort des Aton“) nannte, als Hauptkultzentrum des Aton und auch als seinen neuen Regierungssitz. Im selben Regierungsjahr ließ Echnaton auch im Bereich des Karnak-Tempels östlich des Amun-Bezirkes ein Aton-Heiligtum erbauen. (Vgl. Dieter Arnold, Lexikon der ägyptischen Baukunst, 2000). Die hier gefundenen Kolossalstatuen geben einen Hinweis auf Echnatons religions-politische Entwicklung.
In der Wissenschaft existieren mehrere Theorien hinsichtlich der Tragweite:1. Echnaton wollte einen Monotheismus einführen – das Volk, die Priester und andere wehrten sich jedoch dagegen; deshalb die archäologischen Zeugnisse für andere Götter.
2. Echnaton wollte nur einen Henotheismus, eine Bevorzugung des Gottes Aton, eine Monolatrie.
3. Echnaton wollte einen Monotheismus, zog sich in seine Stadt Echetaton zurück und überließ das Land sich selbst; Echetaton war daher eine religiöse Enklave, das übrige Land war Echnaton egal.
4. Echnaton wollte einen Monotheismus bzw. Henotheismus einführen – das übrige Volk mit seinen Funktionsträgern tat sich damit allerdings schwer. Die anderen Götter wurden in einer Art Übergangsphase weiterhin geduldet. Die Religion kam nie über diese Übergangsphase hinaus, und nach Echnatons Tod setzten sich die Vertreter der alten Ordnung durch.
Welche von diesen Möglichkeiten damals tatsächlich zutraf, ist in der Wissenschaft bislang nicht eindeutig geklärt. Die ersten beiden Theorien gelten als am wahrscheinlichsten, die dritte ist auch in der Diskussion, die vierte jedoch nur in sehr geringem Maße.

Echnaton und seine Familie
bei der Anbetung von Aton
Im folgenden Text wird davon ausgegangen, daß Echnaton zwar einen Montheismus einführen wollte, aber einen Henotheismus einführte (denn wie gesagt: einen reinen Monotheismus gab und gibt es sowieso nicht ). Echnaton war der erste, der neben seinem einem Gott keinen anderen Gott duldete. Damit stürzte der „Ketzer-König“ das altehrwürdige Ägypten in eine Kultur-Revolution sondergleichen. Zur Verehrung des Sonnengottes Aton gehörten neben der Sonnenscheibe auch ein Sonnengesang als Hymne und die Hausaltäre mit der Heiligen (Pharaonen-)Familie unter den Aton-Strahlen. Aton, dargestellt als Sonnenscheibe mit Strahlen, die in Händen enden, war das alleinige göttliche Prinzip, die Wahrheit, der Schöpfer aller Dinge – so damals der Glaube, die Religion, die Theologie. Das hört sich zwar schon doch sehr nach einem monotheistischen Glauben, einer monotheistischen Religion, einer monotheistischen Theologie an; doch die Tatsache, daß trotz Echnatons Verbot die anderen Götter in den ägyptischen Gehirnen noch präsent waren, spricht dafür, daß auch dieser (erste Versuch eines) Monotheismus doch mehr ein Henotheismus war. Der Kampf gegen die anderen Götter setzt diese voraus und macht es auch nicht leichter, diese abzuschaffen. „Es versteht sich, daß für jeden Gläubigen nur ein Gott der wahre und gute sein kann, die Götter der andern aber falsch und böse sind. Und nicht etwa »nicht vorhanden«.“ (Oswald Spengler, a.a.O., S. 800). Gerade wir Abendländer mißverstehen, weil wir in die Bezeichnung „der wahre Gott“ unsere faustisch-dynamische () Bedeutung legen. „Der Götzendienst, den man bekämpft, setzt die volle Wirklichkeit der Götzen und Dämonen voraus.“ (Oswald Spengler, a.a.O., S. 800).
Kurzer Rückblick auf die ägyptische Glaubensgeschichte: Re (Ra) war der traditionelle Sonnengott Ägyptens, der sich in seiner zweiten Inkarnation als Aton in der Sonnenscheibe manifestierte. Die alten Ägypter hatten oft zwei Bezeichnungen für eine Sache. So war Re der Sonnengott, Aton das Sonnenlicht, symbolisiert durch die Sonnenscheibe. Die Verehrung von Re war im Norden des Reiches, v.a. in Heliopolis, beheimatet. Später, während der Expansion Ägyptens, stieg im Süden des Reiches, v.a. in Theben, der lokale Gott Amun („der Verborgene“) zum Hauptgott auf. Im Wettbewerb um die Macht wurden die Priester des Amun in Südägypten zu Konkurrenten der Hüter des Re in Nordägypten. Als siegbringender Gott der imperialistischen Pharaonen im 16. Jahrhundert v. Chr., zur Zeit der frühen 18. Dynastie, stieg der Kriegsgott Amun zum überragenden Reichsgott auf – die siegreichen Könige schenkten Amun große Teile der Kriegsbeute und riesige Ländereien samt Leibeigenen. So wurden die Amun-Priester Motor und Lenker der ägyptischen Wirtschaft. Im Sinne der Staatsideologie von der Einheit der beiden ägypischen Länder Ober- und Unterägypten wurden die beiden Götter fusioniert – mit Hauptsitz in Theben, speziell im gigantischen Karnak-Tempelbezirk. Durch die Verschmelzung von Re mit Amun zu Amun-Re konterkarierten die Amun-Priester die religiöse Konkurrenz des Sonnengottes Re in Heliopolis. Der Kult im nördlichen Heliopolis verlor an Bedeutung. Unter dem Vater von Amenophis III. setzte eine Rückwärtsbewegung in Richtung Re ein, und die Sonnenscheibe Aton rückte dabei in den Vordergrung. Das Weltbild geriet in eine Krise, weil sich die Göttlichkeit der Welt so immer mehr auf die Sonne konzentrierte. Amenophis III. trieb diese „Neue Sonnentheologie“ voran und formte sie zum Königskult. Er und seine Parteigänger versuchten also, über die Stärkung des Gottes Aton das Königtum zu restaurieren. Amenophis IV., der sich bald Echnaton nennen sollte, war radikaler und ging noch weiter. So schwärmten plötzlich im ganzen Reich Trupps von Steinmetzen und Soldaten aus; ihr Auftrag: Zerstört alle Inschriften, in denen der Name „Amun“ vorkommt! Echnaton, der Aton-Anhänger, hatte den zu dieser Zeit mächtigsten Reichsgott verfemt. Auch Weihungen mit dem Plural „Götter“ fielen seinem Bildersturm zum Opfer. „Echnaton, der Ketzer-König, ließ die vielen Himmlischen aus dem ägyptischen Pantheon vertreiben. Bis an die Spitze des Obelisken hangelten sich die Zerstörer hoch, und selbst Privatgräber blieben nicht unversehrt.“ (Michael Zick, Der Glaube an den Einzigen, in: Bild der Wissenschaft, 11, 2002, S. 76). Echnaton machte also „eigentlich nichts anderes“, so Jan Assmann, als ein „Weltbild zu radikalisieren und zu institutionalisieren“. „Die Welt ist nicht mehr nur die Erscheinung des einen, verborgenen Gottes, sondern sie ist die Schöpfung der Sonne. Und weil Aton für den Menschen nicht direkt ansprechbar ist, kann man den Sonnengott nur über den König erreichen.“ (Michael Zick, ebd., 2002, S. 76). Echnaton sagte: Die anderen Götter gibt es nicht!

Echnaton, der mit Nofretete verheiratet war, hatte sich ganz der Religion gewidmet. Nachdem er verstorben war, wurde seine Neu-Religion wieder rückgängig gemacht, ebenso die Verlegung der Hauptstadt. Echnatons Schwiegersöhne Samenchkare und Tutanchaton kehrten nach Theben zurück. Echnatons Nachfolger Tutanchaton kehrte 1344 v. Chr. auch wieder zur Amun-Religion zurück und änderte seinen Namen in Tutanchamun. Nach Tutanchamuns Tod bestieg Eje den Thron. Nach ihm erhob sich Haremhab, ein nicht mit dem Königshaus verwandter ehemaliger General unter Echnaton, zum König, kämpfte erfolgreich gegen die Hethiter und schuf durch harte Gesetze Ordnung im Innern. Die religiöse Restauration wurde vollendet und die alten Kulte wieder hergestellt. Seitdem war Echnatons Zeit, die auch „Amarna-Zeit“ genannt wird, verfemt.

Zweiter Monotheismus bzw. Henotheismus: die Religion der Perser (Parsen)
Magi (Magier) hießen die Priester der altiranischen Religion und des von Zarathustra (Lebensdaten sind nicht genau bekannt: zwischen 1100 v. Chr. und 600 v. Chr.) gestifteten Parsismus (Mazdaismus) – auch Zoroastrismus genannt (Zoroaster [griechisch] = Zarathustra). Zarathustra war ein vor allem in Baktrien (Nordosten des alten Iran) wirkender prophetischer Reformator der altiranischen Religion und verstand sich als von seinem Gott Ahura Mazda berufener Verkünder einer monotheistischen Religion. Der Parsismus (Mazdaismus) entstand also in Persien und wurde im Awesta (Awesta), der heiligen Schrift der Parsen, in altiranischer Schrift niedergeschrieben. Die Grundanschauung des Parsismus (Mazdaismus) ist ein doppelter Dualismus von Gut und Böse und von geistiger und körperlicher Wirklichkeit. Dem guten Gott Ahura Mazda steht der böse Gott Ahriman gegenüber. Die parsistische Eschatologie erwartet den Sieg des guten Geistes über den bösen Geist, ein Endgericht und die Verklärung der Welt. Vor dem Weltgericht erwartet man das Kommen eines Heilands (Saoschjant). Für den Kult sind besonders die Reinigungsriten und der Feuerkult bezeichnend. Wegen der Heiligkeit des Feuers dürfen die Parsen ihre Toten nicht verbrennen und setzen sie deshalb auf den „Türmen des Schweigens“ aus, wo sie von Raubvögeln gefressen werden.
In der von Zarathustra gestifteten Glaubenslehre der alten Iranier wurde also zunächst der „weise Herr“ (= Ahura Mazda oder Ormuzd, mittelpersich: Ormazd) verehrt, dem dann später der böse Geist (Ahriman, später: Angromainyu) gegenübergestellt wurde. Jenem stehen als 6 gute Geister Weisheit, Wahrhaftigkeit, Herrschaft, Gesundheit, gute Gesinnung und Langlebigkeit zur Seite, diesem Trug und Zorn. Die Aufgabe des Menschen ist, Ahura Mazda im Kampf gegen Ahriman bezustehen, wobei der Einzelne für Zarathustra die Verantwortung für sein Tun, d.h. für den richtigen Gebrauch der genannten 6 Tugenden, allein trägt, daher jederzeit Unheil abwenden könne.
Friedrich Nietzsche (1844-1900) nannte sein wohl bekanntestes Werk nach Zarathustra, weil dieser
als erster „im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge“ gesehen habe.
Zarathustra und das „Land der Propheten“ wirkten als Bestandteil des „magischen“ Erbes auch auf das Abendland.
Sogar die „Jungfrauengeburt eines Endzeit Erlösers“ war schon „in den iranischen Ur-Mythen enthalten“ (Scholl-Latour).

Von Zarathustra zu Mani
Der Manichäismus entstand durch die Lehre des Persers Mani, 216 n. Chr. in Mardinu (Babylonien) geboren und 273 n. Chr. in Gandeschapur (Babylonien) auf Betreiben der Zarathustra-Priester gesteinigt. Der Manichäismus entwickelte sich aus iranischen (zarathustrischen), gnostischen, babylonisch-chaldäischen, jüdischen und christlichen Vorstellungen. Zarathustrisch ist Manis Lehre vom Kampf des Lichtes und der Finsternis, des Guten und des Bösen. (Vgl. Zarathustra). Die durch die Gnosis beeinflußte Sittenlehre des Manichäismus gebot strengste Enthaltsamkeit, besonders hinsichtlich Ernährung, Geschlechtsleben, Handarbeit. Da Mani als „Gesandter des wahren Gottes“ die bisherige Zarathustra-Religion verdrängen wollte, fiel er deren Priesterschaft zum Opfer. Der Manichäismus gewann trotzdem über das Sassanidenreich und später das Abbasidenreich hinaus östlich bis nach China, westlich bis nach Spanien und Gallien Einfluß. Augustinus (354-430), der den Manichäismus später heftig bekämpfte, war eine Zeitlang sein Anhänger gewesen.

Dritter Monotheismus bzw. Henotheismus: die Religion der Israeliten (Juden)
587 v. Chr. wurden die Israeliten (Juden) vom babylonischen König Nebukadnezar II. in die Gefangenschaft verschleppt und konnten erst 539 v. Chr., als der persische König Kyros II. (der Große) Babylonien eroberte, nach Palästina, das von da an zum Perser-Reich gehörte, zurückkehren. Verschleppung und Gefangenschaft hatten bewirkt, daß den Israeliten die Lehre des Zarathustra, der vorher schon eine monotheistische Religion gestiftet hatte, bekannt wurde. Die dritte monotheistische Religion entwickelte sich also wesentlich aus der Überlieferung der zweiten monotheistischen Religion. Am Anfang der israelitisch (jüdischen) Religion stand also nicht Abraham, sondern Zarathustra.
Die Israeliten verstanden ihre eigene Vergangenheit als Heilsgeschichte und entwickelten daraus ein festes Geschichtsbild, das zu einem der wichtigsten Merkmale und „Stützpfeiler“ der magischen Kultur werden sollte. (Vgl. Consensus). Übereinstimmungen als Kulturhauptmerkmal haben allerdings den Nachteil (oder Vorteil), daß sie, weil sie ihrer kulturimpliziten religiösen „Wahrheit“ über die gesamte eigene Kulturgeschichte hinweg zu entsprechen haben, deshalb ständig neu interpretiert und uminterpretiert werden müssen, was auch tatsächlich geschah bzw. geschehen mußte. Eine besonders stark an Bedingungen geknüpfte Geschichtsschreibung dient aber letzten Endes nicht der Wahrheitsfindung, sondern allenfalls dem eigenen Geschichtsbild, und in diesem Fall ist das ein Religionsbild bzw. ein religiös motiviertes Wunschdenken. Eher das Gegenteil beanspruchte die Antike für sich; um Erfahrung weiterzugeben, wollten die Griechen das Traditionsgut mit einem unbedingten Wahrheitsanspruch überliefern sowie Gründe und Zusammenhänge historischer Vorgänge aufzeigen (v.a. Herodot: ).
Gerade das Judentum zeigt ganz deutlich, daß es einen Monotheismus nie gab, nicht gibt und wohl auch niemals geben wird (), denn hatte nicht „der jüdische Gott eifersüchtig gegen die anderen Götter gestritten? Auch er kannte nur Freund und Feind, unter den Menschen wie unter den Göttern.“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 351). Hier bestätigt sich wieder einmal, was schon Heraklit richig erkannt und gesagt hat: Der Krieg ist der Vater aller Dinge ()! Und der Sieger drückt dem Verlierer nicht nur Demütigungen und Entschädigungen auf, sondern auch sein Geschichtsbild: das Geschichtsbild des Siegers! – Dies gilt insbesondere für Völker, die wie die Israeliten (Juden) die Geschichte nicht wegen der Wahheitsfindung (wie z.B. die apollinischen Antiken und noch mehr die faustischen Abendländer), sondern einzig und allein zugunsten des eigenen Heils, Vorteils, Nutzens u.s.w. betreiben, bei denen das Geschichtsbild ein Religionsbild bzw. ein religiös motiviertes Wunschdenken ist.
„Zur Zeit der seleukidischen Herrschaft über Israel wurde die Unzulänglichkeit der prophetischen, moralisch-autoaggressiven Unglücksverarbeitung so offenkundig, daß unvermeidlich nach neuen Wendungen im Umgang mit dem bedrängenden Elend gesucht werden mußte. Die erste bestand in der Entwicklung einer massiven militärischen Résistance, die an den Namen der Makkabäer geknüpft ist (die zugleich den Terror gegen Kollaborateure aus dem eigenen Volk einführten), die zweite in der Hervorbringung eines radikal neuen Schemas zur Auslegung der Weltgeschichte, für das man bis heute den Begriff Apokalyptik einsetzt.“ (Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, 2006, S. 142-143).
Im jüdischen Krieg gegen Rom war Jesus zunächst nichts anderes als einer der unzähligen jüdischen Guerilleros gegen die Römerherrschaft. In der Niederlage des Bar-Kochba-Aufstandes (132-135) bereiteten die Römer den Juden das erste Mal einen blutigen Holocaust, der mit einer vollständigen Tötung aller Aufständischen endete. Die Christen der Anfangszeit übernahmen die jüdische Tradition des Widerstands. (Es zeigt sich hierbei übrigens, daß in der Geschichte alle Positionen einem gewissen Wiederholungszwang unterliegen, als ob ein Ende der Geschichte niemals abzusehen wäre). In gewissem Sinne wollte ja auch der Nationalsozialismus den Herrschaftszynismus eines unbesiegbaren Gottesbündnisses von den Juden übernehmen, indem das deutsche Christentum als neuer Bund zwischen Gott und Deutschen der Versuch war, eine Neu-Religion zu stiften und gleichzeitig sich auf germanische Art rückzubinden an römische Reichs- und Staatsvorstellungen, ein ungeheurer Versuch der Geschichtsumschreibungen, jedenfalls mehr als nur gewöhnlicher Nationalismus.
„Die Entwicklung des jüdischen Priesterstaates ist nicht original: sie haben das Schema in Babylon kennengelernt (es ist also persisch [parsisch ] und also: arisch []! Anm. HB): das Schema ist arisch. Wenn dasselbe später wieder, unter dem Übergewicht des germanischen Blutes, in Europa dominierte, so war dies dem Geiste der herrschenden Rasse gemäß: ein großer Atavismus. Das germanische Mittelalter war auf Wiederherstellung der arischen Kasten-Ordnung aus.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109 ).

Vierter Monotheismus bzw. Henotheismus: die Religion der Christen
Das Christentum ist die auf dem Boden des Judentums in der Umwelt des Hellenismus entstandene Religion, die sich auf Jesus (7 / 4 v. Chr. – 26 / 30 n. Chr.) als ihren Stifter beruft. Jesus ist Urheber und zentrale Gestalt des Christentums. Für die Christen ist Jesus der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist, um die Menschheit zu erlösen. Durch seinen Tod am Kreuz hat Gott nach christlicher Auffassung offenbart, daß er durch Jesus Christus sich den Menschen gleichgestellt hat, indem er Mensch wurde bis zum Tod. Dabei hat er sich jedoch durch seinen Tod den Menschen nicht nur gleichgesetzt, sondern hat durch seine Auferstehung von den Toten den Tod überwunden. Den israelitisch-jüdischen Glauben an die Majestät, Jenseitigkeit und Unnahbarkeit Gottes erweiterte (und modifizierte) das Christentum zum Glauben an die Dreieinigkeit: Gott wird Mensch in Jesus von Nazareth und durchdringt als Heiliger Geist die Kirche. Zum Alten Testament trat das Neue Testament, das die Verkündigung über Leben und Lehre Jesu sowie über die Heilsbedeutung seines Kommens, seines Kreuzestodes und seiner Wiederkunft am Jüngsten Tag enthält. Die Verkündigung ruft alle Menschen zur Änderung ihres Verhaltens auf, zum Beispiel von der Eigenliebe zur Nächstenliebe, die nicht nur die auch in anderen Religionen gebotene Liebe zum Mitmenschen (dessen Leid man sich in solidarischem Handeln annehmen soll) umfaßt, sondern die darüber hinausgeht, indem das Liebesgebot zum Gebot der Feindesliebe erweitert wird. Das Christentum entstand im 1. Jh. in der juden-christlichen Gemeinde in Jerusalem. Vor allem durch die Missionstätigkeit des Paulus (um 10 – 66 oder 67) breitete es sich rasch in der hellenistischen Welt aus. Die Einheit der römischen Christengemeinde bestand im 1. Jahrhundert noch vorwiegend aus bekehrten Juden, die zuvor schon hellenisiert worden waren. Und unter Papst Klemens I. (reg. um 88-97) bekehrten sich sogar auch führende Angehörige des römischn Adels und Kaiserhauses zum Christentum. (Vgl. „Klemensbrief“ und „Primat“).
„Rom wollte immer herrschen, und als seine Legionen fielen, sandte es Dogmen in die Provinzen.“
(Heinrich Heine, Die Nordsee, in: Reisebilder, 1826, S. 73).
Was die christliche Kirche im Abendland – sozusagen als „Großtheotop des Okzidents“ – angeht, so hielt sich in ihr „noch lange Zeit die Idee lebendig, daß Menschen als Medien eines nicht allzu fernen Jenseits zuweilen über Sonderbegabungen wie Hellsicht, Heilkraft oder Zungenreden verfügen; was Paulus zu diesen »Gnadengaben« zu sagen hatte, beschränkt sich auf die Forderung nach deren vernünftiger Unterordnung unter den Kult des Herrn.“ (Vgl. 1. Brief an die Korinther, 12, I-II; 28-31).
Als das religiöse Schema der Arier (Indogermanen) im Mittelalter noch oder, wie es bei Nietzsche heißt, „wieder, unter dem Übergewicht des germanischen Blutes, in Europa dominierte, so war dies dem Geiste der herrschenden Rasse gemäß: ein großer Atavismus. Das germanische Mittelalter war auf Wiederherstellung der arischen Kasten-Ordnung aus.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 109 ).
„Heidnisch – christlich. – Heidnisch ist das Jasagen zum Natürlichen, das Unschuldsgefühl im Natürlichen, »die Natürlichkeit«. Christlich ist das Neinsagen zum Natürlichen, das Unwürdigkeits-Gefühl im Natürlichen, die Widernatürlichkeit.“ (Friedrich W. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 111 ). Vgl. hierzu auch Guillaume Faye, der will, daß Europa wieder heidnisch, also neoheidnisch werde:

– Abendländische Glaubenswelt –
– RÖMISCH-CHRISTLICHES ERBGUT und GERMANISCHE KONTROLLGENE –
Römisch-katholische Interpretationen attestieren dem Abendland zumeist, daß in ihm die Dominanz des Christlichen überwiege. Diese Meinung teilen vor allem kirchliche und vornehmlich christlich orientierte Vertreter. Theodor Heuss (31.01.1884 – 12.12.1963) soll einmal gesagt haben, daß Europa von 3 Hügeln ausgegangen sei: von der Akropolis, von Golgatha und vom Kapitol. Diese Sichtweise würde eher, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt, auf eine Dominanz der Antike verweisen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß aus einem antik-apollinischen Einzelkörper und einer magisch-seelengeistigen Welthöhle ein abendländisch-faustischer Unendlichkeitsraum entstehen kann, dann muß unbedingt ein dritter Faktor hinzukommen, den ich die Kulturpersönlichkeit nenne: das Germanentum. Ohne das Germanentum versteht man die Willensdynamik eines Faust nicht, und ohne das germanische Element ist die Raumtiefe, aber auch die in jeder Hinsicht sowohl ins Mikrokosmische als auch ins Makrokosmische gehende Unendlichkeit nicht als distinktives Merkmal der abendländischen Kultur zu identifizieren. Diese Merkmale treffen auf keinen antiken Menschen zu, aber insbesondere auf die Abendländer, die germanischen Ursprungs sind. Scharfe Gegensätze, wie die zwischen Antike und Abendland, sind zwar unbedingt ein Indiz für Verwandtschaft, weil beide Kulturen so auffallend gegensätzlich sind: aktiv und reaktiv. Offenbar hat die Antike auf das Abendland aber nicht persönlichkeitsstiftend gewirkt und konnte auch erzieherisch nicht tätig werden, weil sie so früh verstarb. Die Biogenetik und Sozialisation geraten nicht selten so weit auseinander, wenn ein Elternteil früh verstirbt, d.h. nicht wirklich erlebt wird. Dem Abendland scheint es auch so ergangen zu sein. Die Auseinandersetzungen mit der magischen Mutter hat beim Kind jedoch zu einer enormen, fast schon verdächtigen Erinnerung bis hin zur Vergötterung des antiken Vaters Beitrag geleistet. Aber liegt deshalb immer auch schon ein Vaterkomplex vor? Es bleibt zunächst festzuhalten, daß auch kulturell zwischen Genetik und Sozialisation, zwischen Anlage und Umwelt, zwischen angeboren und anerzogen ganz klar unterschieden werden muß. Dazwischen bewegt sich die Persönlichkeit. Man kann sie nicht isolieren, folglich auch nicht isoliert betrachten, aber man kann sie beschreiben, und ich beschreibe die Kulturpersönlichkeit des Abendlandes als germanisch, weil dieser Raum zwischen Anlage und Umwelt für die Kulturpersönlichkeit zwanghaft unendlich werden muß, wenn sie die verlorene Vaterkultur zurückholen will. Der unendliche Raum und Wille sind auch deshalb Ursymbol und Urwort des Abendlandes. Wenn der Mensch eine Grundlage von etwa 60 Billionen Zellen hat und einer Umwelt von praktisch unendlicher Vielfalt ausgesetzt ist, so gilt für eine Kultur, daß sie Völker, Staaten oder Nationen zur Grundlage hat und einer Umwelt von unendlichen Möglichkeiten, aber auch gähnender Leere gegenübersteht. Mit dem Germanentum fiel eine faustische Entscheidung zugunsten der unendlichen Möglichkeiten. Die Eltern des Abendlandes waren also antik-magisch, ihre gentragenden Chromosomen römisch-christlich, aber die Kontrollgene germanisch. (Vgl. 22-24).
1) Das Christentum im „Winter“ des Abendlandes.
Die Geschichte der Christentums umfaßt ja die Auswirkungen des Glaubens an Person und Wirken Jesu Christi (7 / 4 v. Chr. – 26 / 30 n. Chr.), wie er von den christlichen Kirchen und Gemeinschaften in der Auseinandersetzung mit fremden Religionen, den geistigen und weltanschaulichen Strömungen der verschiedenen Zeiten sowie mit den politischen Mächten entwickelt worden ist. In Rom galt die christliche Gemeinde zunächst als jüdische Sekte. Der römische Staat entzog dieser schnell wachsenden Gemeinschaft bald die religiösen und rechtlichen Privilegien, die er dem Judentum gerade eingeräumt hatte. Erst seit dem 2. Jahrhundert bildete der Primat (Vorrang) des Bischofs von Rom (also: des Papstes) in der Kirche sich allmählich heraus, und die Auseinandersetzung mit dem Römischen Reich wurde intensiv seit der Mitte des 3. Jahrhunderts geführt. Auf das Toleranzedikt des Galerius und Licinius, 311, folgte die Bekehrung Konstantins und mit dem Toleranzedikt von Mailand (313) die Einstellung der Christenverfolgungen. Konstantin der Große machte das Christentum zu der mit allen zeitgenössischen Kulten gleichberechtigten und schließlich zur allein berechtigten Religion im Reich (Konzil von Nicaea, 325). Damit hatte er eine Entwicklung eingeleitet, die zur Entstehung der Reichskirche als einer vom Reich letztlich abhängigen Einrichtung führte. Durch den oströmischen Kaiser Theodosius I. wurde 380 mit dem Edikt von Thessalonike der Athanasianismus (Katholizismus) begründet, im 1. Konzil (= 2. Ökumenisches Konzil, 381) von Konstantinopel das (konstantinopolitanische) Glaubensbekenntnis formuliert und das Nizänum bestätigt, 391 das Christentum überhaupt Staatsreligion, damit alle heidnischen Kulte verboten. 395 teilte sich das Reich in West- und Ostrom, 455 eroberten die Wandalen Rom und 476 erlosch das Weströmische Reich endgültig mit der Absetzung des Romulus Augustus durch den Germanen Odowaker (Odoaker), aber die römische Kultur wurde von den Eroberern nicht zerstört, die arianische Christen waren und mit der unterworfenen Bevölkerung, die römisch-katholisch war, die erste und für die Christen-Geschichte wichtigste Verschmelzung eingingen. Für die geschichtliche Erkenntnis Jesu ist man nahezu ausschließlich auf die Evangelien des Neuen Testaments angewiesen. Derjenige, der das Christentum erst zur Weltreligion machte, war Paulus. (Vgl. 22-24). Faktisch ihm, ideologisch Petrus folgten die Päpste, während die Kirchenväter (Patristen) durch ihre Philosophie und Theologie – die Patristik – zu den geistig-religiösen Führern des Christentums aufstiegen: Apostolische Väter, Apologeten, (erste theologische) Systematiker, Dogmatiker, und (erste abendländische) Kirchenpolitiker, darunter auch Hilarius von Poitiers (310-367) und der aus Trier stammende Ambrosius (340-397), ebneten den Weg zur Scholastik. Diese nun wirklich christliche Gelehrtenschule brachte nicht nur die ersten abendländischen Scholastiker hervor, sondern auch den letzten Kirchenvater, den Engländer Beda Venerabilis (674-735). Das Papsttum ist Amt und Institution des Oberhauptes der katholischen Kirche, des Papstes, dem Nachfolger des Apostels Petrus (Bischof von Rom), der von Jesus eingesetzt wurde (Matth. 16;16ff.). Die Vorrangstellung des Bischofs von Rom in Fragen der Lehre und Disziplin trat in den ersten Jahrhunderten allmählich deutlicher hervor, obgleich in der alten Christenheit die höchste Autorität beim ökumenischen Konzil lag. Ein Aufstieg des Papsttums als Institution begann mit Cölestin I. (422-432) und erreichte einen ersten Höhepunkt mit Leo I. (440-461). Nach dem Untergang des Römischen Reiches war die Taufe des Frankenkönigs Chlodwig I. (etwa 498) für die Entwicklung des Reichskirchensystems von entscheidender Bedeutung. Aufgrund dieser Vorbedingungen konnte Gregor I. am Ende des 6. Jahrhunderts die (faktisch) weltliche Macht des Papsttums und die Entwicklung des Patrimonium Petri zum späteren Kirchenstaat einleiten, die durch reiche Schenkungen seitens der Karolinger im 8. Jahrhundert gefördert wurde, nachdem die angelsächsischen Missionare des 7. und 8. Jahrhunderts die Bindung zwischen Papst und Franken noch vertieft hatten. (Vgl. Kult-Uhr).
2) Das Christentum im „Frühling“ des Abendlandes.
Ähnlich der Bindung, die auch ein Kind nach der Geburt, also nach der Entbindung von der Mutter, eingehen muß, um in der Außenwelt überleben zu können, verhielt es sich auch mit der Bindung zwischen Papst und Franken. Ein Kind kommt auf die Welt und erfährt mit der ersten außenweltlichen Bindung eine Prägung. Analog dazu kam das Abendland nach den ersten Wehen und dem Sieg über die Araber durch den karolingischen Hausmeier Karl Martell (732) über eine Entbindung zur Neubindung. Das Abendland kam zur Welt mit der Lossagung des Papstes von Byzanz und der prägenden Bindung zwischen Papst und Franken: 754 durch Stephan II. und Pippin III. (d.J.), 781/787 durch Hadrian I. und Karl d. Gr. sowie 800 durch Leo II. und Karl d. Gr.; es war die Verweltlichung der Kirche und die Beseelung der abendländischen Welt. Das Neugeborene war endlich da. Die nächsten Jahrhunderte sollten unter Beweis stellen, daß dieses Kulturkind auch Stehvermögen erlangt hatte. Der Frühling des abendländischen Christentums, war auch gekennzeichnet durch die Christianisierung der Ungarn, Slawen und Balten. Weil die Kirche die Hoheit über den Staat erlangt hatte, konnte, auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung, der Papst als der Herr der Welt, als trotzendes Selbst erscheinen und die Fürsten und die Bischöfe als seine Untergebenen betrachten. Der christliche Glaube schien in geistiger Hinsicht die EINE Weltanschauung zu sein, mit der alle Probleme des Lebens gelöst werden sollten. Im Zusammenhang mit dieser monopolartigen Machtstellung stellten sich in der Kirche Verfallserscheinungen ein, die den Ruf nach einer Reform an „Haupt und Gliedern“ (d.h. an Papst und Kirche), laut werden ließ. Dies war auch ein Ruf nach dem Kultursymbol. Durch das 2. Große Schismavon 1378-1417 wurde das Abendland in zwei Lager aufgeteilt. Häresie, Irrlehren, Hexenwahn, gepaart mit Aberglauben, nahmen genauso zu wie die Forderungen nach Reformation. Die Pariser Professoren D’Ailly und Gerson, die zur Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern aufgerufen hatte, forderten ein allgemeines Konzil, weil die Vertretung des Gotteswillens nicht Sache des Papstes, sondern die der Gesamtheit aller Gläubigen sei. Diese konziliare Theorie gewann Anhang. Auf dem Konzil zu Pisa (1409) wählten die Kardinäle beider Richtungen einen dritten Papst. Auf dem Konzil zu Konstanz, wo 33 Kardinäle, 900 Bischöfe und 2000 Doktoren unter kaiserlichem Vorsitz, dem Wittelsbacher Sigismund, anwesend waren, stimmte das Konzil nach vier Nationen ab: deutsch, französisch, englisch und italienisch. Es erklärte sich zuständig für die Einheit der Kirche, die Absetzung der noch amtierenden Päpste, die Neuwahl Martins V., die Reinheit der Lehre und Reform der Kirche, die aber vertagt werden mußte. (Vgl. Kult-Uhr).
3) Das Christentum im „Sommer“ des Abendlandes.
Die Zeit der Reformation war nun gekommen. Es kam zur Umbildung der gesamten Kirche. An die äußeren Formen des christlichen Glaubens hat Luther die Kriterien der Bibel und des biblisch begründeten Glaubens angelegt. Er konnte aber infolge der auf dem Reichstag zu Worms (1521) bekundeten Haltung des Kaisers Karl V. die Reform der Kirche für das Reich nicht durchführen. Diese mußte nun den Weg über die Länder nehmen, so daß es zur Entstehung territorial begrenzter Landeskirchen kam. Auf dem Reichstag zu Augsburg (1530) legten diese Landeskirchen ein erstes grundlegendes Bekenntnis ab, das Augsburger Bekenntnis, und sie fanden im Augsburger Religionsfrieden (1555) ihre reichsrechtliche Anerkennung. Die Reformation in der Schweiz vollzog sich zunächst unter dem Einfluß Zwinglis, dann aber vor allem Calvins. (Vgl. Calvinismus). Calvin gab dem hier entstehenden Kirchen Lehre, Verfassung und kirchliche Ordnungen. In England kam es nach der Verwerfung der obersten Leitungsgewalt (Suprematie) des Papstes zur Entstehung der anglikanischen Kirche. Im deutschen (also auch schweizerischen) Protestantismus trennten sich die Täufer und die Spiritualisten von den reformatorischen Kirchen, wobei sie schließlich wegen ihrer z.T. radikalen Versuche, das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen, von den offiziell anerkannten Kirchen verfolgt wurden. Den Mittelpunkt der durch die Reformation ausgelösten Gegenreformation bildete das Konzil von Trient (1545-1563), auf dem die Lehren des Katholizismus gegenüber denen der evangelischen oder protestantischen Kirchen fixiert wurden. Im Zuge der der missionarischen Ausbreitung des Christentums während der Kolonialisierung fanden vielfach auch Begegnungen mit fremden, einheimischen Religionen statt, und auf der Grundlage von durch Missionare und Reisende erhobenen Tatsachen aus fremden Religionen entstand das Bewußtsein einer religiösen Vielfalt, die zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit fremden Religionen und damit zur Entstehung einer neuzeitlichen Religionswissenschaft führte. Der Begründer des Rationalismus und „Vater der neueren Philosophie“, René Descartes, sah im Auftreten der Idee Gottes einen Beweis für Gottes Dasein. „(Ego) cogito, ergo sum“ – das Denken wurde durch Descartes selbstreflexiv. Universalgelehrter des Barock bzw. des Absolutismus, wahrscheinlich sogar der mächtigste Geist des Abendlandes überhaupt, war Gottfried Wilhelm Leibniz. Tiefe Religiosität war die geistige Grundlage des Barockmeisters Johann Sebastian Bach. Sie trägt im Grunde auch seine nichtkirchlichen Werke, obwohl in ihnen oft eine gesunde Lebensfreude durchbricht. Aus dem religiösen Erlebnis wuchs in Bachs Musik das Gotisch-Mystische: immer wieder bricht es durch das barocke Zeitgewand (Arie, Affektdarstellung, Madrigalismen, Ornamentik, Dynamik). Der auch aus religiösen Gründen geführte Dreißigjährige Krieg (1618-1648) führte zur innerlichen Auflösung des Deutschen Reiches in einen Staatenbund, der die Zentralgewalt des Reiches abwehren sollte – ein Trauma, an dem Deutschland heute noch leidet („Kleinstaaterei“). Dieser „absolutistische“ Krieg brachte Pest und Verwüstung, der ein Drittel der deutschen Bevölkerung zum Opfer fiel. Der rasche Wiederaufbau in Deutschland war mit der Leistung der Reichsfürsten verbunden. Im geistigen, also auch religiösen Bereich ging man auch an den Wiederaufbau und widmete sich nach dem Schock durch Krieg, Pest und Verwüstung vermehrt einer aufklärerischen weltlichen Ethik. Sie erreichte schließlich, d.h. im abendländischen Sommer-Herbst-Übergang, die Tag-und-Nacht-Gleiche namens Kant. (Vgl. Kult-Uhr).
4) Das Christentum im „Herbst“ des Abendlandes.
Kant schrieb im „Beschluß“ der Kritik der praktischen Vernunft von 1787: „Zwei Dinge erfüllen mein Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestimmte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Noch einmal flackerte die religiöse Flamme leicht auf, als z.B. Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes eine Hauptfigur des gnostischen Mythos als vermittelnden und dienenden Retter auftreten ließ. Er heilt Hegels „unglückliches Bewußtsein“, indem er es zur Vernunft bringt. Auch die von Heidegger unternommene Analyse der entfremdeten Existenz und seine Lehre von der Umkehr aus der Verfallenheit und Uneigentlichheit hin zur Eigentlichkeit entspricht gnostischen Vorstellungen. Aber das Christentum hatte sich mit antireligiösen Ideologien und Weltanschauungen auseinanderzusetzen, obwohl diese auch die Besinnung auf das Gemeinsame unter den christlichen Konfessionen förderten und wesentliche Impulse für die Ökumenische Bewegung lieferte. Diese entstand im 20. Jh. als eine Einigungsbewegung der christlichen Kirchen, nachdem es bereits im 19. Jh. Vorarbeiten durch Laienbünde wie den Christlichen Verein Junger Männer und den Christlichen Studentenweltbund gegeben hatte. Die Ökumenische Bewegung orientierte sich an den frühchristlichen ökumenischen Konzilen. Ihr Ziel ist die Einheit der Kirchen in der Verkündigung Jesu Christi und im Dienst der Welt. 1910 fand eine Weltmissionskonferenz in Edingburgh statt, als deren Ergebnis 1921 der Internationale Missionsrat gegründet wurde. 1948 wurde der Zusammenschluß zum Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) möglich, der seither das tragende Instrument der Ökumenischen Bewegung ist. Seit dem Pontifikat Johannes‘ XXIII. klappte es auch besser mit der Zusammenrabeit zwischen dem ÖRK und dem Vatikan. Das 21. Ökumenische Konzil (Vatikan II: 1962-1965) befaßte sich u.a. mit folgenden Themen: liturgische Erneuerung, Offenbarung, Kirche in der Welt von heute, Kollegialität der Bischöfe, Religionsfreiheit, Ökumenismus, Kommunikationsmittel. Der katholische Theologe Hans Küng (*1928) nahm an diesem sogenannten 2. Vatikanischen Konzil teil, verfaßte zahlreiche Werke zur reformatorischen Rechtfertigungslehre, zur Frage der Wiedervereinigung der Kirchen und zum Verhältnis von Kirche und Welt. Vor allem durch seine kritische Haltung zur Unfehlbarkeit des Papstes ist Küng in der katholischen Kirche umstritten. Nach dem Entzug der kirchlichen Lehrbefugnis erhielt er den (außerhalb der theologischen Fakultät geschaffenen) Lehrstuhl für ökumenische Theologie in Tübingen. Wurde hier Religion mißbraucht? Und wenn ja, von wem? Sloterdijk nannte 1983 in seiner Kritik der zynischen Vernunft 6 Kardinalzynismen – militärisch, staatlich (vormachtlich), sexuell, medizinisch, religiös, wissenschaftlich – und 2 Sekundärzynismen – informativ (sensationsjournalistisch), tauschartig (kapitalgesellschaftlich). Für alle 8 Zynismen gibt es nach Sloterdijk auch korrespondierende „Kynismen“. Die Religion könne z.B. zynisch als Herrschaftsinstrument mißbraucht werden und zugleich kynisches Medium der Emanzipation sein. (Vgl. Kult-Uhr).

Region Christen (Stand: 2010)
Anzahl G. Anteil Wachstum
Europa + Rußland 514,1 Mio. 70,4 % – 0,4 %
Asien 345,8 Mio. 8,5 % + 3,7 %
Afrika 400,9 Mio. 48,3 % + 2,8 %
Angloamerika 270,0 Mio. 79,2 % + 0,7 %
Lateinamerika 506,2 Mio. 91,6 % + 1,5 %
Australien / Pazifik 23,3 Mio. 73,3 % + 0,7 %

Welt 2060,3 Mio. 30,0 % + 1,4 %

30 % der Weltbevölkerung sind Chisten – die Zahlen beruhen aber nur auf Schätzungen (z.B. auf denen der UNO), weil ja die Definitionen, wer als Christ mitzuzählen sei und wer nicht, auseinandergehen. Nur in Europa und Rußland, wo auch die Zahl der Einwohner insgesamt abnimmt, nimmt die Zahl der Christen ab, jedoch die Zahl der Nichtreligiösen, Moslems, Buddhisten, Hinduisten und anderer Glaubenskollektive zu.

– In den Fängen der Sonnenwende und der Tag-Nacht-Gleiche –
In einem Kulturzyklus eilt die Religion voraus vom ersten Quartal zum zweiten Quartal,
in der zweiten Hälfte des Kulturzyklus beginnt sie die rückwärtsgewandte Reformation,
während jetzt die Philosophie vom ersten zum zweiten Quartal eilt, die Religion überholt
und sich sodann auf den Weg macht zu ihrer eigenen rückwärtsgewandten Reformation.
(*)
H.B.

Anmerkungen:

(I) Natürliche Sprache ist die Sprache, die der Kosmos (oder das Universum) spricht: „Feuer“ (z.B. Energie, Strahlung, Licht, Wärme, Sonne, „Leben und Tod“ u.s.w.). Feuer birgt jede Art von Symbolik in sich. Jedes Symbol ist ein Teil des Feuers – auch der Feuergebrauch (= Feuer als 1. Kultursymbol ).

(II) Natürlich-kulturelle Sprache ist die Sprache aller Lebewesen (allgemein auch „Sprachverhalten“ genannt). Sie beruht auf der Genetik (), ist also bereits intrauterin festgelegt. Ihre Funktion besteht v.a. darin, die Voraussetzungen, den Anteil des „Angeborenen“ (vgl. Nativismus ) an der rein kulturellen Sprache () zu schaffen.

(III) Kulturelle Sprache ist die natale und zugleich nationale Sprache, also: eine nat(ion)ale Sprache. Als nationalelektrische oder nationalneurologische Bibliothek im Menschen ist sie die Grundlage menschlichen Denkens. Nationen sind sozusagen politische Mutterinstanzen (daher auch der Zusammenhang zwischen Natalität und Nationalität). Weil im Uterus ein Sprachtraining nur im Rahmen der natürlich-kulturellen Sprache () möglich ist, kann ein Kind es erst in der geeigneten „Atmosphäre“ praktizieren und erst nach dem Verlassen des Uterus eine kulturelle Sprache erlernen (erwerben).

IV) Kulturell-natürliche Sprache ist die Sprache, die den Menschen am meisten charakterisiert, aber selbst dem Menschen noch die größten Rätsel aufgibt, weil sie eine „Metasprache“ und rein theoretisch ist. Sie ist kulturell insofern, als daß sie nur durch kulturelle Konventionen darstellbar ist; sie strebt ins Natürliche insofern, als daß sie den Versuch darstellt, Kultur und Natur komplett zu verstehen (z.B. durch eine „Weltformel“ oder eine „Universalsprache“).

Ist Religion also in erster Linie die Beschäftigung mit der Gewalt? Ist Religion das Geschäft mit Gewalt, mit Krieg? Ist Religion nur eine kultivierte Form des Krieges? Was wir kultisch wiederholt und sorgfältig beachten, weil es doch passiert, ist nämlich tatsächlich hauptsächlich Gewalt und Krieg! Also doch: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ (Heraklit) !
Vgl. Peter Sloterdijk, Das Thanatotop, in: Sphären III – Schäume, 2004; S. 441-468.

Weil frühe Menschen großen Raubtieren zum Opfer fielen, wurden vielleicht auch blutrünstige Tiere und blutrünstige Götter in Zusammenhang gebracht, faszinierende Tiere zu kultureigenen Göttern gemacht (was einer symbolischen Zähmung der Raubtiere durch ihre potentielle Beute gleichkommt), Naturkatastrophen als Astroterror mit Götterterror gleichgesetzt sowie das Fasziniert-sein-Wollen durch befremdliche Götter befriedigt. Demanach wäre die Domestikation der Tiere der Domestikation der Götter vorausgegangen. (Vgl. Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, 1890, S. 303 und ff. ). Fern wie ein Himmelskörper und schrecklich wie ein Gott zu sein: dies könnten schon damals Bedingungen gewesen sein, die „ein heiliger Gegenstand erfüllen muß, um im affektiven Register des religiösen Masochismus erfolgreich zu wirken. … Um die archaischen revierbewußten Götter auf Distanz zu halten, entsteht in den frühen Theotopen die Funktion des Priesters: Als Grenzpolizist der Sphäre der Lebenden ist er mit der Aufgabe betraut, die Razzien der anderen Seite einzuschränken. Die sicherste Methode zur Abfindung der Jenseitigen, die ihren Teil fordern, scheint das Opfer gewesen zu sein, das quasi einen Elementargedanken der frühen Theotopier ausdrückt. Sie alle waren gewohnt zu glauben, daß die Zahlung einer Toten- und Fremdensteuer zu ihren anerschaffenen Pflichten gehörte – die ersten Finanzämter waren zweifellos die paläolithischen Opfersteine (), an denen die ahnungsvolle Angst ihre Abgaben entrichtete.“ (Peter Sloterdijk, Das Thanatotop, in: Sphären III – Schäume, 2004; S. 451 und S. 453).

„Daher spricht vieles dafür, in dem, was man später den Aberglauben nennt, eine der Grundformen der religiösen Mentalität zu sehen: superstitio bedeutet bei den Römern soviel wie »ängstliche Aufmerksamkeit in religiösen Dingen« – sie ist gewissermaßen die neurotische Variante der skrupulösen Gewissenhaftigkeit (religio), mit der die Zeichen, die Prodigien und Omina sowie die Ritualvorschriften zu beachten sind.“ (Peter Sloterdijk, Das Thanatotop, in: Sphären III – Schäume, 2004, S. 445).

Der Priester (seine Funktion) entstand wahrscheinlich, um die (archaischen) revierbewußten Götter auf Distanz zu halten: „Als Grenzpolizist der Sphäre der Lebenden ist er mit der Aufgabe betraut, die Razzien der anderen Seite einzuschränken. Die sicherste Methode zur Abfindung der Jenseitigen, die ihren Teil fordern, scheint das Opfer gewesen zu sein, das quasi einen Elementargedanken der frühen Theotopier ausdrückt. Sie alle waren gewohnt zu glauben, daß die Zahlung einer Toten- und Fremdensteuer zu ihren anerschaffenen Pflichten gehörte – die ersten Finanzämter waren zweifellos die paläolithischen Opfersteine (), an denen die ahnungsvolle Angst ihre Abgaben entrichtete.“ (Peter Sloterdijk, Das Thanatotop, in: Sphären III – Schäume, 2004, S. 453).

Kastenwesen in Indien (): Die Bezeichnung für Kaste ist das einheimische Wort Jati (sanskrit: „Kaste“) bzw. Jata [sanskrit: „Rasse“). Es gibt in Indien zwar viele tausend Kasten bzw. Unterkasten, aber eigentlich eben doch nur jene vier Kasten, die die gesellschaftlichen Gruppen oder Kategiorien der Hindu-Gesellschaft darstellen: (1) Brahmanen, (2) Kschatriyas, (3) Vaischyas, (4) Schudras (Sudras). Diese Unterteilungen stammen aus der Zeit der Besiedlung in Nordindien durch die Arier. Sie bedeuten eine Festlegung des gesellschaftlichen Status nach Geburt und Abstammung bzw. nach Varna (sanskrit: „Farbe“) im Zusammenhang mit der Ordnung nach Berufsgruppen. (1) Die Brahmanen bilden die Kaste der Priester und Gelehrten; sie studieren die heiligen Schriften der Veden, erteilen geistlichen Unterweisung und führen die rituellen Opfer aus. (2) Die Kschatriyas bilden die Kaste der Krieger; sie sollen die Schwachen schützen, als Könige gerecht regieren und den Brahmanen Schutz und Ermunterung bei ihrem Gelehrten und priesterlichen Arbeiten gewähren. (3) Die Vaischyas bilden die Kaste der Händler und Hirten; sie sollen den Reichtum des Landes durch Handel und Landwirtschaft vermehren. (4) Die Schudras bilden die Kaste der Diener; sie sind Nichtarier und sollen als Bedienstete für die Brahmanen, Kschatriyas und Vaischyas arbeiten. Zu den vier Kasten der Hindu-Gesellschaft kann man dem Wort nach die „Nichtkaste“, die „Kastenlosen“ zwar nicht zählen; doch weil ihre Existenz in der Logik der Sache liegt, sollten sie wenigstens in diesem Sinne dazugezählt werden: als die (zwar „kastenlose“, aber trotzdem) fünfte und (zwar „Nichtkaste“, aber trotzdem) niedrigste Kaste, nämlich die der Unberührbaren (Parias). Die Inder betrachten die Unberührbaren also entweder als eine fünfte Kaste oder aber als Teil der vierten Kaste – (4) Schudras -, indem sie diese in zwei Segmente, nämlich (4a) „rein“ und (4b) „unrein“ untergliedern (Unberührbare als Unreine). Die drei oberen Kasten – (1) Brahmanen, (2) Kschatriyas, (3) Vaischyas – werden auch „Zweimalgeborene“ genannt, weil die männlichen Familienmitglieder sich einer Schnurzeremonie (Upanayana) unterziehen, die eine spirituelle Wiedergeburt impliziert und den Übergang in das Erwachsenenalter und das Studentenleben (Aschrama) markiert. Lesen Schreiben und Streben nach Erkenntnis werden für die Lebensweise der Schudras als irrelevant betrachtet, so daß diese Kaste von der Schnurzeremonie ausgeschlossen ist. Wie schon gesagt: In Indien werden die gesellschaflichen Gruppen oder Kategorien Jati (Kaste) oder Varna (Farbe) genannt; da das Wort Jati von Jata (Rasse) abgeleitet ist und Varna „Farbe“ bedeutet, ist die Folgerung richtig, daß das System einen beobachtbaren Unterschied in der Erscheinungsform zwischen den hellhäutigen arischen, edlen Eroberen aus dem Norden und und den dunkelhäutigen einheimischen, besiegten Bewohnern (Dasas [sanskrit] = „Sklaven“) widerspiegelt. Eine Textstelle im Rig-Veda rät von Ehen zwischen hellen und dunklen Personen ab; und der Gelehrte Patanjali stellte im 2. Jh. fest, blondes Haar sei ein Kennzeichen der Brahmanen, obwohl dies zu seiner Zeit wahrscheinlich äußerst selten gewesen sein dürfte. Das Varna eines Einzelwesens und in diesem wiederum seine Kaste verleihen ihm seinen zugewiesenen Status in der Gemeinschaft; es wird in ihm bzw. in der Kaste geboren und bleibt in ihm während seines ganzen Lebens – es sei denn, es wird für irgendein Vergehen zum Kastenlosen gemacht. Auch im heutigen Indien bildet der Varna einen hierarchischen Rahmen für die Kasten, obwohl niemand mehr gezwungen wird, die seinem Varna zugewiesene Beschäftigung anzunehmen.

Veda (sanskrit: „Wissen“) ist der Korpus des heiligen Wissens, das als die Grundlage des wahren Glaubens und der richtigen Praxis bei den Hindus gilt. Noch vor 2000 v. Chr., am Ende der Indus-Kultur, wanderten die Arier nach Nordindien ein, die den weiteren kulturellen Verlauf maßgeblich prägten. Einige indische Historiker sind jedoch der Meinung, daß die Arier ein schon ansässiger Stamm gewesen seien, der zu dieser Zeit die Oberherrschaft erlangen konnte. Zu den ältesten erhaltenen Schriften Indiens gehören der Rig-Veda, der Sama-Veda, der Yajur-Veda und der Atharva-Veda sowie einige astronomische Texte. Die ältesten indischen Texte können nicht mit Bestimmtheit datiert werden. Sie erlauben einen Einblick in das frühe religiöse Leben, das von Tier- und Pflanzenopfern, rituellen Waschungen und Hymnen an die Götter bestimmt war. Noch heute im Hinduismus bekannte Götter (Brahma, Wischnu, Saraswati) werden dort bereits verehrt, wenngleich sie damals noch nicht zu den Hauptgottheiten zählten. Der Veda gliedert sich in vier Sanhitas (Sammlungen): Rig-Veda (Götterhymnen), Sama-Veda (Opferlieder), Yajur-Veda (Opfersprüche), Atharva-Veda (Zauberlieder). Diese vier Sammlungen und einige astronomische Texte reichen aber bis 1700 v. Chr. zurück (die an sie anschließenden Brahmanas (Ritual- und Opfertexte) bis 1200 v. Chr. und die ebenfalls an sie anschließenden Upanischaden bis 800 v. Chr.). Der Rig-Veda enthält Hymnen, um die Götter zu preisen und anzurufen. Er ist die älteste Veda. Die anderen drei Veden entlehnen etliche Inhalte aus dem Rig-Veda. Der Sama-Veda besteht aus Gesängen, die die Opfer musikalisch begleiten. Der Yajur-Veda enthält Prosaverse, die bei Opferriten rezitiert werden. Der Atharva-Veda enthält Mantras und Beschwörungen gegen Feinde und Krankheiten sowie Gebete zur Vergebung für Fehler während der Opfer. Die frühe vedische Religion kannte keine Tempel oder Götterbilder. Die Götter wurden durch Feueropfer angebetet, man bot Opfergaben des heiligen Safts Soma, Ghi (Butterschmalz), Milch, Brot und manchmal Fleisch der Tiere dar. Der Veda ist ungefähr sechsmal so umfangreich wie die Bibel. Für das Ende des Veda steht der Vedanta (sanskrit: „das Ende des Wissens“). Er stellt quasi die letze Entwicklungstufe des Veda dar. Das heute noch in Indien am meisten verbreitete System des Vedanta ist das des Schankara (um 800 v. Chr.). Der Veda scheint im wesentlichen nach ca. 1200 Jahren (1700-500) abgeschlossen zu sein.

Brahmanismus ist einer der Vorläufer des Hinduismus. Die Lehre wurde von den in der hinduistischen Gesellschaft die Priester und Gelehrten stellenden Brahmanen formuliert, und von Lehrern an die Schüler weitergegeben. Der Brahmanismus ist also die Lehre der Brahmanen und die herrschende Religion Indiens, die sich zum heutigen Hinduismus weiterentwickelt hat. Sie wird dogmatisch auf den Veda zurückgeführt. Im Brahmanismus finden sich monotheistische (), pantheistische () und auch atheistische () Richtungen. Als Weltanschauung ist der Brahmanismus Evolutionismus: die Welt entwikelt sich durch das Brahman aus einer ungeschaffenen und unvergänglichen Urmaterie (Prakriti) und wandelt sich im ewigen Wechselspiel wieder in diese Urmaterie zurück. Das Brahman – ursprünglich der Zauberspruch, dann die Kraft, die den Opferhandlungen ihre Wirksamkeit gibt, schließlich das durch sich selbst seiende schöpferische und erhaltende Prinzip der Welt, das alles schafft, trägt, erhält und wieder in sich zurücknimmt – steht als Weltseele in einem Verhältnis zum Selbst des Einzelwesens, zum Atman als der Seele. Die Lehre von Brahman (Weltseele) und Atman (Seele) ist als die philosophische Basis des Brahmanismus anzusehen, wie sie seit ca. 1700 v. Chr. in den Veden, seit ca. 1200 v. Chr. in den Brahmanas und seit ca. 800 v. Chr. in den Upanischaden bis ca. 500 v. Chr. – also insgesamt in 1200 Jahren (1700-500) – formuliert wurde. Brahman und Atman gelten hier als wesensgleich, der Mensch müsse diese Identität jedoch erst spirituell erkennen, bevor er die Erlösung, die Mokscha, erreichen kann. Das Brahman ist in seinem Wesen identisch mit Atman, dem inneren Kern des Menschen. Textgeschichtlich bilden die Brahmanas die Ausgangsgrundlage, Opfer- und Ritualtexte, die die korrekte Ausführung des Opfers in den Mittelpunkt stellen und beschreiben, z.B. das Agnicayana (Feueropfer). Die Brahmanas sind als Ritual- und Opfertexte Bestandteil der Veden, und in ihrer späteren Form enthalten sie in einzelnen Kapiteln die vedischen Upanischaden, die die mechanistische Opfertechnik an vielen Stellen anzweifeln und philosophisch überwinden. Der Brahmanismus übt, obwohl zu seinen Grundforderungen gehört, das Kastenwesen, besonders die Führerstellung der Brahamanen-Kaste zu respektiern, sehr weitgende theoretsiche und praktische Toleranz. Die Brahmanen sind Mitglieder der obersten hinduistischen Priester- und Gelehrten-Kaste und gelten in den alten Schriften als unverletzlich. Heute üben die Brahmanen auch andere Berufe aus.

Upanischaden (Sanskrit: „das Sich-in-der-Nähe-Niedersetzen“; gemeint ist damit: „sich zu Füßen eines Lehrers (Guru) setzen“, aber auch geheime, belehrende Sitzung) sind eine Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus und Bestandteil des Veda und des Brahmanismus. Die Upanischaden umfassen etwa 250 Schriften, die über mehrere Jahrhunderte entstanden sind und Themen wie Wiedergeburt, Yoga und Karma ansprechen. Insbesondere die 13 vedischen Upanischaden haben den späteren Hinduismus geprägt. Es existieren rund 150 Upanischaden, wovon 108 offiziell anerkannt werden. Die Texte wurden sowohl in Prosa als auch in Versform verfaßt. Die Upanischaden beschäftigen sich mit dem Wesen von Brahman, der universellen Weltenseele, von der Atman eine Reflexion in jedem Wesen ist, die innerste Essenz eines jedes Individuums. Brahman – und damit auch Atman – ist unvergänglich, unsterblich, unendlich, ewig, rein, unberührt von äußeren Veränderungen, ohne Anfang, ohne Ende, unbegrenzt durch Zeit, Raum und Kausalität, ist reines Sat-Chit-Ananda (Sac-Cid-Ananda), reines Sein, Existenz an sich (Sat), Bewußtsein, Verstehen (Chit) und Wonne, reines Glück (Ananda). Textgeschichtlich haben sich die Upanischaden aus den Brahmanas (Ritual- und Opfertexte) entwickelt (und sind teilweise auch Bestandteil von ihnen). Während also die Brahmanas sich hauptsächlich mit Opferritualistik beschäftigen, werden in den Upanischaden Zweifel an diesem System des korrekt (und mechanisch) ausgeführten Opfers formuliert. Es ist das Bestreben spürbar, hinter die Dinge zu schauen.Weitere Themen sind die Essenz und der Sinn des Daseins, verschiedene Arten der Meditation und der Gottesverehrung sowie Eschatologie, Erlösung und die Lehre von der Wiedergeburt Samsara. Der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer empfand die Upanischaden als „… belohnendste und erhebendste Lektüre, die … auf der Welt möglich ist: sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens seyn.“ (Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena 1851, II, § 184).

Buddhismus ist die von dem Buddha („Erleuchteten“) Gautama (560-480) verkündete Heilslehre. Nach ihr ist alles in der Welt „vergänglich, ohne Selbst (beharrende Substanz) und deshalb leidvoll (unbefriedigend)“. Jedes Einzelwesen ist eine vergängliche Kombination von nach ewigen Gesetzen in funktioneller Abhängigkeit voneinander aufspringenden und wieder dahinschwindenden Daseinsfaktoren (vgl. Dharma als das „tragende Gesetz“). Da kein gutes oder böses Tun ohne Wirkung bleibt, findet jeder Strom individuellen Lebens (scheinabre Persönlichkeit) gemäß dem Karma („Werk“) nach dem Tode in einer neuen Existenz seine Fortsetzung. Moralisches handeln führt zur stufenweisen Läuterung; Erkenntnis und Vernichtung des Willens zum Leben zur Befreiung (vgl. Nirwana als das „Erlöschen“). Nach anflinglicher Ablehnung, die Wahrheit der Erleuchtung und den Weg zu ihr mitzuteilen, wurde Gautama Buddha von Brahma auf Bitten der Götter doch dazu bewegt. Seine Lehre wurde dann zur Grundlage, weshalb „Buddhismus“ (ein abendländischer Begriff) besser Buddha-dharma oder Buddha-sasana genannt werden sollte. Buddha sah sich selbst als einen Führer und einen Arzt an, der Krankheiten diagnostizierte und auf die Methode zu ihrer Heilung hinwies. Wie es jetzt in den Texten dargestellt wird, lehrte er im Rahmen der Hauptkomponenten der Hindu-Kosmologie und -Psychologie (lange zyklische Zeiten und Zeitabschnitte von gleicher Länge, in denen ein Selbst oder eine Seele, Atman, wiedergeboren wird und, von dem Karma als Ursache beherrscht, sich auf die Freiheit oder Befreiung, Mokscha, zubewegt), aber er veränderte sie. Buddha sah alle Erscheinungen als von Dukkha („Leiden“, „Vergänglichkeit“, „Unbeständigkeit“) gekennzeichnet. Daraus folgt, daß es keine Seele geben kann, sondern nur die Folge eines Augenblicks zur Entstehung des nächsten führt, was die Herausbildung von Erscheinungsformen mit charakteristischen Möglichkeiten bewirkt. Die Lehre von der Nichtexistenz der Seele wird als Anatman-Lehre bezeichnet. Daraus folgt gleichermaßen, daß es keinen ewigen Gott, unabhängig vom Kosmos, den er schuf, geben kann. Die Lehre des Buddha ist in den „Vier Edlen Wahrheiten“ zusammengefaßt (der Wahrheit von Dukkha und wie man sich davon befreit), dem „Achtfältigen Pfad“(dem Weg des Entkommens oder die Erleuchtung) und Paticca-sammupãda (die Untersuchung der zwölf voneinander abhängigen Verkettungen, die die Ursache sind für das Verhaftetsein im Samsara, dem sich wiederholenden Kreislauf von Geburt und Tod, dem Prozeß der Wiederverkörperungen). Obwohl es einen Atman nicht zu geben scheint, kann die ursächliche Abfolge, in der ein Augenblick den nächsten verursacht, sich durch den Augenblick und den Prozeß des Todes fortsetzen. Um dies zu verstehen, sollte man damit beginnen, die Abfolge des Paticca-sammupãda umzukehren; und wenn man all das praktiziert, auf das Buddha hingewiesen hat, bedeutet dies, sich zur Erleuchtung und zum Erlangen des Abstandnehmens von jeglichem Zusammenspiel nit manifesten Erscheinungsformen zu bewegen, d.h. zum Nirwana. — Die alte pluralistische Selbst-Erlösungslehre (Hinayana, „Kleines Fahrzeug“) wurde zwischen dem 2. Jh. v.Chr. und dem 1. Jh. n.Chr. zur monistischen Viel-Mitgefühlslehre (Mahayana, „Großes Fahrzeug“) ausgestaltet. Die aktivistische Ethik des Mahayana betrachtet es als das Hochziel des Buddhajüngers, nicht als Arhat (Heiliger) für sich selbst die Erlösung zu erreichen, sondern als Boddhisattva (Anwärter auf spätere Buddhastellung) in selbstloser Liebe zu allen Wesen andere Menschen zum Heil zu führen.

Hinduismus bedeutet zunächst nur die von außen herangetragene Sammelbezeichnung für die Anhänger verschiedener religiöser Richtungen, entwickelte aber später eine beträchtliche Eigendynamik. Er besteht aus verschiedenen Richtungen mit recht unterschiedlichen Schulen und Ansichten. Es gibt kein gemeinsames für alle gleichermaßen gültiges Glaubensbekenntnis. Nur einzelne Richtungen gehen auf einen bestimmten Begründer zurück. Da es sich beim Hinduismus um unterschiedliche religiöse Traditionen handelt, gibt es auch keine zentrale Institution, die Autorität für alle Hindus hätte. Die Lehren über spirituelle Belange und sogar die Gottesvorstellungen sind in den einzelnen Strömungen sehr verschieden, selbst die Ansichten über Leben, Tod und Erlösung (Mokscha) stimmen nicht überein. Die meisten Gläubigen jedoch gehen davon aus, daß Leben und Tod ein sich ständig wiederholender Kreislauf (Samsara) sind, sie glauben an die Reinkarnation. Für den persönlichen Glauben haben religiöse Lehrer (Gurus) oft einen großen Stellenwert. Trotz aller Unterschiede können Hindus der verschiedenen Richtungen weitgehend gemeinsam feiern und beten, wenn auch ihre Theologie und Metaphysik bzw. Philosophie nicht übereinstimmen. „Einheit in der Vielfalt“ ist eine oft verwendete Redewendung zur Selbstdefinition im heutigen Hinduismus.

Trimurti (Sanskrit: „aus drei Gestalten bestehend“) bedeutet die hinduistische Erkenntnis, daß eine dreifache Wechselwirkung für die Schöpfung und die Auflösung notwendig ist und daherganz besonders die drei miteinander in Beziehung stehenden Verkörperungen des Göttlichen: Brahma, Wischnu, Schiwa. Brahma verkörpert die Erschaffung (Schöpfung), Wischnu die Erhaltung (und zu diesem Zweck als Tier oder Mensch inkarniert), Schiwa die Zerstörung (um einen Neuanfang zu ermöglichen, verkörpert durch das Feuer).

Germanische Seefahrt ist, und zwar von Beginn an, eine wichtige Vor- und Urform der abendländischen Kultur, also eine ihrer Voraussetzungen. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Vor- und Uraussetzung für alle späteren, noch grandioseren abendländischen Entdeckungen. (). „Die altnordischen Stämme, in deren urmenschlicher Seele das Faustische () sich bereits zu regen begann, haben in grauer Vorzeit eine Segelschiffahrt erfunden, die sich vom Festland befreite. Sie reichte im 2. Jahrtausend v. Chr. von Island und der Nordsee über Kap Finisterre (spanische Nordwestküste) nach den Kanarischen Inseln und Westafrika, wovon die Antlantissagen der Griechen eine Erinnerung bewahrten. Das Reich von Tartessos an der Mündung des Guadalquivir scheint ein Mittelpunkt gewesen zu sein. Vgl. Leo Frobenius (1873-1938), Das unbekannte Afrika, S. 139. In irgendeinem Zusammenhang damit müssen die ‚Seevölker‘ gestanden haben. Wikingerschwärme, die nach langer Länderwanderung von Nord nach Süd im Schwarzen oder Ägäischen Meer wieder Schiffe zimmerten und seit Ramses II (1292-1225) gegen Ägypten vorbrachen.“ (Oswald Spengler, 1917, S. 428). Vgl. dazu auch: Germanentum.

Seelenbild der Antike und Seelenbild des Abendlandes sind gegensätzlich: apollinisch und faustisch; ihre Ursymbole ebenfalls: Einzelkörper und Unendlicher Raum. Wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung, gelten auch Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar, deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Beispiel „Parallelenaxiom“ deutlich werden kann: Euklid hat in seinen „Elementen“ (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung für das antike Beispiel gegeben und Gauß ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Sie stehen – wie unzählige andere Beispiele auch – für einen metaphysischen Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol angetrieben und angezogen wird. (Vgl. Oswald Spengler, 1917, S. 155, 227ff., 234, 390). Vgl. dazu auch das Germanentum.
Das Seelenbild der magischen Kultur ist ein dualistisches: Geist und Seele; ihr Ursymbol: Welthöhle. (Vgl. Oswald Spengler, 1917-1922, S. 847f.).
Zarathustras Lebensdaten sind nicht genau bekannt: 11-10. Jh. v. Chr. bis 7-6. Jh. v. Chr.; lebte er demnach im 9.-8. Jh. v. Chr.? Die Wirkung des Zarathustra bedeutet für den Monotheismus, d.h. für die magische Kultur (vgl. „Magier“; ) in etwa das, was für uns Abendländer die Wirkung von Jesus (7 / 4 v. Chr. bis 26 / 30 n. Chr.) oder Paulus († 29.06.66 oder 67; enthauptet) oder Augustinus (354-430) bedeutet. Das Gemeinsame besteht auch darin, daß sie die alten Verhältnisse, mit denen sie aufwuchsen, zu überwinden suchten und letzlich auch tatsächlich neue Verhältnisse bewirkten, indem sie eine neue Religion schufen bzw. zum Durchbruch verhalfen und etablierten. Unser kulturelles Erbe der Grieschisch-Römischen (apollinische Antike) einerseits und des Monotheistisch-Christlichen (magische Kultur) andererseits, das wir häufig mit „römisch-christlich“ (oder römisch-katholisch) umschreiben und auch tatsächlich durch die „ewige Stadt“ Rom als Zentrum am auffälligsten und komprimiertesten symbolisiert ist, geht also in Wirklichkeit noch viel weiter zurück in die Tiefe unserer beiden „Eltern-Kulturen“: einerseits zum Ursprung der griechischen Mythologie und andererseits zum Ursprung des (altiranischen) persischen Monotheismus (Zarathustras Parsismus, Mazdaismus). Beide haben trotz vieler Unterschiede eine Gemeinsamkeit, die auch wir trotz vieler Unterschiede mit ihnen teilen: das Indogermanische !
Awesta (Grundtext, Grundwissen) ist die in der gleichnamigen altiranischen Sprache aufgezeichnete Schrift des Parsismus (der von Zarathustra gestifteten altpersischen Religion ), die später, nämlich zur Zeit der Sassaniden (226-651) kodifiziert wurde, nach der islamischen Invasion Persiens (651) jedoch erhebliche Schäden erlitt. Das ursprüngliche Awesta umfaßte 21 Nasks (Sträuße, d.h. Bücher). Die Gathas (Gesänge), die unmittelbar auf die Verkündigung des Propheten Zarathustra zurückgehen, sind die ältesten Texte des Awesta. Sie sind Bestandteil einer Schriftensammlung, die als Jasna (Opfer, Verehrung) bezeichnet wird. Andere wichtige Teilstücke sind Jaschts (Opfergesänge), das Widewdat (Gesetz gegen die Dämonen) und das Wisperat (alle Herren). Der Kommentar zum Awesta heißt Zendawesta (Kommentar-Grundtext). Dem (ausgestorbenen) Awestischen entstammen somit die frühesten schriftlichen Zeugnisse des Iranischen. Das Iranische ist ein östlicher Zweig des Indogermanischen und steht in enger Beziehung zum Indischen. Zu den wichtigsten heutigen iranischen Dialekte zählen Persisch, Kurdisch, Afghanisch (Paschtu).
„»Also sprach Zarathustra«, so beginnen tatsächlich die Verse der »Awesta«, die der Prophet dem ewigen Kampf zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gut und Böse, zwischen Iran und Turan gewidmet hatte. Dem Lichtgott Ahura Mazda stand die Dämonengestalt Ahriman als Fürst der Finsternis entgegen. Diese permanente, unversöhnliche Zweiteilung der Welt in Gut und Böse sowie eine von Anfang an vorgeprägte Bestimmung der Menschen in Erwählte und Verworfene bilden den Kern dieser Lehre. Die Schriften der Awesta sind nur in Bruchstücken erhalten. In ihnen spürt man jedoch die frühe Verwandtschaft mit den Veda-Schriften des Hinduismus () mitsamt ihrer unerbittlichen Kasten-Einstufung und der Vorzugsstellung der arischen Rasse. »Aria Mehr -Leuchte der Arier«, diesen Titel beanspruchte noch der letzte Schah von Persien, Mohammed Reza Pahlevi. …. Im Westen ist kaum bekannt, welche Fülle mythischer Vorstellungen, die wir als integralen Bestandteil des Judentums und der aus ihm abgeleiteten Lehren Christi und Mohammeds betrachten, auf die Visionen des frühzeitlichen Künders Zarathustra aus Baktrien zurückgehen. Während der babylonischen Gefangenschaft, als die Stämme Israels – vom Tyrannen Nebukadnezar an die Flüsse Mesopotamiens verschleppt – die dualistischen Vorstellungen der »Feueranbeter« entdeckten, verstärkte sich auch bei den Hebräern die Kunde vom ewigen Widerstreit zwischen Jahwe und Satan, ‚zwischen Himmel und Hölle, kam bei ihnen die Vorstellung des Jüngsten Gerichts auf, das die Guten von den Bösen scheidet. Die Spuren des zoroastrischen Kults, die sich auch in gewissen Freimaurer-Riten wiederfinden, wirken bis in unsere politische Gegenwart hinein. Das gilt nicht nur für Persien, wo ich im Jahr 1974, zur Zeit der Pahlevi-Dynastie, eines der letzten authentischen Zentren der Zarathustra-Anhänger in der abgelegenen Stadt Yazd aufsuchte. Etwa dreißigtausend Zarduschti leben heute noch in der Islamischen Republik Iran. Khomeini betrachtete diese verstreuten Sektierer, gemäß einer kuriosen Koran-Auslegung, als Monotheisten, als Angehörige der »Familie des Buches«, obwohl sich bei ihnen keinerlei Bezug zum Patriarchen Abraham herstellen läßt. Schah Mohammed Reza war der arischen Urgemeinde mit besonderem Wohlwollen zugetan, suchte er doch eine Kontinuität zu den Gott-Königen der Achämeniden – zu Kyros dem Großen, zu Xerxes, zu Kambyses – aufzuzeigen. Deren Imperium hatte bereits dem Zarathustra gehuldigt, wenn auch mit Vorbehalt und unter Beibehaltung zahlreicher anderer Kulte. Erst unter den Sassaniden, also zwischen dem dritten und dem siebenten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, sollten die »Magi«, die Priester der »Feueranbeter«, wie man sie fälschlich nennt – entscheidenden Einfluß auf den Staat gewinnen und ihm ihre unduldsame, hierarchische Sakralstruktur auferlegen. Die Magi oder Magier waren sich ihrer ursprünglichen Verwandtschaft mit den hinduistischen Brahmanen wohl noch bewußt. Wenn sie schon den Persern und Mesopotamiern nicht das Kastensystem in letzter Konsequenz aufzwingen konnten, das auf dem indischen Subkontinent bis auf den heutigen Tag die Vorrangstellung der indogermanischen Erobererrasse verewigt, so pochten sie doch auf die strenge Trennung zwischen Klerus und Adel einerseits, den Bauern und den rechtlosen Parias andererseits.“ (Peter Scholl-Latour, Land der Propheten, in: Weltmacht im Treibsand, 2004, S. 289-290).
„Die dualistische Botschaft des Zarathustra, die geheimnisvoll überlieferten Thesen des Manichäismus … haben in der europäischen Geistesgeschichte einen eminenten Platz eingenommen. … Sogar die Jungfrauengeburt eines Endzeit-Erlösers war ja in den iranischen Ur-Mythen enthalten. (). Die Manichäer haben noch im ausgehenden römischen Imperium und lange nach dem Märtyrertod des Verkünders seine Botschaft bis nach Indien und China getragen. Die Sekte besaß einen Schwerpunkt in Nordafrika, wo der heilige Augustinus dieser Ketzerei beinahe erlegen wäre, ehe er Bischof von Hippo Regius und einer der bedeutendsten Kirchenväter wurde.“ (Peter Scholl-Latour, Land der Propheten, in: Weltmacht im Treibsand, 2004, S. 291).
Vorderasien oder Morgenland: diese Begriffe sind nicht ganz zutreffend, weil zum magischen Kulturkreis (Spengler nennt ihn „arabisch“) auch der ehemalige (griechische) Osten der Antike gehört, wenn auch nur pseudomorph. Mit Vorderasien bzw. Morgenland meine ich die Kultur der späteren Religionskulturformen, z.B. des altiranisch-parsistischen (mazdaistischen) Persertums, des manichäischen Babyloniens, des Judentums, des Arabertums, des Urchristentums u.a. magischer Elemente. Das Seelenbild der magischen Kultur ist ein dualistisches: Geist und Seele, ihr Ursymbol die Welthöhle. Die Vertreter der magischen Kultur berücksichtig(t)en stets den „Consensus“ – die Übereinstimmung der Gelehrten als Grundlage für die religiöse (= „wahre“) Lehre. Das arabische Wort „Idschma“ ist auch in diesem Sinne zu verstehen, und es gilt immer noch als eines der vier Grundprinzipien der islamischen Rechtslehre.
„Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.“ (Oswald Spengler, 1917-1922, S. 784). Auch eine junge Kultur kann so mächtig sein, daß sie eine alte dort, wo sie zu Hause ist, überlagert. Das Beispiel zwischen der (alten) apollinischen Kultur, auch kurz „Antike“ genannt, und der (jungen) magischen Kultur, auch „Persien/Arabien“ genannt, macht es deutlich: „Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die Pseudomorphose darin, daß alle östlichen Kirchen zu Kulten westlichen Stils wurden. Dies ist eine wesentliche Seite des Synkretismus. …. Mit dem Hinschwinden der apollinischen und dem Aufblühen der magischen Seele seit dem zweiten Jahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetzt Kulte des Westens, die zu einer neuen Kirche des Ostens werden. Aus der Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des Persertums und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische Nation.“ (Ebd., S. 800-801).
Und so wie gerade diejenigen Religionen, von denen behauptet wird, sie seien „monotheistisch“, unter Beweis stellen, daß es keinen „Monotheismus“ gibt, so stellen gerade auch diejenigen Gesellschaften, von denen behauptet wird, sie seien „menschheitlich“ („humanistisch“, „gutmenschlich“ u.s.w.), unter Beweis, daß es keine „Menschheit“ gibt. „Was man von Nietzsche lernen kann, schreibt Baeumler, ist der Gedanke: es gibt keine »Menschheit«, sondern nur konkrete, umgrenzte Einheiten, die im Kampf miteinander liegen. Diese Einheiten sind »eine Rasse, ein Volk, ein Stand« (Alfred Baeumler, Nietzsche der Philosoph und Politiker, 1931, S. 179).“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 352). Ähnlich wie mit dem Monotheismus und der Menschheit verhält es sich auch mit dem Individuum: „Nietzsches selbstbezogenes Schreiben setzt die Fähigkeit voraus, sich nicht als Individuum, als das Unteilbare, sondern als Dividuum (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1878, 2,76), als etwas Teilbares, zu erleben. Eine mächtige Tradition spricht vom »Individuum« wie von einem unteibaren Kern des Menschen, Nietzsche aber hat schon sehr früh mit der Kernspaltung des Individuums experimentiert. Über »sich« schreibt, wem die Unterscheidung zwischen »Ich« und »sich« überhaupt etwas zu denken gibt.“ (Rüdiger Safranski, Nietzsche, 2000, S. 15). – Keinen Monotheismus! Keine Menschheit! Kein Individuum! Schade! Oder?
Paulus († 29.06.66 oder 67; enthauptet), christlicher Heidenapostel, machte das Christentum durch Überwindung der nationalen und traditionellen Bedingtheiten seitens des Judenchristentums zur Weltreligion, indem er den übernationalen Charakter der durch den Glauben an Christus begründeten Heilsgemeinschaft betonte. Er war Verfasser zahlreicher neutestamentlicher Schriften. Als Quellen zur Rekonstruktion seines Lebens dienen vor allem die wirklich von ihm verfaßten Briefe an die Gemeinden in Rom, Korinth, Galatien, Philippi, Thessalonike und an Philemon, die alle aus der Zeit zwischen 50 und 56 stammen. Bei der spekulativen Durchdringung des Christentums verwendete er Elemente der stoischen und jüdisch-hellenistischen Philosophie. Seine vielen Missionsreisen führten am Ende zur Verhaftung in Jerusalem, zur Überführung nach Rom und dort zur Enthauptung (Märtyrertod). (Vgl. Mission und Apostelkonzil). Paulus gilt als der bedeutendste Missionar des Urchristentums. In seiner mehrjährigen Missionstätigkeit auf Zypern, in Kleinasien, Syrien, Griechenland, Makedonien u.a. Regionen verkündete er kompromißlos das Evangelium frei von Gesetzesbindungen und trat dadurch natürlich in Gegensatz zum Judenchristentum der Urgemeinde. Er knüpfte besonders an die nachösterliche Verkündigung des gekreuzigten und auferstandenen Herrn und seine Bedeutung für das Heil der Menschheit an. Die durch den Tod und die Auferstehung Christi eingetretene Wende der Heilsgeschichte zeigt sich nach Paulus vor allem darin, daß der jüdische Heilsweg, der in der Erfüllung der Gesetzgebung als der Verpflichtung gegenüber dem Bund mit Jahwe steht, aufgehoben ist (!), die Rechtfertigung* ausschließlich aus dem Glauben erlangt werden kann (!). (*Rechtfertigung ist ein Begriff der christlichen Theologie, mit dem der Vorgang reflektiert wird, daß das durch die Sünde gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Gott in einen als „heil“ geglaubten Zustand überführt wird). Der Glaube kann auch nicht als Werk des Menschen aus sich selbst verstanden werden, sondern als Gabe und als Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Der Mensch ist in allen seinen Aspekten („Geist“, „Seele“, „Leib“) aufgerufen, das in Christus geschenkte neue Leben zu verwirklichen. In seinem Verhalten ist der Mensch jedoch nicht auf sich allein gestellt, sondern ist Mitglied der Gemeinde des auferstandenen Herrn. Diese ist schon gegenwärtig der Leib Christi, wird aber gleichzeitig von der Hoffnung auf die endgültige Wiederkunft (Parusie) des Herrn geleitet und ist in dieser Spannung von „schon“ und „noch nicht“ Träger seines Geistes.
Zur „Bekehrung des Paulus auf dem Weg nach Damaskus. Die Erzählung von diesem Einschnitt ist in der Apostelgeschichte zweimal überliefert, einmal in autobiographischer Form als Element der Verteidigungsrede des Paulus vor den Juden in Jerusalem (vgl. Apg., 22), ein anderes Mal in der dritten Person (vgl. Apg., 9). In beiden Fassungen wird hervorgehoben, Paulus sei durch das Ereignis auf dem Weg nach Damsakus »umgedreht« worden und habe sich von einem Verfolger der Christen zu einem Verkünder des Christentums gewandelt. In der persönlichen Version lautet die Geschichte wie folgt: »Als ich nun unterwegs wa (um Anhänger der neuen Lehre zu verhaften) und mich Damaskus näherte, da geschah es, daß mich um die Mittagszeit plötzlich vom Himmel her ein helles Licht umstrahlte. Ich stürzte zu Boden und hörte eine Stimme zu mir sagen: ›Saul, Saul, warum verfolgst du mich?‹ Ich antwortete: ›Wer bist du, Herr?‹ Er sagte zu mir: ›Ich bin Jesus, der Nazaräer, den du verfolgst.‹ Meine Begleiter sahen zwar das Licht, die Stimme dessen aber, der zu mir sprach, hörten sie nicht. Ich sagte: ›Herr, was soll ich tun?‹ Der Herr antwortete: ›Steh auf un geh nach Damaskus, dort wird dir alles gesagt werden ….‹«. (Bibel, a.a.O.). Im Blick auf diese Erzählungen ist evident: Die Erzählung derselben Geschichte in der dritten Person, die sich am Anfang der acta apostolorum findet, enthält nur eine wesentliche Variante, indem dort betont wird, die Begleiter seien sprachlos dabeigestanden, weil sie zwar die Stimmen hörten, jedoch niemanden sahen (vgl. Apg., 9, 7). Von den subtilen platonischen Erwägungen über die Umwendung der Seele und ihre Herausführung aus der Höhle der sinnlichen Kollektivillusionen (vgl. Platons »Höhlengleichnis«) sind wir hier bereits Lichtjahre entfernt. Keine Rede mehr von den Sorgen des griechischen Rationalismus um die Wende zur Wahrheitssonne. Das Licht, das den Eiferer auf dem Weg nach Damaskus blendet, ist ein Gemenge aus Mittagsdämon und Halluzination. Die Geschichte spielt bereits ganz auf dem Boden eines magischen Weltbildes (Spengler ordnete es sogar dem Stimmungsraum der »arabischen Kulturseele« zu ), dessen Atmosphäre von Apokalypsebereitschaft, Erlösungspanik und einer wundersüchtig supranaturalistischen Hermeneutik geprägt ist. Vor allem verrät sich in ihr der Geist eines nach allen Seiten aufbruchsbereiten Eiferertums, dem es fast gleichgültig zu sein scheint, ob es sich in die eine oder die andere Richtung erhitzt. Vor den Hintergrund des philosophischen Begriffs von conversio oder epistrophé gesetzt, handelt es sich bei dem Erlebnis des Paulus in keiner Weise um eine Bekehrung, mit der sich ein persönlicher Habitus von Grund auf geändert hätte. Auch ging es keinen Augenblick um Erkenntnis, sondern um die Begegnung mit einer göttlichen Stimme, die keine Scheu kennt, sich diesseitig zu manifestieren. Aufs Ganze gesehen bedeutet das, was Paulus widerfuhr, nicht mehr als die »Reprogrammierung« eines Zeloten im präzisen Sinn des Worts. Der Ausdruck ist gerechtfertigt, insofern das »Betriebssystem« der paulinischen Persönlichkeit nach dem erlebten Umschwung mehr oder weniger unverändert weiterverwendet werden konnte, nun jedoch für eine außerordentliche theologische Kreativität freigesetzt. Die Bekehrung des Paulus gehört also in eine ganz andere Kategorie von »Drehungen«, die nicht einen ethisch »revolutionären«, sondern einen apostolisch-eifernden Charakter aufweisen. …. In übungstheoretischer Sicht hatte Paulus bereits eine ganze Weile mit dem Gegner trainiert. …. Paulus war in dieser Sicht weder ein Konvertit noch gar ein»Revolutionär« …. – Es gibt keine Konversion …. – In diesem Kontext haben wir Gelegenheit, Oswald Spenglers starke These zu re-evaluieren, wonach es im Grunde überhaupt keine Konversionen gebe, sondern nur Umbesetzungen zwischen freien Stellen in dem fest strukturierten Optionenfeld einer Kultur. (Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 440f. ). Durch alle Oberflächenwendungen der Konfession hindurch bleibe die basale Seelenstimmung eines Hochkulturkomplexes identisch, und was sich in äußerer Sicht wie eine 180-Grad-Drehung darstelle, könne in Wahrheit nie mehr sein als eine letztlich beliebige (obschon gelegentlich für die Mit- und Nachwelt folgenreiche) Variation innerhalb eines definitiv umrissenen Möglichkeitsraums. Die Suggestivität dieser These läßt sich vor allem an dem zweiten Bekehrungshelden der christlichen Überlieferung, Aurelius Augustinus, erläutern, von dem bekannt ist, wie er in seinen Confessiones seine gesamte Jugendgeschichte als ein langgezogenes Zögern vor der »Konversion« des Jahres 386 stilisierte. Gerade im Blick auf ihn scheint Spenglers Theorem durchschlagend plausibel. Man kann an seiner Lebensgeschichte – wie der zahlloser analoger Konfessionswechsler und Ernstmacher späterer Zeiten – mühelos zeigen, daß bei ihm in der Tiefenstruktur seiner Persönlichkeit nie die geringste »Konversion« stattgefunden hat. Vielmehr hat er nur innerhalb einer seit jeher bestehenden Ausrichtung auf die Überwelt mehrfach die Adressen bzw. den Großen Anderen, den transzendenten Trainer gewechselt – vom Manichäismus zu Platonismus, vom Platonismus zum philosophlschen Christentum, vom philosophischen Christentum zu einem theozentrisch nachgedunkelten Unterwerfungskult. Hierin war er keine Singularität, da schon seit dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert unter den Gebildeten der römischen Ökumene »Bekehrungen« zur Philosophie auftraten, die sich organisch in Übertritte zum Christentum fortsetzten – so etwa im Fall von Justin dem Märtyrer, des katholischen Patrons der Philosophen. …. Gewiß hatte Oswald Spengler übertrieben, wenn er die Möglichkeit der Konversion innerhalb einer gegebenen Kultur von vorneherein abstritt, dennoch erhob er seinen Einwand nicht ohne gute Gründe, da der größte Teil der real erlebten Bekehrungen tatsächlich nicht im Modus einer epistrophischen Gesamtumkehrung, sondern des Übergangs zu einer mehr oder weniger naheliegenden Alternative geschieht: Eine wirkliche Umwälzung vollzieht sich letztlich nur beim Eintritt auf den Hochkulturpfad als solchen, der die Sterblichen auf die hohen Formen der Vertikalspannung ausrichtet, indem er sie impft mit dem Wahnsinn des Verlangens nach dem Unmöglichen.“ (Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, S. 474-476, 477, 478, 479-480, 482).
48 fand das Apostelkonzil in Jerusalem statt, an dem auch Petrus und Paulus teilnahmen. Anlaß des Apostelkonzils war die Frage, ob „Heiden“, die zum Christentum übertreten, sich der Beschneidung und dem jüdischen Gesetz unterwerfen müssen. Das Apostedekret ist der vom Apostelkonzil (Apg. 15; Gal. 2, 1-10) den Christen Antiochias, Syriens und Kilikiens (heute: Südanatolien) mitgeteilte Beschluß, daß sie zur Beobachtung (Befolgung) des mosaischen (israelitisch-jüdischen) Gesetzes nicht verpflichtet seien (!). Also war das Apostelkonzil ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Universalkirche.
Der Primat des Papstes ist in der katholischen Theologie (bzw. Religion) der Vorrang des Amtes in Aufbau der kirchlichen Verfassung, das dem Papst als Nachfolger des Apostels Petrus zukommt. Schon gegen Ende des 1. Jahrhunderts betonte Papst Klemens I. (reg. um 88-97) in seinem ersten Brief („Klemensbrief“ der eine erste „Enzyklika“, ein politisch gefärbtes „Evangelium“ darstellt) mit unzweideutiger Selbstverständlichkeit den Vorrang Roms und seine primatiale Stellung, und zwar abgeleitet aus seiner Vorstellung des für ihn in der römischen Gemeinde repräsentierten Ordnungsprinzips. (Unter Klemens I. bekehrten sich führende Angehörige des römischen Adels und des Kaiserhauses zum Christentum). Der Klemensbrief identifiziert die Einheit der römischen Gemeinde mit der Einheit in Rom. Seit dem 2. Jahrhundert bildete sich der Primat des Bischofs von Rom (also: des Papstes) in der Kirche allmählich konkreter heraus. Zu dieser Entwicklung trugen dann auch noch – zumeist unfreiwillig – die Kirchenväter Irenäus von Lyon (ca. 145 – 202) und Cyprian von Karthago († 258) das Ihre bei; der erste prägte nämlich den Begriff der principalitas, der zweite den noch viel weiter tragenden des primatus der Bischöfe von Rom. Der Zusammenhang mit den Entwicklungen im (quasi schon gestorbenen) römischen Kaisertum ist hier nicht zu übersehen. Aus dem ersten Begriff machte die Papst-Monarchie ihren über allen Herrschern der Erde stehenden Fürstenrang und aus dem zweiten Begriff den konsequent zum Dogma von der Unfehlbarkeit führenden Primat, der später vorausschauend in Rechtsparagraphen definiert wurde. (Vgl. Papstgeschichte).
Der Calvinismus, anfangs ein antischolastischer Humanismus, machte die Prädestination zu seinem Inhalt und Mittelpunkt. Diese Prädestination, die man auch Prädetermination nennt, meint die Vorbestimmung des Menschen schon vor bzw. bei seiner Geburt durch Gottes unerforschbaren Willen. und zwar entweder als Gnadenwahl zur Seligkeit ohne Verdienst oder als Prädamnation zur Verdammnis ohne Schuld. Sie wurde schon von Augustinus (354-430) gelehrt und nach ihm von Luther (1483-1546), Zwingli (1484-1531), Calvin (1509-1564) und dem Jansenismus (nach Cornelius Jansen, 1585-1638). Auf einen engen Zusammenhang zwischen dem Calvinismus, besonders aber dem aus ihm entwickelten Puritanismus, und dem modernen Kapitalismus der westlichen Demokratien hat vor allem Max Weber (1864-1920) hingewiesen.
„Wie eine Riesenspinne saß Rom im Mittelpunkte der lateinischen Welt und überzog sie mit einem unendlichen Gewebe. Generationen der Völker lebten darunter ein beruhigtes Leben, indem sie das für einen nahen Himmel hielten, was bloß römisches Gewebe war; nur der höherstrebende Geist, der dieses Gewebe durchschaute, fühlte sich beengt und elend, und wenn er hindurchbrechen wollte, erhaschte ihn leicht die schlaue Weberin und sog ihm das kühne Blut aus dem Herzen; – und war das Traumglück der blöden Menge nicht zu teuer erkauft für solches Blut? Die Tage der Geistesknechtschaft sind vorüber; altersschwach, zwischen den gebrochenen Pfeilern ihres Kolisäums sitzt die alte Kreuzspinne und spinnt noch immer das alte Gewebe, aber es ist matt und morsch, und es verfangen sich darin nur Schmetterlinge und Fledermäuse und nicht mehr die Steinadler des Nordens.“ (Heinrich Heine, Die Nordsee [geschrieben auf Norderney], in: Reisebilder, 1826, S. 73-74). Weiter heißt es: „- Es ist doch wirklich belächelnswert, während ich im Begriff bin, mich so recht wohlwollend über die Absichten der römischen Kirche zu verbreiten, erfaßt mich plötzlich der angewöhnte protestantische Eifer, der ihr immer das Schlimmste zumutet; und eben dieser Meinungszwiespalt in mir selbst gibt mir wieder ein Bild von der Zerissenheit der Denkweise unserer Zeit. Was wir gestern bewundert, hassen wir heute, und morgen vielleicht verspotten wir es mit Gleichgültigkeit.“ (Heinrich Heine, ebd., 1826, S. 74).
„Daß sich auch unter christlichen Vorzeichen Charismen leicht in maligne Besessenheit zurückverwandeln, zeigen aber nicht nur die zahllosen evangelikalen Sekten, für welche die USA, seit jeher das Paradies der manischen Kommunen, bekannt oder berüchtigt sind; in ihnen wird Christus in einen Erfolgsdämon mit starken monetären Kompetenzen transformiert, sofern er nicht als Wunderheiler vor laufender Kamera ins Leben eingreift. Der Rückfall wird auch Jahr für Jahr bei christlichen Jerusalempilgern aus aller Welt beobachtbar, die angesichts der Schauplätze der Passion in Verwirrung geraten und gelegentlich die Empathie jüdischer Psychiater in Anspruch nehmen müssen.“ (Peter Sloterdijk, Das Thanatotop, in: Sphären III – Schäume, 2004, S. 456-457).
Carl Friedrich Gauß (1777-1855) veröffentlichte seine nicht-euklidischen Geometrien nicht, weil er das Geschrei der denkfaulen, schwerfälligen und unkultivierten Menschen fürchtete. Er nannte sie Böoter, weil die Einwohner dieser antiken Landschaft (Hauptstadt: Theben) von den Einwohnern anderer Griechenstädte als denkfaul und schwerfällig beschrieben worden waren. Gauß meinte zu Recht, daß man die Menschen nicht wirklich würde überzeugen können. Die erste der nichteuklidischen Geometrien entdeckte Gauß nach Vollendung seines Hauptwerkes Disquisitiones arithmeticae (1801), durch deren in sich widerspruchslose Existenz bewiesen wurde, daß es mehrere streng mathematische Arten einer dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt, die sämtlich a priori gewiß sind, ohne daß es möglich wäre, eine von ihnen als die eigentliche Form der Anschauung herauszuhebe. (Vgl. 18-20).
Max Weber (1864-1920), laut Karl Jaspers „der größte Deutsche unseres Zeitalters“, war der „Diagnostiker der Moderne“. In seinem berühmten Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904 / 1905) zeigte er die Bedeutung des religiösen Rationalismus, d.h. der reformatorischen Weltauslegung, die das Diesseits entzauberte oder entsakralisierte und die mit dem Berufsgedanken das alltägliche Leben mit dem Jenseitsschicksal verband, für die Entstehung des modernen Betriebskapitalismus: im Berufserfolg und Gelderwerb bewährt sich der je eigene Gnadenstand. Weber, Begründer der Religionssoziologie, suchte die Sozialwissenschaften zum Range strenger Wissenschaftlichkeit zu erheben, indem er ihre Methoden prüfte und sie als rein beschreibende auffaßte. Er suchte scharf zu trennen: Erfahrungswissenschaft und wertende Beurteilung, einseitige partikulare Erekenntnis und Ergreifen des Totalen, empirische Wirklichkeit und Wesen des Seins. Entgegen der intuitiven Verstehens-Theorie Diltheys muß nach Weber die verstehende Soziologie, als „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“, rational hauptsächlich nach Zweck und Mitteln fragen, weil allein dadurch das Verstehen eine besonders hohe Evidenz erreicht. Als Hauptbegriff entwickelte Weber den des Idealtypus. Durch diesen Terminus wurde eine für die sozialwissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung zentrale Konstruktionsmethode bezeichnet. Der Idealtypus wird „durch gedanklich einseitige Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen“, die dann „zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammengefügt“ werden. „Der Idealtyp ist ein »Gedankenbild«, welches nicht die historischen Wirklichkeit oder gar die eigentliche Wirklichkeit ist, … sondern die Bedeutung des eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchenm die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.“ (Max Weber). Die Bildung des Idealtypus ist ein heuristischer Schritt der Begriffs- und Theoriebildung, der deutlich von der überprüften Theorie zu unterscheiden ist.
Auf die Hominiden folgte der Homo sapiens sapiens, auf den Humanismus folgt der Hominismus. Damit schließt sich vorerst der Kreis. Schon im 13. Jahrhundert sollen Alchimisten erste Experimente unternommen haben, um einen künstlichen Menschen im Reagenzglas zu erzeugen. Goethe ließ im 2. Teil des Faust den Famulus Wagner einen Homunkulus nach Anleitung des Paracelsus erzeugen. Heute scheinen sich die Möglichkeiten zur Erschaffung des Menschen nach eigenen Wünschen konkretisiert zu haben. Vgl. hierzu: 22-24
Johannes Faust (um 1480 – 1536 oder 1540), deutscher Arzt, Astrologe und Schwarzkünstler, war nach seinem Theologiestudium in Heidelberg u.a. in Erfurt (1513), in Bamberg (1520), in Ingolstadt (1528) und in Nürnberg (1532). Er stand in Verbindung mit humanistischen Gelehrtenkreisen und hatte anscheinend Kenntnisse auf dem Gebiet der Naturphilosophie der Renaissance (magia naturalis). Schon zu seinen Lebzeiten setzte die Sagenbildung ein, besonders durch Übertragung von Zaubersagen auf ihn, in denen er vor allem als Totnbeschwörer auftritt. Sein plötzlicher (gewaltsamer?) Tod gab Anstoß zu Legenden, der Teufel habe ihn geholt. Diese Stoffe wurden Grundlage eines Volksbuches. Das erste Faustbuch erschien 1587 bei J. Spies in Frankfurt (Main). Mit einer um 1575 niedergeschriebenen Wolfenbüttler Handschrift des Faustbuches geht diese Fassung auf eine gemeinsame, nicht erhaltene Vorlage zurück. Das Spies’sche Faustbuch wurde 1599 in Hamburg neu bearbeitet von G. Widmann, dessen Fassung später (1674) von J. N. Pfitzer gekürzt wurde. Das älteste überlieferte Faust-Drama ist The tragical history of Doctor Faustus (entstanden 1588) von C. Marlowe. Es schließt sich eng an das Spies’sche Faustbuch an. Den Anfang bildet der Faustmonolog, ein nächliches Selbstgespräch des Faust, in dem dieser die einzelnen Universitätswissenschaften, einschließlich der Theologie gegeneinander abwägt, sie alle verwirft und sich der Magie verschreibt. Dieser Faustmonolog wurde ein festes Bauelement fast aller späteren Faustdramen. Faustspiele waren bei den englischen Komödianten in Deutschland (zuerst 1608 in Graz bezeugt) und später den deutschen Wandertruppen beliebt, worauf dann das Puppenspiel vom Doktor Faust, das seit 1746 bezeugt ist, fußt. (Vgl. 16-18 und Goethe).
Johann Wolfgang Goethe (28.08.1749 – 22.03.1832) Faust (Teil I), 1806, S. 27, Faust (II), 1831, S.113ff.
Fürst (zu althochdeutsch furisto, der Vorderste)ist seit dem Mittelalter die Bezeichnung für die höchste Schicht des hohen Adels, die durch ihre besondere Königsnähe an der Herrschaft über das Reich, besonders in seiner territiorialen Gliederung, teilhatte (Reichsadel), v.a. Herzöge und Herzogsgleiche sowie Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte der Reichsabteien. Ihnen stand das Recht der Königswahl zu und die Pflicht, bei Entscheidungen in Reichssachen mitzuwirken. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation konnten zunächst alle freien, dann alle Reichsfürsten den König wählen. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts kristallisierten sich bei der Wahl des Königs immer mehr entscheidende Fürsten heraus. Spätestens aber im 13. Jahrhundert ergab sich aus den Fürsten heraus der engere Kreis der Königswähler, die Kurfürsten, deren Sonderstellung in der Goldenen Bulle von 1356 festgelegt wurde. Weltliche und geistliche Reichsfürsten hatten Sitz und Stimme im Reichstag. Seit dem staufisch-welfischen Thronstreit (1198) mußten die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier sowie der Pfalzgraf bei Rhein (die Rheinpfalz) an einer gültigen Wahl beteiligt sein. Der Sachsenspiegel (1224-1231) zählt 2 weitere Kurfürsten als Vorwähler oder Erstwähler auf: den Herzog von Sachsen und den Markgrafen von Brandenburg. Mit der Doppelwahl von 1527 traten zum ersten mal die 7 Kurfürsten (einschließlich des vom Sachsenspiegel abgelehnten Königs von Böhmen) als alleinige Wähler auf. Bei der Wahl Rudolfs von Habsburg (1273) war das Kurfürstenkollegium (Kurkollegium) ein geschlossener Wahlkörper. Seine Entstehung – vom Sachsenspiegel aus dem Besitz der Erzämter erklärt – war also letztlich ein Ergebnis des Interregnums: eine Verhinderung der erblichen Thronfolge, ein Erwerb von Reichsgut und wichtigen Reichsrechten durch die Kurfürsten. Das Wahlrecht schränkte sich auf 3 geistliche und 4 weltliche Kurfürsten ein, die vom Kandidaten Sonderrechte (Kapitulationen) und politisches Mitspracherecht (Willebriefe) forderten, ein schwaches Königtum wünschten und deshalb die Krondynastie wechselten. Die Kurfürsten wurden häufig zu Gegenspielern des Königtums. Zur Gültigkeit der Wahl mußten mindestens 4 Kurfürsten anwesend sein. Die Mehrheitswahl wurde zuerst im Kurverein von Rhense (1338) für rechtsmäßig erklärt und 1356 in der Goldenen Bulle als Reichsgrundgesetz festgelegt, die auch die Beratung von Reichsangelegenheiten durch die Kurfürsten auf Kurfürstentagen verbriefte. Im 15. Jahrhundert wurde das Kurfürstenkollegium zur 1., vom Reichsfürstenrat getrennten Kurie des Reichstages. Die böhmische Kurwürde ruhte 1519 bis 1708 mit Ausnahme der Beteiligung an der Königswahl; die Kur des geächteten Pfalzgrafen bei Rhein wurde 1623 Bayern übertragen, der Pfalz aber 1648 eine 8. Kurwürde zugestanden. Braunschweig-Lüneburg (Hannover) hatte seit 1692 eine 9. (1708 vom Reichstag bestätigt), nach der Vereinigung Bayerns mit der Kurpfalz 1777 die 8. Kurwürde inne (seit 1778). 1803 wurden die Kurstimmen von Trier und Köln aufgehoben, die Mainzer Kur auf Regensburg-Aschaffenburg übertragen. Neugeschaffen wurden die Kurfürstentümer Salzburg (1805 auf Würzburg übertragen), Württemberg, Baden und Hessen-Kassel. Am Ende des 1. Deutschen Reiches gab es 10 Kurfürsten. (Vgl dazu die entsprechenden Phasen 6-8, 8-10, 10-12, 12-14, 14-16, 16-18, 18-20)
Kurverein von Rhense war der Zusammenschluß der Kurfürsten (ohne Böhmen) am 16.07.1338 in Rhense (Rhens, Rhein-Lahn-Kreis) zur Verteidigung des Reichsrechts und ihrer Kurrechte besonders gegen päpstliche Ansprüche. Die Kurfürsten setzten in einem Rechtsspruch fest, daß der von ihnen oder ihrer Mehrheit zum Römisch-Deutschen König gewählte nicht der päpstlichen Anerkennung bedürfe.
Rationalismus ist der Verstandes- bzw. Vernunftsstandpunkt, die Gesamtheit der philosophischen Richtungen, die irgendwie die Vernunft (lat. ratio), das Denken, den Verstand subjektiv, die Vernünftigkeit, die logische Ordnung der Dinge objektiv in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen. Sowohl die Antike als auch das Abendland durchliefen eine Phase der Rationalisierung, des Rationalismus und der ihm völlig dienenden Aufklärung. Eine Systematisierung erfuhr der eigentliche subjektivistische Rationalismus im 17. und 18. Jahrhundert durch Descartes (1596-1650), Spinoza (1632-1677), Leibniz (1646-1716) und Wolff (1679-1754). Für Rationalismus und Aufklärung gab es nur vorläufige Probleme, nicht aber grundsätzlich unlösbare Probleme. In der abendländischen Phase des Rationalismus entstand der neue Begriff der Wissenschaft, der gleichbedeutend wurde mit dem der Mathematik und der Naturwissenschaften. (). Wissenschaftlich heißt seither: in mathematisch-naturwissenschaftlicher Sprache darstellbar. Ferner entstand der Begriff der wertfreien Wissenschaft, die besagt, daß die Wissenschaft sich nicht darum zu kümmern habe, ob die Gegensätze und namentlich auch die Ergebnisse ihres Forschens ethisch wertvoll oder wertwidrig sind, ob sie Heil oder Unheil in sich tragen. Der Platz für die Metaphysik wurde durch den Rationalismus immer enger. Deshalb rief der Rationalismus auch Gegner auf den Plan. Pascal (1623-1662) und die Empiristen Locke (1632-1704), Hume (1711-1776), Condillac (1715-1780) bekämpften ihn. Kant (1724-1804) hob den Gegensatz von Empirismus und Rationalismus in der höheren Einheit seines Kritizismus auf; Fichte (1762-1814), Schelling (1775-1854), Hegel (1770-1831) kehrten teilweise zu einem objektivistischen Rationalismus zurück. Völlig rationalistisch sollten dann der Positivismus, der historische Materialismus, der Pragmatismus sowie Marxismus, Neupositivismus, Logizismus, Physikalismus werden. (Vgl. dazu die Tafeln 14-16, 16-18, 18-20, 20-22, 22-24).

Fünfter Monotheismus bzw. Henotheismus: die Religion der Mohammedaner (Moslems / Muslime)
Die von Mohammed (um 570 – 632) gestiftete Religion (Islam), die sich als Vollendung der jüdischen und christlichen Religion versteht, ist monotheistisch und kennt nur die unbedingte Ergebung (Kismet) in den Willen Allahs, der als absoluter Herrscher angesehen wird. (Islam = Ergebung [in Gottes Willen]). Die religiösen Glaubenssätze und Pflichten sind genau festgelegt; zu ihnen gehören die „5 Pfeiler“: 1) Glaubensbekenntnis: Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet; 2) Gebet: fünfmal am Tag, kniend auf öffentlichen Anruf hin, in ritueller Reinheit; 3) Almosen geben; fast zu einer geregelten Steuer ausgebildet; 4) Fasten: 30 Tage im Monat Ramadan von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang; 5) Wallfahrt (Hadsch) nach Mekka: mindestens einmal im Leben. Im heiligen Buch des Islam, dem Koran, ist Mohammeds Lehre, die von den Anhängern des Islam als geoffenbarte Wahrheit betrachtet wird, in Suren niedergelegt. Neben dem Koran bildete sich aus mündlichen Überlieferungen über Mohammeds Entscheidungen und Verhaltensweisen in konkreten Fragen und Situationen die Sunna. Die Einschätzung der Wichtigkeit der Sunna neben dem Koran ist das unterscheidende Kennzeichen für die Sunniten (ca. 90% der Moslems) und die Schiiten (ca. 10% der Moslems). Insgesamt gibt es ca. 1,2 Mrd. Moslems. (). Seinen Ausgang nahm der Islam in Mekka, wo die Kaaba, das arabische Nationalheiligtum, unter dem Schutz der Koreischiten stand. Diesem Stamm gehörte Mohammed an; im September 622 (Beginn islamischer Zeitrechnung) mußte er sich dem Zugriff der Koreischiten durch die Auswanderung (Hidschra) nach Medina entziehen. (). Von hier aus verbreitete er seine Lehre, und bald konnte er mit kriegerischen Mitteln Mekka zurückgewinnen und die Kaaba zum äußeren Mittelpunkt des Islam machen. Nach dem Tod Mohammeds breiteten seine Nachfolger (Kalifen) in langen Kämpfen den Islam aus.
Mohammed gehörte zum Stamm der Koreischiten. Diese gaben schon in präislamischen Zeiten den Ton an in dem Umschlags- und Handelsplatz Mekka, wo die verschiedensten Karawanenrouten Arabiens zusammenliefen und die diversen Stammesgottheiten der Halbinsel über ihre Altäre verfügten. „Das Bekenntnis Mohammeds zu Allah, dem einzigen Gott, seine Verfluchung der vielen Götzen, die die Jahrhunderte der »Dschahiliya«, der Unwissenheit, verdüstert hatten, mußten ihn natürlich die Feindschaft all jener Händler von Mekka einbringen, die von der Wallfahrt zum Sanktuarium dieses vielfältigen Aberglaubens, dieses »Schirk«, profitierten und sich daran bereicherten. Von allen Sakralplätzen Mekkas zeichnete Mohammed die heilige Kaaba (Würfel; zentrale Kultstätte des Islam) aus, in deren Wand ein schwarzer Meteorit als Zeichen göttlicher Verheißung eingelassen ist.“ (Peter Scholl-Latour, Das Schwert des Islam – Revolution im Namen Allahs, 1990, S. 38).
Als Mohammed 622 vor seinem Stamm der Koreischiten () aus Mekka bei Nacht fliehen mußte, als er die „Hidschra“ (Auswanderung von Mekka nach Medina, im September 622; Beginn islamischer Zeitrechnung) „nach der Oase Yathrib im Norden antrat, die nach seinem Tode in »Madinat el Nabi«, Stadt des Propheten, auch kurz »Medina«, umbenannt wurde, wiegte er sich noch in der Hoffnung, die zahl- und einflußreichen jüdischen Stämme Arabiens, deren Glaubensgut seine religiöse Offenbarung entscheidend inspiriert hatte, auf seine Seite zu ziehen, ja sie zu seinen Jüngern zu machen. In Yathrib, wo Mohammed sich mit seinen Gefolgsleuten, den »Ansar«, niederließ, wo er nicht nur als Prediger des göttlichen Wortes, sondern vor allem auch als Gesezgeber und Feldherr auftrat, stieß er von Anfang an auf die »Verstocktheit« der dortigen Juden. Er wurde von der Bani Israil mit Spott übergossen und rächte sich schrecklich, indem er sie erschlagen ließ oder aus Arabien vertrieb. Bis zu dieser radikalen Entzweiung mit dem mosaischen Zweig der »Familie des Buches« war er zu manchem Kompromiß bereit gewesen. So war ursprünglich nicht der Freitag, sondern der Samstag, der Sabbat, der geweihte Tag des frühen Islam, und erst nach dem Bruch mit den Hebräern wurde Mekka als obligatorische Gebetsrichtung, als Qibla, fixiert. Bis dahin hatte sich die Gemeinde der »Muhadschirin« nach Jerusalem verneigt. Die heiligen Bräuche von Mekka veranschaulichen die enge Verwandtschaft zwischen Thora und Koran, zwischen Juden und Arabern, diesen verfeindeten semitischen Brudervölkern. Am Anfang steht nämlich Abraham oder Ibrahim, der aus Mesopotamien ins Land Kanaan gezogen war. Das Alte Testament wie übrigens auch die christlichen Evangelien sind integrativer Bestandteil der muslimischen Lehre. Die Offenbarungsschriften der Juden und Christen wurden letztlich, so heißt es bei den Korangelehrten, von deren Interpreten verfälscht. …. An der abrahimitischen Inspiration des Hadsch (Wallfahrt nach Mekka) läßt sich ermessen, mit welch unerbittlicher Rivalität Juden und Muslime ihren Streit um die Gunst des Höchsten austragen. Seit vielen Jahrhunderten setzt sich dieser Erbstreit im Hause Abraham fort. Durch die Schaffung des Staates Israel ist der Anspruch der Juden auf das Gelobte Land, ihre Vorstellung, als das auserwählte Volk Jahwes zu gelten, in deutlicher Weise bekundet und reaktualisiert worden. Dem steht die Heilsbotschaft Mohammeds entgegen, die inbrünstigen Gefühle der Muslime, daß sie die wahre, von Irrtümern gereinigte und endgültige Wahrheit besitzen, wie sie dem »Hanif« (Gottsucher) Ibrahim schon zu Vorzeiten zuteil wurde. Dem auf das Volk Israel in quasi tribalistischer Einschränkung umrissenen Erwähltheitsbegriff der Juden, dem Dreifaltigkeitsglauben der Christen, der den Korangläubigen als eine Spaltung der Einzigkeit Gottes erscheint, setzt der fromme Muslim die Überzeugung entgegen, daß er der perfekten Religion anhängt. Er bekennt, daß dem Islam eine universale Rolle zukommt und daß der Prophet – durch sein exemplarisches Leben als Offenbarungsverkünder, Gesetzgeber und Feldherr – die Einheit von Religion und Staat, ja die Unterwerfung der Politik unter das Sakrale für alle Zeit festgeschrieben hat. …. Das drittgrößte Heiligtum des Islam … ist Jerusalem, und es ließe sich darüber streiten, ob »El Quds«, die Heilige, nicht einen höheren sakralen Stellenwert einnimmt als Medina. …. Der Hadsch illustriert nicht nur die angebliche Überlegenheit des Islam über die frühe Lehre des Judentums, er weist auch auf die Unverzichtbarkeit Jerusalems als Heiligtum des Islam hin. Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint eine Lösung des aktuellen Konfliktes um das Heilige Land kaum vorstellbar. Sie wird zu einer Frage des Jüngsten Gerichts, wie ein renommierter Orientalist es formulierte. …. Immer wieder wird die Frage gestellt, warum die Muslime sich in fremde Kulturen so schwer integrieren lassen. Seitdem das Christentum aufgehört hat, gottesstaatliche Postulate zu formulieren, wie das im Mittelalter der großen Päpste der Fall war, seit die römische Kirche nicht mehr den Anspruch erhebt, allein seligmachend zu sein, haben in Europa die Reformation und die Aufklärung neue Normen der Toleranz gegenüber anderen Glaubensformen gesetzt. Wer den Islam mit dem Christentum vergleichen will, muß auf die beiden Gründerfiguren zurückgreifen, auf Christus und auf Mohammed. Immer wieder betonen die koranischen Schriftgelehrten, die Ulama, die Jesus von Nazareth als einen der großen prophetischen Vorläufer Mohammeds anerkennen, welche grundlegenden Unterschiede zwischen beiden abrahamitischen Religionen existieren. Man vergißt heute zu leicht, daß das Urchristentum kein politisches Konzept bereithielt, sondern sich auf einen nahe bevorstehenden Weltuntergang vorbereitete. Die muslimischen Kenner der christlichen Lehre verweisen auf den Satz Jesu: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Oder auf jenes andere Zitat des Neuen Testaments: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« Auch die Mahnung »Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert unkommen«, wird in diesem Zusammenhang erwähnt. Tatsächlich haben die ersten Christen als Bekenner, als Märtyrer, zwar den Tod in der Arena oder durch die Folterknechte des Römischen Reiches gesucht; das entsprang aber nicht einer grundsätzlichen Ablehnung des alles beherrschenden Cäsarentums, sondern der Weigerung der ersten Anhänger Jesu, den römischen Kaiser als Gott anzuerkennen und ihm zu opfern. Was immer auch heute behauptet werden mag: Die Bergpredigt enthält keinerlei Regierungskonzept, sie zeichnet den christlichen Heilsweg auf. Ganz anders der Prophet Mohammed. Er war im Gegensatz zu Christus nur Mensch, wenn auch der perfekte Mensch. Mohammed war nicht nur der Künder und das Siegel göttlicher Offenbarung, er war ein umfassender Gesetzgeber, und er war Feldherr gegen die Ungläubigen. …. Die persönlichen Konflikte Mohammeds mit den Christen seiner Zeit waren zweitrangig. Eine seiner Frauen war ohnehin Koptin, also Christin, und trug den Namen Maria oder Miriam. …. Seine wirklichen Gegner … waren die Juden …. Der Konflikt, die Rivalität mit dem Judentum, mit dem anderen semitischen Volk, das sich auf die Erbschaft Abrahams beruft, gilt von jeher als eine Existenzfrage des Islam. …. Die wirklich unversöhnliche Feindschaft zwischen Juden und Muselmanen brach erst aus, als der Zionismus unter den europäischen Juden an Boden gewann. …. Eine seltsame Umkehrung hat seitdem stattgefunden. Heute sind es die arabischen Palästinenser, die Nachfahren Ismaels, die in den Flüchtlingslagern eine karge, verbitterte Existenz führen, die in der Rolle des ewigen Wanderers Ahasver (Ewiger Jude) gedrängt wurden, die von der Rückkehr in ihr Gelobtes Land Palästina träumen. …. Nicht Verwestlichung und Modernität, nicht Verweltlichung und Diesseitigkeit hat Israel den arabischen Nachbarn, den abrahamitischen Brüdern und Erbfeinden, überzeugend vor Augen geführt. Die jüdische Staatsgründung hat die muslimischen Rivalen um die Gunst Gottes auf den Weg der eigenen mystischen Rückbesinnung verwiesen. In der unerbittlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden semitischen Völkern, die sich auf Abraham berufen, besitzen die Mohammedaner einen deutlichen Vorsprung. Während die jüdische Offenbarung auf ein auserwähltes Volk begrenzt bleibt und keine umfassende Weltbekehrung zum Monotheismus ins Auge faßt, erhebt die islamische Lehre Mohammeds einen universalen Anspruch. …. Die kriegerische Ausbreitung des Islam, die sich nach dem Tod Mohammeds in Windeseile vollzog und binnen weniger Jahrzehnte ein immenses Territorium zwischen Südspanien und Zentralasien, den »Dar-ul-Islam«, umfaßte, vollzog sich im Zeichen des »Dschihad«. Der Heilige Krieg gehört nicht zu den Grundgeboten, den fünf Säulen des Islam. (). Aber schon Mohammed bewährte sich als Feldherr. Aus den Suren des Koran klingt eine ganze Folge von eindeutigen Appellen an die Gläubigen. Sie sollen auf dem Weg Allahs streiten, sie sollen töten und getötet werden, um der gerechten Sache willen. Dann winken ihnen die himmlischen Gärten des Paradieses. Nicht nur durch Feuer und Schwert, auch durch die Predigt der Schriftgelehrten und die bereitwillige Unterwerfung ungläubiger Völkerschaften unter das Gesetz Allahs hat sich der Islam in aller Welt verbreitet und schreitet weiter fort. …. Vor allem in Afrika ist der Islam weiter im Vormarsch. () …. Bis zum Kongo und bis tief in den Süden Mosambiks sind die islamischen Missionare – meist handelt es sich um Händler, die den Koran predigen – vorgestoßen.“ (Peter Scholl-Latour, Das Schwert des Islam – Revolution im Namen Allahs, 1990, S. 38-59).
Nietzsche zufolge gehört der Islam zu den „ja-sagenden“ Religionen!

Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

Zur Geschichte der Sprache
Die Sprache, die aus der Distanzierung zur Natur hervorgegangen ist und die Kunst bis hin zur Technokratie ermöglicht hat, bietet wiederum die Schwelle an, die von der Kultur zur Natur führt; sie kann also auch als Bremse fungieren, wenn offene Rahmenbedingungen ungeheuerlich werden und Geschlossenheit erzwingen, denn ein offenes System (außerhalb des thermodynamischen Gleichgewichts) gebiert aus Chaos Ordnung. Einzelne Strukturen – wie etwa Lebewesen – bleiben in Raum und Zeit nur so lange stabil, wie sie durch Aufnahme von Energie ihr Fließgleichgewicht aufrechterhalten können. Offene Rahmenbedingungen üben einen starken selektiven Druck auf Lebewesen aus und wirken damit kreativ, während gleichzeitig das Angebot der Vielfalt im Gang ist. So sind Vielfalt und Zufall die 2 Seiten des Universums. Möglichkeit und Zwang sind 2 Varianten eines Phänomens. Sie sind wie das Ei, aus dem Klone oder Zwillinge hervorgehen.

Feuer
– Primäre Sprachkultur des Menschen –
Feuer besitzt ambivalenten Charakter: es ist eine zerstörende und reinigende Größe zugleich und damit evolutionär wie revolutionär enorm entwicklungsfördernd. Der Kult des Feuers – der wärmenden, erhellenden und erhaltenden Kraft (bzw. Energie) – wurde auch später, z.B. mit dem häuslichen Herd-Feuer oder mit dem Stammes- und Staats-Feuer gepflegt. Feuerkulte haben auch den Zweck, den Lauf der Sonne magisch zu beeinflussen; die Sonnenwend-Feuer gehören in diesen Zusammenhang. Ohne den Feuergebrauch wäre der Mensch dem Affendasein verhaftet geblieben. Nicht zufällig entwickelte der Mensch diese Fähigkeit während der Eiszeit. Das Feuer ist – auf progressive und konservativ-traditionelle Weise – ein Übertragungsmittel, d.h. der Projektor oder Motor für Kommunikation und deshalb die erste wirkliche Sprachkultur des Menschen. Erst seit der Mensch das Feuer gebrauchte, gebrauchte er auch eine menschliche Sprache. Feuer ist die rein natürliche (kosmische) Sprache, die menschliche Sprache das rein kulturelle Feuer. Menschliche Sprache gehört natürlich-kulturell zur Sprache aller Lebewesen, rein kulturell jedoch ist sie nat(ion)al erworbene Sprache eines Volkes, und kulturell-natürlich ist sie Metasprache: „Sprache-über-Sprache“ (Sprache höherer Ebene), mit der die Sprache (Objektsprache als Sprache niederer Ebene) beschrieben wird, z.B. auch als Sprachtheorie, im weiteren Sinne aber sogar überhaupt als Theorie (ursprüngliche Bedeutung: Gottesanschauung) oder Theologie, Philosophie, Mathematik, Weltanschauung u.ä..
Altpaläolithikum bedeutet vornehmlich eine Geröllsteinkultur (pebble tools sowie chopper, chopping tool, Faustkeile) mit ersten Nebenprodukten (Kern-Abschläge bzw. faustkeilige Kerngeräte); weiterhin bedeutet es die Entwicklung primären Sprachkulturgutes, d.h. einer Grundausstattung alljeder menschlichen Kultur, die sich in dem ersten Feuergebrauch und damit der rein kulturellen (früh-) menschlichen Sprache, manifestierte. In weiterer Konsequenz mußte eine solche Primärsprachkultur zur Religion () führen. Religiöse Weltanschauungen setzen aber nicht nur eine rein kulturelle Sprache und eine typisch menschliche Sprachentwicklung voraus, sondern auch eine kulturell-natürliche Sprache als Metasprache. Deshalb erreichte die Sprachentwicklung die Stufe der Metasprache sehr wahrscheinlich mit dem Höhepunkt der Hominisierung, also noch im Altpaläolithikum:
Der Frühmensch Homo erectus (der Aufgerichtete) lernte, das Feuer und die Sprache zu benutzen und wurde so zum Kultursymbolträger der Hominisierung. Auch das geschah nicht ohne die verschiedenen Arten der Distanzierung. (). Homo erectus war wohl der erste aus Afrika auswandernde Mensch und nutzte bereits das Feuer. Auch der sogenannte Pekingmensch zählt zur Art Homo erectus (Homo erectus pekinensis). Das steinzeitliche Kultur-Ursymbol () konnte erst durch den erfolgreichen und „weltoffenen“ Homo erectus zu einem ersten Kultursymbol () erweitert werden. Durch den Feuergebrauch, der mit Sicherheit zum Sprachgebrauch führte, war Homo erectus der entscheidende Faktor in der sprachlichen Menschwerdung (Hominisierung). Dieser „aufrechte Mensch“ war die bisher letzte, vielleicht sogar die einzige Menschenart, die 1,86 Mio. Jahre überlebte, denn Homo erectus lebte bis vor 40 000 Jahren. ().
Perioden-Systematik (rechts) bedeutet, daß die jeweils ältere Periode jede jüngere einschließt und daß alle Perioden dennoch auch als eine chronologisch abgegrenzte Folge zu verstehen sind. So ergibt sich eine Evolutionsspirale. Das Periodensystem macht deutlich, daß Menschen ein durch und durch quartäres Wesen sind.
Ohne Eiszeit wären wir wohl auf den Bäumen geblieben. Und ohne Feuer? Ohne Wärme? Ohne Sprache? Schützend?
Die „Enkulturation“ erweiterte das Betätigungsfeld des Menschen über das bloße Überleben hinaus: mittels Sprache, Weltanschauung, Kunst und Wissenschaft schuf sich der Mensch eine geistige Welt, welche seine faktische überlagert. Durch Sprache, die eine 1. Entwicklungsstufe während der Hominisierungsperiode im Altpaläolithikum, dann eine (metasprachliche) 2. Entwicklungsstufe während der Sapientisierungsperiode im Mittel- und Jungpaläolithikum durchlief, und durch Schrift (seit ca. 6000 Jahren) wurde die erworbene Erfahrung unabhängig vom Individuum und der erfahrungserhaltenden Sippe. Der einzelne Mensch kann sich die technisch-kulturellen Errungenschaften der rund 500000 Generationen, von den subhumanen Waldbewohnern zu den aufrechtgehenden Steppenläufern aneignen. Viele dieser Erfahrungen wurden allerdings vergessen:
Der Jetzt-Mensch hat nicht nur einen großen Wissensschatz gewonnen, er ist auch partiell an Naturerfahrung verarmt!

Biologie-Linguistik-Vergleich gemäß Systematik

Biologie Linguistik Beispiel

Individuum Idiolekt Sprechweise des Herrn X aus Osnabrück

Gruppe Soziolekt Politische Korrektheit

Unterrasse Mikrodialekt (Mikromundart) Nordwestfälisch
Rasse Dialekt (Mundart) Westfälisch
Überrasse Makrodialekt (Makromundart) Niederdeutsch
Unterart
Art Hochsprache Deutsch (Hochdeutsch)
Überart
Untergattung Mikrosprachzweig Westgermanisch
Gattung Sprachzweig Germanisch
Übergattung Makrosprachzweig Kentum
Unterfamilie Mikrosprachfamilie
Familie Sprachfamilie Indogermanisch
Überfamilie Makrosprachfamilie Nostratisch (bzw. Eurasiatisch)
Unterordnung Mikrosprachordnung
Ordnung
Überordnung
Unterklasse
Klasse
Überklasse
Unterstamm
Stamm
Überstamm
Unterreich
Reich

Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft

Indogermanen und Indogermanistik

Die Indogermanen standen im Zusammenhang mit der Streitaxt-Kultur der Schnurkeramiker, waren aber nicht deren alleiniger Träger. Aus linguistischer, aber auch aus archäologischer und anthropologischer Sicht dürften Trichterbecherkultur () mit ihren Nachfolgekulturen, darunter die Schnurkeramiker (), ferner die Bandkeramiker () und die Ockergrabkultur () als Indogermanen-Kulturen angesehen werden. Damit ist aber für Europa nur eine Zeitspanne von etwa 4500 bis etwa 1800 erfaßt. Ungeklärt bleibt auch die Herkunft der Glockenbecherkultur (). Um 4500 v. Chr. siedelten die Indogermanen wahrscheinlich zwischen Südskandinavien, Schelde, Rhone, Alpen, Schwarzem Meer und Don, nach Abschluß ihrer Wanderungen um 1800 v. Chr. in ganz Europa, in Anatolien und anderen Teilen Vorderasiens, im Iran und in Indien. (Vgl. Karte). Die entscheidende Aussage über die Herkunft der Indogermanen wird wohl die Linguistik zu geben haben, denn ein Volkstum bestimmt sich in erster Linie nach der Sprache.
Viele Befunde sprechen für ein in Europa gelegenes Ursprungsland der indogermanischen Völker, und es gibt nicht zu unterschätzende Anzeichen dafür, daß Indogermanen kontinuierlich vom späten Jungpaläolithikum über das Mesolithikum bis ins Neolithikum in Europa gesiedelt haben. Danach begannen ihre Wanderungen und mit ihnen die Aufsplitterung des Indogermanischen in Einzeldialekte. Die Indogermanen, deren Sprache rekonstruiert werden kann (), besaßen offenbar kein Wort für „Heimat“, weshalb sie schon vor der Neolithischen Revolution existiert haben müssen – wahrscheinlich seit dem Jungpaläolithikum als nicht-seßhafte Hirten, die den Ort je nach Zustand der Weide wechselten. Im Indogermanischen findet man auch keine Wörter für „Kupfer“, „Bronze“ und „Eisen“, weshalb sich die Indogermanen bereits vor dem Metallikum in Einzelvölker aufgelöst haben dürften – möglicherweise aber auch erst im nicht überall verbreiteten Kupfermetallikum.

– Indogermanen und ihr ausgeprägtes Interesse an Grammatik –
In Indien bestand schon sehr früh eine grammatische Tradition. Auf sie konnte der indische Grammatiker Panini (6. Jh. – 5. Jh.) zurückgreifen, bevor er die Erkenntnisse seiner im einzelnen nicht genau bekannten Vorgänger zusammenfaßte und die Bildung des korrekten Sanskrit lehrte. Im antiken Griechenland, wo erstmalig Vokale in ein Alphabet eingeführt worden waren, entwickelte sich die Sprachforschung mehr im Kontext philosophischer Fragen nach dem Sprachursprung und dem Verhältnis zwischen Form und Bedeutung von Wörtern. Erste grammatische Kategorisierungen wurden von Aristoteles (383-322) im Rahmen von Poetik und Logik vorgenommen. In Alexandria entstanden die ersten griechischen Grammatiken von Apollonios Dyskolos (3. Jh. – 2. Jh.) und Dionysios Thrax (170-90), nach deren Vorbild z.B. Aelius Donatus (3. Jh. – 4. Jh.) und Priscianus (5. Jh. – 6. Jh.) ihre lateinischen Grammatiken gestalteten. Eine besondere Leistung in der Sprachforschung erbrachte die Scholastik mit ihrer Darstellung des Zusammenhangs von Sprache, Logik und Metaphysik in sogenannten „spekulativen“ Grammatiken. Seit der Reformation wuchs die Bedeutung der Volkssprachen und durch die „Entdeckungen“ auch das Interesse an amerikanischen, afrikanischen und asiatischen Sprachen. Die vermehrte Kenntnis von Einzelsprachen führte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bzw. seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer weiteren typisch faustischen Leistung: zur vergleichenden und historischen Sprachwissenschaft:
Sir William Jones (1746-1794), renommierter Orientalist und Richter am Obertribunal zu Kalkutta, hatte eine Sprache erschlossen, „vollendeter als die griechische, reicher als die lateinische, feiner gebildet als beide“ und älter als alle bekannten Sprachen, das Hebräische eingeschlossen, das bis dahin dafür gegolten hatte. Es war das Sanskrit, das kultische und gelehrte Idiom der Brahmanen, in der bis zum heutigen Tage alles geschrieben wird, was Kunst und Wissenschaft betrifft, eine Sprache, die Meisterwerke hervorgebracht hat wie die beiden großen Epen Mahabharata und Ramajana und ein Kleinod wie das Drama Sakuntala. Jones übersetzte nicht nur, ihm fiel auch als erstem eine gewisse Verwandtschaft des Sanskrit mit dem Griechischen, Lateinischen, Germanischen und Keltischen auf. So wurde Jones, der Richter aus dem indischen Kalkutta, zum Mitbegründer der abendländischen Sanskrit-Forschung durch seine Übersetzungen und durch die Ausgabe des „Ritusamhara“ (1792).
Seit 1816, als Franz Bopp (1791-1867) sein Lebenswerk veröffentlichte () und dadurch die vergleichende Sprachwissenschaft begründete, ist klar, daß die indogermanischen Sprachen nur unter Annahme einer gemeinsame Ursprache erklärbar sind. Das Indogermanisch, der Name wurde 1823 von H. J. Klaproth für die 1812 bis 1816 von Franz Bopp entdeckte Sprachfamilie geprägt, umfaßt die äußersten Glieder der Gruppe im Südosten (Ceylon) und Nordwesten (Island). Bezogen auf das Wort „Hundert“ wurden die indogermanische Sprachen unterschieden in eine westliche (Kentum-Sprachen; phonetisch: [k]) und eine östliche Gruppe (Satem-Sprachen; phonetisch [sch]). Weltweite Untersuchungen an Menschen aus den 1970er und 1980er Jahren haben ergeben, daß sprachliche und genetische Merkmale der Indogermanen weitgehend übereinstimmen. Obwohl man andere Möglichkeiten einer indogermanischen Herkunft nicht ganz ausschließen kann, darf als gesichert angenommen werden, daß die Indogermanen zum größten Teil der nordischen Rasse entstammen und deshalb nur ein europäischer Ursprung dieses Volkstums in Betracht kommt:

– Wie man eine Sprache ausgräbt –
(Spracharchäologie/Archäolinguistik)
Im Herbst des Jahres 1812 verließ ein junger Mann namens Franz Bopp (1791-1867) die Stadt Aschaffenburg, um sich, teils mit der Postkutsche, teils zu Fuß, nach Paris zu begeben. Exoriente lux, die Ansicht, daß alles Licht, daß alle Weisheit aus dem Osten komme, lag im Zuge seiner Zeit, die in der Geistesgeschichte die Bezeichnung „Romantik“ trägt. Den göttlichen Ursprung und die wahre Bestimmung der Menschheit suchte man in der Frühzeit der Völker. Man entdeckte das Urphänomen, die Urpflanze, uralte Mythen, Märchen, sprach von Urweisheit und stellte sich ein Urvolk vor, das, in den Weiten des Ostens, die Ursprache gesprochen habe. Aus dem fernen Indien waren Berichte gekommen, die das Feuer fernöstlicher Begeisterung noch stärker aufflammen ließen. Heute weiß man zwar, daß die Indogermanen nicht im fernen Osten ihre Anfänge nahmen, sondern in Europa. (). Jede große Erungenschaft muß ja bekannlich erst einmal den Bogen spannen und weit ausholen, um dann zum Ziel zu gelangen.
1808 erschien in Deutschland die Schrift „Über die Sprache und Weisheit der Inder“ von Friedrich Schlegel (1772-1829). Ihm war es durch einen glücklichen Zufall gelungen, an Originalhandschriften und Übersetzungen der Sanskritliteratur heranzukommen. Was für einen Europäer unendlich schwierig war, es sei denn, man verfügte über gute Beziehungen zu den großen Sammlungen in Paris und London. Auch Schlegel schwärmte vom Sanskrit als von einer Sprache, in der Philosophie und Poesie unzertrennlich verschmolzen, die reich war an Blumenschmuck und Bilderfülle, die Frucht eines „einfachen und seligen Wandels im Lichte der Besonnenheit“. Er sah im Sanskrit ein Sesam-öffne-dich zur Weisheit und zum Wissen des Ostens und prophezeite eine Wirkung auf Europas geistesgeschichte, wie sie nachahltiger und befruchtender nur in der Renaissance bei der Wiederentdeckung antiker Autoren geschehen sei. Der Romantiker Schlegel erkannte also ebenfalls die geheimnisvolle Verwandtschaft zwischen Indien und Europa und entwickelte eine Methode, die Sprachen miteinander zu vergleichen. Doch blieb das alles im Unbestimmbaren, im Nebulosen, die Anregung aber war gegeben, die große Aufgabe gestellt, die Sprache zur Erkenntnisquelle historischer Vorgänge zu machen. Aber wer würde sie erfüllen, wer sich ihr gewachsen zeigen?

Als Franz Bopp auszog, um in Paris das Fürchten zu lernen, denn nichts anderes war das Gefühl des jungen Mannes bei der Übersiedelung aus der Kleinstadt eines Duodezfürsten in die Hauptstadt der Grande Nation, da hatte er im Sinn, seine Kenntnisse in den orientalischen Sprachen zu vertiefen und Sanskrit zu lernen. Die Voraussetzungen waren genauso ungünstig wie die Chancen, daß diese Kenntnisse einmal ihren Mann ernähren würden. Bopp war das 6. Kind eines schlechtbesoldeten Beamten des kurmainzischen Hofes, eines Futter- und Wagenschreibers, was immer das gewesen sein mag, und nur auf das Dürftigste für sein Studium ausgerüstet. Was ihn da drängte und trieb, das trieb und drängte ihn zur Arbeit. Franz Bopp bot in dieser Zeit das Bild des Gelehrten, um den die Welt herum versinken kann, ohne daß er deshalb mit seinem Studien aufhören würde. Paris wurde während seines Aufenthaltes zweimal von deutschen, englischen und russischen Truppen erobert, aber der Studiosus notierte lediglich: „… all dieser wichtigen Vorkommnisse ungeachtet, habe ich diesen Winter für mein Studium nicht verloren. Es lag mir zu sehr am Herzen, als daß ich mich durch die äußeren Vorfälle davon hätte abhalten lassen können“. Eine solche Herkulesarbeit, wie Bopp sie leistete, war auch anders kaum zu bewältigen. So steht er für den oft geschmähten Stubengelehrten, ohne dessen Fleiß aber letztlich alles Geniale sinn- und fruchtlos bleiben muß. Und in diesem besonderen Fall: auch das Geniale eines Friedrich Schlegel.

Am 16. Mai 1816, nach dreieinhalb Jahren währendem Aufenthalt in Paris, erschien von Franz Bopp ein Büchlein, das nicht nur eine Wissenschaft begründete, sondern eine der ganz großen Leistungen ds 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Geisteswissenschaft darstellt. Es trägt den Titel „Über das Konjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache“ () und erregte in Europas Gelehrtenwelt riesiges Aufregen. Was bei Herder Gefühl war, Phantasie, was bei Schlegel von mystischem Dunkel verhüllt, wenn auch genialisch erahnt, das wurde von Bopp durch kühle Analyse zur Erkenntnis verdichtet: aus Schein wurde Wahrheit, aus Glaube Wissenschaft. Bopp hatte durch seine methodische Arbeit Beweis für eine wissenschaftliche Sensation erbracht: daß fast alle wichtigen Kultursprachen Europas nah verwandt sind mit dem Indischen und Persischen in Asien und daß die Verwandtschaft zwischen diesen Sprachen, zu denen noch einige mehr gehören, sich nicht nur im gemeinsamen Wortschatz zeigt, sondern auch in der Grammatik. Und das ist für die Wissenschaft noch viel wichtiger. Was man beim Wortschatz noch einwenden könnte, daß nämlich die eine Sprache sich von der anderen, mangels eigener Begriffe, einige Worte geliehen habe, kann hier nicht zutreffen. Für Bopp ergab sich diese Verwandtschaft, als er darangegangen war, sie miteinander zu vergleichen. Er hatte den Weg zur Rekonstruierbarkeit des Indogermanischen vorbereitet und auch bereits damit begonnen, diese „tote Muttersprache“ vieler eurasischer „Geschwistersprachen“ spracharchäologisch auszugraben. Bopp verbrachte seine letzten Lebensjahre in Berlin und hatte es zum Professor an der Universität gebracht, war ein Freund des Neuhumanismus-Hauptvertreters im Deutschen Idealismus – Wilhelm von Humboldt (1767-1835) -, wurde von Jacob Grimm (1785-1863) verehrt, von den beiden Schlegel-Brüdern beneidet, von der wissenschaftlichen Welt gefeiert. Als er 1867 seine Feder für immer aus der Hand legte, fand man auf seinem Schreibtisch eine angefangene Arbeit, auf deren letzter Seite unter einigen Beispielen über den Schwund des auslautenden s im Gotischen gegenüber althochdeutschen Formen die Bemerkung stand „Man vergleiche …“. Es waren seine letzten geschriebenen Worte und eine Botschaft an seine Schüler:VERGLEICH ALS ANFANG ALLEN ERKENNENS

Das Lebenswerk, das Bopp hinterlassen hat, trägt den Titel
„Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen, Lateinischen, Litthauischen, Gothischen und
Deutschen“ (6 Bände, 1816 bzw. 1833-55). Trotz einiger Korrekturen ist es noch heute vorbildlich. Erst später zeigten sich die Auswirkungen diese neuen Wissenschaft auf andere Disziplinen, wie z.B. Paläontologie, Anthropologie, Archäologie, Vor-/Urgeschichte und Frühgeschichte, Religionsgeschichte, Rechtsgeschichte.

– Indogermanistik –
Die Entwicklung Indogermanisch-Germanisch-Deutsch

– 1. (Germanische) Lautverschiebung –
Innerhalb der indogermanischen Sprachfamilie differenzierte sich das Germanische durch eine Veränderung in den grammatischen Formen aus, z.B. durch die Festlegung der zuvor freien Wortbetonung auf die Anfangssilbe und durch die phonetischen Veränderungen im Konsonantensystem. Diese „Germanische Lautverschiebung“ (auch: „1. Lautverschiebung“) wird auch „Grimmsches Gesetz“ genannt: Sie betrifft im wesentlichen die indogermanischen Verschlußlaute und 3 unabhängig voneinander ablaufende Vorgänge. Die stimmlosen Verschlußlaute p, t, k werden zu den stimmlosen Reibelauten f, th, ch und die stimmhaften Verschlußlaute b, d, g zu den stimmlosen Verschlußlauten p, t, k verschoben. Die aspirierten Verschlußlaute bh, dh, gh werden zu stimmhaften Reibelauten und bald darauf weiter zu den stimmhaften Verschlußlauten b, d, g verschoben. Die 1. Lautverschiebung muß beim intensiveren Sprachaustausch zwischen Germanen und Römern bereits abgeschlossen gewesen sein, weil kein lateinisches Lehnwort im Germanischen von ihr betroffen wurde: aus „camera“ (lat.) wurde „Kammer“ (dt.) und nicht *„chamer“. Vermutlich vollzog sich die 1. Lautverschiebung von Süden nach Norden vom 2. Jh. v. Chr. bis zum 5. / 6. Jh. n. Chr.; und mit dem Ende der „Germanischen Wanderungen“ ging die germanische Sprachentwicklung in den entsprechenden Gebieten in Richtung „Deutsch“.

– 2. (Hochdeutsche) Lautverschiebung –

Aus dem Germanischen differenzierte sich das Althochdeutsche durch die „Hochdeutsche Lautverschiebung“ bzw. „2. Lautverschiebung“ genannt wird, heraus; im Unterschied zu den bedingungslosen Vorgängen der 1. Lautverschiebung geschah dies jedoch positionsabhängig: die stimmlosen Verschlußlaute p, t, k werden im gesamten hochdeutschen Gebiet nach Vokalen zu stimmlosen Doppelaspiranten zz, ff, hh verschoben, die aber überwiegend wieder vereinfacht werden, z.B. wird aus (altsächs.) „latan“, „skip“, „makon“ > (ahd.) „lazzan“,“ shif“ „mahhon“. Im Anlaut, im In und Auslaut nach Konsonant sowie in der Gemination (Konsonanten-Verdoppelung) werden p, t, k mit unterschiedkicher regionaler Ausbreitung nur bis zur Affrikata tz, pf, kh (=ch) verschoben: (altsächs.) „herta“, „penning“, „korn“ > (ahd.) „herza“, „pfenning“, „khorn“. Die aus der 1. Lautverschiebung hervorgegengen stimmhaften Verschlußlaute b, d, g werden mit unterschiedlicher Reichweite oberdeutsch, insbesondere bairisch, zu p, t, k: (altsächs) „beran“, „bindan“, „giban“ > (oberdt.) „peran“, „pintan“, „këpan“. Verschobene Formen sind auch in Namensüberlieferungen seit dem 5. bzw. 6. Jh. bezeugt (z.B. „Attila“ > „Etzel“). Da sich die 2. Lautverschiebung bei Baiern, Langobarden und Alemannen am konsequentesten durchgesetzt hat und sich aber nach Norden bis zur „Benrather Linie“, der hochdeutsch-niederdeutschen Grenze, immer mehr abschwächte, kann der Süden als Ursprungszentrum gelten. (Vgl. AHD).

Franz Bopp selbst wurde leider darüber allmählich vergessen. Auch gehört er zu jenen Männern, die weder zu Lebzeiten noch später einen Propagandisten fanden.
Franz Bopp ist zu verdanken, daß man der Erforschung unserer Urahnen näher kam und viele Forscher nach ihm vielleicht gar nicht oder später erst zu Ruhm gekommen wären. Bopp fand die „tote Muttersprache“ über den Weg des historischen Vergleichens ihrer „Tochtersprachen“, denn wenn Sprachen miteinander verwandt sind wie Geschwister, dann haben sie auch eine Mutter: wenn aber die Grundsprache der Tochtersprachen Griechisch, Germanisch, Keltisch, Italisch (u.a. Lateinisch, später: Romanisch), Hethitisch, Illyrisch, Indisch (u.a Sanskrit, Vedisch, Hindi, Urdu, Bengali, Maratki, Assamisch), Iranisch (u.a. Awestisch, Persich, Kurdisch, Afghanisch), Armenisch, Albanisch, Baltisch, Tocharisch, Slawisch u.a. nicht mehr existierte und sich auf keinem Pergament, keiner noch so alten Urkunde, auf keinem Grabstein, keiner Gedenktafel und anderen Relikten finden ließ, mußte die Linguistik die „tote Muttersprache“, gleichsam künstlich wie in einer Retorte, neu schaffen. Seit Bopps Zeiten, d.h. seit der Romantik sind die Linguisten dabei, das Indogermanische über diesen Weg zu rekonstruieren. So wie die Archäologen seit Johann Joachim Winckelmann (1717-1768), d.h. seit Begründung der klassischen Archäologie und dem frühesten Beginn des Klassizismus, sich Schicht für Schicht in die Vergangenheit hinabgraben, „gruben“ sich die Sprachwissenschaftler zurück zu den Ursprüngen bzw. zu den ältesten Wortformen und den kleinsten bedeutungsunterscheidenden Lautformen, den Phonemen. Über die Lautgesetze fanden sie ihr Troja, ihr Mykenae, ihr Knossos.

– Germanistik –

Die Wissenschaft von der geschichtlichen Entwicklung der deutschen Sprache und Literatur nennt man Germanistik – meist im gleichen Sinne wie deutsche Philologie, gelegentlich auch wie germanistische Philologie gebraucht, oft auch die germanistische Altertumskunde selbst umfassend. Die Germanistik hat natürlich selbst auch eine Geschichte:

Ansätze zu einer Germanistik brachte schon der Humanismus hervor – aus Interesse an frühmittelalterlichen Textzeugnissen und Sprachformen, auch für die Grammatik der deutschen Sprache -, aber es waren insbesondere die deutschen Sprachgesellschaften, die die Sprachkunde und Textforschung förderten. (Althochdeutsche Textausgaben). Bedeutend hierfür war v.a. der Grammatiker und Schriftsteleller J. Georg Schottel (1612-1676) aus Einbeck mit seiner „Ausführlichen Arbeit von der Teutschen Haubtsprache“ (1663). Er untersuchte die Etymologie der deutschen Wörter, bekämpfte das Fremdwörterunwesen und plante zur Festigung und Reinerhaltung der deutschen Sprache eine normative Grammatik und ein allgemeines Wörterbuch.

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts richtete sich das Augenmerk von der Frühzeit auf die Literatur des Hochmittelalters, deren Geschichte ebenfalls zu interessieren begann (J. G. Herder). Um Grammatik und Wortschatz bemühten sich F. G. Fulda und J. C. Adelung (1732-1806). Die Romantik griff v.a. die Ansätze Herders auf, aber auch andere Grundlagen, z.B. die W. von Humboldts. Die literarischen Zeugnisse des Mittelalters wurden als Zeugnisse des Wirkens eines Volksgeistes gesammelt (A. von Arnim und C. Brentano), übersetzt (Tieck), aufbereitet (A. W. und F. Schlegel, F. Bouterwek, L. Uhland). editiert (F. H. von der Hagen). Ihr geistiges und methodisches Fundament erhielten diese Versuche jedoch erst durch die Forscherpersönlichkeiten J. und W. Grimm und K. Lachmann, an deren Ruhm Franz Bopp nicht ganz unschuldig war. Ein Markstein in der germanischen Sprachwissenschaft ist die „Deutsche Grammatik“ (1819) von Jacob Grimm, in der er durch die Entdeckung der Ablautgesetze die deutsche Sprache in gesetzesmäßige Verbindung mit der germanischen und indogermanischen Sprachentwicklung brachte, ebenso die Konzeption für die „Geschichte der deutschen Sprache“ (1847 ff.) bzw. das „Deutsche Wörterbuch“ der Brüder Grimm (1854 ff.). Als Wilhelm Grimm 1847 seinen Plan zu einem deutschen Wörterbuch vortrug, war das also nicht die Geburtsstunde der Germanistik, aber einer ihrer Höhepunkte. Wilhelm und Jacob Grimm hatten 1847 – ein Jahr vor der Revolution – eine Arbeit aufgenommen, die erst 1960 abgeschlossen werden sollte. (Vgl. Spät-NHD). Denn in dem Maße, in dem die gründliche und geduldige Bestandsaufnahme der deutschen Wörter geleistet wurde, wuchs die Masse der Sprache selbst. Die erbrachten Grundlagen wichen immer präziseren Methoden.

Zu verstehen ist die Beschäftigung mit der Historie der deutschen Sprache, mit den „alten Teutschen“, den Germanen nur aus einer allgemeinen Geschichtsgläubigkeit, die dem heutigen Menschen nahezu völlig verlorengegangen ist; aber was heute als bizarre Ansammlung von Relikten ewig langer Zeiten erscheint, bot besonders in der Romantik eine Fülle von Material für das Selbstverständnis, und es erschien unerläßlich für das Verständnis der Gegenwart, ein Bild der Vorfahren, ihres Denkens und Fühlens, zu bekommen. Geschichte gilt heute als eine unter vielen Möglichkeiten, den Menschen zu verstehen, damals offenbarte sie einen Hauch des Weltgeistes und schien zu zeigen, wie der Geist allmählich „zum Bewußtseyn und zum Wollen der Wahrheit kommt ….“ (Hegel).

Also erforschte man die Vorfahren, und daß die Vorfahren der Deutschen eben jene Germanen gewesen seien, von denen die antiken Autoren berichtet hatten, blieb bis weit ins 19. Jh. eine von niemanden angezweifelte Tatsache. Diese Entwicklung setzte sich im Historismus fort und erfuhr erst ab 1917/18 eine Krise, in der Bewegungen veschiedener Neuorientierungen entstanden, aber eben auch sie bekämpfende Gegenbewegungen. (). Diese Krise wurde eigentlich erst seit etwa 1960 beigelegt, als die Arbeit am „Deutschen Wörterbuch“, die die Brüder Grimm 113 Jahre vorher begonnen hatten, abgeschlossen werden konnte. Selbst wenn wir etwas anderes anstrebten, sind wir durch den heutigen Globalismus mehr denn je dazu veranlaßt, neben den historischen auch viele andere Methoden zu berücksichtigen, um den „wahren“ Aussagen oder den Aussagen als „Waren“ näher kommen zu können. (Vgl. Cäsaren-Mediokratie; ).

Die Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bzw. seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts Disziplin oder Forschungsrichtung innerhalb der Sprachwissenschaft, beschäftigt sich seitdem mit der Rekonstruktion von Einzelsprachen, indem sie Ursprung, Entwicklungsgeschichte und Verwandtschaftsbeziehungen von Einzelsprachen mit der Methode des Vergleichs untersucht. Komparative Methode bedeutet, daß durch den Vergleich bestimmter Phänomene in mehreren verwandten (oder als verwandt vermuteten) Sprachen Formen früherer Sprachzustände aufgedeckt oder auch ausgeschlossen werden können und eine gemeinsame Ursprache rekonstruiert oder auch ausgeschlossen werden kann. Neben der materialbezogenen Historisch-Vergleichenden Sprachwissenschaft, die besonders durch die Entdeckung der Verwandtschaft des Sanskrit mit den indogermanischen Sprachen ausgelöst und begründet wurde und Methoden zum Nachweis „sprachgenetischer“ Verwandtschaft ausarbeitete, erzielte auch die allgemeine Sprachwissenschaft, besonders seit Wilhelm von Humboldt (1767-1835), größte Wirkung. Gerade Humboldts Unterscheidung von „Energeia“ (Sprache als „Tätigkeit“ oder „wirkende Kraft“) und „Ergon“ (Sprache als Produkt einer abgeschlossenen Tätigkeit oder „statisches Werk“) sowie von äußereren und innereren Sprachformen überhaupt und seine These von der Verknüpfung der Sprache mit Kultur, Mentalität und Weltsicht eines Volkes (Hypothese von der sprachlich vermittelten Welt[an]sicht), wurden später von vielen Sprachwissenschaftlern übernommen, wirkten sich in unterschiedliche Weise auf spätere Sprachtheorien aus.

– Die Junggrammatiker (Leipziger Schule) –
Durch die sogenannten „Junggrammatiker“ (auch: „Leipziger Schule“) wurde die historische Betrachtung von Sprache zum primären, fast ausschließlichen Untersuchungsziel sprachwissenschaftlicher Forschung. Die Junggrammatiker waren eine in den 1870er Jahren in Leipzig entstandene Gruppe von Sprachwissenschaftlern, deren positivistische Sprachauffassung sich gegen die metaphysischen und biologistischen Sprachauffassungen der vorausgehenden Phase () richtete. Vertreter dieser Richtung waren vielen z.B. Berthold Delbrück (1842-1922), Karl Verner (1846-1896), Karl Brugmann (1849-1919) und viele andere. Als Beginn der junggrammatischen Schulke gelten die Erscheinungsdaten von Verners Erklärungen scheinbarer Ausnahmen der ersten Lautverschiebung (1877: „Vernersches Gesetz“). Die Arbeiten der Junggrammatiker lassen sich (soweit sie die allgemeine Sprachwissenschaft betreffen) durch folgende Aspekte charakterisieren: (1) Untersuchungsgegenstand des Sprachwissenschaftlers ist nicht das Sprachsystem, sondern die im einzelnen Individuum lokalisierte und somit unmittelbar beobachtbare Sprache (vgl. „Idiolekt“), die als eine sowohl psychische als auch physische Tätigkeit angesehen wird. (2) Autonomie der Lautebene: Gemäß dem Postulat der Beobachtbarkeit des Materials (anstelle von Abstraktionen) gilt die Lautebene als wichtigste Beschreibungsebene, wobei zugleich eine absolute Autonomie der Lautebene gegenüber Semantik und Syntax angenommen wird. (3) Historismus; Hauptziel sprachwissenschaftlicher Untersuchung ist die Beschreibung des geschichtlichen Wandels der Sprache. Dieses fast ausschließliche Interesse an der diachronischen Entwicklung von Sprache dokumentiert sich in der großen Zahl von historisch vergleichenden Kompendien, die sich durch Faktenfülle ebenso auszeichnen wie durch die Exaktheit ihrer Rekonstruktionsmethoden. (4) Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze; Dieses am Vorbild der Naturwissenschaften orientierte, vielfach umstrittene Postulat gründet sich nicht auf empirische Befunde, sondern ist ein wissenschaftstheoretisches Apriori, das die Gleichartigkeit geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden sichern soll. (5) Analogie: Wo diese Prämisse der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze scheinbar versagt, wird Analogie als Erklärungshilfe angesetzt; d.h. Ausnahmen werden als (reguläre) Anpassung an verwandte Formen verstanden.
Methoden und Ziele der junggrammatischen Sprachbetrachtung sind – trotz ihres starken Nachwirkens – kritisiert worden; diese Kritik richtete sich vor allem gegen folgende Punkte: die Reduktion des Untersuchungsgegenstandes auf Idiolekte; die Beschränkung auf Beschreibung von Oberflächenphänomenen (Lautebene); die Vernachlässigung der gegenwärtigen Sprache bzw. die Überbewertung der historischen Sprache (vgl. auch: Historismus-Kritik); die Beschreibung atomistischer Einzelvorgänge statt systemhafter Zusammenhänge.

– Der Strukturalismus (Genfer Schule) –
Der Strukturalismus entstand als Reaktion gegen die von den Junggrammatikern vertretene positivistisch-atomistische sprachwissenschaftliche Betrachtung in Bezug auf Ferdinand de Saussure (1857-1913) und seinem postum veröffentlichten „Cours de linquistique générale“ (1916). Saussure war ab 1896 in Genf Professor für vergleichende und historische indogermanische Sprachwissenschaft (inklusive Sanskrit). Seine Genfer Vorlesungen von die neue Ära der Sprachwissenschaft ein, und zwar an dem Tag, als er zeigte, daß sich die Vorgänge der Sprache nicht nur auf deren Geschichte – auf die Diachronie – zurückführen lassen, daß also z.B. die Geschichte eines Wortes nicht immer auch etwas über seine heutige Bedeutung aussagt. Der Grund dafür sei, daß es über die Geschichte hinaus das „System“ (Saussure nannte es nicht Struktur) gebe und daß ein solches System im wesentlichen aus Gleichgewichtsgesetzem bestehe, die auf seine Elemente zurückwirken und zu jeder Zeit der Geschichte von der Synchronie abhängen. Weil nämlich die Grundbeziehung in der Sprache eine Entsprechung zwischen dem Zeichen und dem Sinn sei, bilde die Gesamtheit der Bedeutungen ganz natürlich ein System auf der Grundlage von Unterscheidungen und Gegensätzen (denn diese Bedeutungen bedingen einander) und ein synchrones System (den diese Beziehungen sind interdependent). Saussure definierte den Gegenstandsbereich der Linguistik also mittels Gegensatzpaaren (Dichotomien): Sprache soll nicht mehr als Ergebnis historischer (diachroner) Entwicklung gesehen werden, sondern als Zusammenwirken gleichzeitiger (synchroner) Einheiten. Daß dieser der Historismus-Kritik entsprungenene Strukturalismus grundsätzlich synchronisch ist, also im Gegensatz zum diachronischen Standpunkt (vgl. Historisch-Vergleichende Grammatik: Bopp und Anhänger, vor allem aber die Junggrammatiker und Anhänger) und auch zur später dominant werdenden Transformationsgrammatik der „Nativisten“ (Chomsky und Anhänger) steht, hängt mit drei Gründen zusammen, u.a. mit der eben erwähnten relativen unabhängigkeit der Gleichgewichtsgesetze bezüglich der Entwicklungsgesetze, dem Willen zur Befreiung von „linguistik-feindlichen“ Elementen, mit der Willkürlichkeit (Arbitrarität) des sprachlichen Zeichens. Saussure bezog die Arbitrarität auf das Verhältnis von sprachlichen Lautbild („image acoustique“) und seiner Vorstellung („concept“) und belegte die Beliebigkeit dieser Verbindung durch die Tatsache, das dasselbe Objekt der Realität von Sprache zu Sprache verschieden benannt wird. Arbitrarität bedeutet jedoch nicht, daß der einzelen Sprecher nach freier wahl bei der Konstruktion sprachlicher Ausdrücke verfahren kann, denn: unter dem Aspekt von Spracherwerb und Kommunikation erfährt der Sprecher den Zusammenhang zwischen zeichen und Bedeutung als eine gewohnheitsmäßige, obligate Verbindung.
Folgende Grundannahmen Saussures gelten als konstitutiv für strukturalistische Sprachanalysen: (1) Sprache kann unter drei verschiedenen Aspekten betrachtet werden; (a) als „Langue“ (= im Gehirn aller Sprecher einer bestimmten Sprache gespeichertes System), (b) als „Parole“ (= aktuelle Sprechtätigkeit in konkreten Situationen) und (c) als „Faculté de langage“ (= generelle Fähigkeit zum Erwerb und Gebrauch der Sprache), wobei „langue“ und „Parole“ sich bedingen. Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft ist die „langue“, die aber ihrerseits nur über eine Analyse der Äußerunegn der „Parole“ beschrieben werden kann. (2) Sprache im Sinne von „Langue“ wird als ein System von Zeichen aufgefaßt. Jedes Zeichen besteht aus der Zuordnung von zwei (sich gegenseitig bedingenden) Aspekten, dem konkret materiellen Zeichenkörper (z. B. seiner akustischer Lautgestalt), sowie einem begrifflichen Konzept. (Vgl. hierzu: „Bezeichnendes vs. Bezeichnetes“). Die Zuordnung dieser beiden Aspekte zueinander ist „willkürlich“ (arbiträr), d. h. sie ist sprachspezifisch verschieden und beruht auf Konvention. (3) Diese sprachlichen Zeichen bilden ein System von Werten, die zueinander in Opposition stehen. Jedes Zeichen ist definiert durch seine Beziehung zu allen anderen Zeichen desselben Systems. Durch dieses Prinzip des „Kontrasts“ ist das grundlegende strukturalistische Konzept des „distinktiven Prinzips“ charakterisiert. (4) Diese Elernent-Relationen lassen sich auf zwei Ebenen analysieren; einmal auf der syntagmatischen, d. h. linearen Ebene des Miteinandervo kommens, zum anderen auf der paradigmatischen Ebene der Austauschbarkeit von Elementen in bestimmter Position. (Vgl. hierzu: „paradigmatische vs. syntagmatische“ Beziehung. (5) Da Sprache als Zeichensystem aufgefaßt wird, muß ihre Analyse unter streng synchronem Aspekt, d. h. als Beschreibung eines zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Zustandes betrieben werden. (Vgl. hierzu „Synchronie vs. Diachronie“). (6) Sprachanalyse beruht auf einem repräsentativen Corpus, dessen Regularitäten durch die beiden Analyseschritte der Segmentierung und Klassifizierung bestimmt werden, wobei die Segmentierung der syntagmatischen, die Klassifizierung dre paradigmatischen Ebene zuzuordnen ist. Hier geht es also um die „Distribution“ (die Gesamtheit der Umgebungen, in denen ein sprachliches Element im Verhältnis zu den Umgebungen aller anderen Elemente in einem übergeordneten Sprachbaustein vorkommen kann) und das Ziel, möglichst „Minimalpaare“ (zwei Ausdrücke einer Sprache mit verschiedener Bedeutung, die sich nur durch eine Form unterscheiden, z.B. deutsch: Kopf vs. Topf durch nur ein Phonem).
Während der Strukturalismus im engeren Sinne sich auf die von Sausures System-Gedanken ausgehenden sprachwissenschaftlichen Richtungen bezieht, verwendet man Strukturalismus im weiteren Sinne als Gesamtbezeichnung für anthropologische, ethnologische, sozialwissenschaftliche, geisteswissenschaftliche literatur-theoretische und psychologische Forschungen, die – in Analogie zum Strukturalismus der Sprachwissenschaft – anstatt genetisch von historischen Vorausetzungen auszugehen, sich auf synchrone Zustandsanalysen konzentrieren, um den Nachweis universeller, unter der Oberfläche sozialer Beziehungen wirksamer Strukturen zu führen. (Vgl. „Linguistische Wende“).

– Der Nativismus (Chomsky-Schule) –
Die Ära des linguistischen Strukturalismus wechselte allmählich, ausgelöst durch die 1957 erschienenen „Syntactic Structures“ des US-Amerikaners Noam Chomsky (*07.12.1928), in eine Ära des linguistischen Nativismus (Generative Transformationsgrammatik, GTG). Wissenschaftsgeschichtleich steht Chomsky in der Tradition des Rationalismus – besonders in der Tradition der Rationalisten Gottfried Wilhem Leibniz (1646-1716) und René Descartes (1596-1650) – und des Neuhumanismus-Hauptvertreters im Deutschen Idealismus und Sprachforschers Wilhelm von Humboldt (1767-1835). Chomsky war zunächst Schüler des Strukturalisten Z. S. Harris und stellte 1957 seine „Generative Grammatik“ in seinen „Syntactic Structures“ dar, die er 1965 erweiterte und revidierte mit dem Werk „Aspects of the Theory of Syntax“ (= „ST“ ). Generative Transformationsgrammatik bedeutet die Verfolgung des Ziels, eine formalisierte Beschreibung der Sprache zu geben, in die auch Einsichten der mathematischen Logik und überhaupt des Rationalismus einfließen. Chomsky und seine Anhänger wollen erklären, auf welche Weise es dem Menschen möglich ist, mit einer endlichen Menge von Regeln eine unendliche Menge von Sätzen zu produzieren und zu verstehen. Generativ leitet sich hier also aus dem zentralen Anliegen dieser Grammatiktheorie ab, die Fähigkeit zum Erzeugen von Sätzen zu erklären. (). Mit dem Ausbau des Konzepts der „angeborenen Ideen“ wendet sich Chomsky gegen die behavioristische Sprachauffassung (wie z.B. bei Skinner). Chomsky erweiterte seine Grammatiktheorie zu einer Theorie des Spracherwerbs, indem er die Entwicklung der Kompetenz durch einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus auf der Basis von grammatischen Universalien erklärte. Eine endliche Menge von Kernsätzen, die durch kontextfreie Phrasenstrukturregeln erzeugt werden, bilden die Basis für die Anwendung von Transformationsregeln, die einen prinzipiell unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln gewährleisten. (). Nach Chomsky ist die Sprachkompetenz ein dynamisches Konzept – ein Erzeugungsmechanismus – zur unendlichen Produktion von Sprache. Im Anknüpfung an die Sprachauffassung des Rationalisten Leibniz und des neuhumanistisch-idealistischen Sprachforschers Humboldt postulierte Chomsky einen spezifisch menschlichen Spracherwerbsmechanismus zur Erklärung des Phänomens, daß Kinder, obwohl die sprachlichen Äußerungen ihrer Umwelt nur einen defizitären und unvollständigen Input darstellen, die syntaktischen Regeln ihrer Muttersprache in relativ kurzer Zeit beherrschen und eine fast unbegrenzte Menge grammatischer Ausdrücke verstehen und erzeugen können. Nach der rationalistisch-idealistischen Theorie ist jedes Kind mit einem angeborenen Schema für zulässige Grammatiken ausgestattet (vgl. „Universalien“) und mit einem System an kognitiven Prozeduren zur Entwicklung und Überprüfung von Hypothesen über den Input. So formuliert das Kind Hypothesen über die grammatische Struktur der gehörten Sprache, leitet Voraussagen über sie ab und überprüft die Voraussagen an neuen Sprachbausteinen. Es elimiert diejenigen, die der Evidenz widersprechen und validiert diejenigen, die nicht durch Einfachheitskriterium eliminiert würden. Dieser Mechanismus wird mit dem ersten Input in Gang gesetzt. (Vgl. Tabelle). Das Kind leistet somit eine Theoriebildung, die derjenigen eines Linguisten vergleichbar ist, der eine deskriptiv und explanativ adäquate Theorie einer Sprache konstruiert. Der Nativismus ist also eine philosophisch-psychologische Position, die die kognitive Entwicklung des Menschen primär aus der Existenz von „angeborenen Ideen“ ableitet. Es ist tatsächlich auffallend, mit welcher Schnelligkeit ein Kind die Grammatik der Elternsprache, trotz ihrer Komplexität, beherrschen lernt. Das Mißverhältnis zwischen Input und Output und die Gleichförmigkeit der Ergebnisse in allen Sprachen lassen ebenfalls vermuten, daß hier nicht der „Drill“ (vgl. Konditionierung) am Werk war. Außerdem verläuft der Prozeß des Spracherwerbs relativ unabhängig von der individuellen Intelligenz. Grammatische Universalien sind Eigenschaften (bzw. Hypothesen über solche Eigenschaften), die allen menschlichen Sprachen gemeinsam sind. Sie existieren aus biologischer Notwendigkeit und sind das Ergebnis empirischer Generalisierungen von Beobachtungen der sogenannten „Oberflächenstruktur“ von möglichst vielen und verschiedenen Sprachen. Beispielsweise besitzt jede Sprache Vokale oder universell geltende Implikationen, die sich auf die Relation zwischen zwei Eigenschaften beziehen: wenn z.B. eine Sprache in ihrem Numerussystem über einen Dualis verfügt, dann verfügt sie mit Sicherheit auch über einen Plural (diese Regel gilt aber nicht umgekehrt!). In Chomskys Modell einer Generativen Transformationsgrammatik sind Universalien die Basis des angeborenen Spracherwerbsmechanismus, aufgrund dessen ein Kind in der Lage ist, in relativ kurzer Zeit eine komplexe Grammatik zu erlernen. (). Chomsky unterscheidet (Aspekte der Syntaxtheorie, 1965), zwischen substantiellen Universalien, z.B. in der Phonologie das Inventar der phonetisch definierten distinktiven Merkmale, aus dem jede Sprache eine charakteristische Auswahl trifft, und formalen Universalien, d.h. Aussagen über Form und Beschränkungen von Regeln. So postuliert er für jede Grammatik Phrasenstrukturregeln und eine Transformationskomponente. Die substantiellen und formalen Universalien – beide werden auch universale Beschränkungen genannt – sind wiederum von den Universalien der Funktion zu unterscheiden, worunter Anwendungsbeschränkungen von grammatischen Regeln verstanden werden, z.B. das A-über-A-Prinzip: Wenn sich eine Transformation auf einem Knoten A bezieht, der einen Knoten A‘ dominiert, dann darf die Transformation nur über dem dominierenden Knoten A operieren; sie muß sich auf die maximale Phrase beziehen. Beispielsweise kann in der Phrase „Der Wunsch der Prinzessin“ keine Transformation allein über dem eingebetteten Genitivattribut („der Prinzessin“) operieren. (Vgl. auch: Strukturbaum). Die (Generative) Transformationsgrammatik ist die von Chomsky am Englischen entwickelte Theorie, deren Ziel es ist, durch ein axiomatisches System von expliziten Regeln das implizite Wissen von Sprache, das dem aktuellen Sprachgebrauch zugrunde liegt, abzubilden. Chomskys Modell bezieht sich auf vom kompetenten Sprecher bewertete Daten, auf die sprachlichen Intuitionen, die ein kompetenter Sprecher bezüglich seiner Sprache explizieren kann. Das Konzept der angeborenen Ideen steht im Gegensatz zu den behavioristischen Sprachauffassungen. Chomskys Theorie zum Spracherwerb besagt, daß die Entwicklung der Kompetenz durch einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus auf der Basis von grammatischen Universalien erfolgt. Dabei hat die Theorie Vorrang vor der Datenanalyse; die Transformationsgrammatik geht also deduktiv vor: sie stellt nämlich Hypothesen über den sprachlichen Erzeugungsmechanismus auf, und zwar unter besonderer Berücksichtigung des „kreativen“ Aspekts des Sprachvermögens. Eine endliche Menge von Kernsätzen, die durch Phrasenstrukturregeln erzeugt werden, bilden die Basis für die Anwendung von Transformationsregeln, die einen prinzipiell unendlichen Gebrauch von endlichen Mengen gewährleisten. Die Grammatik – im Sinne einer umfassenden Sprachtheorie – besteht aus einer generativen syntaktischen Komponente sowie den interpretativen semantischen und phonologischen Komponenten. Basis der Syntax ist die durch kontextfreie Phrasenstrukturregeln und Lexikonregeln erzeugte Tiefenstruktur, die als abstrakte, zu Grunde liegende Strukturebene alle semantisch relevanten Informationen enthält und die Ausgangsebene für die semantische Interpretation von Sätzen und anderen Sprachbausteinen ist. (). Durch bedeutungsneutrale Transformationen wie Tilgung, Umstellung u.a. werden die entsprechenden Oberflächenstrukturen erzeugt, die die Basis für die phonologisch-phonetische Repräsentation bilden.

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Anmerkungen:
„Survival of the fittest“ ist nach Darwin (1809-1882) die Anpassung in der Natur, die aber an der Schwelle zur hominoiden Kultur in eine Distanzierungsart umschlägt, weil nicht mehr allein die körperlichen („angepaßten“) Waffen entscheidend sind, sondern die außerkörperlichen, die vorgefundenen und später modifizierten Gegenstände als Waffen und Werkzeuge dienstbar gemacht werden. Innerhalb einer solchen „Distanzgruppe“ (Menschenaffen und Menschen) ist deshalb die Anpassungsart nicht verschwunden („survival of the attractives“: attraktive Gesichter, Mode u.s.w.). Anpassung und Distanz sind immer schon – latent oder offen – 2 Seiten einer Medaille (Jäger/Gejagte). Der Unterschied liegt zwischen körperlicher und außerkörperlicher Art, zwischen Natur und Kultur, zwischen Schicksal und Technik, zwischen Müssen und Können, zwischen Indikativ und Konjunktiv, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen Zwang und Vielfalt.
Homo sapiens hat bisher etwa 230 000 (maximal 300 000) Jahre hinter sich. Er kann den von Homo erctus aufgestellten Rekord von 1,86 Mio. Jahren nur brechen, wenn er (d.h seine Nachfolger-Unterart Homo sapiens sapiens) sich auf den Weg ins Weltall begibt. Homo erectus hatte schon die „Alte Welt“ besiedelt, Homo sapiens besiedelte auch die „Neue Welt“ (Amerika und Australien) und schließlich die ganze Erde, also auch Nord- und Südpol. Jetzt bleibt ihm nur noch die Besiedlung der Orte im Weltraum.
Panini (6. Jh. – 5. Jh.) stammte wahrscheinlich aus Nordwest-Indien; er faßte in den 3996 kurzen Regeln (Sutra) seiner „Aschthadhjaji“ (Buch in 8 Abschnitten) die Erkenntnisse seiner im einzelnen nicht genau bekannten Vorgänger zusammen und lehrte die Bildung des korrekten Sanskrit.
Dieser deutschsprachige Raum hielt sich in seinen Grenzen mehr als 1 Jahrtausend. Er umfaßt Deutschland (Deutsches Reich), Österreich, Schweiz, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Norditalien (Langobarden), Ostfrankreich (Burgund) und große Gebiete Osteuropas. (Vgl. Deutsch und die Karten).
Johann Joachim Winckelmann (09.12.1717 – 08.06.1768).
Wilhelm von Humboldt (1767-1835), Freiherr, war Philosoph, Sprachforscher und Staatsmann und wirkte nach rechtswissenschaftlichem Studium (von 1787 bis 1790) als Privatgelehrter in Jena (von 1794 bis1797), war preußischer Ministerresident in Rom (von 1802 bis 1808) und Direktor für Kultus und Untericht im Innenministerium (von 1809 bis 1810). Humboldt reformierte das preußische Bildungswesen und gründete u. a. die Berliner Universität (1811). Seit 1810 war er Gesandter in Wien (Teilnahme am Wiener Kongreß), seit 1817 in London, 1819 wieder Minister. Im Mittelpunkt seines Denkens stand ein stets auf die Gesellschaft hin orientiertes Humanitätsideal. Als Sprachwissenschaftler befaßte sich Humboldt v. a. mit amerikanischen Sprachen, mit Sanskrit, Ägyptisch, Koptisch, Chinesisch, Japanisch. In der Einleitung zu seinem Werk „Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java“ entfaltete Humboldt die Grundthese seiner Sprachphilosophie, daß „in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltsicht“ liege; sie sei Ausdruck der Individualität einer Sprachgemeinschaft und werde durch die „innere Sprachform“ dargestellt. Dabei wird Sprache als „Tätigkeit“ (Energeia) bestimmt, die im Sprechen und Verstehen, in der Einheit von Ich und Du im Dialog aktualisiert werde. Die späteren Bemühungen der Linguistik um eine generative Grammatik (Noam Chomsky u.a. ) verstehen sich weithin als Erfüllung Humboldtscher Ideen. (Vgl. auch: „Nativismus“). Humboldt selbst dienten die sprachtheoretischen Untersuchungen zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie. Seine Weltanschauung zeigt drei Grundideen: Universalität, Individualität, Totalität (= Formung des Lebens zu einem Kunstwerk). Die Erforschung der Geschichte ebenso wie die der Sprache ist nach Humboldt nicht eine Sache des bloßen Intellekts, sondern hat die Mitwirkung der Gesamtheit der menschlichen Seelenkräfte zur Voraussetzung. Der Historiker muß sich in das Innere der Personen und Epochen, mit denen er zu tun hat, hineinversetzen, wenn er mehr als eine zusammenhanglose Aufzählung äußerer Ereignisse bieten will. Der Sprachforscher muß die Sprache als Äußerung und Werkzeug des Volksgeistes zur Gewährleistung der Sprachgemeinschaft begreifen. Im Sinne seines Humanitätsideals war Humboldt ideell sowie praktisch beteiligt an der Gründung der Universität Berlin (1811). Aus seiner Reform des höheren Schulwesens ging das „Humanistische Gymnasium“ in seiner heutigen Gestalt hervor. In seinen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ bestimmte er die Aufgabe des Staates dahin, für Schutz nach außen und Rechtssicherheit nach innen zu sorgen, im übrigen aber sich möglichst zurückzuhalten und der freien individuellen und nationalen Entwicklung Raum zu lassen. Humboldts Reformen, besonders die der Bildung, wurden Vorbild für die ganze Welt!

Anhang:
– „Sprachfamilien“ um 1600 –

– „Mikosprachordnungen“ bzw.„Makrosprachfamilien“ („Supersprachfamilien“) –

– Genetik und Sprache –

– Deutsch –

Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

– Wissenschaft -|2|

Wissenschaft ist größtenteils Sprache () – einschließlich Denken (), Glaube (), der sie „gebiert“ [vgl. Fürwahrhalten []). Gegenüber dem unabgesicherten, oft subjektiven Meinen muß das (wissenschaftliche) Wissen – seinem Anspruch nach – begründet werden; es muß in jeder Argumentation, wenn sie kompetent und rational geführt wird, Zustimmung finden können. In diesem Sinne wird Wissenschaft erstmals im Wissenschaftsverständnis der klassischen antiken (apollinischen) Philosophie von Sokrates bis Aristoteles begriffen. (). Die Wissenschaft der antiken (apollinischen) Kultur war eine Einheitswissenschaft und die Ansätze zu einzelwissenschaftlichem Denken (z.B. durch Aristoteles, Hippokrates, Galenos) beeinträchtigten nicht die Geschlossenheit der Wissenschaft und des Weltbildes (). So haben die Griechen Wissenschaft in ihrer eigenständigen Kulturfunktion zwar erstmalig entdeckt, aber nicht (weiter) entwickelt, sondern als ein besonders kulturelles Lebensideal an das Abendland weitergegeben.
Wissenschaft ist also ein Kulturzweig, der nicht zu allen Zeiten und nicht bei allen Völkern (Kulturen) in Blüte stand und steht. Glaubens- bzw. geistesgeschichtlich war im Abendland das ausgehende „Mittelalter“ bzw. die beginnende „Neuzeit“ die Vollendung der Theologie oder ihre Überwindung zugunsten der Philosophie und der mathematisch fundierten Naturwissenschaft; sie war sozusagen die „Geburt“ der technischen (Natur-) Wissenschaft! (vgl. ). Noch während der Gotik () begann also die (damals nur von wenigen Denkern bemerkte) Ersetzung des Begriffs der Wissenschaft durch den der Naturwissenschaft. Trotzdem wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein auch im Abendland nur selten zwischen Philosophie und Wissenschaft (z.B. zwischen naturwissenschaftlicher Physik und Naturphilosophie) unterschieden, obwohl man hier von Anfang an mit Wissenschaft beschäftigt war – allerding mehr im Geiste des antiken Erbes, das „abgearbeitet“ werden mußte.

Zum Unterschied von Natur und Kultur vgl. auch: Schichtenlehre
Die neue Wissenschaft trat ihren Siegeszug an, als die Mathematisierbarkeit der experimentell gefundenen Erfahrungen erkannt und die Naturgesetzlichkeit exakt entdeckt und erforscht wurde. Die Weltanschauung der abendländischen Menschen wurde dadurch natürlich grundlegend verändert und der Einfluß dieser experimentell-mathematischen Narurwissenschaft auf andere Erdteile gesteigert, besonders durch die exakt-wissenschaftliche Unterbauung der medizinischen Wissenschaften und der Technik, die bis dahin hauptsächlich auf handwerklicher Erfahrung beruht hatten (). Mit der Ausdehnung der neuen Wissenschaften wurde eine immer weitergehende Gliederung in Spezial-Wissenschaften nötig, wodurch vielfach der Blick für das Ganze der Wirklichkeit und den eigentlichen Zweck der Wissenschaft als „Weltwissenschaft“ verloren ging. Der Rationalismus wurde damals zur allein herrschenden Form auch für Bildung und Erziehung. Die dadurch erzeugte Übersteigerung der intellektualistischen Bildung wirkte wieder auf die Wissenschaft zurück und bewirkte, daß der Wissenschaftler mehr und mehr zum Spezialisten und die wissenschaftlichen Hochschulen mehr und mehr zu Ausbildungsstätten für Spezialisten wurden.
Eine Wissenschaft, wie sie das Abendland kennt, spielte in der Antike noch kaum eine Rolle.
Eine Philosophie, wie sie die Antike kannte, spielt im Abendland kaum noch eine Rolle.
„Das exakt Wissenschaftliche ist das absolut Poetische.“ (Novalis = Friedrich Freiherr von Hardenberg ).

„In unsrer Wissenschaft, wo der Begriff Ursache und Wirkung reduziert ist auf das Gleichungs-Verhältnis, mit dem Ehrgeiz, zu beweisen, daß auf jeder Seite dasselbe Quantum von Kraft ist, fehlt die treibende Kraft: wir betrachten nur Resultate, wir setzen sie als gleich in Hinsicht auf Inhalt an Kraft ….“ (Friedrich W. Nietzsceh, Der Wille zur Macht, S. 465 ).

Die mangelnde Ausrichtung der (immer mehr werdenden) Einzelwissenschaften auf ein gemeinsames Ziel führte im Abendland natürlich zu einer „Krisis der Wissenschaft“, die nicht nur eine Vertrauenskrise hinsichtlich der Sache war, sondern besonders eine Krise der Wissenschaftler selbst. Die Tatsache, daß seit den Hochzeiten der Moderne überall in den Wurzeln gefragt wird, theoretische Prinzipien in vielfacher Möglichkeit versucht und gegeneinander ausgespielt werden, „überantwortet den Halbwissenden dem Zweifel“, schrieb Karl Jaspers im Jahre 1931 mit Skepsis: „wo überhaupt kein fester Punkt mehr sei, schwebe das Bewußte in der Luft. Jedoch so sieht das Erkennen nur, wer nicht daran teilnimmt. Die schöpferischen Schritte zu neuen Prinzipien lassen wohl das Gebäude der Erkenntnis wanken, aber diese sogleich wieder auffangen in eine Kontinuität der Forschung, welche das Erworbene, das sie in Frage stellt, zugleich in einem neuen Sinn für das Ganze der besonderen Wissenschaft bewahrt. Indessen: die Krise der Wissenschaften ist eine Krise der Menschen, von denen sie ergriffen werden, wenn diese nicht echt in ihrem Wissenwollen waren.“ (Karl Jaspers,
Die geistige Situation der Zeit, 1930 ).

Auch die Quantifizierung erwies sich als verhängnisvoll, z.B. für die Psychologie, weil mit jeder Quantifizierung eine Verräumlichung und Rationalisierung der konkret-anschaulichen Fülle des Seelischen verbunden ist und die dadurch entstehenden nicht-qualitativen Begriffe dem Wesen des Seelischen nicht adäquat sind. Die zur Quantifizierung herangezogene Mathematik ist selbst keine rein quantifizierende Wissenschaft mehr.

Das Hauptproblem der Wissenschaft: ihr fehlen mindestens 6 Bindeglieder
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1.) Das Bindeglied zwischen Mathematik und Physik
2.) Das Bindeglied zwischen Chemie und Biologie
3.) Das Bindeglied zwischen Biologie/Ökologie und Ökonomie
4.) Das Bindeglied zwischen Ökonomie/Soziologie und Semiotik/Psychologie
5.) Das Bindeglied zwischen Semiotik und Linguistik
6.) Das Bindeglied zwischen Linguistik und Philosophie

Kann hier nur die Geschichte des Glaubens und Denkens helfen?
Wissenschaftsgläubige, ob „Physik-Chemie-Biologie-Ökonomie-Semiotik-Linguistik-Mathematiker“ oder „Mathematik-Linguistik-Semiotik-Ökonomie-Biologie-Chemie-Physiker“, stehen immer vor der unlösbaren Aufgabe, die Quadratur des Kreises zu zeichnen (z.B. mathematisch), zu bezeichnen (z.B. linguistisch) oder auch sonstwie zu konstruieren (z.B. religiös-theologisch-philosophisch): Glaube wird Religion, Religion wird Theologie, Theologie wird Philosophie, Philosophie wird Neu-Theologie, Neu-Theologie wird Neu-Religion, Neu-Religion wird Neu-Glaube. Es bleibt nur der Glaube (bzw. das glaubende Denken ). Wenn z.B. der aus der Religion gekommene Theo-Zentriker zum (heimlichen) Anthropo-Zentriker geworden ist, macht der (unheimliche) Zweifel aus dem Anthropo-Zentriker einen (heimlichen) Theo-Zentriker, der zur Religion kommen wird (). Die Quadratur des Kreises ist also doch immer zuerst eine Quadratur des Machtkreises.
Der Pantheismus, die heimliche Religion der Deutschen – das meinte jedenfalls der Idealist und Romantiker Friedrich Schleiermacher (1768-1834; ) -, macht das Weltall oder die Natur zu Gott; und wenn Universum und Natur identisch sind, dann dürfen auch Galaxien(haufen) und Kultur(kreise) sowie Sternsysteme (also auch Planetensysteme) und Lebenssyssteme (also auch menschliche Sozialsysteme: Völker, Nationen) als Analogien angesehen werden. So gilt, daß die Natur der Lebewesen immer auch eine Kultur beinhaltet und daß das sogenannte „höhere Leben“, zu dem Menschen gehören, wahrscheinlich mindestens so selten ist wie diejenigen Planetensysteme im Weltall, die Leben ermöglichen. (). Was nun aber das Glauben, Wissen und Denken darüber betrifft, haben es gerade die Spätdenker in vierfacher Hinsicht schwer: Technologie, Wissenschaft, Philosophie und Theologie – im Zusammenspiel: der Glaube an die – veranlassen die konkurrierenden Spätdenker dazu, diese durch die Hochdenker (vor allem die forschenden Philosophen und Wissenschaftler) dynamisch angestrebte Neu-Theologie zu einer Neu-Religion zu machen. Spätdenker müssen also als Neu-Theologen das Spätdenken starten und die als christliche Maxime ausgegebene Reihenfolge Theologie-Philosophie-Wissenschaft-Technologie umkehren, die die kirchlichen Vertreter einst festgelegt hatten () – in der Zeit der Frühdenker, als sich Scholastik und Mystik noch auf dem Weg von der Theologie zur Philosophie befanden. Aber auch die Frühdenker hatten ja ihre Methoden nicht komplett erfunden, sondern waren, was die Basis ihres Denkens anging, durch das religiöse Korsett, d.h. durch die Vorarbeit der Vordenker an vorgegebene Regeln gebunden. Und die Vordenker waren doch fast ausnahmslos damit beschäftigt gewesen, sich und ihre Mitmenschen (Mitdenker?) von den „heidnischen“ Bräuchen abzugrenzen, obwohl und gerade weil diese die ureigensten Denkweisen sind, nämlich glaubhafte Methoden der Urdenker. Uns Spätdenkern bleibt wohl nicht anderes übrig, als das Urdenken nicht nur wissenschaftlich zu behandeln und historisch zu be- und überdenken, sondern auch auf existenzielle Weise vorzudenken, auch weil wir in ein paar Jahrhunderten immer mehr auf ein nomadisches Leben zusteuern werden. Nur eine Neu-Theologie kann uns Spätdenker in die Lage versetzen, die Vordenker der Vordenker zu werden. Wir würden dann die Neu-Urdenker, d.h. die wirklich zum Nachdenken gekommenen wahren Denker. Das ist so, als wolle man das Unmögliche möglich machen. Spätdenker müssen es schaffen, Retrospektive und Prospektive so in Übereinstimmung zu bringen, daß sogar das „Denken im Uterus“ vorstellbar, weil vordenkbar, wird. Denken hat auch viel mit Danken zu tun – und nicht nur mit Gedanken.
Wahrheit?
„Die geschichtliche Wahrheit, wie alle Wahrheit – am siegreichsten leuchtet hier die mathematische Wahrheit auf, die strengste Form der ewigen Wahrheit – ist vor dem subjektiven Ich und ohne daselbe …. So wie das Ich der Vernunft die Vernünftigkeit der Dinge insgesamt ansieht, so sind sie nicht in der Wahrheit … und kein Kant … wird das Gesetz abändern, das dem Menschen gebietet, sich nach den Dingen zu richten.“ (Carl Braig). Braigs Anspruch – „am siegreichsten leuchtet hier die mathematische Wahrheit auf, die strengste Form der ewigen Wahrheit“ – hatte Heidegger die Richtung gewiesen, und gespürt hatte Heidegger schon als Kind seine Vorliebe für die formale und mathematische Logik: „Als in der Obersekunda der mathematische Unterricht vom bloßen Aufgabenblösen mehr in theoretische Bahnen einbog, wurde meine bloße Vorliebe zu dieser Disziplin zu einem wirklichen sachlichen Interesse, das sich nun auch auf die Physik erstreckte. Dazu kamen Anregungen aus der Religionsstunde, die mir eine ausgedehnte Lektüre über die biologische Entwicklungslehre nahelegten. In der Oberprima waren es vor allem die Platostunden …, die mich mehr bewußt, wenn auch noch nicht mit theoretischer Strenge in philosophische Probleme einführten.“ (Martin Heidegger, zitiert in: Hugo Ott, Martin Heidegger – Unterwegs zu seiner Biographie, 1988 S. 86). „Wenn Heidegger 1915 in seinem Lebenslauf seine formallogische Schulung erwähnt, als handle es sich um Propädeutik, dann untertreibt er. Denn für ihn war damals die formale und mathematische Logik tatsächlich eine Art Gottesdienst, von der Logik läßt er sich in die Disziplin des Ewigen nehmen, hier findet er Halt auf dem schwankenden Grund des Lebens.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 38).

Subjekt-Objekt ?
Schon der noch junge Heidegger wollte „ins grelle Licht setzen, was da eigentlich vor sich geht, wenn wir uns in eine theoretische, also üblicherweise ›wissenschaftlich‹ genannte Einstellung zur Welt versetzen. In der sogenannten ›objektivierend-wissenschaftlichen Einstellung‹ lassen wir nämlich die primäre Bedeutsamkeit, das Umweltliche, die Erlebnishaftigkeit verschwinden, entkleiden das Etwas bis auf seine ›nackte‹ Gegenständlichkeit, was nur dadurch gelingt, daß wir auch das erlebende Ich herausziehen und ein künstliches neues, sekundäres Ich aufrichten, das auf den Namen ›Subjekt‹ getauft wird und das dann in entsprechender Neutralität dem ebenso neutralen ›Gegenstand‹, der nun ›Objekt‹ heißt, gegenübersteht. Und in diesem Augenblick wird klar, worauf Heidegger hinausmöchte: Was die neuzeitliche Philosophie und von ihr ausgehend die neuzeitliche Wissenschaft als die Ursituation, den voraussetzungslosen Anfang des Nachdenkens und die letzte Gewißheit ansetzen, nämlich die Gegenüberstellung »Subjekt-Objekt«, ist gar kein voraussetzungsloser Anfang. Damit fängt es nicht an. Es fängt vielmehr damit an, daß wir uns in der beschriebenen weltenden Weise erlebend bei der Welt … vorfinden.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 116). Dies war gewissermaßen Heideggers Vorarbeit zur Ausschaltung von Bewußtseinsbegriff und Subjekt-Objekt-Gegensatz durch das „In-der-Welt-Sein“.
„Das Bedeutsame ist das Primäre … In einer Umwelt lebend, bedeutet es mir überall und immer, es ist alles welthaft, es weltet (Martin Heidegger, 2 / 1919). Es weltet: dies die erste der eigenwilligen Heideggerschen Wortschöpfungen, von denen es später so viele geben wird. Hier kann man beobachten, wie der Ausdruck gefunden wird, um einen Vorgang zu bezeichnen, der zunächst selbstverständlich erscheint, beim näheren Zusehen indes eine Komplexität aufweist, für die es noch keinen Namen gibt. So erfindet er ihn, um das zu bezeichnen, was wir gemeinhin nicht erkennen, weil es uns zu nahe ist. Denn es ist tatsächlich so … Der …. Begriff des Urerlebnisses bekommt einen prägnanten Sinn: er bezeichnet das Wahrnehmen so, wie es sich tatsächlich vollzieht – jenseits der theoretischen Meinungen darüber. …. Am Anfang ist Bedeutung, am Anfang weltet es, so oder so.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 114-115).
Man muß das Ur – … bei Heidegger und seinen präzisen Sinn (des jeweils situativ Anfänglichen) lebendig nachvollziehen können, um zu „verstehen, warum Heidegger von der Urintention des gelebten Lebens spricht, die es unterhalb der künstlichen und pseudoanfänglichen Subjekt-Objekt-Entgegensetzung aufzudecken gilt. Er will, so sagt er, Einspruch erheben gegen eine ungerechtfertigte Verabsolutierung des Theoretischen (deren er auch Husserl bezichtigt). Die tief eingefressene Verranntheit ins Theoretische ist … ein großes Hindernis, den Herrschaftsbereich des umweltlichen Erlebens … zu überschauen (Martin Heidegger, Gesamtausgabe, 2 / 1919, S. 88). Er spricht mit aggressivem Unterton vom Prozeß der fortschreitenden zerstörenden theoretischen Infizierung des Umweltlichen (Martin Heidegger, ebd., 1919, S. 89) und findet auch dafür einen neuen Namen: Entleben. Die theoretische Einstellung, so nützlich sie auch ist und obgleich sie auch ins Repertoire unserer natürlichen Welteinstellungen gehört, ist entlebend; später wird Heidegger dafür auch den … Begriff Verdinglichen verwenden. In der Vorlesung sagt er: Die Dinghaftigkeit umschreibt eine ganz originäre Sphäre, die aus dem Umweltlichen herausdestilliert ist. Daß ›es weltet‹ ist in ihr bereits ausgelöscht. Das Ding ist bloß noch da als solches, d.h. es ist real …. Das Bedeutungsshafte ist ent-deutet bis auf diesen Rest: Real-sein. Das Umwelt-erleben ist ent-lebt bis auf den Rest: ein Reales als solches erkennen. Das historische Ich ist ent-geschichtlicht bis auf einen Rest von spezifischer Ich-heit als Korrelat der Dingheit …. (Martin Heidegger, ebd., 1919, S. 91). Mit dieser Art der theoretischen Einstellung haben die Menschen schon vor langer Zeit begonnen, das Leben, das eigene und das der Natur, in einem nutzbringenden, aber auch gefährlichen Ausmaß zu verändern. Und das war nur möglich, indem man es entlebte, so Heidegger, oder »entzauberte«, so Max Weber. (). Max Weber hatte als einziges ›Jenseits‹ zu dieser entzauberten Welt der Rationalität den privatisierten Bereich der persönlichen und nicht weiter rationalisierbaren »Wertentscheidungen« übriggelassen. Aus diesem privaten Asyl sprießen dann auch die Weltanschauungen hervor, gegen die nichts einzuwenden ist, solange sie nicht wissenschaftliches Prestige in Anspruch nehmen.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 116-117). Heidegger begann mit der Frage nach der Urwissenschaft, der Urintention des Lebens, nach dem Prinzip der Prinzipien. Und, wie gesagt, laut Heidegger ist am Anfang immer schon Bedeutung – es weltet am Anfang. Doch wozu „diese ganze Vertiefung ins Erleben und in dieses Welten? Zunächst einmal deshalb: Wir sollen uns bewußtmachen, wie es eigentlich zugeht, wenn wir uns in der Welt … vorfinden.“ (Rüdiger Safranski, ebd., 1994, S. 115-116). Und diese Worte sprach Martin Heidegger zu Beginn des Jahres 1919, also in einer Zeit lange vor seinen großen Werken (). In Heideggers bohrender Intensität seines Philosophierens gibt es einen „eigenartigen Überschuß – und der macht sein Denken so faszinierend, schon zu diesem frühen Zeitpunkt. Der Überschuß steckt in der Frage, die er … später geradezu rituell wiederholen wird: die Frage nach dem Sein. () Heidegger vertieft sich in das Erleben, um unserem ›Sein in Situationen‹ auf die Spur zu kommen, und … er … weiß … genau, daß wir es im wissenschaftlichen Theoretisieren und in den Al-fresco-Gemälden der Weltanschauungen regelmäßig verfehlen.“ (Rüdiger Safranski, ebd., 1994, S. 121-122).
Das Entleben oder die Beziehung zwischen dem unmittelbaren Erleben und seiner Vergegenständlichung geschieht so: „Die Einheit der Situation löst sich auf, aus dem Erleben wird die Selbstwahrnehmung eines Subjektes, dem Objekte gegenüberstehen. Man ist aus dem unmittelbaren Sein herausgefallen und findet sich als jemand vor, der ›Gegenstände‹ hat, unter anderem auch sich selbst als einen Gegenstand, Subjekt genannt. Diese Objekte und auch das Subjekt können dann nach ihren weiteren Merkmalen, Zusammenhängen, Verursachungen u.s.w. abgesucht werden; sie werden analytisch bestimmt und schließlich auch bewertet. In diesem sekundären Vorgang werden die neutralisierten ›Objekte‹ wieder in einen Weltzusammenhang eingebaut, oder ihnen wird, wie Heidegger sagt, ein Kleid angezogen, damit sie nicht so nackt herumstehen. Diese theoretische Weltkonstruktion hat einen abstrakten Fluchtpunkt. Was hier gemeint ist, demonstriert Heidegger wieder an seinem Umwelterlebnis des Katheders. In theoretischer Einstellung kann ich dieses Katheder wie folgt analysieren: Es ist braun; braun ist eine Farbe; Farbe ist echtes Empfindungsdatum; Empfindungsdatum ist Resultat von physischen oder physilologischen Prozessen; die physischen sind die primäre Ursache; diese Ursache, das Objektive, ist eine bestimmte Anzahl von Ätherschwingungen; die Ätherkerne zerfallen in einfache Elemente, zwischen ihnen als einfache Elemente bestehen einfache Gesetzlichkeiten; die Elemente sind letzte; die Elemente sind etwas überhaupt (Martin Heidegger, Gesamtausgabe, 2 / 1919, S. 113). Auf diesem Wege gelangt man zu einem etwas überhaupt als eine Art Kern oder Wesen der Dinge. Dieser vermeintliche Kern des Etwas läßt die ganze Stufenfolge als bloße Abstufungen von Erscheinungen erscheinen. Das braune Katheder ist nicht das, als was es erscheint. Es ist zwar nicht nichts, aber auch nicht dieses Etwas, als das es erscheint. Diese Auffassungsweise läßt Heisenberg davon sprechen, daß im modernen naturwissenschaftlichen Weltbild die antike Naturphilosophie wiederauflebt, wonach die Atome (oder sogar die subatomaren Teilchen) das »eigentlich Seiende« seien. (). Heidegger zeigt, daß bei dieser analytischen Reduktion das Rätsel, daß da überhaupt etwas ist, mikrokosmisch auf die subatomaren Verhältnisse verschoben wird (genausogut könnte man sie übrigens makrokosmisch auf das Ganze des Weltraumes verschieben), daß dabei aber übersehen wird, wie dieses Rätsel des Etwas auf jeder Reduktionsstufe erhalten bleibt …. Im Unterschied zu jenem Etwas, das die Wissenschaft am Ende ihrer Reduktionen übrig behält, bezeichnet Heidegger dieses ›Etwas‹, das an jedem Punkt des Erlebens seine staunenswerte Präsenz offenbart, als etwas Vorweltliches (Martin Heidegger, ebd., 1919, S. 102). …. Der Ausdruck vorweltlich für dieses Staunen ist von Heidegger auch deshalb glücklich gewählt, weil darin jenes Staunen anklingt, wenn man sich wie eben erst zur Welt gekommen in ihr vorfindet. (Vgl. Vorweltlichkeit, Zur-Welt-Kommen, In-der-Welt-Sein ). Zu Beginn hatte Heidegger seinen Versuch, ein Erleben zur phänomenologischen Selbsttransparenz zu bringen, als Sprung in eine andere Welt, oder genauer: überhaupt erst in die Welt (Martin Heidegger, ebd., 1919, S. 63) bezeichnet. Diese ursprüngliche Erfahrung des Staunens ist für Heidegger der theoretischen Entlebung genau entgegengesetzt. Sie besagt nicht absolute Unterbrochenheit des Lebensbezuges, keine Entspannung des Entlebten, keine theoretische Fest- und Kaltgestelltheit eines Elebbaren, sondern sie ist der Index für die höchste Potentialität des Lebens. Sie ist ein Grundphänomen, das gerade in Momenten besonders intensiven Erlebens (Martin Heidegger, ebd., 1919, S. 115) sich ereignet.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 124-125). Gegen das Entleben als den Prozeß der Zerstörung der Umwelt durch die Wissenschaft stellt Heidegger das Leben als den Prozeß des Erlebens der Welt durch das menschliche Lebe-Wesen.

Naturwissenschaft-Geisteswissenschaft ?
Wenn überhaupt, dann können Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft nur gemeinsam zu Lösungen komplexer Probleme kommen. Im Bezug auf seine geistige Tätigkeit ist der Naturwissenschaftler immer auch Geisteswissenschaftler, und im Bezug auf die Phänomene ist der Geisteswissenschaftler immer auch Naturwissenschaftler. Alle Wissenschaften entstehen aus dem Glauben („Fürwahrhalten“ ), der zur Religion, zur Theologie, zur Philosophie wird und danach über den umgekehrten Weg (Neu-Theologie => Neu-Religion) neu in Form kommt (). Löste sich die Naturwissenschaft von der Geisteswissenschaft (also: von der Bevormundung durch Glaube, Religion, Theologie), indem sie sich zunächst an die Philosophie (Naturphilosophie bzw. Astrologie, woraus Physik bzw. Astronomie hervorgingen) klammerte und dann auch von ihr trennte, so begann mit diesem Erreichen einer Neu-Theologie die Geisteswissenschaft damit, die Naturwissenschaft zu kopieren (z.B. im Abendland seit der Romantik (). Die Abendländer befinden sich also immer noch auf dem Weg von der Neu-Theologie (hier: Vorrang von Technik und Wissenschaft, z.B. im Bund mit dem Kategorischen Imperativ oder dem Pantheismus) zur Neu-Religion (ein Beispiel wäre die „Planetare Verantwortungsethik“). (). Und weil die Naturwissenschaft seit Max Planck (1858-1947) ihre Grenzen kennt, wartet sie auf die Geisteswissenschaft als Antwortgeber auf ihre unlösbaren Probleme. Die Physiker verstehen das Universum nicht, weil sie, wie Harald Lesch einmal sagte, „zu blöd sind!“ () – er meinte vor allem Anfang und Ende des Universums. Die Genetiker wissen nichts von der Gen-Ethik und fragen deshalb die Philosophen. Die Philosophen sagen, sie hätten nicht viel zu sagen und geben den „Schwarzen Peter“ (Wilhelm Vossenkuhl) zurück an die Naturwissenschaftler. Das ist auch keine Lösung, oder?
Böse Kritiker behaupten sogar, die Naturkonstanten seien nicht konstant. Für Naturwissenschaftler ist das natürlich die Ketzerei schlechthin. Konstanten sind das bei Veränderungen oder Rechnungen unverändert Bleibende. Viele Naturkonstanten können auf allgemeinere, die universellen Naturkonstanten zurückgeführt werden, zu denen vor allem die atomaren Grundkonstanten zählen; die Atomkonstanten werden nämlich unterschieden: 1.) atomare Grundkonstanten, zu denen die Elementarladung e, die Ruhemassen von Elektron (me) und Proton (mp), das Plancksche Wirkungsqauntum h und die Boltzmann-Konstante k zählen; 2.) die abgeleiteten atomaren Konstanten, resultierend aus den atomaren Grundkonstanten, einigen allgemeinen physikalischen Konstanten (zum Beispiel: die Avogadro-Konstante NA, die elektrischen und magnetischen Feldkonstanten eo und µo sowie die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit co) und den Kernmassen – zu diesen gehören die Rydberg-Konstante Rµ und die Sommerfeld-Konstante a ( Feinstrukturkonstante). Die Gravitationskonstante G ist möglicherweise in kosmisch langen Zeiträumen nicht konstant, doch diese Vermutung kann experimentell oder auf anderem Wege noch nicht definitiv untermauert werden. Manche Ketzer bestreiten auch die Lichtgeschwindigkeit c (= 299792,458 km/s) als Konstante. Die Bedeutung der Konstanten wird von Physik und Metaphysik untersucht – z.B. wird die Bedeutung der Konstanten auch darin gesehen, daß sie zueinander in einer für das Weltgeschehen entscheidenden Beziehung stehen, etwa nach der Formel c • h / e² und daß sie die Dimensionen formal zu einem vierdimensionalen Kontinuum verknüpfen. Diese Theorie faßt die drei Raum-Dimensionen und die eine Zeit-Dimension zu einem Gebilde von vier Dimensionen zusammen. Eine andere Theorie spricht von 11 Dimensionen. Die „String-Theorie“ macht wieder die Musik zur Göttlichkeit. Es wird auch behauptet, es gäbe nicht ein Universum, sondern Universen, ein Multiversum (!?!?). Die Suche nach der „Weltformel“ ist typisch faustisch (abendländisch), und Abendländer sind immer auch Esoteriker.

Lichtgeschwindigkeit • Plancksches Wirkungsquantum
————————————————————————— = ?
Elementarladung ²
Diese esoterische Formel (c • h / e²) ist nur ein Beispiel unter vielen !

„Man betrachte … unsere Wissenschaften, die alle, ohne Ausnahme, neben elementaren Anfangsgründen »höhere«, dem Laien unverständliche Gebiete haben – auch dies ein Symbol des Unendlichen und der Richtungsenergie. Es gibt bestenfalls tausend Menschen auf der Welt, für welche heute die letzten Kapitel der theoretischen Physik geschrieben werden. Gewisse Probleme der modernen Mathematik sind nur einem noch viel engeren Kreis zugänglich. Alle volkstümlichen Wissenschaften sind heute von vornherein wertlose, verfehlte, verfälschte Wissenschaften. Wir haben nicht nur eine Kunst für Künstler, sondern auch eine Mathematik für Mathematiker, eine Politik für Politiker – von der das profanum vulgus der Zeitungsleser keine Ahnung hat, während die antike Politik niemals über den geistigen Horizont der Agora hinausging – eine Religion für das »religiöse Genie« und eine Poesie für Philosophen. Man kann den beginnenden Verfall der abendländischen Wissenschaft, der deutlich fühlbar ist, allein an dem Bedürfnis nach einer Wirkung ins Breite ermessen; daß die strenge Esoterik der Barockzeit als drückend empfunden wird, verrät die sinkende Kraft, die Abnahme des Distanzgefühls, das diese Schranke ehrfürchtig anerkennt. Die wenigen Wissenschaften, die heute noch ihre ganze Feinheit, Tiefe und Energie des Schließens und Folgerns bewahrt haben und nicht vom Feuilletonismus angegriffen sind – es sind nicht mehr viele: die theoretische Physik, die Mathematik, die katholische Dogmatik, vielleicht noch die Jurisprudenz -, wenden sich an einen ganz engen, gewählten Kreis von Kennern. Der Kenner aber ist es, der mit seinem Gegensatz, dem Laien, der Antike fehlt, wo jeder alles kennt. Für uns hat diese Polarität von Kenner und Laie den Rang eines großen Symbols, und wo die Spannung dieser Distanz nachzulassen beginnt, da erlischt das faustische Lebensgefühl. – Dieser Zusammenhang gestattet für die letzten Fortschritte der abendländischen Forschung – also für die nächsten zwei Jahrhunderte (* = 21. und 22. Jh.; bis 2230 ?) – den Schluß, daß, je höher die weltstädtische Leere und Trivialität der öffentlich und »praktisch« gewordenen Künste und Wissenschaften steigt, desto strenger sich der postume Geist der Kultur in sehr enge Kreise flüchten und dort ohne Zusammenhang mit der Öffentlichkeit an Gedanken und Formen wirken wird, die nur einer äußerst geringen Anzahl von bevorzugten Menschen etwas bedeuten können.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917, S. 422-423).
„Die faustische Naturwissenschaft und diese allein ist Dynamik, gegenüber der Statik der Griechen und der Alchymie der Araber. Nicht auf Stoffe, sondern auf Kräfte kommt es an. Die Masse selbst ist eine Funktion der Energie.“ Die erste Kultur mit einer (wirklichen) Wissenschaft – das Abendland, genauer: der von der „nordischen Landschaft“ mit dem „Pathos der dritten Dimension“, dem Streben ins Unendliche, der faustischen Dynamik und dem geschärften Geist ausgestattete Menschenschlag – brauchte nicht viel Masse, sondern viel Energie, um zur größten und letzten Erkenntnis von der Unveränderbarkeit und Endgültigkeit der „Tragödie des Menschen“ zu kommen, „denn die Natur ist stärker. Der Mensch bleibt abhängig von ihr, die trotz allem auch ihn selbst, ihr Geschöpf, umfaßt. Alle großen Kulturen sind ebenso viele Niederlagen. Ganze Rassen bleiben, innerlich zerstört, gebrochen, der Unfruchtbarkeit und geistigen Zerrüttung verfallen, als Opfer auf dem Platze. Der Kampf gegen die Natur ist hoffnungslos, und trotzdem wird er bis zum Ende geführt werden.“ … „Die faustische, westeuropäische Kultur ist vielleicht nicht die letzte, sicherlich aber die gewaltigste, leidenschaftlichste, durch ihren inneren Gegensatz zwischen umfassender Durchgeistigung und tiefster seelischer Zerissenheit die tragischste von allen. Es ist möglich, daß noch ein matter Nachzügler kommt, etwa irgendwo zwischen Weichsel und Amur und im nächsten Jahrtausend, hier aber ist der Kampf zwischen der Natur und dem Menschen, der sich durch sein historisches Dasein gegen sie aufgelehnt hat, praktisch zu Ende geführt worden.“ (Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik – Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, 1931, S. 67, 35-36, 63 ; vgl. ).
„Daß … der Wissenschaftsglaube auf breiter Front im Verblassen ist, läßt sich zum Teil auf die endogene Korruption des Expertentums zurückführen. Die so peinlichen wie unbeendbaren Expertenkämpfe auf dem Feld der vorgeblich externen Wahrheiten geben einem größeren Publikum das Gefühl, daß auch die Wahrheit nicht mehr das ist, was sie einmal war. Der psychosoziale Gebrauchswert des Experten: die Möglichkeit, sich seinem Spruch zu unterwerfen und dadurch den Zweifel abzuschließen, ist unleugbar in Verfall begriffen. B. F. Skinners lapidare These: »Das Volk ist nicht in der Lage, Experten zu beurteilen« (Futurum Zwei, 1972, S. 238), klingt längst … unglaubwürdig (…). Selbst wenn der Satz zuträfe, änderte dies nichts daran, daß wir zu einem eigenen Urteil über die Experten verdammt sind. Nicht wenige Zeitgenossen haben verstanden, daß sie selbst mit der Wahl des Experten das Ergebnis der Expertise wählen. Damit wird die unvordenkliche Illusion, die wahrhaft Wissenden seien die Deputierten externer Wahrheiten, in sozialen Interessenkonflikten (um von den allzu menschlichen nicht zu reden) zerrieben. Nicht zufällig wird die Öffentlichkeit immer öfter auf wissenschaftliche Fälschungen aufmerksam (nach Schätzungen sind 75% aller publizierten Forschungsergebnisse manipuliert). …. Ende des 20. Jahrhunderts „begann sich eine Art von epistemologischer Bürgerrechtsbewegung zu artikulieren, deren Ziel es ist, die Experten aus ihrem längst dementierten goldenen Exil bei den externen Wahrheiten zurückzuholen (…). Ob dies bei wachsender Esoterik der Forschung – und zunehmender Privatisierung der Resultate – gelingen kann, ist eine offene Frage. …. Dieser Wandel, der die Wahrheiten wie ihre Überbringer von ihrer Exzentrik gegen ihre Wirtsgesellschaften befreite, wäre zugleich nichts anderes als der überfällige Nachvollzug des Wissens vom wirklichen Leben der Wissenschaften durch die Wissenschaften.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 438-439 und S. 440).
*
Die Wissenschaft denkt kaum, die Wissenschaft glaubt – z.B. an Naturbeherrschung und Fortschritt.
Die Philosophie glaubt kaum, die Philosophie denkt – z.B. an die Wissenschaft und deren Glauben.
Beide bleiben religiös-theolgisch – die Wissenschaft mehr religiös, die Philosophie mehr theologisch.
Die meisten Philosophen erzielen Weisheit durch reine Logik – also meistens durch logische Theorie.
Die meisten Wissenschaftler erzielen Wissen durch Experimente – also meistens durch religiöse Praxis.
Die meisten Wissenschaftler wissen aber gar nicht, daß ihre Wahrheit immer auch Philosophie beinhaltet.
Die meisten Wissenschafler wissen nicht, daß sie z.B. ihre Physik auch über die Metaphysik wahr machen.
*
Erst die Rückwendung zur Metaphysik und die Anwendung ganzheitlicher Betrachtungsweisen auf allen Wissensgebieten scheinen die „Krisis der Wissenschaften“ () überwinden zu helfen, und die könnte in Zukunft vielleicht die Einzelwissenschaften und die Philosophie zu einer Wissenschaft im eigentlichen Sinne wieder zusammenführen. (Nachdem nämlich der Positivismus sich durchgesetzt und die Abdankung der Metaphysik verlangt hatte, war in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts der Stellenwert der Metaphysik stark gesunken oder vielfach zur Lehre von den Erkenntnisprinzipien und den Methoden der Einzelwissenschaften geworden, bevor in der 1. Häkfte des 20. Jahrhunderts eine allmähliche Rückwendung zur Metaphysik begann). Das menschliche Denken zielt ja bekanntlich auf das Einfache, Einheitliche und Ganzheitliche. Die Wirklichkeit jedoch, um die sich die vielen Einzelwissenschaften bemühen, ist aber nur eine, und an sie in ihrer Einfachheit, Einheitlichkeit und Ganzheit ist nur durch die Metaphysik heranzukommen. Von der Mathematik, der Physik, der Biologie, aber auch von anderen Einzelwissenschaften aus wurden ja längst Vorstöße in das Reich der Metaphysik unternommen, um die für alle Wissenschaft gemeinsame Ebene zurückzugewinnen und von ihr aus wieder mehr den Versuch für den Entwurf eines einheitlichen und widerspruchsfreien Weltbildes zu wagen. Für die Metaphysik selbst ist die unbefangene Hingabe (Liebe, denn Philosophie ist Liebe zur Weisheit) des erkennenden Menschen an da Wirkliche die Voraussetzung jeder Wahrheitserforschung. Weil die Metaphysik wissenschaftliche Ergebnisse sorgsam berücksichtigt, wenn sie die Erfüllung ihrer umfassenden Aufgabe in der beschreibenden Erklärung der rätselvollen Tiefen des Seins und seiner reichen Mannigfaltigkeit sucht, wirkt sie im Zweikammersystem (Oberhaus und Unterhaus) jeder Wissensrepublik () viel effektiver als im Exklusivsystem (Individuelle und Unteilbarkeitsduldende) jeder Wissensdiktatur – z.B. in der typisch abendländischen Esoterik (). Die Tendenz, möglichst alle von allem auszuschließen, führt gerade bei den Abendländern mit ihrem Problem der Unendlichkeit letztlich zu zwei Grenzwerten: dem esoterischen Grenzwert Null und dem ursymbolischen Grenzwert Unendlich. Wenn annähernd niemand annähernd alles weiß und annähernd alle annähernd nichts wissen, dann hat das Abendland sein Ziel erreicht. Doch sollten wir vorerst hinsichtlich unserer Kultur und ihren Teilen, zu denen ja Wissenschaft und Philosophie gehören, optimistisch bleiben, solange sie versuchen, aus den unzählig vielen kleinen Einzelteilen (Einzelwissenschaften) wieder zählbar wenig größere Teile werden zu lassen. (Und warum nicht nur zwei Teile, ein Paar, eine Dyade – wie ein Dividuum? ). Als Bindeglied () zwischen Wissenschaft (Einzelwissenschaften) und Philosophie (Metaphysik) erweisen sich ja gerade heute einzelne in verschiedenen Wissensbereichen geltende Prinzipien der kybernetischen Betrachtungsweise. (Zum Beispiel: Sloterdijks Konzept einer Kybernetik []).

Das Sein ist die „Lichtung“, die das Seiende „entbirgt“
„Die Wissenschaft denkt nicht“, so Heidegger in einer Freiburger Vorlesung. Laut Heidegger bedeutet das:
„Die Wissenschaft bewegt sich nicht in der Dimension der Philosophie, sie ist aber, ohne daß sie es weiß,
auf deren Dimension angewiesen. Zum Beispiel: Die Physik bewegt sich im Bereich von Raum, Zeit
und Bewegung; was Bewegung, was Raum, was Zeit ist, kann die Wissenschaft als Wissenschaft
nicht entscheiden. Man kann nicht mit physikalischen Methoden sagen, was die Physik ist.
Das kann man nur philosophierend sagen.“ (Heidegger, Die Seinsvergessenheit ).

Den Einzelwissenschaften gegenüber kommt der Philosophie die besondere Aufgabe zu, die Gebiete real zusammengehörender Objekte abzustecken. Die Absteckung der Objektgebiete ist kein schematisch-fachliches Einteilen, sondern ist „zugleich begründender Entwurf, auf dem die ganze konkrete begriffliche Arbeit und Fragestellung der Wissenschaft ruht. …. Und was wir hier als wichtigstes betonen müssen: dieser gebietsabsteckende Entwurf der Realität und ihrer Seinsverfassung läßt erst das Seiende, das er bestimmt, zur Sicht kommen“ (Heidegger) und zwar deshalb, weil die Philosophie zunächst die Denkinstrumente erarbeiten muß, bevor ein bestimmter bzw. ein neuer Realitätsbereich überhaupt sichtbar werden kann. Technik wurde auch erst möglich, als die metaphysischen Voraussetzungen einer Naturbeherrschung (im Sinne des heutigen Abendländers ) gegeben waren. (Vgl. ).
Welche Art von Objektivität man auch wählt, der Rahmen, der unsere Beobachtungen bestimmt, wird dennoch geschaffen. Entschließe ich mich zum Beispiel zu den „Verdachtstheoretikern“ zu gehören, die aus der Mondfahrt der US-Amerikaner nur eine geniale Medieninszenierung der NASA und CIA machen wollen und im Übrigen den Wahrheitsgehalt der Ereignisse abstreiten, dann habe ich schon eine Vorentscheidung über meine Wahrnehmungsinterpretation getroffen und der kognitive Gehalt meiner Datenauswahl und Bewertungen bekommt ein anderes Kolorit. Diese nicht zu ändernde Relativität aller Erkenntnisse ist zur herrschenden Bewußtseinslage aller Wissenschaften geworden, außer bei einigen unbelehrbaren fundamentalistischen und marxistischen oder sonstigen religiösen Wissenschaften.
Die Bewußtseinslage der Moderne ist eben die, daß alles von Interpretation und Konstruktion geprägt und bestimmt ist. Zu „Wahrheit“ und „Objektivität“ oder einer zu erkennenden „Natur der Sache“ führt kein Weg der VIA MODERNA mehr und das haben alle Wissenschaften mehr oder minder resignativ zur Kenntnis genommen. Selbst die erkenntnisabstinenteste aller Wissenschaften, die Rechtswissenschaft, hat neuerdings durch einen bemerkenswerten Aufsatz in der theoriefreundlichsten aller Zeitungen, der F.A.Z., zu dem Ergebnis geführt, daß der Jurisprudenz die Standhaftigkeit eines festen Menschenbildes abhanden gekommen ist. Die lange Theoriearbeit von Männern wie Feyerabend, Watzlawick, Luhmann (), um nur einige zu nennen, hat zu einer nicht mehr aufhebbaren Verflüssigung aller Gewissheit geführt. Auch Sloterdijk reiht sich in die Reihe derer ein, die die Sicherheit verloren haben, jemals einen archimedischen Punkt finden zu können, der Wahrheit und Objektivität garantiert.
Die Wissenschaft ist weniger ein Mittel zur neutralen Aufhellung der Wirklichkeit geworden, sondern stellt vielmehr ein Wettrüsten in Interpretationen dar. Insgesamt bilden sie weniger einen intellektuellen Schatz oder eine Enzyklopädie allen Wissens, sondern eher ein Waffenlager oder Arsenal intelligenter Geschosse. Sloterdijk spricht daher von den Erkenntnistheorien, als hätten sie zwei verschiedene Kulturen entworfen! Die erste glaubt an den Vorrang von Methode, Prozedur und Forschungsverfahren, die zweite an den Vorrang der Subjektivität, einem „Primat des Subjektes“ (Peter Sloterdijk ). Und die doch wohl gefählichste Entwicklung im heutigen „kognitiven Wettbewerb“ ist das „geo-ökonomische Wettrüsten“ zwischen den Wirtschaftsmachtblöcken (Deutschland/Europa, USA/Nordamerika, Japan/Ostasien).
Insbesondere die „Postmoderne“ betont die Selbstverständlichkeit, daß das Subjekt keine Wissensautorität besitzt, wiel es auch keine Beobachtungsautorität besitzt. Die „Postmoderne“, die eindeutig Fortsetzung und Begleiterscheinung der „Moderne“ ist, setzt auf den Skeptizismus und will gegen die „Moderne“ vor allem mit dem Beobachtungsschema argumentieren. Wer Beobachter oder gar „letzter Beobachter“ sein möchte, muß sich nicht wundern, wenn er selbst beobachtet wird. Seine Kritik an dem, was er beobachtet, wird mit Sicherheit ebenfalls kritisiert werden. Postmodern kann wohl nur sein, was vervielfältigend, reproduzierend, simulierend, imitierend, d.h. ohne Autorität ist. Die erste Kritik, die man als postmodern bezeichnen kann, stammt aus dem 19. Jahrhundert, insbesondere von Nietzsche (1844-1900). Seitdem und vor allem in unserer heutigen Welt (vgl. Globalismus: z.B. dessen Medienrealitäten, Internet u.s.w.) meint man, auch in der alltäglichen Erfahrung eine Fundierungsfunktion und Wissensautorität des Subjekts bezweifeln zu können. Ist also die Sprache selbst der eigentliche Beobachter? Beobachten Subjekte oder beobachtet die Sprache, wo beobachtet wird? Bleibt nicht Sprache, die ohne Bewußtsein, ohne Intention, ohne Willensäußerung gebraucht wird, bedeutungslos ? Sprache ohne Subjekt und Subjekt ohne Sprache – geht das überhaupt ? Die moderne Theorie geht davon aus, daß Individuen autonome Beobachter seien, die sich auf die Autorität des Bewußtseins berufen und die Sprache den Intentionen dieses Bewußtseins unterordnen können, doch die postmoderne Tradition geht von Kommunikationsbedingungen aus, die gerade nicht individuell sein können und also auf kein Bewußtsein, auf kein bestimmtes Subjekt oder Individuum hin reduziert werden können. Im zweiten Fall „denkt“ – sprich: beobachtet – also die Sprache gerade dort, wo sie sich dem Bewußtsein und seinen Intentionen entzieht, dort wo sie kommuniziert. (). Ohne daß deswegen bewußtes Beobachten ausgeschlossen werden müßte, versteht dieser Perspektivenwechsel Beobachtung als primär soziale Kategorie, als etwas, das keinem einzelnen Individuum oder Subjekt allein, keinem Einen mehr zugeschrieben werden kann. Ist die Beobachtung an ihre Kommunikationsbedingung gebunden, kann sie tatsächlich erst mit Zweien beginnen. (Vgl. Nietzsches „Ein mal eins“).
Wenn „das Paar gegenüber dem Individuum die wirklichere Größe darstellt“ () und wenn vorausgesetzt werden darf, daß die Sprache selber spricht () und beobachtet (), ist es, sagt die „postmoderne Skepsis“, mit der Wissensautorität eines Einen vorbei.
Die Vorstellung, daß alle Wissenschaft am Ende nur noch eine Theorie für alles besitzen könnte, wie sie von der Physik geträumt wird, bedeutet z.B. nach Sloterdijk, daß die Forschungsgemeinschaft eines Tages nur noch zu einer homogenen Armee von Subjekten zusammenwachsen würde, die alle eine gemeinsame Vor- oder besser Verstellung der Objekte besäßen. Daher muß, solange der Primat des Subjektes gilt, gemäß Sloterdijk eine agonale Theorie entstehen. Eine zweite oder neue Kultur, wenn sie denn kommen sollte (!), kann sich nur entwickeln, wenn der Eros des Künstlers die Objekte „wahrnimmt“ und „erkennt“, daß diese nicht von ihm festzustellen seien, sondern sich im Fluß der Ereignisse befinden und ständig ändern. Der Künstler nähert sich ihnen daher nicht als Forscher, sondern als Nachbar und Freund. (). Diesen Werde- und Entwicklungsgang von der Objektivität zur Intimität faßt Sloterdijk zusammen unter dem Begriff „Heraklitische Meditationen“.
Der Wissenschaftstheorie fehlen zur Fruchtbarkeit nicht Fragen, sondern adäquate Antworten. Jedenfalls ist auch für Sloterdijk gewiß, „daß die beiden kuranten Beantwortungen der Frage nach der Seinsweise des Entdeckten vor der Entdeckung nicht nur unzulänglich, sondern geradewegs falsch sind: Die erste Antwort stammt vom (transzendentalen und konstruktivistischen) Idealismus, der die Behauptung aufstellt, entdeckte Sachen besäßen keinerlei Präexistenz vor ihrer Wahrnehmung in einem Bewußtsein und ihrer Aussagung in einer Rede. Der Irrtum dieser These beruht auf der Suggestion, daß die klassische Annahme der Identität von Sein und Wahrgenommenwerden als absolute Abhängigkeit der Objekte von einem denkenden Subjekt verstanden werden dürfe. Von hier aus ist es nicht weit zu der hypnotischen Absurdität des subjektiven Idealismus, wonach Objekten, denen zufällig ein menschlicher Beobachter abgeht, auch schon ihr Sein als solches fehle. Dem komplementären Irrtum begegnet man in der zweiten Antwort, die eine objektive und erkenntnisunabhängige Präexistenz des Entdeckten vor jeder Entdeckung in Ansatz bringt, indem sie das Sein der Sache als etwas vorstellt, wovon das Bemerktwerden durch eine Intelligenz mühelos weggedacht werden kann, ohne daß ihrem Bestand das Geringste verlorenginge. In dieser dem naturwissenschaftlichen Alltagsbetrieb naheliegenden Auffassung feiert der Objektivismus einer unzulänglichen Ontologie trügerische Erfolge: Ihr zufolge ist Seiendes stets eindeutig so und nur so, wie es »an sich« vor aller Wahrnehmung besteht, während dem Denken die Rolle des kontingent Hinzukommenden zufällt, das ebensogut fernbleiben könnte – wie es ja offenbar auch vor der Entdeckung noch nicht bei der Sache war – und das sich zudem durch Irrtumsanfälligkeit und Wandelhaftigkeit der Deutungen verdächtig macht. Hier ist es die Entdeckung, die vorgeblich dem Entdeckten fehlen darf, ohne daß dieses an seiner Eigenfülle Schaden nähme. Die Symmetrie der Fehlschlüsse liegt auf der Hand: Während der Irrtum der ersten Art darin besteht, die Entdecktheit des Entdeckten bewußtseinsabsolutistisch zu übertreiben, zeigt sich das Verfehlte der zweiten Art darin, daß die Entdeckung objektivistisch untertrieben wird, als käme es für eine aus sich selbst seiende »Substanz« oder Entität nicht darauf an, wann, wo und wie sie in ein Wissen eintritt und unter welchen symbolischen Formen und welchen logischen Nachbarschaften sie in einer Gesellschaft von Kenntnisnehmern zirkuliert.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 216-217).
„Der Stoff des Seins wird von diesem selbst her gewissermaßen vorschlagsförmig präsentiert – man könnte sogar vorwurfsförmig sagen, sofern man den Ausdruck vom griechischen Verbum proballein: hinwerfen, vorwerfen, her versteht, aus dem das Nomen problema abgeleitet ist. In Problemen reden die Dinge zur Intelligenz; in Vorsätzen öffnen sie sich der menschlichen Partizipation. Durch Relevanzdruck verleihen sie der Kreativität Flügel. Als nicht-redende konnten Dinge, Sachlagen, Naturen nur erscheinen, wenn und solange sie zuvor von einem Intellekt, der die Sprache für sich reserviert, zum Verstummen gebracht wurden. Der ursprüngliche Modus der Gegebenheit von Dingen ist ihre Interessantheit fürAnderes: Das Eine geht das Andere an; Seiendes ist stets in ein Relevanzbad getaucht, in dem es sich gemeinsam mit Intelligenzen bewegt. Die problem-ontologische Betrachtungsweise – Sein heißt Sich-Vorschlagen – bietet den Vorzug, die angebliche Kluft zwischen den Wörtern und den Dingen erst gar nicht mehr aufklaffen zu lassen, in der so viel metaphysisch engagierte Intelligenz verschwand bei überflüssigen Versuchen, sie zu überbrücken. Wenn die Welt alles ist, was der Fall ist, und alles der Fall ist, was vorgeschlagen oder einem wissenden Anteilnehmen vorgeworfen wird, dann ist das Entdecken als Vorschlagsentfaltung zu verstehen, bei dem ein spürbar höherer Grad an Artikuliertheit erreichbar ist. Dasselbe drückt die Falten-Metapher aus: Wo eine Falte oder etwas Eingerolltes vorliegt, kann ein Entbreiten oder Auseinanderrollen (explicare) ansetzen. Falten sind die Vorschläge oder Propositionen, an denen eine Explizitmachung angreift. Wo man die Falte sieht, nimmt man den Hinweis auf ein Falteninneres wahr, das noch nicht ausgebreitet wurde.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 219-220).

Also: „Der einzige Ausweg aus dem Dilemma, zwischen alternativen Irrtümern wählen zu sollen, zeigt sich im Nachweis, daß ein dritter Pfad offensteht“, so Sloterdijk, der sich auf „Heideggers Untersuchungen über das »Wesen der Wahrheit«“ bezieht (vgl. Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 217 bzw. 221ff. und Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 1930 ):
Wissenschaft und Technik haben Heidegger zufolge „von sich her den Charakter eines organisierten Attentats auf die Verborgenheit. Den maßgeblichen Wink für die Entwicklung dieser Ansicht entnahm Heidegger dem griechischen Wort für Wahrheit, alethéia, das er mit Un-Verborgenheit übersetzte – in einer Hinsicht wohl zu Recht, da es sich nahelegt, den Ausdruck als Kompositum aus dem Wort lethe, Verhüllung, Verbergung, Vergessen, und dem Negationspräfix a – zu analysieren. Demnach beruhte der Begriff auf der Vorstellung, daß »wahr« ist oder besser: in den Wahrheitsbereich eintritt, was aus einer Verhüllung, Verbergung, Vergessenheit in die Enthüllung, Entbergung, Erinnerung »herüberkommt«. Nicht allein durch das Urteil, das einen Satz als wahr oder falsch bestimmt, wird die Wahrheit als Wahrheit gestiftet; sondern daß eine Erscheinung, ein Vorschlag, eine Phänomen-Falte in den Bereich des Offenliegenden ragt und das Urteil (das naturgemäß auch falsch sein kann) herausfordert, hält das Wahrheitsgeschehen in Gang.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 221-222).
„Wahrheit ist also nicht bloß eine Eigenschaft von ausgesprochenen Sätzen, die dann und nur dann wahr heißen dürfen, wenn »im Realen« »tatsächlich« der Fall wäre, was in den Sätzen behauptet oder »abgebildet« wird; vielmehr stellte die Physis … ein selbstpublizierendes Geschehen dar, in dessen Verlautbarungen die spürenden und sätzebildenden Intelligenzen einbezogen sind. Man darf sich durch die allegorische Redeweise nicht verschrecken lassen – wenn man von der Natur wie einer handelnden Person spricht, sind stets mediale Prozesse gemeint. In ihrem Erscheinen, so läßt sich der Gedanke umformulieren, gibt die Natur sich selbst zu verstehen – sie erteilt Winke, sie zeigt ein Bild von sich, sie läßt sich hören und sehen, sie teilt sich in ihrem Aufgehen, ihrem Ertönen mit. Die Natur … ist eine Autorin, die im Selbstverlag publiziert (wobei sie wohl auf ein menschliches Lektorat angewiesen ist).“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 222-223).
Die tragische Ironie der „Fehlauslegung von Naturerkenntnis durch die Metaphysik sowie ihre Fortsetzer in den modernen Naturwissenschaften und Technologien besteht nun Heidegger zufolge darin, daß ihre extrem reduktionistischen, das Wahrheitsgeschehen entstellenden und verarmenden Begriffe so erfolgreich waren, daß sie im Modus einer sich selbst wahrmachenden Prophezeiung über mehr als zweitausend Jahre hin für die europäische Rationalitätskultur bestimmend wurden. Dieser Zeitraum wäre daher ausdehnungsgleich mit der Ära der Seinsvergessenhait. Man erinnere sich, daß eine verwandte Sicht der Dinge mit dem Satz: »das Ganze ist das Unwahre« ausgesprochen wurde – was historisch bedeutet: Auch das Unwahre hat schon ein Altertum. Wer dessen Anfänge fassen will, um vor sie in unverzerrte Zustände zurückzugehen, muß sich mit Platons Verformelung der Wahrheit zur »Idee« oder noch früher zu Demokrits Aufspaltung der menschlichen Realität in Körper und Seele befassen. Fehlbeschreibungen dieser Größenordnung gehen, wie Heidegger sah, über die Bezeichnungskraft des gewöhnlichen Irtumsbegriffs hinaus; sie zwingt den Betrachter, zu Ausdrücken wie »Geschick«, vielleich sogar »Verhängnis« zu greifen.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 222-223).
Heidegger ließ laut Sloterdijk „das Offenbarwerden des Offenbaren ursprünglich aus einer Selbstpublikation des Seins hervorgehen – als Verlagsort der Publikation wird bei ihm die Lichtung () angegeben.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 226).
„Das durch Forschung und Erfindung erzeugte Wissen ist Neonlichtwissen. An die Stelle der Selbstlichtung des Seins tritt die Zwangslichtung des »Gegebenen«, an die Stelle der organischen Wahrnehmung die organisierte Beobachtung. Unter solchen Prämissen ist es unvorstellbar, daß Menschen je wieder in ein »Wahrheitsgeschehen« sich einordnen könnten, das von der alten Natur samt ihrem »Aufgehen«, ihrem »Gebären«, ihrem Verhüllen und Zurücktreten in die Unscheinbarkeit abgelesen würde – ein Geschehen, in dem die Dinge von ihnen selbst her ungenötigt zeigen, was und wieviel sie von Ihrem zu sehen geben, um den dunklen Rest als ihr Geheimnis zu wahren.“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 227-228).
„Das Menschenrecht auf Naturenthüllung und Kulturrekonstruktion wird so selbstverständlich und über-selbstverständlich vorausgesetzt, daß keine Menschenrechtserklärung es explizit zu machen bisher für nötig hielt. Nirgendwo ist das klarer formuliert worden als in Heideggers Diktum: »Technik ist eine Weise des Entbergens« ….“ (Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, 2004, S. 228). Und: Heideggers Lichtung ist „nicht ohne ihre technogene Herkunft zu denken.“ (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, 2001, S. 224 ).
Nur abendländische Menschen konnten mit ihrem „faustischen“ Wissens- und Forschungswillen auf die Idee kommen zu behaupten, daß der „Unendliche Raum“ das biete, mit dem ein „Faust“ alles erklären können müsse: Der Unendlichkeitsraum begann unendlich klein und wird unendlich groß und unendlich alt werden. Das „anthropische Prinzip“ () bestätigt diesen Glauben und verleiht ihm noch mehr Subjektivität: Es muß mindestens einen Beobachter (Menschen) geben, um mit den Mitteln der Wissenschaft zu beweisen, daß es einen Beobachter (Menschen) überhaupt geben kann. Gott ist während der abendländischen Geschichte mehr und mehr dem Subjekt namens Faust gewichen. Für Menschen der magischen Kultur mit ihrem strengen Monotheismus ist so etwas Gotteslästerung. Für sie zählt nur der eine Gott, und es ist ihnen egal, ob der wissenschaftlich erforschbar und erklärbar ist oder nicht. Für Morgenländer ist nämlich das, was die Abendländer den „Unendlichen Raum“ nennen, Gottes Gesetz und nicht ein Naturgesetz, hinter dem ja doch nur wieder das Gesetz eines Menschen steht oder eine wie auch immer von ihm naturwissenschaftlich konstruierte Selbstorganisation. Aber alle Menschen scheinen einverstanden zu sein mit der These, daß es so etwas wie ein Baumeister (ob Natur, Gott, Selbst oder einfach nur ein Prinzip u.s.w.) gewesen sein muß, der als Haupt-Techniker nicht nur alle Schrauben, sondern die Technik überhaupt und alle anderen Techniken so eingestellt hat, daß es das Universum, das Leben und uns Menschen überhaupt geben kann.

Nanoforscher bedienen sich heute der Fähigkeit zur Selbstorganisation, indem sie sich von der Natur inspirieren lassen: in jeder lebenden Zelle setzen sich effektiv und pausenlos einzelne Moleküle nach einem festgelegten Bauplan zu Proteinen und komplexen Erbgutsträngen zusammen. Die inspirierten Nanoforscher konstruieren mit Hilfe von Strängen aus Erbmaterial DNS und Eiweißstoffen winzige Transistoren. Die halb leitenden Herzstücke dieser Schaltkreise bilden nur ein Nanometer dünne Röhrchen aus Kohlenstoff. Die Forscher knüpfen z.B. ein bestimmtes Protein (RecA) der Escherichia-coli-Bakterie an die Kohlenstoff-Hülle des halb leitenden Hohlkörpers und bringen die Röhrchen in direkten Kontakt mit einem Gerüst aus DNS-Ketten. Sie docken über das Bakterien-Protein biochemisch an den Erbgutstrang an und können so in einer gewünschten Ausrichtung und Position fixiert werden. Weil Schaltkeise auch einen elektrischen Kontakt benötigen, werden die DNS-Moleküle, die das Nano-Röhrchen an beiden Seiten fest halten, z.B. mit einem hauchdünnen, leitenden Goldfilm überzogen. So kann ein Spannungsimpuls bis zum Röhrchen geleitet werden. Diese Kombination aus beschichteten Biomolekül und hohler Kohlenstoff-Röhre kann also wie ein Transistor geschaltet werden. Weil diese Srategie auch auf komplexe Netzwerke von Schaltkreisen anwendbar ist, werden Biomoleküle wohl bald ganze Computerchips zusammenbauen.
Der Computerbau zeigt vielleicht schon jetzt an, wie weit wir mit bestimmten Beispielen aus der Technik kommen könnten: Mathematiker haben ausgerechnet, wann die Computerbauer spätestens an ihre Grenzen stoßen werden. Sollten sie mit derselben Geschwindigkeit fortfahren wie bisher, dann wird dieses Limit etwa im Jahre 2230 erreicht sein, dann nämlich, wenn die Computer 5,4 x 1050 Operationen pro Sekunde ausführen und dabei 1031 Bit an Informationen speichern können. Dann tritt ein physikalischer Zustand ein, der unser heutiges Vorstellungsvermögen sprengt: alle Materie des Rechners wird dann in Energie umgewandelt – d.h. er verschwindet!

Bis zum Beginn des 23. Jahrhunderts wird sich die abendländische Kultur auf die anderen Umstände vorbereitet haben – auch weil dann der letzte, vollendende Zivilisationshöhepunkt erreicht sein wird.

Unser eigenes Bewußtsein wird wohl lernen müssen, sich als Bewußtsein einer Maschine, als gemachtes und doch in seinem faktischen Sein unhintergehbares, in sich geschlossenes Dasein zu verstehen. Bereits heute werden Organe (auch Gehirne) mit nicht-biologischer Intelligenz aus- und aufgerüstet oder repariert. In Zukunft werden Kleinstcomputer (Nanobots) von der Größe einer Zelle unsere Gehirnfunktionen verbessern. Man wird mit ihnen das Gehirn erkunden, Synapse für Synapse abtasten, Transmitter für Transmitter, und ein Gehirn kopieren können. Ray Kurzweil prognostizierte dies bereits 1999 in seinem Buch Homo S@piens – Leben im 21. Jahrhundert. Mit solchen Kleinstcomputern wird man virtuelle Realität erzeugen. Milliarden von Nanobots werden dann als künstliche Neuronen in unser Gehirn geschickt, die sich an jedem einzelnen, von unseren Sinnesorganen herkommenden Nervenstrang festsetzen. „Wenn wir reale Realität erleben wollen, dann halten die Nanobots still. Für das Erlebnis virtueller Realität unterbrechen sie die Zufuhr realer Reize und setzen künstliche Signale an ihre Stelle“. Wahrscheinlicwird bald schon das World Wide Web () aus virtuellen Begegnungsstätten bestehen, die genauso real sind wie jeder Ort der Welt. Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, auf dem Weg zu einer neuen Existenz.
Oder doch schon auf dem Weg zum „Wärmetod“?
Der Industrialismus, der die von der Natur akkumulierte Materie in Energie umwandelt (zum „Verbrauch“), wird er das Schicksal der Entropie erleiden? Der 1. Hauptsatz der Wärmelehre sagt noch nichts über die Entropie aus, denn er besagt erst einmal nur, daß Wärme eine besondere Form der Energie ist, daß sie in festen Verhältnissen in andere Energieformen umgewandelt werden kann und auch umgekehrt. In einem geschlossenen System bleibt die Summe aller Energiearten konstant. Der 2. Hauptsatz der Wärmelehre ist der sogenannte Entropiesatz, denn er betrifft die Entropie, die Zustandsgröße thermodynamischer Systeme und das Maß für die Irreversibilität der in ihnen ablaufenden Prozesse, konkreter: das Maß für den nicht in mechanische Arbeit umwandelbaren Energiegehalt, das Maß für Unordnung, das Maß für Chaos! Die Gesamt-Entropie kann niemals abnehmen, und sie kann bei reversiblen Vorgängen (im Idealfall) konstant bleiben, weil der Entropiesatz besagt, daß die Entropie eines abgeschlossenen thermodynamischen Systems sich nur durch Austausch mit der Umgebung ändern oder aber sich nur von selbst vermehren kann (also: Entropie kann nicht vernichtet werden). Damit ist gleichzeitig der Richtungscharakter ausgedrückt: Wärme kann nicht von selbst von einem kälteren auf einen wärmeren Körper übergehen. Mechanische Arbeit kann zwar vollständig in Wärme umgewandelt werden, aber eben niemals umgekehrt. Aus der im Entropiesatz formulierten Gesetzmäßigkeit folgt, daß in einem abgeschlossenen System die Wahrscheinlichkeit für einen Zustand um so größer ist, je größer seine Unordnung ist. Das Maß für diese Unordnung ist die Entropie. Ein Chaos-Maß ! Die Entropie läßt sich genau bestimmen durch mathematische Formelberechnung, die für jedes System eine entsprechende Zustandsgröße der gebundenen Energie feststellt. Besonders deutlich läßt sich die Entropie an thermodynamischen Vorgängen dann ablesen, wenn man zwischen umkehrbaren und nichtumkehrbaren Abläufen unterscheidet: bei umkehrbaren Abläufen bleibt die Entropie unverändert, bei nichtumkehrbaren Abläufen nimmt die Entropie zu, und diese Zunahme geht auf Kosten der mechanischen Energie – sie ist der „Verlierer“ und die Wärme-Energie der „Gewinner“ -, der Verlust mechanischer Energie ist es also, der einhergeht mit der Zunahme der Entropie. Bei allen nichtumkehrbaren Vorgängen in der Natur nimmt die Energie der thermodynamischen Geschehnisse – also: die Wärme (!) – ständig zu und die Energie der mechanischen Geschehnisse ständig ab, was schließlich zu einem Stillstand, zum „Wärmetod“ (!) führen müßte. Dagegen spricht jedoch die kosmologische Unmöglichkeit einer abgeschlossenen empirischen Erkenntnis von der „Totalität des Weltalls“, denn ohne begründete Anwendung bleibt auch die Auffassung von der Entropie reine Theorie, reine Mathematik, reine Logik, reines Denken, reiner Glaube. Aber all das brauchen wir ja, also brauchen wir nicht nur den Tod, um das Wissen vom Leben zu haben, sondern auch das Leben, um den Tod vom Wissen zu haben. Das Kälteleben ist der „Verlierer“ und der Wärmetod der „Gewinner“ – jedenfalls beim Wissen vom Schicksal der Entropie, dem Chaos-Maß!
Wenn es richtig ist, daß in der unbelebten Welt die natürliche Tendenz herrscht, sich hin auf einen
Zustand immer größerer Unordnung (z.B. gleichmäßige Durchmischung zweier Gase) zu bewegen,
dann bedeutet doch aber Gleichgewicht Unordnung (Chaos) und Ungleichgewicht Ordnung, oder?
„In der Physik ist der einfachste Zustand, den ein System erreichen kann, ein Gleichgewichtszustand. Ist das Gleichgewicht hergestellt, so geht nichts mehr, denn es ist ja alles ausgeglichen. … Prinzipiell gilt: Je näher ein System am Gleichgewicht ist, desto weniger tut sich in ihm. Ist das Gleichgewicht schließlich erreicht, so sind alle treibenden Kräfte erlahmt, und das System ist tot. Daß alle Systeme einem Gleichgewicht zustreben, ist eine der wichtigsten Grundregeln der Physik. … Die unterschiedlichen Energieformen haben unterschiedliche Auswirkungen. Ein Körper mit kinetischer Energie ist in Bewegung. Ein Körper mit potentieller Energie kann von einem Tisch herabfallen und dabei Bewegungsenergie gewinnen. Doch letztendlich haben alle Energieformen das Bestreben, sich in Wärmeenergie umzuwandeln. …. Materie versucht immer ins Gleichgewicht mit ihrer Umgebung zu kommen, indem sie alle Energieformen letztlich in Wärme verwandelt. Dieses Bestreben, sich so unordentlich wie möglich zu strukturieren, begegnet uns im Alltag ständig. Eine vom Tisch heruntergefallene Tasse, nun in tausend Scherben, bleibt zersprungen. …. Alle Prozesse im Universum haben die Tendenz, die Unordnung zu erhöhen, indem sie Wärme austauschen. Diese erstaunliche Erkenntnis ist als zweiter Hauptsatz der Thermodynamik bekannt geworden. Sie muß uns als Lebewesen unweigerlich beschäftigen, denn offenkundig zeichnen sich Lebewesen ja gerade dadurch aus, daß sie nicht im Gleichgewicht mit ihrer Umgebung sind. Oder anders ausgedrückt: Wenn sie sich im Gleichgewicht mit ihrer Umgebung befinden, sind sie tot. Irgendetwas in einem Lebewesen sorgt also dafür, daß das Ungleichgewicht aufrechterhalten wird, sich andauernd erneuert, ja sich sogar verstärkt. Lebende Organismen bauen Ordnung auf. Der Mensch zum Beispiel repariert sich ständig selbst. …. Wir bekommen alle fünf Tage eine neue Magenschleimhaut, die Leber wird alle zwei Monate komplett erneuert. Unser größtes Organ, die Haut, regeneriert sich alle sechs Wochen. In jedem Jahr werden 98 Prozent der Atome in unserem Körper durch andere ersetzt. Dieser ununterbrochene chemische Austausch, Stoffwechsel genannt, ist das Zeichen von Leben. Alle Lebewesen sind gewissermaßen Inseln der Ordnung in einem Meer von Unordnung. Sie sind in der Lage, sich selbst zu strukturieren, obwohl die Erfahrung zeigt, daß sich die Materie im allgemeinen nicht selbst ordnet. Wie kann das sein? Ist das nicht ein Verstoß gegen die Regeln der Physik, gegen die Theorien über den Ablauf der Welt? Auf diese Frage kann man mit einem entschiedenen »Nein« antworten!“ (Harald Lesch, Big Bang, zweiter Akt, 2003, S. 35-38). Für die Physiker „ist das Leben ein sich selbst organisierendes, dissipatives Nichtgleichgewichtssystem“ (ebd., S. 34, 42, 47). Oder so formuliert: „Leben ist ein sich selbst organisierendes Nichtgleichgewichtssystem, das mit seiner Umgebung Energie und Materie austauscht. Dies ist die physikalische Definition von Leben“ (ebd., S. 225).
Wie schon gesagt: Gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik enthält ein abgeschlossenes System im thermischen Gleichgewicht ein höchstmögliches Maß an Entropie. In einem geschlosseben System kan die Entropie zwar gleich bleiben oder zunehmen, aber niemals abnehmen. Also nimmt jegliches makroskopische Geschehen im System zwangsläufig dann ein Ende, wenn alle möglichen Prozesse vollendet sind, die Temperatur überall gleich ist und eine maximale Entropie erreicht ist. Dies impliziert natürlich, daß lange vor dem letzten makroskopischen Geschehen bereits alles Leben im Universum beendet sein wird. Der „Wärmetod des Universums“ wird von nicht wenigen Philosophen als Beweis für die Unvermeidbarkeit des Weltuntergangs angeführt. Vergessen wird dabei aber nicht selten die Annahme, daß daß unser Universum ein abgeschlossenes System ist. Wir wissen aber gar nicht, ob das wirklich so ist. Es ist nämlich auch gemäß der gegenwärtigen Physik immer noch offen, ob das uns bekannte Universum überhaupt ein abgeschlossenes System ist.

GUT zur Wiederholung:
Der „Bauplan des Universums“ soll zukünftig endlich entschlüsselt werden – mit der „Weltformel“, und die beinhaltet natürlich auch eine „Menschheitsformel“. Faust ist weiterhin auf der Suche nach dem Ur-Gesetz, in dem alles Dasein zu einem Ganzen verschmilzt – oder auch nicht. Die Weltformel soll beschreiben, wie sich alle Teilchen und somit alle Kräfte der Natur in einer einzigen Kraft zusammenfassen lassen. (Vgl. „Große Vereinheitlichte Theorie“: GUT). Und: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es z.B. einen neuen Teilchenbeschleuniger im europäischen Kernforschungszentrum CERN. Die Experimente, die dort möglich sind, ermöglichen vielleicht tatsächlich, der Weltformel wieder einen Schritt näher zu kommen. In diesem Teilchenbeschleuniger lassen sich Bedingungen herstellen, wie sie beim „Urknall“ geherrscht haben müssen. Das behaupten jedenfalls die Wissenschaftler. Ebenfalls seit Anfang des 21. Jahrhunderts gelingt es auch, mit Hilfe superschneller Rechner im Computer bestimmte Phänomene darzustellen, von denen sich die Forscher letztendlich eine Antwort auf uralte Fragen erhoffen, z.B.: Wie ist das Universum entstanden? Warum sind wir hier? Hat die Zeit einen Anfang gehabt, hat es sie immer gegeben, kann man sie in immer kleinere Einheiten aufteilen? Geht die Zeit tatsächlich immer nur nach vorne? Menschen empfinden das so, aber die Quantentheorie (Planck) sagt ihnen, daß es keineswegs so sein muß. Die beiden großen Theorien – die Quantentheorie (-mechanik), die den Mikrokosmos im Universum beschreibt, und die Relativitätstheorie, die das Zusammenspiel von Sternen und Galaxien erklärt – haben ihre Gültigkeit; sie lassen sich aber nicht oder noch nicht miteinander vereinen. Manche Physiker versuchen dies mit der „String-Theorie“ zu erklären. Die faszinierenden Erklärungsmuster der „Superstring-Theorie“ kommen der „Wahrheit der Schöpfung“ ganz gefährlich nahe, nur: sie können nichts beweisen. Aber Spaß beiseite: Materie besteht bekanntlich aus Atomen, die ihrerseits aus winzigen Teilchen wie Elektronen, Protonen, Neutronen und Quarks u.s.w. zusammengesetzt sind (vgl. Elementarteilchen) zusammengesetzt sind. Die Grundidee der String-Theorie ist, daß sie sich nicht punktartig (wie die Tradition glaubt), sondern jeweils aus einer winzigen eindimensionalen Schleife bestehen. Die String-Theoretiker vermuten, daß jedes Teilchen aus einem schwingenden Faden besteht, der einem Gummiband gleicht. String bedeutet Faden oder Saite: Pythagoras läßt grüßen. Die String-Theorie behauptet also, die Bauelemente des Kosmos seien winzige Fädchen aus Energie und wie unaufhörlich vibrierende Saiten. Aus ihren Schwingungen bestünden alle Elementarteilchen und physikalischen Kräfte. Die Strings brächten das Universum wie eine riesige Äolsharfe zum Klingen. Auch Pythagoras glaubte, die bewegten Himmelskörper tönten in Intervallen (Sphärenharmonie); diese Harmonie sei aber nicht wahrnehmbar, weil sie unaufhörlich auf uns einwirke. Von den Befürwortern wird die String-Theorie als Weltformel bezeichnet. Die Physiker erwarten von dieser Theorie eine Erklärung für die Eigenschaften der Elementarteilchen und die Eigenschaften der Grundkräfte, die die Teilchen wechselseitig beeinflussen.
Der Physiker Steven Weinberg (*1933) lieferte bedeutende Arbeiten zur Quantentheorie (Planck), zur Theorie der Elementarteilchen und ihren Wechselwirkungen sowie zur Gravitationstheorie und Kosmologie. Er formulierte 1968 eine einheitliche Theorie der schwachen und elektromagnetischen Wechselwirkung der Leptonen. Die „Große Vereinheitlichte Theorie“ (GUT) erhielt durch Weinberg also einen erneuten Auftrieb, und für diesen Beitrag zur Vereinheitlichung der Naturkräfte bekam er 1979 den Nobelpreis für Physik. Wie kam er darauf? „Ich hatte über ganz andere Dinge nachgedacht – über die … starke Wechselwirkung, die die Atome zusammenhält – und … kam nicht so recht weiter. Dann fiel mir plötzlich ein, daß meine Ideen sich auf ein ganz anderes Phänomen anwenden ließen, nämlich auf die schwache Wechselwirkung, die für den radioaktiven Zerfall verantwortlich ist. …. Es funktionierte tatsächlich, und sogar auch für die Kraft, die zwischen elektrisch geladenen Teilchen wirkt. So hatte ich eine einheitliche Theorie für zwei Kräfte gefunden, die im Universum wirken. (Schwache Kernkraft und Elektromagnetismus). Ich bin nicht sicher, ob der Mensch klug genug ist, um eine physikalische Weltformel zu finden. Aber ich habe in meinem Forscherleben immerhin einen starken Trend zur Einfachheit erlebt. Nicht weil die Mathematik einfacher geworden wäre, im Gegenteil – sie wird immer schwieriger, immer esoterischer. (Esoterik). … Wir sind verdammt, wenn wir die Weltformel nicht finden, aber wir sind auch verdammt, wenn wir sie finden.“ (Steven Weinberg, 2001).
„Einerseits sind wir kurz davor, die Gesetze des Universums zu verstehen – wenn wir wissen, nach welchen Regeln es funktioniert, können wir es kontrollieren … -, andererseits sind wir an einen Punkt angelangt, an dem wir unsere eigene biologische Entwicklung mit der Gentechnologie kontrollieren können. …. Vielleicht werden in Zukunft die Computer die Herrschaft übernommen haben. Ich hoffe aber, das wird nicht so sein. Ich glaube an den Menschen!“ (Steven W. Hawking, 2001).

„Leben gehorcht den quantenmechanischen Gesetzen der Physik.“ (Johnjoe McFadden, 2001).
Biologen entschlüsseln nicht den Atomkern, sondern den Zellkern; trotzdem ist auch für sie der Atomkern wichtig, denn neuerdings sehen gerade die Molekularbilologen das Lebendige als Teil des physikalischen Mikrokosmos, und das führt in der Konsequenz zum künstlichen Leben, weil die Forscher kein Hindernis mehr sehen (wollen), seit sie verstehen, wie das Leben auf der Ebene der kleinsten Teilchen funktioniert. Wer im Erbgut nichts anderes sieht als einen gigantischen Baukasten mit ca. 150000 verscheidenen Teilen mit jeweils ca. 25000 Einzelteilen, der sieht in ihnen kleine Fabriken, die auf der Ebene der Moleküle irgend etwas aufnehmen und ein wichtiges Produkt herstellen – z.B. hochspezialisierte Eiweißstoffe. Damit kann man wirklich schon Schöpfer spielen. Das Lebendige ist also heute verfügbar, und es wird genutzt. Auf längere Sicht wird so auch der Mensch nach Maß entstehen, nämlich „so wie man ihn braucht“ (Martin Heidegger), entworfen am Reißbrett. „Ich bin nicht Gott, weil ich den Code entschlüsselt habe“, sagte der Physiker J. C. Venter am 20.02.2001 zum Philosophen Peter Sloterdijk. Venter hatte zuvor eine Sequenz des menschlichen Genoms veröffentlicht: beim Wettlauf um die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts hatte er alle überholt; seitdem laufen in der Schaltzentrale seiner Firma (!) die Daten zusammen, mit denen das menschliche Genom erfaßt ist. „Wir haben tatsächlich den Anspruch, das Leben der Menschen grundsätzlich zu verändern. Das ist unser Ziel für die Zukunft. In unserem Körper gibt es 100 Trillionen Zellen, mindestens 50000 Gene, vielleicht eine Million verschiedener Eiweißstoffe. Bisher kennen wir nur ein bis zwei Prozent dieser Informationen.“ (J. C. Venter, 2001). „Denn wir haben die Sequenz des menschlichen Genoms noch nicht vollständig. Und jetzt geht die Arbeit erst los. Wir müssen herausfinden, was diese Sequenz wirklich bedeutet und wie die darin enthaltenen Informationen die Funktionen eines Organsimsus steuern.“ (Hubert Markl, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft). Das war der Biologie-Wissensstand des Jahres 2001.

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———– = § ?
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Wirtschaft • Kunst
—————————– = Kultur ?
Technik ²

Wie schon gesagt: Bis zum Beginn des 23. Jahrhunderts wird sich die abendländische Kultur auf die anderen Umstände vorbereitet haben. Ob mit oder ohne „Weltformel“, „Lebenskulturformel“, „Menschheitsformel“.

Vgl.

Posted in Hubert Brune on April 22, 2012 by androsch

Philosophie|2|

– E i n e G e s c h i c h t e –

Die Geschichte der antiken Philosophie hat sehr viel zu tun mit der Geschichte der Alphabetschrift, ist fast sogar identisch mit ihr, wenn man von der Alphabetschrift-mit-Vokalen (!), der griechischen Schrift ausgeht. Zwar entwickelten die Phöniker (Phönizier) die erste Alphabetschrift – vollendet war sie sie gegen Ende des 14. Jahrhunderts v. Chr.-, doch diese erste Alphabetschrift bestand nur aus Konsonanten. Vielleicht noch im 14., aber wohl eher im 13. Jahrhundert v. Chr., als auch die Dorische Wanderung begann, übernahmen die Griechen die phönikische Schrift und erweiterten sie, denn die Griechen führten erstmals Vokale in das Alphabet ein, weil für sie einige der phönikischen Konsonanten überflüssig waren. Diese Redundanz war es also, die es den Griechen ermöglichte, das konsonantischeische Alphabet um Vokale zu erweitern, indem sie die überflüssigen Konsonanten nicht einfach eliminierten, sondern zu Vokalen erklärten und dadurch ein revoltionäres Alphabet einführten. Das griechische Alphabet ermöglichte durch die eingeführten Vokale erstmals eine lautgetreue Wiedergabe der Silben, Wörter, Sätze, des Textes. Das ist die griechische Schrift! Die griechische Schrift hatte enorme Auswirkungen, denn „allein durch das Ereignis der griechischen Schrift konnte sich die … Leser-Subjektivität entwickeln, deren starkes Merkmal in der Fähigkeit zum »Umgang mit Texten«, das heißt zum situationsunabhängigen Sinnverstehen, bestand. …. Dank aufgeschriebener Texte emanzipiert sich die Intelligenz vom Zwang des In-situ-Aufhalts () in mehr oder weniger verstehbaren Umständen. Das hat zur Konsequenz: Um eine Situation kognitiv zu bewältigen, muß ich nicht länger als ihr Teilnehmer in sie eintauchen und mit ihr in gewisser Weise verschmelzen, es reicht aus, ihre Beschreibung zu lesen – dabei steht es mir frei, zu bleiben, wo ich bin, und zu assoziieren, was ich will.“ (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 395). Die Schriftgeschichte ist in etwa identisch mit der Geschichte der Historiographie () und kann auch als eine Geschichte der Historienkultur beschrieben werden, doch muß berücksicht werden, daß diese eine Historienkultur aus mehreren Historienkulturen () besteht, und genau mitten in dieser Geschichte finden wir die antik-apollinische Kultur sowie das erste Alphabet und das revolutionäre Alphabet, das wir die griechische Schrift nennen. Dieser Einschnitt in die Schriftgeschichte war so gewaltig, daß man sogar sagen kann, er war für die von ihm betroffenen Menschen sogar ein Einschnitt in deren „In-der-Welt-Sein“ (), denn mit und nach diesem Einschnitt spaltete sich „das In-der-Welt-Sein explizit in erlebte und in vorgestellte Situationen – besser gesagt, es gelingt den vorgestellten Situationen dank ihrer Verschriftlichung, das Monopol des Verstehens-durch-in-der-Situation-Sein zu brechen. Mit der griechischen Schrift beginnt das Abenteuer der Dekontextuierung von Sinn.“ (Peter Sloterdijk, ebd., S. 395-396). Es geht hier also um den Aufstand des Texts gegen den Kontext, das bedeutet: die Losreißung des Sinns von den gelebten Situationen. Die griechische Schrift emanzipierte mit der ständigen Einübung des dekontextuierenden Denkens – üblicherweise als Lesen bezeichnet – den Intellekt vom Zwang zur Teilhabe an realen Konstellationen. Die griechische Schrift erzeugte erstmals den „rein theoretischen Menschen“, der später Philosoph heißen sollte.
Eine Bestimmung für die „Liebe zur Weisheit“ anzugeben, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, da die Philosophie im Unterschied zu den Fachwissenschaften keinen eigenen, eingeschränkten Gegenstandsbereich hat, über dessen Definition ihre Bestimmung laufen könnte, und da sie kein Lehrbuchwissen im strengen Sinne ausgebildet hat, das allgemein als philosophisches Wissen gelten könnte. Aber man kann vielleicht ein allgemein akzeptiertes Kennzeichen der Philosophie angeben, denn die Weisheitsliebe begreift sich als voraussetzungslos hinsichtlich der methodisch vorgetragenen Absicht, auch dort nach Gründen zu fragen, wo sich das alltägliche, aber auch das wissenschaftliche Bewußtsein mit faktisch akzeptierten Überzeugungen zufrieden gibt. Es gilt in der Philosophie der Grundsatz, daß nichts, was für gemeinsame Orientierungsbemühungen relevant ist, einem begründungsorientierten und in diesem Sinne philosophischen Diskurs entzogen werden kann und soll.
– Gnwqi sauton –
Erkenne dich selbst – diese Inschrift über dem Eingang des Apollontempels in Delphi wurde Thales von Milet (650-570) zugeschrieben. Das Wort „philosophos“ benutzte wohl zuerst Heraklit (544-483) – mit Hinweis auf die Bedeutung: „ein nach der Natur Forschender“ () -, im Sinne der „Liebe zur Weisheit“ wohl zuerst die sokratische Schule. Sokrates (470-399) gründete seine Tugendlehre auf die Inschrift am Apollontempel in Delphi; er sah in der Selbsterkenntnis die Vorbedingung aller Tugend.

En de tw pronaw tw en DelfoiV gegrammena estin wfelhmata anqrwpoiV eV bion egrfh de upV andrwn ouV gensqai sofouV legousin EllhneV. outoi oun oi andreV afikomenoi eV Delfous tw Apllwni ta adomena
Gnwqi sauton kai Mhden agan.

In der Vorhalle des Tempels von Delphi
stehen Sprüche an der Wand, die den
Menschen für ihr Leben von Nutzen sind. Hingeschrieben wurden sie von Männern,
die bei den Griechen als Weise gelten.
Diese Männer also kamen nach Delphi und
weihten dem Apoll die vielgepriesenen Sprüche
‚Erkenne dich selbst‘ und ‚Nichts allzu sehr‘.

Pausanias

* Der erste Spruch wurde Thales (650-570), der
zweite Spruch Solon (640-560) zugeschrieben.

Abendländisch denkend, aber dennoch ähnlich wie Sokrates sah Kant (1724-1804) in der Selbsterkenntnis aller menschlichen Weisheit Anfang und Lessing (1729-1781) sogar den Mittelpunkt aller Weisheit, dagegen bekannte Goethe (1749-1832), daß ihm „die so bedeutend klingende Aufgabe: Erkenne dich selbst, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Fähigkeit gegen die Außenwelt zu einer inneren falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, sofern er die Welt kennt, die er nur in sich, und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.“ (Goethe, Bedeutende Fördernis, 1823). Das Erkenne-dich-selbst ging in unendlich ironischer Reflexion nahezu verloren, und so folgte eine Re-Integration des Einzelnen, z.B. bei Hegel (1770-1831), dessen Philosophie ein System von Rückbindungen des Einzelnen in das Allgemeine darstellt.

Was ist das – die Philosophie?
Martin Heidegger (1889-1976) mit seiner „Ant-wort“:
„Das griechische Wort filosofia geht auf das Wort filosofoV zurück. Dieses Wort ist ursprünglich ein Adiectivum wie filaruros, silberliebend, wie filotimioV, ehrliebend. Das Wort filosofoV wurde vermutlich von Heraklit geprägt (). Dies besagt: für Heraklit gibt es noch nicht die filosofia. Ein duhr filosofoV ist nicht ein »philosophischer« Mensch. Das griechische Adiectivum filosofoV sagt etwas völlig anderes als die Adiectiva philosophisch, philosophique. Ein duhr filosofoV ist derjenige, oV filei to sofon, der das sofon liebt; filein, lieben, bedeutet hier im Sinne Heraklits: omologein, so sprechen, wie der logoV spricht, d.h. dem logoV entsprechen. Dieses Entsprechen steht im Einklang mit dem sofon. Einklang ist armonia. Dies, daß ein Wesen dem anderen wechselweise sich fügt, daß sich beide ursprünglich einander fügen, weil sie zueinander verfügt sind, diese armonia ist das Auszeichnende des heraklitisch gedachten filein, des Liebens. Das duhr filosofoV liebt das sofon. Was dieses Wort für Heraklit sagt, ist schwer zu übersetzen. Aber wir können es nach Heraklits eigener Auslegung erläutern. Demnach sagt to sofon dieses: En Panta, »Eines (ist) Alles«. »Alles«, das meint hier: Panta ta onta, das ganze, das All des Seienden. En, das Eins, meint: das Eine, Einzige, alles Einigende. Einig aber ist alles Seiende im Sein. Das sofon sagt: Alles Seiende ist im Sein. Schärfer gesagt: Das Sein ist das Seiende. Hierbei spricht »ist« transitiv und besagt soviel wie »versammelt«. Das Sein versammelt das Seiende darin, daß es Seiendes ist. Das Sein ist die Versammlung – logoV (vgl. Vorträge und Aufsätze, 1954, S. 207-229). Das Seiende ist im Sein. Solches zu hören, klingt für unser Ohr trivial, wenn nicht gar beleidigend. Denn darum, daß das Seiende in das Sein gehört, braucht sich niemand zu kümmern. Alle Welt weiß: Seiendes ist solches, was ist. Was steht dem Seienden anderes frei als: zu sein? Und dennoch: gerade dies, daß das Seiende im Sein versammelt bleibt, daß im Scheinen von Sein das Seiende erscheint, dies setzte die Griechen, und sie zuerst und sie allein, in das Erstaunen. Seiendes im Sein: dies wurde für die Griechen das Erstaunliche. Indessen mußten sogar die Griechen die Erstaunlichkeit dieses Erstaunlichsten retten und schützen – gegen den Zugriff des sophistischen Verstandes, der für alles eine für jedermann verständliche Erklärung bereit hatte und sie auf den Markt brachte. Die Rettung des Erstaunlichsten – Seiendes im Sein – geschah dadurch, daß sich einige auf den Weg machten in der Richtung auf dieses Erstaunlichste, d.h. des sofon. Sie wurden dadurch zu solchen, die nach dem sofon strebten und durch ihr eigenes Streben bei anderen Menschen die Sehnsucht nach dem sofon erweckten und wachhielten. Das Filein to sofon, jener schon genannte Einklang mit dem sofon, die armonia, wurde so zu einer arexiV, zu einem Streben nach dem sofon. Das sofon – das Seiende im sein – wird jetzt eigens gesucht. Weil das Fileinn nicht mehr ein ursprünglicher Einklang mit dem sofon ist, sondern ein besonderes Streben nach dem sofon, wird das filein to sofon zur filosofia. Denn das Streben wird durch den Eros bestimmt. Dieses strebende Suchen nach dem sofon, nach dem En Panta, nach dem Seienden im Sein wird jetzt zur Frage: Was ist das Seiende, insofern es ist? Das Denken wird jetzt erst zur »Philosophie«. (Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie? [Vortrag, August 1955], 1956, S. 12-15).
„Wir selber müssen dem, wohin die Philosophie unterwegs ist, entgegenkommen. Unser Sprechen muß dem, wovon die Philosophen angesprochen sind, ent-sprechen. Wenn uns dieses Ent-sprechen glückt, dann ant-worten wir im echten Sinne auf die Frage: Was ist das – die Philosophie? Das deutsche Wort „antworten“ bedeutet eigentlich soviel wie ent-sprechen. …. Die Antwort auf die Frage: Was ist das – die Philosophie? besteht darin, daß wir dem entsprechen, wohin die Philosophie unterwegs ist. Und das ist: das Sein des Seienden. In solchem Entsprechen hören wir von Anfang an auf das, was die Philosophie uns schon zugesprochen hat …. Deshalb gelangen wir nur so in die Entsprechung, d.h. zur Antwort auf unsere Frage, daß wir im Gespräch mit dem bleiben, wohin uns die Überlieferung der Philosophie ausliefert, d.h. befreit. Wir finden die Antwort auf die Frage, was die Philosophie sei, nicht durch historische Aussagen über die Definition der Philosophie, sondern durch das Gespräch mit dem, was sich uns als das Sein des Seienden überliefert hat. …. Die Entsprechung zum Sein des Seienden bleibt zwar stets unser Aufenthalt. Doch nur zuzeiten wird sie zu einem von uns eigens übernommenen und sich entfaltenden Verhalten. Erst wenn dies geschieht, entsprechen wir erst eigentlich dem, was die Philosophie angeht, die zum Sein des Seienden unterwegs ist. Das Entsprechen zum Sein des Seienden ist die Philosophie; sie ist es aber erst dann, wenn das Entsprechen sich eigens vollzieht, dadurch sich entfaltet und diese Entfaltung ausbaut. Dieses Entsprechen geschieht auf verschiedene Weise, je nachdem der Zuspruch des Seins spricht, je nachdem er gehört oder überhört wird, je nachdem das Gehörte gesagt oder geschwiegen wird. …. Das Entsprechen ist notwendig und immer, nicht nur zufällig und bisweilen, ein gestimmtes. Es ist in einer Gestimmtheit. Und erst auf dem Grunde des Gestimmtheit (dis-position) empfängt das Sagen des Entsprechens seine Präzision, seine Be-stimmtheit. Als ge-stimmtes und be-stimmtes ist das Entsprechen wesenhaft in einer Stimmung. …. Wenn wir die Philosophie als das gestimmte Entsprechen kennzeichnen, dann wollen wir keineswegs das Denken dem zufälligen Wechsel und den Schwankungen von Gefühlszuständen ausliefern. Vielmehr handelt es sich einzig darum, darauf hinzuweisen, das jede Präzision des Sagens in einer Disposition des Entsprechens gründet, des Entsprechens sage ich, … im Achten auf den Zuspruch.“ (Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie? [Vortrag, August 1955], 1956, S. 20-24).
„Wir versuchen, auf die Stimme des Seins zu hören. In welche Stimmung bringt sie das … Denken? …. Oft und weithin sieht es so aus, als sei das Denken nach der Art des räsonnierenden Vorstellens und Rechnens von jeder Stimmung völlig frei. Aber auch die Kräfte der Berechnung, auch die prosaische Nüchternheit des Planens sind Kennzeichen einer Gestimmtheit. Nicht nur dies; sogar die Vernunft, die sich von allem Einfluß der Leidenschaften frei hält, ist als Vernunft auf die Zuversicht in die logisch-mathematische Einsichtigkeit ihrer Prinzipien und Regeln gestimmt. Das eigens übernommene und sich entfaltende Entsprechen, das dem Zuspruch des Seins des Seienden entspricht, ist die Philosophie. Was das ist – die Philosophie -, lernen wir nur kennen und wissen, wenn wir erfahren, wie, auf welche Weise die Philosophie ist. Sie ist in der Weise des Entsprechens, das sich abstimmt auf die Stimme des Seins des Seienden. Dieses Ent-sprechen ist ein Sprechen. Es steht im Dienst der Sprache. Was das heißt, ist für uns heute schwer zu verstehen; denn unsere geläufige Vorstellung von der Sprache hat seltsame Wandlungen durchgemacht. Ihnen zufolge erscheint die Sprache als ein Instrument des Ausdrucks. Demgemäß hält man es für richtiger zu sagen: die Sprache steht im Dienst des Denkens, statt: das Denken als Ent-sprechen steht im Dienst der Sprache. …. Weil wir ohne eine zureichende Besinnung auf die Sprache niemals wahrhaft wissen, was die Philosophie als das gekennzeichnete Ent-sprechen, was die Philosophie als eine ausgezeichnete Weise des Sagens ist. Weil nun aber die Dichtung, wenn wir sie mit dem Denken vergleichen, auf eine ganz andere und ausgezeichente Weise im Dienst der Sprache steht, wird unser Gespräch, das der Philosophie nachdenkt, notwendig dahin geführt, das Verhältnis von Denken und Dichten zu erörtern. Zwischen beiden, Denken und Dichten, waltete eine verborgene Verwandtschaft, weil beide sich im Dienst der Sprache für die Sprache verwenden und verschwenden. Ziwschen beiden aber besteht zugleich eine Kluft, denn sie »wohnen auf getrenntesten Bergen«.“ (Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie? [Vortrag, August 1955], 1956, S. 28-30).

Hoffentlich habe ich Heidegger richtig verstanden. Ich deute seine Worte und fasse zusammen:
Philosoph ist, wer, indem er dem Logos (dem Wort, der Rede, Sprache, Vernunft, Kunde, Lehre, => Logik) entspricht, also so spricht, wie der Logos spricht, im Einklang, in Harmonie steht mit dem, was er „liebt“: Seiendes im Sein als das Erstaunlichste (die „Weisheit“ wurde es demnach also wohl erst später genannt!).
Wir selber müssen dem, wohin die Philosophie unterwegs ist, entgegenkommen. Genauer: Unser Sprechen muß dem, wovon die Philosophen angesprochen sind, ent-sprechen. Entspreche dem, wohin die Philosophie unterwegs ist! Das Entsprechen zum Sein des Seienden ist die Philosophie; sie ist es aber erst dann, wenn das Entsprechen sich eigens vollzieht, dadurch sich entfaltet und diese Entfaltung ausbaut. Als ge-stimmtes und be-stimmtes ist das Entsprechen wesenhaft in einer Stimmung. Versuche, auf die Stimme des Seins zu hören! In welche Stimmung bringt sie das Denken? Das eigens übernommene und sich entfaltende Entsprechen, das dem Zuspruch des Seins des Seienden entspricht, ist die Philosophie. Dieses Ent-sprechen ist ein Sprechen. Es steht im Dienst der S p r a c h e!

– Abendländische Philosophie als „Fußnote zu Platon“? –
Man erwartet von der Philosophie außerordentliche Aufschlüsse oder läßt sie als gegenstandsloses Denken gleichgültig beiseite. Man sieht sie mit Scheu als das bedeutende Bemühen ungewöhnlicher Menschen oder verachtet sie als überflüssiges Grübeln der Träumer. Man hält sie für eine Sache, die jedermann angeht und daher im Grunde einfach und verstehbar sein müsse, oder man hält sie für so schwierig, daß es hoffnungslos sei, sich mit ihr zu beschäftigen. Was unter dem Namen der Philosophie auftritt, liefert in der Tat Beispiele für so entgegengesetzte Beurteilungen. Für einen wissenschaftsgläubigen Menschen ist das Schlimmste, daß die Philosophie gar keine allgemeingültigen Ergebnisse hat, etwas, das man wissen und damit besitzen kann. Während die Wissenschaften auf ihren Gebieten meist sichere und allgemein anerkannte Erkenntnisse gewonnen haben, hat die Philosophie dies trotz der Bemühungen der Jahrtausende nicht erreicht. Es ist nicht zu leugnen: in der Philosophie gibt es keine Einmütigkeit des endgültig Erkannten. „Was aus zwingenden Gründen von jedermann anerkannt wird, das ist damit eine wissenschaftliche Erkenntnis geworden, ist nicht mehr Philosophie, sondern bezieht sich auf ein besonderes Gebiet des Erkennens.“ (Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, 1950). Das philosophische Denken hat auch nicht, wie die Wissenschaften, den Charakter eines Fortschrittsprozesses. Wir sind gewiß weiter als Hippokrates (460-370), der griechische Arzt; wir dürfen kaum sagen, daß wir weiter seien als Platon (427-347). Nur im Material wissenschaftlicher Erkenntnisse, die er benutzt, sind wir weiter. Im Philosophieren selbst sind wir vielleicht noch kaum wieder bei ihm angelangt. ().
Eine sehr wandlungsreiche Denkentwicklung und Wirkung auf die abendländische Philosophiegeschichte ist die Geschichte eines Mannes, der Philosoph, Physiker, Mathematiker, Erfinder, Historiker, Diplomat, kurzum ein Universalgenie war: G. Wilhelm Leibniz (1646-1713). Seine Gedanken kreisten hauptsächlich um das Problem einer geschlossenen, Widersprüche ausgleichenden, jeder Einzelheit der Wirklichkeit gerecht sein wollenden sowohl anschaulichen wie gedanklichen Systematik. Die Grundgedanken:

1) Vernunftgemäßheit und Gottesverbundenheit des Alls
2) Bedeutsamkeit des Individuellen, des Personenhaften in diesem All
3) Harmonie des Alls im Ganzen und im Individuellen
4) Quantitativ und qualitativ unendliche Mannigfaltigkeit des Alls
5) Dynamische Grundbeschaffenheit des Alls

Das Ganze wird von Gott zusammengehalten. Er hat das Zusammenwirken der Monaden, die als geistige Wesensheiten
ewig und unvergänglich sind, prästabilisiert, d.h. ihre Harmonie im voraus angelegt. Und eben alles so gemacht wie es ist:
„Die beste aller Welten“.
( G. Wilhelm Leibniz )
„Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“
( G. Wilhelm Leibniz )

Kant nannte es einen Skandal der Philosophie, daß man für die Realität der Dinge eines Beweises bedürfe. Einen Skandal der Philosophie im eigentlichen Sinne kann es aber nicht geben, denn in dem Ausdruck liegt eine Verkennung des Wesens der Philosophie. Der Sinn der Philosophie hat einen anderen Ursprung. Die Art der in ihr zu gewinnenden Gewißheit ist nicht die wissenschaftliche, nämlich die gleiche für jeden Verstand, sondern ist eine Vergewisserung, bei deren Gelingen das ganze Wesen des Menschen mitspricht. Wähend wissenschaftliche Erkenntnisse auf je einzelne Gegenstände gehen, von denen zu wissen keineswegs für jedermann notwendig ist, handelt es sich in der Philosophie um das Ganze des Seins, das den Menschen als Menschen angeht, um Wahrheit, die, wo sie aufleuchtet, tiefer ergreift als jede wissenschaftliche Erkenntnis. Es ist also keinesfalls skandalös, daß die Philosophie im Laufe ihrer Jahrtausende abgesehen von einigen ontologischen Differenzierungen, logischen Axiomen und manchen geistreichen metaphysischen Hypothesen noch keine Erkenntnis zutage gefördert hat, der eine von allen Philosophen anerkannte Evidenz zukommt. Kennzeichnend für philosophische Fragen ist oft ihre Radikalität; nicht dieser oder jener Kausalzusammenhang wird erforscht, sondern der Sinn, der dem Ganzen überhaupt beigelegt werden kann. Für den Philosophen ist die Sinngebung jeweils entscheidend.
Alles ist Zahl – das war die Devise des Pythagoras (um 580 – um 500), der im unteritalienischen Kroton einen Bund für sittlich-religiöse Lebensform gründete und wegen seiner exklusiv aristokratisch-konservativen Einstellung verfolgt wurde. Er suchte das Geheimnis der Welt nicht in einem Urstoff, wie alle seine Vorgänger, sondern in einem Urgesetz, dem Urgesetz der zahlenmäßigen Beziehungen der Weltbestandteile. Die Welt war für Pythagoras ein harmonisches Ganzes, ein ewiges, lebendiges göttliches Wesen: der Kosmos. Die Weltharmonie war für ihn musikalisch. Pythagoras hatte erkannt, daß Zahlenverhältnisse für den harmonischen Zusammenhang der Töne sorgen. Bei dem Monochord, einem altgriechischen Instrument mit einer Saite über einem Resonanzkörper mit beweglichem Steg, ergibt sich bei der Halbierung der Saitenlänge ein um eine Oktave höherer Ton. Für die Oktave ist also das Verhältnis der Saitenlängen 1:2, für die Quinte 3:2 und die Quarte 4:3. Pythagoras ging so weit, auch die soziale Harmonie auf Zahlenverhältnisse zu gründen und Tugenden mit bestimmten Zahlen zu identifizieren. Er stellte sich die Zahlen als geometrische Figuren vor, die die Welt erst zur Welt, zu einer Ordnung machten. Pythagoras erforschte die Geometrie der vollkommenen festen Körper, der fünf Urkörper, die wir heute als die fünf platonischen Urkörper kennen. Es handelt sich hierbei um konvexe Polyeder, die von regelmäßigen, untereinander kongruenten Vielecken begrenzt werden und in deren Ecken jeweils gleich viele Kanten zusammenstoßen. Pythagoras und nach ihm Platon meinten, die mathematisch-geometrischen Körperformen entsprächen der Form der Seele, so daß Wahrnehmung und Erkenntnis durch Passung zustande kämen. Die Mathematik würde dann zugleich die Prinzipein im Aufbau der Seele und der Objektwelt erfassen. Erkennen hieße dann, wie der für seine „Unschärferelation“ und seinen Versuch einer „Weltformel“ berühmte Physiker Werner Heisenberg (05.12.1901 – 01.02.1976) erklärte: das sinnlich Wahrnehmbare außen mit den Urbildern innen vergleichen und es damit als übereinstimmend zu beurteilen. Heisenberg stellte 1925-1927 fest, daß sich die Elementarteilchen durch weitere Teilungen nicht mehr in weitere (z.B. kleinere) Teilchen, also Körperformen zerlegen lassen, sondern lediglich und für kurze Zeit in mathematisch-geometrische Formen, die nicht lokalisierbar sind und dann wieder in ihre ursprüngliche Teilchenform übergehen. Sein Fazit war, daß man keine exakten Vorhersagen mehr machen könne und statt dessen auf Wahrscheinlichkeiten der Wahrscheinlichkeit angewiesen sei. Heisenberg beeinflußte mit seinen fundamentalen Beiträgen zur Atom- und Kernphysik die Entwicklung der modernen Physik nachhaltig. (). Pythagoras steht auch bei der heute angesagten String-Theorie Pate. Diese Theorie behauptet, die Bauelemente des Kosmos seien winzige Fädchen aus Energie – wie Saiten (strings) unaufhörlich vibrierend. Aus ihren Schwingungen bestünden dann alle Elementarteilchen und physikalischen Kräfte. Die Strings brächten das Universum wie eine riesige Äolsharfe zum Klingen. Auch Pythagoras meinte, die bewegten Himmelskörper tönten in Intervallen (Sphärenharmonie); diese Harmonie sei aber nicht wahrnehmbar, weil sie unaufhörlich auf uns einwirke.
Die String-Theoretiker sind ja vielleicht, falls sie typisch abendländische Esoteriker sein sollten, verkappte Nachzügler eines politisch-religiösen Empirismus, d.h. eines politischen Rationalismus, der leider spekulativ bleiben muß, weil die vibrierenden Strings empirisch wohl kaum nachweisbar sein dürften. Ihre kosmischen Bauelemente, diese mit Energie beladenen Samenstränge oder Fädchen, sind ähnlich spekulativ wie die pythagoräisch-rationalistischen Zahlen-Atome oder die barocken absolutistisch-rationalistischen Gottesideen, Gottesbeweise und Gottesrechtfertigungen. Aber: Spekulationen sind außerordentlich wichtig! Gerade die faustischen Abendländer sollten bedenken, daß ihre Wissenschaft früher auch durch diejenigen Theorien befruchtet wurde, die heute aus plutokratischen Gründen abgelehnt würden. Unsere faustische Wissenschaft, unsere unendliche Forschung braucht heute mehr unabhängige Spekulationen und weniger unfruchtbare Geldgeber. (). Grundsätzlich sollten in Zukunft also auch andere, nicht vom Geld abhängige Theorien eine Chance haben, vielleicht sogar die String-Theorie, die ja mit Pythagoras‘ Sphärenharmonie oder Leibniz‘ prästabilisierter Harmonie verwandt ist. Pythagoras wirkte nicht nur auf den antiken Idealismus, sondern mit ihm und über ihn hinaus, und Leibniz wirkte nicht nur auf den abendländischen Idealismus, sondern mit ihm und über ihn hinaus. (). Könnte es möglich sein, daß der String-Theorie eine ähnliche historische Ausstrahlung gelingt? Im Anschluß an die Orphiker begannen die Pythagoräer vor etwas mehr als 2500 Jahren, die Seelenwanderung und die Wiederkunft des Gleichen zu lehren. Diese Tatsache ist uns heute, nach so langer Zeit, bekannt, obwohl immer noch nicht bewiesen ist, ob es die Seelenwanderung und die Wiederkunft des Gleichen wirklich gibt. Und die Zahlen-Atome des Pythagoras? Sind die bewiesen? Muß alle Theorie bewiesen werden? Sogar Philosophie oder Religion? Ist die String-Theorie, nur weil sie spekulativ ist, schon von vornherein gescheitert ? Hat es in der Vergangenheit nicht schon etliche Theorien gegeben, die für tot erklärt wurden und dennoch lange lebten? Totgesagte leben eben manchmal doch länger. Trotzdem: Strings sind experimentell kaum nachzuweisen. Sie sind so winzig, daß zu ihrem Nachweis ein Teilchenbeschleuniger von der Größe der Milchstraße nötig wäre. (). „Kosmische Schnüre“, wie die Große Vereinheitlichte Theorie die Strings auch nennt, sollen als zufällige Störungsmuster im Raum während eines Phasenübergangs im frühen Universum entstanden sein. Es sind extrem dünne Gebilde als geschlossene Schleifen oder ins Unendliche reichende gekrümmte Strukturen. Einige Forscher nehmen an, daß kosmische Strings als eine Art Samen für die Entstehung der Galaxien wirkten und die eigentümliche räumliche Verteilung der Sternsysteme erklären könnten. (Vgl. Superhaufen, Blasenstruktur des Universums, Hubble-Bubbles) – ().
Nach Platon ist Philosophie die Erkenntnis des Seienden oder des Ewigen und Unvergänglichen, nach Aristoteles (383-322) die Untersuchung der Ursache und Prinzipien der Dinge. Die Stoiker definierten die Philosophie als das Streben nach theoretischer und praktischer Tüchtigkeit, die Epikuräer als das Vermögen, durch Vernunft glücklich zu werden. Bis auf wenige Ausnahmen, gleichen sich alle antiken Philosophen und alle philosophischen Schulen in der Idealisierung einer Unerschütterlichkeit (ataraxia) und der Forderung nach Urteilsenthaltung (epoch), besonders ausgeprägt bei Skeptikern, Stoikern und Epikuräern. Sie lassen sich nur mit dem Ursymbol und dem Seelenbild der antiken Kultur erklären. Die Antike fand kulturell, also auch philosophisch, auch da Form, wo sie Inhalt suchte, z.B. in allem Urgrund einen Urstoff (arce) oder aber, wie eben beschrieben, eine mathematisch-geometrisch Urform. Das Abendland hingegen machte aus dieser Form einen Inhalt, indem es die antike Form suchte und sie als Inhalt immer wieder neu vorfand. Wenn man die antike und die abendländische Philosophie miteinander konfrontiert – die nicht weniger interessanten Phlosophien der Inder, Chinesen und Araber beiseite lassend -, dann fällt auf, daß die Philosophie primär als eine Angelegenheit der Antike, die Wissenschaft primär als eine Angelegenheit des Abendlandes anzusehen ist. Es fällt auf, daß, wie die beiden Kulturen selbst, auch Philosophie und Wissenschaft je zwei Oppositionspaare sind:

Antike Philosophie
ist „Wissenschaft“ im Sinne einer eher statischen Liebe zur Weisheit oder Epistemologie (antike Wissenschaftslehre). Eine Wissenschaft, wie sie das Abendland kennt, spielte in der Antike kaum eine Rolle. Antike Philosophie bedeutet untätige, auf das Sterben hin ausgerichtete Lebensführung, ob mit oder ohne Wissenschaft. Kennzeichend ist die Idealisierung eines statischen Lebens, also: epoch und ataraxia. Der Antike fehlte nicht die Moderne an sich, sondern eine „abendländische Moderne“. ().
In der Antike bedeutete die Tendenz, Wissenschaft als strenge Philosophie zu betreiben, den Raum der Philosophie zu betreten. Dagegen bedeutete die Tendenz, Philosophie als strenge Wissenschaft zu betreiben, den Weg in die Pseudomorphose zu gehen, wenn nicht sogar in den Tod der Kultur.
Abendländische Wissenschaft
ist „Philosophie“ im Sinne einer eher dynamischen Empiriologie oder Historiotechnik (abendländische Wissenskunst). Eine Philosophie, wie sie die Antike kannte, spielt im Abendland kaum eine Rolle. Abendländische Wissenschaft bedeutet tätige, auf das Leben hin ausgerichtete Technikführung, ob mit oder ohne Philosophie. Kennzeichend ist die Idealisierung einer dynamischen Technik, also: Mobilisierung als Moderne. Dem Abendland fehlt nicht das Philosophie-Ideal an sich, sonderm ein „antikes Philosophie-Ideal“. ().
Im Abendland bedeutet die Tendenz, Philosophie als strenge Wissenschaft zu betreiben, den Raum der Philosophie zu verlassen. Dagegen bedeutet die Tendenz, Wissenschaft als strenge Philosophie zu betreiben, den Weg in die Pseudomorphose zu gehen, wenn nicht sogar in den Tod der Kultur.

(Ausnahmen bestätigen diese Regeln!)
Was in der Antike Philosophie war, das sollte im Abendland Wissenschaft werden. Der in der Antike als Wissenschaft übrig gebliebene Rest entspricht dem im Abendland als Philosophie übrig gebliebenen Rest. Die Stellenwerte sind also vertauscht. Philosophie und Wissenschaft in der Antike sind etwas völlig anderes als im Abendland. Es geht hier also nicht darum, die antike Wissenschaft und die abendländische Philosophie unter Wert verkaufen zu wollen, sondern sie im interkulturellen Vergleich beschreiben zu können, und dabei (nicht weltweit!) schneidet nun mal die Antike hinsichlich der Wissenschaft schlechter ab als das Abendland, während das Abendland hinsichtlich der Philosophie schlechter abschneidet als die Antike. So gesehen ist die These richtig, die abendländische Philosophie sei eine Fußnote zu Platon, zum Platonismus, zur attischen Philosophie, d.h. zu Griechenland, also: zur Antike. (). Aber aus dem eben Gesagten geht ebenso die These hervor, jede weltweit verwendete moderne, alle Mobilität beschleunigende Technologie sei ein Quellenverweis zur Wattschen Dampfmaschine, zur Industriellen Revolution, d.h. zur Moderne, also: zum Abendland. (). Wenn die Antike heute noch existierte, würde sie, auf ähnliche Weise wie Indien, auch weiterhin ihre Kultur auf ganz fromme Art pflegen, aber trotzdem auch vom Abendland die automobile, moderne Technologie übernommen haben. In dem Fall hätte allerdings die abendländische Kultur auch das antike Philosophie-Ideal im stärkerem Ausmaß übernommen, dann aber wahrscheinlich auch seine mobilisierende, ständig modernisierende Technologie erst viel später oder vielleicht gar nicht entwickelt, denn neben aller Kulturgenetik spielt die kulturfamiliäre Umwelt, später die Kulturumwelt überhaupt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Doch die Antike verstarb so früh, daß das Abendland gerade durch die Reaktion darauf, ob positiv (idealisierend) oder negativ (antiheidnisch), und durch die narzißtische Übermut-Beziehung zur christlichen Mutterkultur, in die Lage kam, seine in frühester Zeit kulturgenetisch festgelegte und über die germanischen Kontrollgene gesteuerte Anlage auch nach außen hin zur Entfaltung zu bringen. Nur so konnte das Abendland zu der Kulturpersönlichkeit werden, als die es heute angesehen wird, ob positiv (wohlständisch), negativ (willenskrank, herrisch u.s.w.) oder neutral (unendlich faustisch).
Im geistigen Sinne bedeutet Antike eine Kultur der Philosophie, dagegen Abendland eine Kultur der Wissenschaft. Die apollinischen Ästheten der statischen Körper und die faustischen Forscher der dynamischen Unendlichkeitsräume sind so gegensätzlich, daß sie äußerst günstige Lernformen und Lerninhalte anbieten für diejenigen, die durch die Ergänzung liebend und forschend lernen wollen. Die Chance des auf Gegenseitigkeit beruhenden Lernens, des Gegenlernens, ist immer gegeben, solange zumindest eine der beiden Kulturen noch lebendig ist. Die Philosophie galt – wegen der Erbschaft (!) – im Abendland lange Zeit als die Königin der Wissenschaften. Wenn aber beide tiefenkulturell als parallel laufende Phänomene anzusehen sind und die Philosophie aus der Theologie hervorging, die Theologie aus der Religion und diese aus dem Glauben, in den am Ende alle Neu-Kulturen wieder münden, dann sind Philosophie und Wissenschaft auch historisch austauschbar:

Glaube wird Religion (), Religion wird Theologie (), Theologie wird Philosophie (),
Philosophie wird Neu-Theologie (), Neu-Theologie wird Neu-Religion (), Neu-Religion wird Neu-Glaube.

Nachdem aus dem Glauben christliche Religion und aus dieser christliche Theologie geworden war, wurde im Gegensatz zur Theologie („Gottesweisheit“) die Philosophie zur „Weltweisheit“, deren Organ das natürliche Licht der Vernunft ist, während jenes der Theologie das übernatürliche Licht der Offenbarung ist. Am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit hatte die Philosophie bzw. die (Natur-) Wissenschaft sich endgültig emanzipiert. Die neuzeitlichen Empiristen und Rationalisten wie z.B. Francis Bacon (1561-1626), René Descartes (1596-1650) und G. Wilhelm Leibniz verstanden unter Philosophie die Gesamtwissenschaft in begrifflicher Form, wobei auch die rationalistische Lösung des Problems Theodizee, die Leibniz theoretisch allumfassend anging, eine große Rolle spielte. Leibniz‘ Kausalprinzip und Finalprinzip, sein Satz vom Grund und die von ihm begründete Differentialrechnung führten in der Anwendung auf physikalische Prozesse zur Interpretation der Naturgesetze als Extremalprinzipien (Differential-, Integral- oder Variationsprinzipien), das von ihm entwickelte binäre Zahlensystem mit den Ziffern 0 und 1 (Dualsystem) zur Computertechnik, die er mit seiner konstruierten Rechenmaschine bereits einleitete. Mehr noch: Leibniz wirkte in allen Wissensbereichen und auf alle Wissenschaftsbereiche ein. In dieser barock-absolutistischen Zeit war die Hochzeit der Hochdenker, die Hochzeit der abendländischen Philosophie erreicht, wurde die Wissenschaft enorm befördert. Hier waren Philosophen höchst angenehme Förderer der Wissenschaft. Sie beschäftigten sich vielleicht auch schon mit der Frage, ob und wie man mit diesem Wissen leben könnte, aber eigentlich lebten sie selbst noch so stark in dieser „besten aller Welten“ der Wissenschaft, daß diese Frage auch für die Philosophie nur eine marginale Rolle spielen konnte. (). Christian Wolff (1679-1754) nannte die Philosophie vielleicht auch deshalb die Wissenschaft aller möglichen Dinge. Kant unterschied die Philosophie nach ihrem Schulbegriff, dem System aller philosophischen Erkenntnisse, von der Philosophie nach ihrem Weltbegriff, der Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft. Goethe bekannte sich zur Philosophie, „wenn sie unsere ursprüngliche Empfindung, als seien wir mit der Natur eins, erhöht, sichert und in ein tiefes, ruhiges Anschauen verwandelt.“ Fichte (1762-1814) lehrte: „Was unsern Geist ergriffen und umgeschaffen und in eine höhere Ordnung der Dinge eingeführt hat, ist Philosophie in uns; in uns muß der Philosoph sein, unser gesamtes Wesen, unsere ganze Geistes- und Herzensbildung muß selbst Philosophie sein.“ Hegel nannte die Philosophie denkende Betrachtung der Gegenstände, die Wissenschaft der sich selbst begreifenden Vernunft. Schelling (1775-1854) stellte als Bedingung: „Der zur Philosophie Berufene ist nicht der, dessen Seele noch vollkommen einer tabula rasa gleicht, sondern derjenige, der die ganze Weite und Tiefe des zu Begreifenden durch Erfahrung kennengelernt hat.“ Schopenhauer (1788-1860) sah in der Philosophie die Aufgabe, das ganze Wesen der Welt abstrakt, allgemein und deutlich in Begriffen zu wiederholen. Nietzsche (1844-1900) meinte, daß die einzig mögliche und auch dann etwas beweisende Kritik einer Philosophie sei, wirklich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne. Doch eine solche Kritik sei nie auf Universitäten gelehrt worden, klagte er. Die Philossophie wurde also zunehmend Angriffen, besonders aus den eigenen Reihen, also der Selbstkritik, ausgesetzt. Man wollte herausfinden, ob denn die Philosophie die Aufgabe erfüllen könne, zwischen Wissenschaft und Religion eine Lebensorientirerung zu bieten, oder ob sie sich nicht besser gleich auf die eine oder andere Seite stellen solle. Sigmund Freud (1856-1939), der ein Schüler Schopenhauers bzw. Nietzsches war, auch wenn er sein Schüler-Sein durch einen ausgeklügelten Abwehrmechanismus ständig verdrängen mußte, meinte, die Philosophie sei eine der anständigsten Formen der Sublimierung verdrängter Sexualität, nichts weiter. Die Tatsache, daß er damit auch die Psychoanalyse, die Lebensphilosophie und nichts weiter ist, ins Niemandsland stellte, kam dem Meister der Verdrängung wohl nicht mehr ins Bewußtsein. Offenbar war ausgerechnet sein Ich dem Über-Ich so vollends ausgeliefert, daß Es nichts mehr zu melden hatte. Als Niemandsland zwischen Wissenschaft und Theologie, wie Bertrand Russel (1872-1970) die Philosophie nannte, ist die Philosophie Angriffen von beiden Seiten ausgesetzt, weil sie ja tatsächlich weder das positive Wissen der objektiven Wissenschaften, noch die subjektive Gewißheit des Gläubigen anbieten kann und will. Seitdem sich die Wissenschaft immer mehr von dem religiösen und dem sittlichen Bewußtsein gelöst hatte, ging es der Philosophie zunehmend auch um das Leben des Wissenden und darum, wie man mit dem Wissen leben kann. Philosophie ist immer ein Meta-Wissen oder ein Orientierungswissen durch Meta-Sprache. (Vgl. Feuer als 1. Kultursymbol und Sprache ). Nic. Hartmann (1882-1950) erkannte die Philosophie als „das Weltbewußtsein, in welchem der Mensch als in der Welt stehender sich dieser und seiner selbst bewußt zu werden versucht“. Von Nietzsches „nicht festgestelltem Tier“ und den „Existenzialien“ des Existenzphilosophen Heidegger (1889-1976) ausgehend, fand Clément Rosset (*1939) die spezifische Aufgabe der Philosophie darin, Fragestellungen für die am stärksten mit Angst besessenen Fragen zu entwickeln, wie die nach dem Sinn des Lebens oder die, wie man überhaupt als ein mit besonders hohem Bewußtsein begabtes Tier leben könne. Philosophie berührt demnach die Fragen, auf die auch die Religionen, allerdings durch Glauben statt durch Nachdenken, Antworten geben. Bewußtsein bedeutet ja tatsächlich immer auch Todeswissen, d.h. die Vorstellung möglichen eigenen Nichtseins, ja sogar einer Annullierung des Universums. Und tatsächlich bedeutet Philosophie den immer neuen und wiederholten Versuch, mit dem Wissen oder der Erkenntnis dessen, das man eigentlich nicht kennen sollte und wohl auch gar nicht zu kennen braucht, zu leben. Leben und Vernunft vertragen sich nicht unbedingt, so lehrt es die Bibel, jedenfalls nicht ohne kompensierenden Gottesglauben. Glaubens-, Religions- und Theologieersatz findet sich denn auch immer irgendwie in jeder Philosophie, die einen Versuch darstellt, mit dem Wissen zu leben. Vgl. Glaube (Religion, Theologie) – ().
Im Abendland begann die moderne Philosophie (das „Spät-Denken“) mit dem „Vater der Moderne“: Kant, mit dessen Kritik der reinen Vernunft (1781) das moderne Denken aufbrach, oder auch Hegel, der dem Projekt der Moderne seinen Inhalt und sein Ziel gab. Nach ihnen entdeckte man doch noch Philosophisch-Metaphysisches, z.B. Schopenhauer den Willen hinter der Vernunft, Darwin die Biologie hinter der Bibel-Geschichte, Kierkegaard die sterbliche Existenz hinter der Spekulation, Marx die Ökonomie hinter dem Geist, Nietzsche (und Freud) den Trieb hinter der Kultur, Planck (und Einstein * sowie Heisenberg) das Nichtwissen (d.h. die Wahrscheinlichkeit bzw. den Zufall) hinter dem Wissen, und Heidegger die konkrete Welt hinter der abstrakten. Wenn man Schopenhauer als Begründer der (abendländisch-[skeptisch-]modernen) Lebensphilosophie bezeichnen darf, so Kierkegaard als Nachfolger Schopenhauers und Begründer einer ersten Nebenlinie dieser Schopenhauerschen Schule. Denn die Existenzphilosophie begann also eigentlich schon mit Kierkegaard, und alle Existenzphilosophen des 20. Jahrhunderts waren von ihm beeinflußt oder erkannten sich zumindest in ihm wieder, soweit sie bereits ohne ihn ihr Konzept entwickelt hatten. Kierkegard hatte sich gegen Hegel gewandt, weil in dessen vom Weltgeist regierten System für den Einzelnen kein Platz und kein Sinn war. Diese Wendung hatte aber auch schon der späte Schelling gemacht, dessen Vorlesungen Kierkegaard in Berlin gehört hatte. Schelling sprach auch erstmals von „Existenz“ und dem „reinen Daß“, von dem seine positive Philosophie ausgeht. Darauf hat Hannah Arendt (1906-1975) in ihrer Schrift von 1946 (Was ist Existenzphilosophie?) hingewiesen und auch darauf, daß Karl Jaspers mit seiner Psychologie der Weltanschauungen (1919) das erste Buch der neuen Schule (vgl. „Mittlere Schule“ der Lebensphilosophie bzw. Existenzphilosophie ) vorgelegt hat. In den 1920er Jahren war Hannah Arendt Heideggers Geliebte. (). Heidegger elektrifizierte das Denken. Und: als Zauberer von Meßkirch denkt er das Alltägliche. Am Anfang, so Heidegger, ist immer schon Bedeutung. Was wir wahrnehmen, wenn wir wahrnehmen, ist das Dazwischen – zwischen Subjekt und Objekt. Zwischen beiden fließt die Bedeutung unentwegt hin und her – wie Strom, wie Übertragung an sich. Die Philosophie ist also noch immer nicht tot.

– Tod und Wille zur Berührung durch Begriffsdenken. Wer bin ich? –
Wer sich fragt und überlegt, ob er denn das Philosophieren überhaupt nötig habe oder ob er es nicht lieber sein lassen sollte, der findet sich von der Philosophie bereits befallen. Er philosophiert! Jedenfalls sah Aristoteles das so. Über die Philosophie spotten heißt in Wahrheit philosophieren, meinte Blaise Pascal (1623-1662). Der Philosophie kann man nicht entkommen, wenn man wissen will, ob und wie ein bewußtes Leben möglich ist, d.h. wie es glücklich sein kann. Die Gleichung Wissen = Tugend = Glückseligkeit scheint der von der Philosophie selbst suggerierte und verkündete Erfolg der Philosophie zu sein. Hermann Schmitz (*1928), Begründer einer neuen Phänomenologie, definierte in seinem System der Philosophie die Philosophie als ein Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. »Wer bin ich?«, diese Frage wäre damit die umfassendste und zentrale Frage der Philosophie. Weil der Mensch aber gar nicht scharf von der Umgebung abhebbar ist, kann die Frage »Wer bin ich?« weder von den positiven Wissenschaften noch von den einsamen, meditativen Selbstgestaltungen beantwortet werden. Die positiven Wissenschaften verwandeln nämlich alles, was ich für ein Merkaml oder eine Bestimmung meiner selbst annehme, rücken es von mir ab, machen es zum Umgebungsbestandteil, zu etwas Objektivem. Die einsame Selbstgestaltung, z.B. durch Yoga oder Zen-Meditation, löst mich dagegen ganz von meiner Umgebeung ab, so daß der Anlaß zu philosophischer Besinnung entfällt: die Irritation beim Versuch, sich in seiner Umgebung zu finden. Ich überschreite sie nämlich. Motiv der Philosophie oder Anlaß zu ihr, wäre also eine Irritation, womöglich ein Erschrecken: »Wie, wenn der Tod mich meiner Umgebung entreißt?« »Warum überhaupt weiterleben, wenn der Tod alles zunichte macht?« »Wozu ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts?« »Warum nicht jenseits von Gut und Böse leben, wozu ein Gewissen haben, wozu moralisch sein?« – alles Beispiele für die Versuche der Philosophen, Philosophie zu definieren. Für Schopenhauer war der Tod der Musaget der Philosophie. Schon Platon bestimmte die Philosophie als Einüben ins Sterben. Albert Camus (1913-1960) kannte nur ein einziges philosophisches Problem: den Selbstmord. Martin Heidegger wiederholte die Frage von Leibniz: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ und nannte sie die Grundfrage der Metaphysik. Kant, sofern er Moralphilosophie betrieb, sah im Gewissen den Garant ewigen Lebens. Rosset meinte, an ihrem Todes-Motiv bzw. an jenen Grundfragen sei die Philosophie auch gescheitert, denn bis dahin sei es keinem Denker gelungen, einen Gedanken hervorzubringen, der die Vorstellung des Todes und die sich aus ihr ergebende allgemeine Abwertung jeglichen Daseins hätte aufwiegen können. Durchweg haben die Philosophen sich vor dem Tod in die Vernunft, in die Rationalität gerettet, d.h. sie haben ihr eigenes Medium, das Nachdenken, womit sie ihr Leben verbrachten, zum ewigen Leben stilisiert, indem sie ihr Denken als Anschluß ans Ewige verstanden: an die Wahrheit. Platon definierte: Philosophen sind die, welche mit dem, was sich für ewig als dasselbe unwandelbar verhält, in Berührung kommen wollen. Es gelingt ihnen durch das Denken, das soll heißen: durch die Begriffe. (Vgl. Ideenlehre und Meta-Sprache) – ().

Wäre ich meine eigene Vorstellung, so wäre ich das, was sich vorstellt als das, was sich vorstellt als das, was …. Ich wäre eine rekursive Funktion f(x), eine Funktion f mit sich selbst als Argument x, also f(f(f(…))), Hülle ohne Fülle (?).
Was ist der Mensch? Nach Kant lassen sich in dieser Frage alle Fragen der Philosophie zusammenfassen. Nach seiner Meinung braucht man für die Antwort auf die Frage nach der Reichweite des menschlichen Geistes keine Erforschung der „paranormalen“ Phänomene, bei denen der Geist des Menschen ohne Vermittlung des Körpers auf außerkörperliche Dinge wirkt (z.B. Telekinese) und auch ohne Vermittlung der Sinnesorgane wahrnimmt (z.B. Hellsehen). Kant bestritt diese Phänomene in seiner Schrift „Träume eines Geistersehers (1766). Er hielt sie für Scharlatanerie und gab damit dem berühmten Wissenschaftler und Ingenieur Emanuel Swedenborg (1688-1772), der damals durch seine okkultem Fähigkeiten, besonders den Kontakt mit Geistern, von sich reden machte, der Lächerlichkeit preis. Als Kant dann etwas später dahinter kam, daß Raum, Zeit und physikalische Kausalität nur subjektive Formen für die Erscheinung der „Dinge-an-sich“ sein könnten, hätte er allerdings sein Urteil revidieren und zumindest die Möglichkeit solcher von Raum und Zeit unabhängiger Wirksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit des Geistes zugestehen müssen. Er tat es nicht. (). Aber Schopenhauer hat dann in seiner Schrift Versuch über das Geistersehen (1851) an seiner Stelle nachgeholt. Für ihn ist die Natur an sich das, was wir in uns selbst unmittelbar als Willen finden. Dieser Wille ist allmächtig, allsehend und allwissend. Die okkulten Phänomene der actio et visio in distans (Fernwirken und Fernsehen) geschehen durch Teilhabe des einzelnen Individuums am metaphysischen Willen. Der von Haeckel (1834-1919) beeinflußte Biologe und Philosoph Hans Driesch (1867-1941) gelangte nicht nur zur Aufstellung des Systems eines kritischen antimaterialistischen Vitalismus, d.h. zu einem Neu-Vitalismus, sondern erklärte in seinem Buch „Alltagsrätsel des Seelenlebens“ (1938) auch ganz im Sinne Schopenhauers die normale Wirksamkeit des Geistes (mittels des Leibes) als Aufhebung einer Einschränkung und als Kanalisierung der Allwirksamkeit und Allwissenheit des Geistes durch den Leib. Allwirksamkeit und Allwissenheit sind in den leiblichen Individuen als gänzlich maskiert oder eingeschränkt anzunehmen. Diese Maskierung und Einschränkung werden bei gewissen Hirnreizungen partiell aufgehoben. Was man das Paranormale nennt, ist also eigentlich das „Normale“: das universelle Allwissen und Allwirken (vgl. Leibniz‘ Ideal der Monade als wahrer Spiegel der Welt), das gelegentlich, meistens durch „emotionale Verbundenheit“ von seiner Verdeckung durch die leibliche Individuation befreit wird. Neben Schopenhauer waren auch Fichte und Hegel Kants Idealismus gefolgt, d.h. sie übernahmen Kants spätere Lehre der Idealität (Imaginiertheit) von Raum und Zeit. Entsprechend war ihre Einstellung zu parapsychologischen Phänomenen positiv. Parapsychologie war damals, Ende des 18. Jahrhunderts, durch die Wirksamkeit des Franz Anton Mesmer (1734-1815) im Gespräch. Man nannte sein Erforschen und seinen Umgang mit okkulten Kräften deshalb Mesmerismus. Mesmer selbst sprach vom tierischen oder animalischen Magnetismus, weil er die dabei hauptsächlichen Hypnosephänomene durch Magnetismus erklärte. Hegel stellte 1830 in der Enzyklopädie III fest, daß die „endlichen Auffassungen des Geistes“ von empirischer Seite „mit aller Brutalität einer ausgemachten Tatsache“ vom animalischen Magnetismus verdrängt worden seien und daß nun auch von theoretischer Seite diese Phänomene eines von den Schranken des Raums und der Zeit befreiten unendlichen Geistes begriffen werden müßten. Seine spekulative Philosophie sei die einzige, für welche der animalische Magnetismus kein unbegreifliches Wunder ist. Seitdem sich auch die Naturwissenschaft, d.h. die naturwissenschaftlichen Disziplinen, mit diesen Äußerungen seelischer Kräfte beschäftigt, die ihrer Art nach naturwissenschaftlich sein müßten, es aber nicht sind (!), spricht man von Psi-Phänomenen und unterscheidet hierbei Psi-Gamma-Phänomene (Wahrnehmungserscheinungen: Hellsehen, Präkognition, Vorwegnahme künftiger Ereignisse u.s.w.) und Psi-Kappa-Phänomene (Bewegungserscheinungen: Psychokinese, seelische Fernbeeinflussung eines Objekts u.s.w.). Eine „Gesellschaft für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie“ wurde z.B. 1950 in Freiburg (Breisgau) gegründet.
Auch scheint man immer mehr darauf aufmerksam zu werden, daß an jeder „rein“ wissenschaftlichen Erkenntnis der Glaube einen großen Anteil hat, z.B. der Glaube an die – wenn auch nicht vollkommene – Übereinstimmung der Erkenntnis- und der Seinskategorien. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozeß besteht aus einer psychophysischen Grundrelation (a posteriori) und einer kategorialen Grundrelation (a priori) als Verhältnis zwischen Erkenntnis- und Seinskategorien. Im Wahrnehmungsakt sind beide Grundrelationen im Spiel: die kategoriale bringt die Allgemiencharaktere des Gegenstandes zum Bewußtsein, die psychophysische die individuellen Sondercharaktere. „Durch die kategoriale Grundrelation begreifen wir, wissen wir aber nicht um das Dasein; durch die psychophysische Grundrelation wissen wir um das Dasein, begreifen es aber nicht.“ (N. Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, 1921). Schon Philosophen wie Leibniz („Prästabilisierte Harmonie“), Spinoza, Schelling, Schopenhauer und Fechner hatten z.B. für das Verhältnis zwischen Denken und Sein oder Psychischen und Physischen einen psychophysischen Parallelismus angenommen, wonach die beiderseitigen Verläufe einander sachlich und zeitlich streng entsprechen, ohne im mindesten in Wechselwirkung zu stehen. Fechner (1801-1887), der Begründer der Psychophysik, wollte die gesamte Leib-Seele-Frage über den psychophysischen Parallelismus lösen. (). Er gelangte durch Verallgemeinerung, Erweiterung und Steigerung der Gesichtspunkte über das Erfahrbare hinaus zu einer panentheistischen und panpsychistischen Naturphilosophie. Nach dem Panpsychismus sind alle Dinge beseelt, haben Leben und Bewußtsein, als ob nichts wirklich Totes existiere. Der Panentheismus ist die Vereinigung von Theismus, der das All, die Natur, von Gott machen läßt, und Pantheismus, der das All, die Natur zu Gott macht. Der Panentheismus aber ist keine All-Gott-Lehre, sondern behauptet nur das Enthaltensein des Weltganzen in Gott. Von der romantischen Naturphilosophie beeinflußt, bemühte sich der Physiker, Psychologe und Philosoph Fechner, für das Psychische ein physikalisches Maß zu finden und die Beziehung von Leib und Seele mathematisch zu formulieren und begründete nebenbei die experimentelle Psychologie und damit die Psychophysik, die von Wilhelm Wundt (1832-1920) und seinem psychologischen Institut in Leipzig weiter ausgebaut und zu einer der wichtigsten Grundlagen der Psychotechnik wurde. Wundt sagte über den psychophysischen Parallelismus, „daß alle diejenigen Erfahrungsinahlte, die gleichzeitig der mittelbaren, naturwissenschaftlichen und der unmittelbaren, psychologischen Betrachtungsweise angehören, zueinander in Beziehung stehen, indem innerhalb jedes Gebiets jedem elementaren Vorgang auf psychischer Seite ein solcher auf physischer entspricht“. Die Gesamtheit der im Großhirn liegenden Endabschnitte der von den Sinnesorganen ausgehenden chemisch-physikalischen Wirkungsreihen (vgl. Reize) wird häufig auch als psychophysisches Niveau bezeichnet. Nur diejenigen Prozese in den Nervenbahnen und überhaupt im nervösen System des körperlichen Organismus sind bewußtseinsfähig und können eine Empfindung oder Wahrnehmung konstituieren, die sich im psychophysischen Niveau abspielen. Weil Näheres unbekannt ist, bleibt die Angelegenhiet eine Leib-Seele-Frage, und die Beziehungen zwischen Leib und Seele, die besonders in der heutigen Medizin, Psychotherapie und Psychopathologie eine zentrale Rolle unter der Bezeichnung Psychosomatik spielen, sind überhaupt nicht geklärt. Die Vorgänge im psychophysischen Niveau müssen als metaphysisch und metapsychisch zugleich aufgefaßt werden ; nur gewisse Glieder dieser Vorgänge treten als physiologische Erscheinungen auf.
Heidegger fand bei Husserl eine energische Verteidigung der Logik gegen ihre psychologische Relativierung. Worum es dabei geht, steht in Heideggers Aufsatz von 1912: „Grundlegend für die Erkenntnis der Widersinnigkeit und theoretischen Unfruchtbarkeit des Psychologismus bleibt die Unterscheidung von psychischem Akt und logischem Inhalt, von realem in der Zeit verlaufendem Denkgeschehen und dem idealen außerzeitlichen identischen Sinn, kurz die Unterscheidung dessen, was ›ist‹, von dem, was ›gilt‹.“ (Martin Heidegger, Gesamtausgabe, I, S. 22; vgl. auch Heideggers Dissertation: Die Lehre vom Urteil im Psychologismus, 1913). „Mit dieser Unterscheidung zwischen psychischem Akt und logischem Inhalt hatte Husserl zu Beginn des Jahrhunderts den gordischen Knoten des Psychologismusstreites durchhauen, allerdings sehr subtil, weshalb nur wenige, unter ihnen der junge Heidegger, bemerkten, was da geschehen war. Vordergründig handelte es sich um ein fachphilosophisches Problem, und doch kamen in diesen Kontroversen die gegensätzlichen Tendenzen und Spannungen der Epoche zum Austrag. Die Philosophie um 1900 befindet sich in schwerer Bedrängnis. Die Naturwissenschaften im Bunde mit Positivismus, Empirismus und Sensualismus nehmen ihr die Luft zum Atmen. …. Nun ist der Verstand, mit dem wir diesen ganzen Prozeß in Gang setzen, selbst ein Teil der Natur. Man müßte ihn also, so das ehrgeizige Vorhaben, mit derselben Methodik erforschen können wie die ›äußere‹ Natur. Und deshalb entsteht gegen Ende des Jahrhunderts, verbunden mit den Wissenschaften der Physiologie und Chemie des Gehirns, eine Art ›Naturwissenschaft‹ des Psychischen: die experimentelle Psychologie. …. Aus dieser Perspektive erscheint die ›Logik‹ als ein Naturgeschehen in der Psyche. Und das genau ist das ›Problem des Psychologismus‹. Denn die Naturalisten des Psychischen machen aus der ›Logik‹, diesem Regelwerk des Denkens, ein Naturgesetz des Denkens, und sie übersehen dabei, daß die Logik durchaus nicht empirisch beschreibt, wie wir denken, sondern wie wir denken sollen, vorausgesetzt, wir wollen zu Urteilen mit Wahrheitsanspruch kommen, was die Wissenschaft ja beansprucht. Indem die Wissenschaft das Denken als psychisches Naturgeschehen analysiert, verwickelt sie sich in einen heiklen Widerspruch: Sie untersucht das Denken wie ein Vorkommnis, das gesetzmäßig abläuft, würde aber, wenn sie auf sich selbst aufmerksam wäre, bemerken müssen, daß ihr Denken kein sich gesetzmäßig vollziehender Vorgang ist. Das Denken ist nicht von Gesetzen bestimmt, sondern es bindet sich an bestimmte Regeln. Im weiten Feld des Denkbaren tritt die Logik nicht als Naturgesetz auf, sondern als etwas, das gilt, wenn wir es gelten lassen. Der Begriff des Gesetzes hat bekanntlich einen Doppelsinn: Er bezeichnet das, was regelmäßig und notwendig so geschieht, wie es geschieht; und er bezeichnet ein Regelwerk, das dem Geschehen einen bestimmten Ablauf vorschreiben will. Im ersten Fall sind es Gesetze des Seins, im zweiten Gesetze des Sollens; das eine Mal beschreiben sie, was ist, das andere Mal schreiben sie vor. Husserls Untersuchungen zielen darauf ab, die Logik vom Naturalismus zu befreien und ihren normativen, und das heißt: geistigen Charakter wieder ans Licht zu bringen. …. Der Rechenvorgang »zwei mal zwei ist vier« ist ein psychischer Akt, aber das »zwei mal zwei ist vier« gilt auch dann noch, wenn dieser psychische Akt nicht vollzogen wird. Das Rechenergebnis beansprucht Geltung unabhängig davon, ob der eine oder andere Kopf diese Rechnung gerade vornimmt. Wer rechnet oder sonst irgendwelche logische Operationen durchführt, kommt – und das klingt schon sehr platonisch – zu einer Teilhabe an einem transsubjektiven Reich des Geistes. Die dort versammelten Bedeutungs- und Geltungssphären werden aktualisiert und in Anspruch genommen, wenn die als psychisches Geschehen beschreibbaren Akte des Denkens vollzogen werden. …. Die Logik der syllogistischen Schlußweise z.B. haben wir nicht untereinander verabredet und zur ›richtigen‹ erklärt – sie ist richtig. Alle Menschen sind sterblich – Sokrates ist ein Mensch – Also ist Sokrates sterblich: diese Schlußweise ist evidenterweise richtig; sie gilt. Ob die so gebildeten Urteile empirisch zutreffen, ist damit keinesfalls entschieden; das hängt davon ab, ob die Prämissen (»Alle Menschen sind sterblich …« ) richtig sind. Wir können mit der richtigen Schlußweise jede Menge falscher Urteile fällen (wenn alle Menschen Beamte wären, dann wäre Sokrates auch einer). Deshalb kann man auch nicht sagen, wir hätten uns die logischen Schlußweisen angewöhnt, weil sie uns zu Erkenntniserfolgen verholfen haben. Zu Erkenntniserfolgen im empirischen Sinne brauchen sie uns überhaupt nicht zu verhelfen, viel häufiger führen sie uns in die Irre. Diese Schlüsse sind also nicht erfahrungsbewährt, sondern, wie jede logische Operation, einfach nur selbstevident. Je mehr man sich in diese Evidenz der Logik vertieft, um so rätselhafter wird sie. Von einer einfachen Analyse des Syllogismus gelangt man jäh in das Zauberreich eines Geistes, der triumphiert über alle Versuche, ihn pragmatisch, biologistisch, naturalistisch, soziologistisch zu reduzieren.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 40-43).
Auf bezeichnende Weise ist es aber gerade jene Phase (die ich Kampf ums Ei oder Krise nenne ) „seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die unter dem Eindruck der praktischen Erfolge der empirischen Wissenschaften eine wahre Leidenschaft entwickelt fürs Reduzieren, für die Austreibung des Geistes aus dem Felde des Wissens. Nietzsche hatte diesem Jahrhundert die Diagnose gestellt, es sei »redlich« und »ehrlich«, aber auf pöbelhafte Weise. Es sei »vor der Wirklichkeit jeder Art unterwürfiger, wahrer«. Es habe sich von der »Domination der Ideale« losgerissen und überall instinktiv nach Theorien gesucht, die geeignet seien, eine »Unterwerfung unter das Tatsächliche« zu rechtfertigen. Nietzsche hatte den biedermeierlichen, auch kleinmütigen Aspekt dieses Realismus vor Augen. Tatsächlich aber triumphierte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Realismus, der sich dem Tatsächlichen nur unterwarf, um es um so vollkommener beherrschen und in seinem Sinne umgestalten zu können. Der »Wille zur Macht«, den Nietzsche dem »freien Geist« zugedacht hatte, triumphiert nicht auf der Gipfelhöhe von »Übermenschen«, sondern im ameisenhaft fleißigen Betrieb einer Zivilisation, die ihre praktische Vernunft ›verwissenschaftlicht‹. Das galt für die bürgerliche Welt, aber auch für die Arbeiterbewegung, deren schlagkräftige Losung lautete: »Wissen ist Macht«. Bildung sollte gesellschaftlichen Aufstieg bringen und gegen Täuschungen jeder Art resistent machen: Wer etwas weiß, dem kann man so leicht nichts mehr vormachen; das Beeindruckende am Wissen ist, daß man sich nicht mehr beeindrucken zu lassen braucht. Ein Souveränitätsgewinn wird versprochen, und es wird dem Bedürfnis entsprochen, das die Dinge herunterziehen und aufs eigene, womöglich kümmerliche Format bringen will. Es ist schon erstaunlich, wie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, nach den idealistischen Höhenflügen des absoluten Geistes, plötzlich überall die Lust aufkommt, den Menschen ›klein‹ zu machen. Damals begann die Karriere der Denkfigur: Der Mensch ist nichts anderes als …. Für die Romantik hob die Welt zu singen an, wenn man nur das Zauberwort traf. Die Poesie und Philosophie der ersten Jahrhunderthälfte war das hinreißende Projekt, immer neue Zauberworte zu finden und zu erfinden. Die Zeit verlangte überschwengliche Bedeutungen. Die Matadore auf dieser Zauberbühne des Geistes waren Reflexionsathleten, und doch erschienen sie in dem Augenblick, als die Realisten mit ihrem Tatsachensinn und bewaffnet mit der Formel des ›nichts anderes als‹ in der Tür standen, wie naive Kinder, die herumgetollt und alles durcheinandergeworfen hatten; doch jetzt geht es ans Aufräumen, jetzt beginnt der Ernst des Lebens, dafür werden die Realisten schon sorgen. Dieser Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird das Kunststück fertigbringen, klein vom Menschen zu denken und Großes mit ihm anzustellen, wenn wir denn die moderne verwissenschaftlichte Zivilisation, von der wir alle profitieren, ›groß‹ nennen wollen. …. Die Trockenlegung des Deutschen Idealismus hatte um die Mitte des Jahrhunderts ein Materialismus von robuster Gestalt besorgt. Breviere der Ernüchterung wurden damals plötzlich bestsellerfähig. Da war Karl Vogt mit seinen »Physiologischen Briefen« (1845) und seiner Streitschrift »Köhlerglaube und Wissenschaft« (1854); Jakob Moleschotts »Kreislauf des Lebens« (1852), Ludwig Büchners »Kraft und Stoff« (1855) und Heinrich Czolbes »Neue Darstellung des Sensualismus« (1855). Czolbe hatte das Ethos dieses Materialismus aus Kraft und Stoß und Drüsenfunktion mit den Worten charakterisiert: »Es ist eben ein Beweis von … Anmaßung und Eitelkeit, die erkennbare Welt durch Erfindung einer übersinnlichen verbessern und den Menschen durch Beilegung eines übersinnlichen Teiles zu einem über die Natur erhabenen Wesen machen zu wollen. Ja gewiß – die Unzufriedenheitmit der Welt der Erscheinungen, der tiefste Grund der übersinnlichen Auffassung ist … eine moralische Schwäche.« Czolbe schließt mit der Aufforderung: »Begnüge dich mit der gegebenen Welt.« Aber was war einer solchen Sinnesart nicht alles ›gegeben‹! Die Welt des Werdens und Seins – nichts anderes als das Gestöber von Molekülen und die Umwandlungen von Energien. Es galt die Welt des Atomisten Demokrit. Man braucht nicht mehr den »Nous« des Anaxagoras und die Ideen des Platon und man braucht nicht den Gott der Christen, nicht die Substanz des Spinoza, nicht das »cogito« des Descartes, nicht das »Ich« Fichtes und nicht den »Geist« Hegels. Der Geist, der im Menschen lebt, ist nichts anderes als Gehirnfunktion. Die Gedanken verhalten sich zum Gehirn wie die Galle zur Leber und der Urin zur Niere. »Etwas unfiltriert« seien diese Gedanken, bemerkte damals Hermann Lotze, einer der wenigen Überlebenden aus dem vormals starken Geschlecht der Metaphysiker. Lotze war es auch, der – erfolglos – die Materialisten auf ihren Salto mortale in die Dummheit hinwies. Er erinnerte an Leibniz, der die ganze Materialismusfrage, besonders das Verhältnis von Bewußtsein und Körper, in der Auseinandersetzung mit Hobbes schon erledigt hatte: Wenn etwas auf etwas beruht, dann heißt das gerade nicht, daß es mit diesem identisch ist, denn wäre es das, wäre es nicht unterschieden; wäre es aber nicht unterschieden, könnte das eine nicht auf dem anderen beruhen. Das Leben des Menschen, sagt Leibniz, beruht auf der Atmung, ist darum aber noch lange nicht bloß Luft. Der Siegeszug des Materialismus war durch kluge Einwände nicht aufzuhalten, vor allem deshalb nicht, weil ihm ein besonderes Metaphysikum beigemischt war: der Glaube an den Fortschritt. Wenn wir die Dinge und das Leben herunteranalysieren bis auf seine elementarsten Bestandteile, dann werden wir, so lehrt dieser Glaube, das Betriebsgeheimnis der Natur entdecken. Wenn wir herausbringen, wie alles gemacht ist, sind wir imstande, es nachzumachen. Hier arbeitet ein Bewußtsein, das allem auf die Schliche kommen will, auch der Natur, die man – im Experiment – auf frischer Tat ertappen muß, und der man, wenn man weiß, wie sie läuft, zeigt, wo es langgeht. Diese Geisteshaltung gibt auch dem Marxismus in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts Auftrieb. In mühevoller Kleinarbeit hatte Marx den Gesellschaftskörper seziert und dessen Seele herauspräpariert: das Kapital. Am Ende war dann nicht mehr ganz klar, ob denn die messianische Mission des Proletariats – Marx‘ Beitrag zum Deutschen Idealismus vor 1850 – gegen die eherne Gesetzmäßigkelt des Kapitals – Marx‘ Beitrag zum deterministischen Geist nach 1850 – überhaupt noch eine Chance haben würde. Auch Marx will allem auf die Schliche kommen, die Ideologiekritik macht es möglich. Für den Ideologiekritiker werden die Gedanken nicht vom Gehirn, wie bei der großen Schar der philosophierenden Physiologen und Zoologen, sondern von der Gesellschaft ausgeschwitzt. Auch der ideologiekritische Gesellschaftswissenschaftler will die absonderlichen Absonderungen des Geistes entzaubern. Die Feldzüge des Materialismus gelten dem Gelten. 1866 erschien eine schlagende Kritik dieser Geisteshaltungen, F. A. Langes klassisches Werk »Geschichte des Materialismus«. Man kann nicht sagen, daß es wirkungslos blieb. Nietzsche ist davon stark beeinflußt worden …. Auch der Neukantianismus … ist von Lange auf den Weg gebracht worden. Der Grundgedanke Langes ist die Wiederherstellung jener säuberlichen kantianischen Scheidung zwischen einer erscheinenden Welt, die wir nach Gesetzen analysieren können; einer Welt, zu der wir als Ding unter Dingen mit einem Teil unseres Wesens auch gehören – und einer Welt, die auch in uns hineinreicht, die früher »Geist« genannt wurde und bei Kant dann »Freiheit« in Ansehung des inneren Menschen und »Ding an sich« in Ansehung der äußeren Welt heißt. Lange erinnert an Kants Definition der Natur: sie sei nicht dasjenige, worin die Gesetze, die wir Naturgesetze nennen, gelten – sondern umgekehrt. Sofern wir etwas unter dem Gesichtspunkt solcher »Gesetze« ansehen, konstituieren wir es als erscheinende »Natur«, sofern wir es aber unter dem Gesichtspunkt von Spontaneität und Freiheit ansehen, handelt es sich um »Geist«. Beide Sichtweisen sind möglich und notwendig und vor allem: sie sind nicht konvertibel. Wir können uns selbst als Ding unter Dingen analysieren, wir können uns, wie Hobbes das ausdrücklich getan hat, als eine Maschine ansehen, aber wir wählen diese Perspektive – wir sind so frei, uns zu Maschinen zu machen. Wir sind ein Bestandteil der erscheinenden Welt, also Natur nach dem Gesetz, Ding unter Dingen, und zugleich erfährt jeder in sich die Spontaneität der Freiheit. Freiheit ist das sich in uns offenbarende Geheimnis der Welt, die Rückseite des Spiegels der Erscheinungen. Das »Ding an sich« – das sind wir selbst in unserer Freiheit, das Herz aller Bestimmungen ist die Dimension, wo wir uns selbst bestimmen können. Diese Kantsche Doppelperspektive – der Mensch ist Ding unter Dingen und Freiheit – bringt F. A. Lange wieder ins Spiel. Der Materialismus als naturwissenschaftliche Forschungsmethode, sagt er, ist durchaus zu bejahen. Die naturwissenschaftliche Erfahrung muß so vorgehen, als ob es nur materielle Realität gäbe. Sie dürfe nicht, wenn sie an irgendeiner Stelle mit ihren Erklärungen nicht weiterkomme, den ›Geist« als Lückenbüßer einsetzen. »Geist« ist nicht ein Glied in einer Kausalkette, er ist vielmehr die andere Seite der ganzen Kette. Man kann naturwissenschaftlich Physiologie des Psychischen betreiben, darf dabei allerdings nicht vergessen, daß man damit nicht das Seelische selbst, sondern nur seine materiellen Äquivalente erfaßt. Lange kritisiert nicht die naturwissenschaftlichen Verfahrensweisen, sondern nur das falsche Bewußtsein und die schlechte Philosophie, die sie begleiten – die Vorstellung nämlich, daß mit der Analyse der »res extensa« das Menschliche erschöpft sei. Wenn man schon in Raum-Kategorien denkt, liegt die Suggestion tatsächlich nahe, daß alles, was ist, an irgendeiner Raumstelle oder an einer räumlich darstellbaren Struktur aufgwiesen werden müsse. F. A. Langes großes Verdienst war es, gezeigt zu haben: Wie es einen Siedepunkt des Idealismus gibt, wo aller Geist verdampft, so gibt es auch einen Gefrierpunkt des Materialismus, wo sich nichts mehr bewegt, es sei denn man schmuggelt Geist inkognito ein, beispielsweise in der Gestalt der ›Vitalkraft‹, von der keiner so genau weiß, was sie ist. Gegen die idealistische Verdampfung und den materialistischen Gefrierpunkt plädiert Lange für das Sowohl-Als-auch von Geist und Materie. Lange verteidigt eine Metaphysik zu herabgesetztem Preis. Sie gilt ihm als Begriffsdichtung, eine erhebende Mischung aus Poesie und Wissen. Ebenso steht es mit der Religion. Wenn sie behauptet, ein Wissen von Gott, Seele, Unsterblichkeit zu besitzen, dann setzt sie sich der wissenschaftlichen Kritik aus und kann sich nicht mehr halten. Eine Frontbegradigung ist notwendig. Der »Standpunkt des Ideals« darf seinen Stolz nicht darauf gründen, daß er die Wahrheit erkennt, sondern daß er Werte bildet und dadurch Wirklichkeit umbildet. Für die Empirie gibt es Wahrheit, für den Geist gibt es Werte. Nietzsche wird dann dieser von Lange konzipierten friedlichen Koexistenz zwischen Wahrheit und Wert ein Ende bereiten, indem er einfach einen Schritt weitergeht und den Wert der Wahrheit zur Disposition stellt. Lange wollte die Werte vor dem Ansturm der Wahrheiten retten, bei Nietzsche werden dann umgekehrt die Wahrheiten vom Vitalismus der Wertungen verschlungen. Dann ist Wahrheit nur noch die Illusion, bei der wir uns gut befinden und die uns nützt. Andere werden umgekehrt die Werte als bloße Sachverhalte, die eben in Kulturen vorkommen, definieren: »Wertverhalte« heißen sie bei Rickert. Man kann sie in kulturwissenschaftlicher Perspektive beschreiben und von ihnen in historischer Perspektive erzählen. Das Gelten gilt nur, wenn es ein Faktum geworden ist. Es gilt nur, was gegolten hat … (vgl. Pointe des Historismus). F. A. Lange sucht den Ausgleich – der Materialismus soll seine Macht teilen mit der Welt des Geistes …. Dieser Idealismus soll die von Wissenschaft und Technik vorangetriebene Zivilisation ins Gleichgewicht bringen. Es ist ein Idealismus des »Als-ob«; denn die Werte, die empfohlen werden, haben ihre alte Würde und Seinsmächtigkeit verloren, da man in ihnen das Selbstgemachte erkennt. Das Ideal ist eigentlich nur ein Idol, es schimmert im Talmiglanz des Künstlichen. Die Idealisten können am Guten und Schönen offenbar nur noch festhalten in der Gesinnung unfreiwilliger Frivolität. …. Ein philosophischer Bestseller am Ende des Jahrhunderts, der dieser bildungsbürgerlichen Frivolität beredten Ausdruck gibt, ist Hans Vaihingers »Philosophie des Als Ob«. Hier werden die Werte als nützliche Fiktionen bezeichnet. Es handelt sich um bloße Erfindungen, aber wenn sie bei der theoretischen und praktischen Bewältigung unserer Lebensaufgaben helfen, dann bekommen sie eine Bedeutung, die wir gewöhnlich ›objektiv‹ nennen. …. Das Als-ob verlangt die Inszenierung, es lebt von ihr. Keiner wußte das so gut wie Richard Wagner, der alle Register des Theaterzaubers zog, um seine Zeit zu erlösen, die befristete Erlösung, die Erlösung als ob. Das alles vertrug sich mit einer realitätssüchtigen Gesinnung. Gerade weil dieser Sinn so überaus tüchtig war, mußte er ein wenig geschönt, drapiert, ziseliert und so weiter werden, damit das Ganze nach etwas aussah und etwas galt.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 43-49).
Diese Mischung aus Realitätstüchtigkeit und Als-ob-Gesinnung, so Rüdiger Safranski, hätte dem Pragmatismus mehr Auftrieb gegeben, und der „Pragmatismus plädiert bekanntlich für eine Abrüstung in den Angelegenheiten der Wahrheit. Wahrheit wird aus ihrer Verankerung im Ideenreich gerissen und heruntergestuft zu einem sozialen Prinzip der Selbstregulation von Handlungsabläufen. Das Kriterium der Wahrheit liegt im praktischen Erfolg, und das gilt auch für die sogenannten Werte. Ihre Wirklichkeit bewährt sich nicht in der ominösen und nie zureichend ausweisbaren Übereinstimmung mit einem idealen Sein, sondern sie bewährt sich im Wirken. Der Geist ist, was er bewirkt. Der Pragmatismus ersetzt die Korrespondenztheorie der Wahrheit durch die Theorie der Effizienz. …. Der blinde Zufall bringt eine Natur hervor, deren Resultate so aussehen, als verfolge sie ein Ziel. Gott würfelt nicht (oder doch) – das mag sein, die Natur aber glaubt man bei ihrem Würfelspiel ertappt zu haben. …. Zu den Voraussetzungen des Erfolges gehören die spirituelle Enthaltsamkeit und die Neugier für Näherliegendes, für das Unsichtbare nicht jenseits, sondern in der Welt – für die Mikrologie der Zellen und die Makrologie der elektromagnetischen Wellen. Beide Male dringt die Forschung ins Unsichtbare ein und bringt sichtbare Ergebnisse hervor, zum Beispiel im Kampf gegen die mikrobischen Krankheitserregeroder in Gestalt der weltumspannenden drahtlosen Telegraphie. Manche Träume der Metaphysik – Souveränitätsgewinn gegenüber dem Körper, Überwindung von Raum und Zeit – sind technische Wirklichkeit geworden.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 49-51).
„Wenn die Physik das Fliegen lernt, dann stürzen die Überflieger der Metaphysik ab und müssen sich fortan auf platter Erde entwickeln. Was sie dort tun können, ist, wie das Beispiel der Neukantianer lehrt, bescheiden genug. Einer von ihnen, Paul Natorp, definierte 1909 die Aufgabe der Philosophie so: Sie sei nichts anderes als das methodische Bemühen der Wissenschaft um Selbstdurchsichtigkeit. In der Philosophie bringt die Wissenschaft sich ihre eigenen Prinzipien, Verfahrensweisen und Wertorientierungen zu Bewußtsein. Das nennt Natorp die »Wegweisung der Wissenschaft … nicht von außen her, sondern durch Aufklärung über das innere Gesetz der Bahn, die die Wissenschaft schon immer beschrieben hat und unermüdlich weiter beschreibt«. Das verpflichtet die Philosophie auf ein Ziel, das die genaue Umkehrung ihres Anfangs darstellt: »Erst barg die Philosophie in ihrem Schoße die Keime aller Wissenschaft; nachdem sie sie aber geboren und ihre Kindheit mütterlich gehegt hat und sie unter ihrem Schirm reif und groß geworden sind, sieht sie sie nicht ungern in die weite Welt hinausziehn, sie sich zu erobern. Noch schaut sie eine Weile mit treuer Sorge ihnen nach, läßt auch wohl bisweilen ihr leise warnendes Wort an sie ergehen, das ihre nun errungene Selbständigkeit doch nicht einschränken will oder kann; endlich aber zieht sie sich still auf ihr Altenteil zurück, um eines Tages, kaum vermerkt und kaum vermißt, aus der Welt verschwunden zu sein.« Die Windelband, Natorp, Rickert, Cohen nannte man »Neukantianer«, weil sie den modernen Naturwissenschaften die methodische Reflexion Kants anempfahlen und in der Frage der Begründung von ethischen Normen ebenfalls auf Kant zurückgingen. In dieser noch bis zum Ersten Weltkrieg mächtigen philosophischen Strömung gab es viel Scharfsinn und Streitlust im einzelnen, insgesamt aber war man in der Defensive gegenüber der Übermacht des wissenschaftlichen Geistes der Zeit. Es war dies eine Philosophie, die hoffte, nach dem Ende der Philosophie in ihren »Kindern«, den Wissenschaften also, fortleben zu können. Allerdings, so räumt Natorp ein, sieht es mit der »Philosophie in den Wissenschaften« noch nicht sehr »hoffnungsvoll« aus. Tatsächlich gab es noch große Mengen unreflektierten weltanschaulichen Ballastes, spekulative Schmuggelware im Gepäck empirischer und exakter Wissenschaftler, die für ihren Kinder- und Köhlerglauben, den sie sich bewahrt hatten, das Prestige der Wissenschaftlichkeit in Anspruch nahmen. Der Zoologe Ernst Haeckel beispielsweise war ein Wissenschaftler von dieser Sorte. Er destillierte aus der Darwinschen Entwicklungsbiologie eine monistische Welt- und Weltall-Lehre, die vorgab, alle »Welträtsel«, so auch der Titel von Haeckels Bestseller von 1899, gelöst zu haben. Die Neukantianer wollten im doppelten Sinn das Gewissen der Wissenschaft sein: als methodisches Gewissen und als ethisches Gewissen, denn das war ihre zweite Spezialität – das Problem des Wertes. Wie, so lautete die Frage, läßt sich wissenschaftlich jener Vorgang analysieren, bei dem nicht etwa – wie in den Naturwissenschaften – etwas zu etwas wird, sondern bei dem etwas als etwas gilt. Für die Neukantianer war Kultur der Inbegriff für die Sphäre der Werte. Die materielle Substanz einer Plastik etwa läßt sich physikalisch, chemisch u.s.w. analysieren, man wird dann aber nicht begriffen haben, was diese Plastik ist, denn sie ist das, was sie bedeutet. Diese Bedeutung gilt und wird von jedem realisiert, der diese Plastik nicht als einen Haufen Steine, sondern eben als Kunst auffaßt. In allen Kulturvorgängen, so Rickert, sei »irgendein vom Menschen anerkannter Wert verkörpert«. Natur und Kultur seien keine getrennten Sphären, sondern Natur werde zu einem Kulturgegenstand in dem Maße, wie sie mit Werten verknüpft werde. Sexualität beispielsweise ist ein wertfreies biologisches Vorkommnis, als kulturell angeeignete wird sie zu einem sehr werthaltigen Ereignis: zur Liebe. Die menschliche Realität ist durchwirkt von Wertbildungsvorgängen. Darin liegt nichts Mysteriöses, die Wertewelt schwebt nicht über unseren Häupten, sondern alles, womit der Mensch umgeht, erhält eben dadurch einen Wertakzent. Aus einem Sachverhalt wird so zugleich ein »Wertverhalt«. Sachverhalte können wir erklären, Wertverhalte aber können wir nur verstehen. Die menschliche Gesellschaft insgesamt gleicht dem König Midas: Was sie berührt, was sie in ihren Bannkreis zieht, wird zwar nicht Gold, doch es erhält – Wert. Die Wertphilosophie war eine Obsession des Neukantianismus. Vertieft in die Geheimnisse des Geltens, hatten diese akademischen Philosophen übersehen, was vor allem gilt: das Geld. So war es denn ein Außenseiter, Georg Simmel, der am Anfang des Jahrhunderts das geniale Meisterstück der ganzen Wertphilosophie vorlegte: die »Philosophie des Geldes«. Simmel beschreibt den Übergang vom Raub zum Tausch als das entscheidende Ereignis der Zivilisation schlechthin. Deshalb nennt er den zivilisierten Menschen »das tauschende Tier«. Der Tausch absorbiert die Gewalt und das Geld universalisiert den Tausch. Das Geld, ursprünglich ein materielles Ding, wird zum Realsymbol aller Güter, für die es in den Tausch gegeben werden kann. Gibt es erst einmal das Geld, dann wird alles, womit es in Berührung kommt, verhext: Es läßt sich nun nach seinem Wert taxieren, ob das nun eine Perlenkette, eine Grabrede oder der wechselseitige Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge ist. Das Geld ist die real existierende Transzendentalkategorie der Vergesellschaftung. Die Äquivalenzbeziehungen, die das Geld stiftet, verbürgen den inneren Zusammenhang der modernen Gesellschaft. Das Geld ist jenes Zaubermittel, das die Welt insgesamt in ein ›Gut‹ verwandelt, das nach seinem Wert taxiert und darum auch verwertet werden kann. Wie aber wird etwas zum Geld? Die einfache, aber in ihren Konsequenzen unabsehbare Antwort: indem es zu etwas wird, das gilt. Dieses Etwas, das gilt, läßt sich dann dafür einsetzen, jemand anderem, von dem man etwas will, dieses Begehrte zu entgelten. Das Austauschmaß ist jeweils genau berechenbar, doch dunkel bleibt, wo dieses Maß eigentlich entspringt. Die einen sagen: in der Arbeit; die anderen: auf dem Markt; wieder andere: im Begehren; noch einmal andere: in der Knappheit. Auf jeden Fall aber haftet das Gelten des Geldes nicht an seiner materiellen Natur, eher noch ist es gesellschaftlicher Geist, der zur materiellen Gewalt geworden ist. Die Zirkulationsmacht des Geldes hat den Geist überflügelt, dem man einst nachsagte, er wehe, wo er will … Simmels Geist aber dringt, wie eben auch das Geld, in jeden noch so verborgenen Winkel des gesellschaftlichen Lebens. Simmel kann alles mit allem verbinden. Wenn das Geld für solche disparaten Dinge wie eine Bibel und eine Flasche Branntwein einen gemeinsamen Wertausdruck schafft, dann entdeckt Simmel darin eine Verbindung zum Gottesbegriff des Nikolaus von Kues, für den Gott die »coincidentia oppositorum«, den Einheitspunkt aller Gegensätze bedeutete. »Indem das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich in abstrakter Höhe über die ganze weite Mannigfaltigkeit der Objekte, es wird zum Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich berühren; damit gewährt tatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips.« Die Analyse der Macht des Geltens kommt auch im Falle des Geldes – wie das Beispiel Simmel zeigt – offenbar nicht ohne Rückgriff auf den metaphysischen Begriffsbestand aus. In der metaphysikfeindlichen Epoche vor 1914 war also die Sphäre des Geltens, und sei es die des Geldes, ein Asyl für die metaphysischen Reste. Und so verhält es sich – um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren – auch bei Husserl, der das psychologiefreie Gelten der Logik wie ein platonisches Ideenreich gegen die Maulwürfe der naturalistischen Psychologie verteidigt. In einer ähnlichen Verteidigungsstellung befindet sich der junge Martin Heidegger. Auch er findet seine metaphysischen Reste, mit Husserl (und mit Emil Lask), im Mysterium des Geltens, in der Sphäre der reinen Logizität, die allen Versuchungen zur Relativierung durch Biologie oder Psychologie widersteht. …. Mit der Logik glaubt Heidegger einen Zipfel überindividueller Geltung erhaschen zu können, und das bedeutet ihm viel, denn er will an die objektive Realität des Geistes glauben. Geist darf nicht bloß ein Erzeugnis unseres Kopfes sein. Aber selbständige Realität will er auch der Außenwelt zugestehen. Sie darf nicht zur Chimäre des subjektiven Geistes verdampfen. Das wäre dann ja die erkenntnistheoretische Version des von ihm gescholtenen schrankenlosen Autonomismus des Ichs. Heidegger will beides vermeiden: den Absturz in den Materialismus und die falsche Himmelfahrt des subjektiven Idealismus. Seine ersten philosophischen Gehversuche orientieren sich an einem kritischen Realismus, für den gilt: nur wer an die Bestimmbarkeit einer realen Natur glaubt, wird seine Kräfte an deren Erkenntnis setzen. Und er orientiert sich an der Möglichkeit eines objektiven Geistes.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 51-55). Aber von Dilthey, so berichtet Rüdiger Safranski, habe Heidegger gelernt, daß „auch Wahrheiten ihre Geschichte haben. Gegen Ende seiner Habilitationsarbeit (1915) vollzog er den entscheidenden Perspektivenwechsel …. Die Einsicht Diltheys, »daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen«, wurde für ihn maßgeblich. Die radikal gefaßte Idee der Geschichtlichkeit zerstört jeden universalistischen Geltungsanspruch. …. In SEIN UND ZEIT (1927) lautet die Formel für die Fähigkeit, sich einsetzen zu können: Mut zur Angst. …. Das Werk, effektsicher in seiner Dramaturgie, beginnt mit einer Art Prolog im Himmel. Plato tritt auf. Ein Anspruch aus dem Dialog »Sophistes« wird zitiert: »Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck › s e i e n d ‹ gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen.« Diese Verlegenheit, so Heidegger, gibt es immer noch, aber wir gestehen sie uns nicht ein. Immer noch wissen wir nicht, was wir meinen, wenn wir sagen, etwas sei seiend. Der Prolog führt Klage gegen eine doppelte Seinsvergessenheit. Wir haben vergessen, was das Sein ist, und haben auch noch dieses Vergessen vergessen. Und so gilt es denn, die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen, aber weil wir das Vergessen vergessen haben, gilt es vordem, allererst wieder ein Verständnis für den Sinn dieser Frage zu wecken. Wie es sich für einen Prolog geziemt, wird auch schon zu Anfang angedeutet, worauf alles hinausläuft: Die Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses. Der Sinn von Sein ist – die Zeit (). Die Pointe wird verraten, aber um sie verständlich zu machen, braucht Heidegger nicht nur dieses ganze Buch, sondern auch den Rest seines Lebens.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 169, 171-172). Und Heideggers Leben dauerte bekanntlich bis zum 26. Mai 1976 !
Die Erkenntnistheorie wurde zwar durch die im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts entstandene (sogenannte !) „wissenschaftsthoretische Wende“ ein wenig bereichert, doch das Verhältnis der Wissenschaftstheorie zur Wissenschaft blieb ambivalent. Jede Wende (Beispiele: „Linguistische Wende“, scheinbar neue „anlytische Philosophie“, „kritischer Rationalismus“ u.s.w.) konnten dieses Verhältnis nur leicht verbessern. Da vor allem die Entwicklung der formalen Logik (bzw. Logistik) und der Sprachphilosophie sowie die im Rahmen der damaligen Denkgewohnheiten nicht erfaßbaren Vorstellungen der Quantentheorie (Max Planck) und Relativitätstheorie (Albert Einstein) zur Entstehung einer neueren Wissenschaftstheorie geführt hatten, blieb sie zunächst auch wesentlich bestimmt vom Neopositivismus und logischen Empirismus; dagegen begründete z.B. Karl Popper die zweite Grundrichtung dieser neueren Wissenschaftstheorie, den sogenannten kritischen Rationalismus, nach dem sich Wissenschaftstheorie auf die Untersuchungen der Bedingungen für eine Falsifikation der als Hypothesen aufgefaßten wissenschaftlichen Theorien beschränken muß. (Anti-Test). Der begründungstheoretische Ansatz wird, gefördert z.B. durch die analytische Philosophie, zum einen von der analytischen Wissenschaftstheorie, zum anderen in der operationalistisch orientierten und von Paul Lorenzen (1915-1994) begründeten konstruktiven Wissenschaftstheorie fortgeführt. Aber trotzdem: das Verhältnis der Wissenschaftstheorie zur Wissenschaft ist ambivalent. Faktische wissenschaftliche Forschung steht eben oft unter anderen Bedingungen als ihre in der Wissenschaftstheorie analysierten Strukturen und Normen. Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis wird wissenschaftstheoretisch immer noch als Abgrenzungsproblem zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Aussagen oder – wie bei Kant – als Kritik der „reinen Vernunft“ behandelt. Als theoretische Fundamentaldisziplin hat die Erkenntnistheorie damit die Stelle der Metaphysik, d.h. ihren ersten Platz übernommen, denn in der transzendentalen Erkenntnistheorie Kants erfuhr die Erkenntnistheorie ihre (wirklich) entscheidende Wende. (Kant als „Vater der Moderne“). Das scheinbar ewige Subjekt-Objekt-Problem führte, indem unter Erkenntnistheorie nicht mehr nur primär Methodologie naturwissenschaftlichen Wissens verstanden wurde, zu der auch heute noch fundamentalen Unterscheidung zwischen Realismus und Idealismus. (Übrigens konnte auch Heideggers „In-der-Welt-Sein“ trotz enormen Willens und grandioser Versuche das Subjekt-Objekt-Problem nicht tilgen ). Zugleich wurde die Erkenntnistheorie aus der Einsicht in die historische Bedingtheit des Erkennens (vgl. Historismus) durch die Hermeneutik ergänzt, d.h. wissenschaftstheoretisch um die Unterscheidung von Verstehen und Erklärung. Die erkannte Bedeutung der Sprachphilosophie gilt angesichts der sprachlichen Verfaßtheit aller Erkenntnis auch für die Begründung des sogenannten exakten Wissens (Mathematik, Naturwissenschaft).

Das System der Philosophie wird üblicherweise gegliedert in:
Erkenntnistheorie
(Wissenschaftslehre mit Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis)
(auch genannt: Epistemologie, Erkenntnislehre, Erkenntniswissenschaft)
Metaphysik
(Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Existenzphilosophie, Theologie)
Logik
(Logistik, Mathematik)
Ethik und Rechtsphilosophie
Ästhetik und Kunstphilosophie
Naturphilosophie
Geschichts- und Kulturphilosophie
Sprachphilosophie
Sozialphilosophie
Wirtschaftsphilosophie
Religionsphilosophie
Psychologie

In der modernen Philosophie wurde mehr und mehr, in Nachahmung der Naturwissenschaften, zwischen Lehre und Forschung in der akademischen Arbeit unterschieden, die ihrerseits unter den Aspekten von Theorie und Praxis untersucht werden müßten. Dies äußert sich darin, daß die Beschäftigung mit Grundfragen der Humandisziplinen wie Soziologie, Politologie, Ideologiekritik u.a. in zunehmendem Maße auch Probleme der konkreten Wissenschaftspraxis einzubeziehen sucht. (Vgl. Erkenntnistheorie ).

Die Philosophie, der Denk-Körper der Antike, ist das Komplement zum Denk-Raum des Abendlandes.
Die Wissenschaft, der Denk-Raum des Abendlandes, ist das Komplement zum Denk-Körper der Antike.

Denken ist das innerliche, aktive Schalten und Walten mit den eigenen Vorstellungen, Begriffen, Gefühls- und Willensregungen, Erinnerungen, Erwartungen u.s.w. mit dem Ziele, eine zur Meisterung der Situation brauchbare Direktive zu gewinnen. Das Denken, das seiner Struktur nach erkennendes oder emotionales Denken sein kann, besteht also in einem stetigen Umgruppieren aller möglichen Bewußtseinsinhalte und einem Herstellen bzw. Unterbrechen von Verknüfungen zwischen diesen (auch „Denkraum“ genannt), wobei sich eine Folge von Inhalten ausgliedern kann, die eine vergleichsweise feste Form annimmt und „Gedanke“ genannt werden kann. Die Form eines solchen Gedankens ist normalerweise die des sprachlich formulierten Gedankens: Denken ist dann stummes, innerliches Sprechen, Sprechen ist lautes Denken. (Auch dann, wenn die Sprache selber spricht?). Die Art des Denkens ist davon abhängig, was für ein Mensch (im weitesten Sinne) einer ist, sie macht seine Persönlichkeit aus. Ob, was und wie einer im gegebenen Augenblick denkt, ist von seiner Stimmung abhängig (vgl. „Denkgesetze“). Oft hebt das Denken mit einem Einfall an und ist zunächst eineinfallmäßiges Denken. Richtet sich das auf reale Gegenstände, so heißt es konkretes Denken, richtet es sich auf ideale Gegenstände oder auf Vergegenwärtigtes, so handelt es sich um abstraktes Denken. Beide Denkweisen gehen in der Regel ineinander über. Im philosophisch-wissenschaftlichen Sinne ist Denken immer mehr oder weniger Begriffsdenken, wenn mehr, heißt es Denken a priori, wenn weniger, heißt es Denken a postriori. Ob aber mehr das Denken die Sprache oder mehr die Sprache das Denken beeinflußt, bleibt weiterhin unklar; sicher ist nur, daß sie sich beeinflussen, daß sie dies über verschiedene Wege tun und letztendlich, das heißt im letzten Wahrheits- oder Weisheitsentschluß (als Weisheits-end-schluß!), doch dem Dritten zum Opfer fallen bzw. von ihm synthetisiert werden: dem Glauben !

Zum Be-Denken
Heidegger hatte sogar versucht, und zwar besonders mit seiner Spätphilosophie (seit 1945 ), das Denken von der bis dahin traditionellen Philosophie zu trennen. Als der 2. Weltkriegs in Europa zu Ende ging, war besonders in Frankreich und Deutschland der Humanismus in aller Munde. Heidegger wollte mit seinem Brief Über den Humanismus () deutlich machen, daß er über das Denken des Denkens – also: über das Be-Denken, das Bedenken des Denkens oder das Denken über das Denken, nämlich das Denken selbst (man könnte auch sagen: das Denken an sich) – kommt, um von hier aus erst dann zur Frage des Humanismus zu kommen. In diesem Antwortschreiben auf die Fragen des französischen Heidegger-Schülers Jean Beaufret, das später als „Brief über den Humanismus“ bekannt wurde, antwortete Heidegger nämlich indirekt auf Jean-Paul Sartre (), also auf die zu dem Zeitpunkt bereits akute existentialistische Mode und auf die ebenfalls bereits akute Humanismus-Renaissance. „Zur Erinnerung: Beaufret hatte gefragt, »auf welche Weise läßt sich dem Wort Humanismus ein Sinn geben?«. Sartre hatte seinen Existentialismus als einen neuen Humanismus der Eigenverantwortlichkeit und des Engagements in der Situation der metaphysischen Obdachlosigkeit deklariert. Und Heidegger versucht nun darzutun, warum der Humanismus selbst das Problem ist, für dessen Lösung er sich hält, warum das Denken über den Humanismus hinausgehen muß, und weshalb das Denken genug damit zu tun hat, sich für sich selbst, für die Sache des Denkens, zu engagieren. Heidegger beginnt seine Überlegungen bei dem zuletzt genannten Punkt, bei der Sache des Denkens, beim Engagement, um von dort aus zur Frage des Humanismus zu kommen. Was also ist – das Denken? Naheliegend ist die Vorstellung einer Verschiedenheit und eines Nacheinanders von Theorie und Praxis. Erst die Überlegung, das Modell, die Hypothese, der theoretische Entwurf, dann die,Umsetzung in die Praxis. Die so verstandene Praxis ist das eigentliche Handeln, Theorie ist demgegenüber allenfalls eine Art von Probehandeln. In diesem Schema verliert ein Denken, das nicht auf das Handeln als etwas ihm Äußeres bezogen ist, seine Würde und seinen Wert, es wird nichtig. Eine solche Anbindung des Denkens an das Handeln ist gleichbedeutend mit der Herrschaft des Nützlichen. Wenn gefordert wird, daß das Denken sich zu engagieren habe, dann ist damit solche Nützlichkeit für die Durchsetzung bestimmter praktischer Anliegen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeint. Der Aufweis des praktischen Nutzens und des löblichen Engagements dient dann auch dem Nachweis der öffentlichen Daseinsberechtigung des Denkens. Diese Vorstellung fegt Heidegger beiseite. Er nennt sie eine »technische Interpretation des Denkens« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 6). Sie ist uralt und schon seit den Tagen Platons die große Versuchung für das Denken. Sie ist die kleinlaute, von den praktischen Zumutungen des Lebens eingeschüchterte Art, den Glauben an sich selbst zu verlieren, indem sie sich als »Verfahren des Überlegens im Dienste des Tuns und des Machens« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 6) versteht. Auf die Philosophie hat sich diese Einschüchterung durch das Praxisgebot katastrophal ausgewirkt. In Konkurrenz zu den praktisch erfolgreichen Wissenschaften gerät die Philosophie in die Verlegenheit, ihre Nützlichkeit erweisen zu müssen. Die Philosophie wollte es den Wissenschaften, die sich von ihr emanzipiert hatten, gleichtun. Sie wollte sich zum »Range einer Wissenschaft erheben« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 6) und bemerkte nicht, daß sie sich in den Wissenschaften nur verlieren oder in sie abstürzen kann. (). Und dies nicht, weil sie etwas ›Höheres‹, Erhabenes ist, sondern deshalb, weil sie eigentlich beim Näherliegenden anzusetzen hätte, an einer Erfahrung, die jeder wissenschaftlichen Einstellung vorausliegt. Indem das Denken sich davon entfernt, ergeht es ihm wie dem Fisch auf dem Trockenen. »Schon lange, allzu lange sitzt das Denken auf dem Trockenen« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 7) sagt Heidegger. Wo aber ist nun dieser eigentliche Ort des Denkens, was ist dieses Naheliegende des Denkens? Es liegt für Heidegger nahe, die Frage nach der Nähe zunächst einmal mit einem Rückblick auf SEIN UND ZEIT zu beantworten. Dort hatte er herauszufinden versucht, was für das Dasein, das sich in derWelt vorfindet, das Nächste, das Anfängliche ist. Die Pointe dieser Untersuchung war gewesen: Uns selbst und unsere Welt erfahren wir zunächst nicht in quasiwissenschaftlicher Einstellung. Die Welt ist nicht in diesem Sinne unsere ›Vorstellung‹, sondern zunächst erfahren wir unser In-der-Welt-Sein. Das In-Sein ist das Maßgebliche und Primäre. Das gestimmte In-Sein, geängstigt, gelangweilt, besorgt, geschäftig, benommen, hingebungsvoll, ekstatisch. Nur auf diesem Hintergrund des anfänglichen In-Seins kann so etwas geschehen, wie daß wir uns herausreflektieren, uns bestimmte Vorstellungen machen, ›Gegenstände‹ aus dem Kontinuum unseres Besorgens und Beziehens herausschneiden. Daß es da ein ›Subjekt‹ gibt, dem ›Objekte‹ gegenüberstehen, ist keine basale Erfahrung, sondern verdankt sich einer sekundären, abstraktiven Leistung. Wenn das ursprüngliche In-Sein das nächste ist, wenn in dieser Nähe die Dinge des Lebens noch in ihrem ganzen Reichtum aufgehen können, und wenn das Denken die Aufgabe hat, diese Nähe zu bedenken, so ergibt sich eine paradoxe Konstellation. Da wir nicht zuletzt durch das Denken die Unmittelbarkeit verlieren, so wird einem Denken, das in die Nähe kommen will, die Aufgabe zugemutet, gegen seine eigene entfernende, distanzierende Tendenz anzudenken. Das Denken, das in den Vermittlungen zu Hause ist, soll in die Nähe des Unmittelbaren kommen. Aber gerät es dabei nicht erst recht ›aufs Trockene‹? Läuft das nicht darauf hinaus, mit dem Denken die Effekte des Denkens rückgängig zu machen ? Eine Wiederbelebung der Hegelschen ›vermittelten Unmittelbarkeit‹ ? Geht das überhaupt – in diese Nähe zurückzudenken? Darauf antwortet Heidegger lakonisch: Das Denken ist erst dann bei seiner Sache, wenn es an ihr »zerbricht«. Die »Philosophie über das Scheitern«, die gegenwärtig Konjunktur habe, sei durch einen Abgrund getrennt von dem, was not tut, »von einem scheiternden Denken« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 34). Das scheiternde Denken ist kein Unglück, man bemerkt darin, daß man auf dem richtigen Weg ist. Doch wohin führt dieser Weg? In die Nähe. Aber was sucht es in dieser Nähe, von der wir inzwischen wissen, daß sie das elementare und primäre In-Sein bedeutet? Ist dieser Ort nur deshalb so attraktiv, weil ihn die Wissenschaft »übereilt«? So wichtig ist die Wissenschaft doch auch nicht, daß das von ihr Ignorierte ebendarum geadelt werden müßte. Hat sich Heidegger, der das Leben eines Akademikers führt, nicht doch in eine Idealkonkurrenz mit der Wissenschaft verbissen? Ist die ontologische Differenz, von der er so großes Aufhebens machte, vielleicht doch nichts weiter als ein Pochen auf der narzißtischen Differenz zum verwissenschaftlichten Philosophiebetrieb? Wir wissen natürlich schon längst, daß in dieser ›Nähe‹ ein großes Versprechen, eine Verheißung steckt, die tatsächlich weit über das hinausgeht, was im wissenschaftlichen Bereich zu bekommen ist. Es ist die Erfahrung des Seins. Er sei mit SEIN UND ZEIT auf dem Weg zu dieser Erfahrung und ihrer Formulierung gewesen, aber er sei nicht »durchgekommen«. Die »Absicht auf ›Wissenschaft‹ und ›Forschung‹« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 47) habe ihn gehemmt und in die »Irre« geführt. Es sei zwar schon damals nicht seine Absicht gewesen, zur wissenschaftlichen Anthropologie beizutragen, sondern es war ihm um das Bedenken des Bedenklichsten zu tun, um das Dasein des Menschen als offene Stelle, die sich im Seienden aufgetan hat. Dasein verstanden als Ort, wo das Seiende zur Sprache kommt () und eben dadurch zum Sein wird, und das heißt: es wird hell, begegnend, eröffnend auch in seiner Undurchdringlichkeit und in seinem »Entzug«. Tatsächlich hatte Heidegger seine Daseinsanalyse im Blick auf das Sein vorgenommen; Dasein war für ihn jenes Seiende, dem es um sein eigenes Sein(können) geht. Aber er hatte sich dann doch, gegen seine ursprüngliche Intention, in das Dasein zu weit hineinziehen lassen. Vor lauter Dasein war schließlich doch das Sein aus dem Blick gekommen. Das läßt sich am Begriff der »Existenz« zeigen. Wenn Heidegger in SEIN UND ZEIT schreibt, »das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir ›Existenz‹« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 12), dann hatte der Begriff des ›Seins‹ hier die bestimmte Bedeutung des zu verwirklichenden eigenen Seins. Deshalb spricht Heidegger auch vom »Zu-Sein« im Sinne des Vorhabens und des Entwerfens. In diesem Sinne ist auch der Satz gemeint vom »Vorrang der ›existentia‹ vor der ›essentia‹« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 58), auf den sich dann Sartre mit einigem Recht bei der Betonung des Entwurfscharakters des Daseins berufen kann: Die »Existenz« kommt vor der »Essenz«. Aber nun, da Heidegger seine ursprüngliche Intention aus der Gefangenschaft der wissenschaftlichen Philosophie herausführen will, gibt er dem Begriff der Existenz eine andere Bedeutung. Er bezeichnet nicht mehr nur die Seinsart eines Wesens, dem es um sein eigenes Sein-(können) geht – sondern Existenz, die er jetzt Ek-sistenz schreibt, bedeutet: »Das Stehen in der Lichtung des Seins nenne ich die Ek-sistenz des Menschen. Nur dem Menschen eignet diese Art zu sein.« Die Ek-sistenz bedeutet Ausstehen, aber auch Ekstase. Wir wissen inzwischen, wie gerne und häufig Heidegger seit den dreißiger Jahren den Brief Hölderlins zitiert, worin dieser seinem Freund Böhlendorff anvertraut, wie ihn der Blitz des Apoll getroffen habe. Die ›Existenz‹ brachte es im besten Falle zur Entschlossenheit, Ek-sistenz aber bedeutet offen zu sein für Pfingsterlebnisse der verschiedensten Art. Die berühmte Heideggersche »Kehre«, die bekanntlich eine Lawine von Interpretationen losgetreten hat, sollte man so »einfach« sehen, wie sie von Heidegger gemeint ist. Im ersten Anlauf (bis SEIN UND ZEIT) blieb er im Dasein stecken, bei jenem Sein, das die Existenz verwirklichen will; im zweiten Anlauf – oder eben im »gekehrten« Zugang – will er auf ein Sein ›hinaus‹ (im wörtlichen Sinne), von dem das Dasein angesprochen, in Anspruch genommen wird. Das zieht eine ganze Reihe von Uminterpretationen nach sich, worin die aktivistischen, vom einzelnen Dasein her entworfenen Bezugsmöglichkeiten umgepolt werden auf ein Register von eher passivischen, gewährenlassenden, hinnehmenden Verhaltensweisen. Aus der »Geworfenheit« des Daseins wird sein »Geschick«, aus dem »Besorgen« der eigenen Angelegenheiten wird ein »Hüten« dessen, was einem aufgegeben und anvertraut ist. Aus dem »Verfallen« an die Welt wird ihr »Andrang«. Und in den »Entwürfen« ist es das Sein selbst, das sich durch sie hindurch »wirft«. Das Seinsdenken, das die Nähe sucht, findet dort etwas, das bei Nietzsche noch recht unbefangen und ungeschützt genannt wurde: »der Augenblick der wahren Empfindung«. Ist nun damit die Frage beantwortet, was die Sache des Denkens sei, wenn sie nicht nur eine Dienlichkeit fürs Handeln sein soll? Sie ist beantwortet. Denken ist ein inneres Handeln, es ist ein anderer Zustand, der im Dasein eröffnet wird – durch und während des Denkens. Das Denken ist eine gewandelte Art, in der Welt zu sein, in den Worten Heideggers: »dieses Denken ist weder theoretisch noch praktisch. Es ereignet sich vor dieser Unterscheidung. Dieses Denken ist, insofern es ist, das Andenken an das Sein und nichts außerdem. …. Solches Denken hat kein Ergebnis. Es hat keine Wirkung. Es genügt seinem Wesen, indem es ist« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 48). Und dann kommt jener Satz, den wir uns merken müssen, weil er die ganze Heideggersche Spätphilosophie () enthält: Diese Art des Denkens – was tut sie? »Sie läßt das Sein – sein« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 48). Und wie verhält es sich mit dem Humanismus? Souverän dem Faktum gegenüber, daß der Nationalsozialismus soeben den Humanismus auf katastrophale Weise ›unterboten‹ hat, schickt sich Heidegger an, den Humanismus nun zu ›überbieten‹. In der humanistischen Bestimmung des Menschen, ob als theonomer oder als autonomer Humanismus, sei »die eigentiche Würde des Menschen noch nicht erfahren« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 21). Er denke ›gegen‹ den Humanismus, nicht weil er für die »Bestialität« plädiere, sondern weil der Humanismus »die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 22). Wie hoch soll man sie ansetzen? So hoch, wie einst von Gott gesprochen wurde. Der Mensch als »Hirt des Seins« ist ein Wesen, von dem wir uns kein Bildnis machen sollen. Als das nicht »festgestellte Tier« (Nietzsche), als ein nicht gegenständlich fixierbares, sondern im Reichtum seiner Bezüge lebendes Wesen bedarf der Mensch zwar sittlicher Bindungen, auch wenn sie »noch so notdürftig und im bloß Heutigen zusammenhalten« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 43), aber das sind wirklich nur Notbehelfe, sie sind etwas Vorletztes, von dem wir nicht glauben dürfen, daß bei ihnen das Denken aufhört. Das Denken dringt weiter vor, bis es in seinem beseelten Schwung die eigentliche »Erfahrung des Haltbaren« macht. »Den Halt für alles Verhalten verschenkt die Wahrheit des Seins« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 51). An diesem Punkt ist Heidegger nun wirklich himmelweit von Sartre entfernt. Sartre: »Der Mensch muß sich selber wieder finden und sich überzeugen, daß ihn nichts vor ihm selber retten kann, wäre es auch ein gültiger Beweis der Existenz Gottes.« Zwar erklärt auch Heidegger, »das ›Sein‹ – das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 22), aber das ändert nichts daran, daß die Erfahrung des Seins auf ein Seinsverhältnis einstimmt, das – fromm ist; andachtsvoll, meditativ, dankbar, ehrfürchtig, gelassen. Der ganze Kreis von Wirkungen, den ein Gott um sich schlägt, ist da – nur verhängt Heidegger über diesen Gott ein so rigoroses Bilderverbot, wie es die etablierten Religionen nicht kennen. Dem Heideggerschen ›Gott‹ gehört die »Lichtung«. Man erfährt ihn noch nicht im Seienden, das in der »Lichtung« begegnet. Man begegnet ihm erst, wenn man diese »Lichtung« als die Ermöglichung der Sichtbarkeit eigens erfährt und dankbar empfängt. Man kann es drehen und wenden wie man will, es bleibt zuletzt doch die Wiederholung jenes wunderbaren Gedankens von Schelling, wonach die Natur im Menschen die Augen aufschlägt und bemerkt, daß es sie gibt. (). Der Mensch als der Ort der Selbstsichtbarkeit des Seins. »Ohne den Menschen wäre das Sein stumm: es wäre da, aber es wäre nicht das Wahre« (Kojève). Was folgt daraus? Wir haben es schon gehört. Nichts. »In all dem ist es, so, als sei durch das denkende Sagen gar nichts geschehen« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 52). Und doch: Das ganze Verhältnis zur Welt hat sich geändert. Es gibt eine andere Befindlichkeit, ein anderer Blick wird auf die Welt geworfen. Heidegger wird die Jahre, die ihm noch bleiben, damit zubringen, diesen Blick zu erproben, an der Technik, am Bauen und Wohnen, an der Sprache und, wie heikel auch immer, an Gott. Sein Denken, das er nun nicht mehr ›Philosophie‹ nennt, wird sich darum mühen, das sein zu, lassen, was einen – sein läßt. »Weil in diesem Denken etwas Einfaches zu denken ist, deshalb fällt es dem als Philosophie überlieferten Vorstellen so schwer. Allein das Schwierige besteht nicht darin, einem besonderen Tiefsinn nachzuhängen und verwickelte Begriffe zu bilden, sondern es verbirgt sich in dem Schritt-zurück ….« (Martin Heidegger, Über den Humanismus, 1946, S. 33).“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 405).
Selbst wenn die Philosophie tatsächlich zukünftig in der Wissenschaft aufgehen sollte (was ich nicht glaube): das Denken geht weiter! Vielleicht erkannte z.B. Karl Jaspers auch darum in einer wohl doch „philosophisch armen Welt“ nur noch eine „einzigartige Gestalt“ (): Heidegger! Er hat Sein und Zeit geschrieben, vor allen möglichen Irrwegen gewarnt, mit Recht die rein ökonomische 11. Feuerbach-These von Marx abgelehnt und dagegen die ökologische (eigentlich: ökosophische !) These gesetzt, daß es eben nicht darauf ankommt, die Welt immer nur zu verändern, sondern daß es darauf ankommt, die Welt zu „schonen“ ! „Ich habe schon früh in Heidegger den eigentlichen Begründer der »grünen« Bewegung gesehen, denn er war ja zumindest auch ein Philosoph des Umweltschutzes oder der Umweltbewahrung.“ (Ernst Nolte, Einblick in ein Gesamtwerk: Siegfried Gerlich im Gespräch mit Ernst Nolte, 2005, S. 116). Und überhaupt: Heidegger ist deswegen der größte Philosoph des 20. Jahrhunderts, weil er überhaupt, aber besonders eben mit seiner Spätphilosophie () dem Denken (der Philosophie) sehr wichtige Impulse gegeben, Wegmarken gesetzt, neue Wege bereitet hat.
Die Philosophie kann und will ja auch, wie Peter Sloterdijk 2005 behauptete, „kunstmäßig betrieben werden als eine Quasi-Wissenschaft von den Totalisierungen und ihrer Metaphern, als erzählende Theorie der Genesis des Allgemeinen und schließlich als Meditation des Seins-in-Situationen – alias In-der-Welt-Seins; ich nenne das »Theorie der Immersion« oder allgemeine Theorie des Zusammenseins und begründe von dort her die Verwandtschaft der jüngeren Philosophie mit der Kunst der Installation.“ (Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 16). Sloterdijk zeichnet sich bekanntlich auch durch seine Fähigkeit aus, das Philosophische und das Erzählerische „auf eine teils neo-skeptische, teils neo-morphologische Weise miteinander zu konfigurieren“, und manchmal darf bei ihm auch die „diskrete Komik“ das Hauptmerkmal sein. (Vgl. ebd., S. 14, 16). Sloterdijk will Morphologie und Skeptizismus (= Lebensphilosophie; inklusive Existenzphilosophie) konfigurieren, wobei Heideggers „Existenzialien“ („In-Sein“, „In-der-Welt-Sein“ u.a.) für ihn eine besondere Rolle spielen. Der Versuch dieser Zusammenfügung macht – für mich auf jeden Fall – Sloterdijk so sympathisch. (). Skeptizismus oder Skepsis muß man von Kritizismus oder Kritik eindeutig unterscheiden (können): „Skepsis ist der Habitus, das Überzogene am Gewöhnlichen auflaufen zu lassen und endgültige Ergebnisse stets als vorläufige hinzustellen. …. Anders als der Kritizismus, der an Herabsetzungen interessiert bleibt, hegt die Skepsis Sympathien für Übertreibungen aller Art, im Bewußtsein, ihnen nicht erliegen zu müssen.“ (Peter Sloterdijk, Nicht gerettet, 2001, S. 263, 273).
Die Geschichte der Philosophie ist hauptsächlich die Geschichte des menschlichen Denkens, des Denkens nämlich, das die philosophischen Probleme entdeckt bzw. sich stellt und an ihrer Lösung arbeitet. Die Philosophen aller Zeiten, Völker und Kulturen haben sich mit den gleichen Grundproblemen beschäftigt; in allen Philosophien gibt es eine Erkenntnistheorie, eine Metaphysik, eine Logik, eine Psychologie, eine Anthropologie, eine Ethik u.s.w.. (Vgl. Philosophie-System). Die unterschiedlichen Lösungsversuche der einzelnen Kulturen resultieren aus ihren unterschiedlichen Ursymbolen und Seelenbildern. Als Versuch interkultureller Übergangslösungen, wie sie z.B. die gnostisch-neuplatonische Schule in Alexandrien in die eine und die Patristik in die andere Richtung darbot, sind sie der geistige Teil – ein Synkretismus – einer Pseudomorphose. ().

Tabelle I
Analoge (Vor- und Früh-) Philosophien
antik von ca. 2100 v. Chr. bis ca. 650 v. Chr.
abendländisch von ca. 50 n. Chr. bis ca. 1500
(0-2, 2-4, 4-6, 6-8, 8-10, 10-12)
1) …. Indogermanische … seit ca. – 2100
2) …………. ZEUS – ……… seit ca. – 2100 / – 2050
3) ……….. Religion ………. seit ca. – 2100 / – 2050
4) ………….. und ………….. seit ca. – 2100 / – 2050
5) ……. altmediterane …… seit ca. – 2000
6) ……….. Religion ………. seit ca. – 2000
7) ……. verschmelzen …… seit ca. – 1990 / – 1970
8) …. (Antike Religion) … seit ca. – 1950 / – 1900
9) …. (Zeus-Theologie) …. seit ca. – 1930 / – 1900
10) ….. Protohellenen ….. seit ca. – 20. Jh. / – 17. Jh.
11) ………. Mythen ………. seit ca. – 20. Jh. / – 17. Jh.
12) ………….. der …………. seit ca. – 19. Jh. / – 17. Jh.
13) ……… Mykener ……… seit ca. – 19. Jh. / – 17. Jh.
14) . . . (Atriden, Perseus, Ödipus) . . . seit ca. – 18. Jh. / – 16. Jh.
15) (7 gegen Theben, Helena, Menelaos) . . seit ca. – 18. Jh. / – 16. Jh.
16) . . (Vorläufer der homerischen Epen) . . seit ca. – 15. Jh. / – 14. Jh.
17) Zeus-Götterwelt als Feudal-Religion seit ca. – 14. Jh. / – 13. Jh.
18) ………………. … ……………….. seit ca. – 10. Jh. / – 9. Jh.
19) Zeus-Götterwelt als Monopol-Religion seit ca. – 10. Jh. / – 9. Jh.
20) ……………….. … ………………… seit ca. – 9. Jh. / – 8. Jh.
21) Zeus-Götterwelt als Adelsreligion, Homer; seit ca. – 8. Jh.
22) ……. … ….. (u.a. Olymische Spiele; 776) seit ca. – 8. Jh.
23) ……. … ….. (u.a. Apollon-Kult in Delphi) seit ca. – 8. Jh.
24) Orientalisierende Renaissance seit – 8. / – 7. Jh.
25) Reformation (Orphiker) Renaissance seit – 7 Jh.; Neuzeit
26) Dionysos als „letzter Gott“ im Olymp; seit – 7. Jh.; Neuzeit
27) Zeus-Götterwelt; Theogonie von Hesiod; seit – 7. Jh.; Neuzeit
28) Gegenreformation (6) Zeus-Welt seit – 7. / – 6. Jh.; Neuzeit

– PURITANISMUS seit – 7. / – 6. Jh.; Neuzeit – 1) 1. Gnostizismus Alexandrinische Schule seit 20 (50)
2) 1. Patristik Apostolische Kirchenväter seit 70
3) 5. Kyniker seit 70 (80)
4) Mittlerer Platonismus (Plutarch u.a.) seit 70 (80)
5) 2. Gnostizismus Alexandrinische Schule seit 150
6) 2. Patristik Apologetische Kirchenväter seit 150
7) Aristotelischer Stoizismus seit 160 (180)
8) 3. Skeptizismus Letzte Skeptiker seit 200 (250)
9) Neu-Platonismus (Plotinos u.a.) seit 220 (250)
10) Arianismus (Arius, Wulfila u.a.) seit 3. / 4. Jh.
11) 3. Patristik Systematisierende Kirchenväter seit 3. / 4. Jh.
12) 4. Patristik Dogmatisierende Kirchenväter seit 4. Jh.
13) 5. Patristik Kirchenpolitische Kirchenväter seit 4. / 5. Jh.
14) 6. Patristik Ur-Scholastische Kirchenväter seit 5. / 6. Jh.
15) 1. Scholastik Ur-Scholastik (z.T. 6. Patristik) seit 5. / 6. Jh.
16) 2. Scholastik Früh-Scholastik (Universalienstreit) seit 8.Jh.
17) 1. Mystik Früh-Mystik seit 9. Jh.
18) 3. Scholastik Hoch-Scholastik (Aristotelismus) seit 13. Jh.
19) 2. Mystik Hoch-Mystik seit 13. Jh.
20) 4. Scholastik Spät-Scholastik seit 14. Jh.
21) 3. Mystik Spät-Mystik seit 14. Jh.
22) Nominalismus Früh-Naturwissenschaft seit 14. Jh.
23) Ockhamismus Früh-Empirismus seit 14. Jh.
24) Humanistische Renaissance (Petrarca u.a.) seit 14. Jh.
25) Reformation (Luther) Renaissance seit 15. / 16. Jh.; Neuzeit
26) Neuscholastik (5) Reformation seit 15. / 16. Jh.; Neuzeit
27) Neumystik (4) Paracelsus, Franck u.a. seit 16. Jh.; Neuzeit
28) Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.; Neuzeit

– PURITANISMUS seit 16. Jh.; Neuzeit –
„Sommersonnenwende“ der Kulturen. Es ist „Mittag“: Kulturen stehen vor der „zweiten Hälfte“.

Tabelle II
Analoge (Hoch- und Spät-) Philosophien
antik von ca. 700 v. Chr. bis ca. 80 n. Chr.
abendländisch von ca. 1450 bis ca. 2230
(12-14, 14-16, 16-18, 18-20, 20-22, 22-24)
1) Ionische Naturphilosophen Urstoff seit -650/-600
2) Eleaten Seinsphilosophie/Rationalismus seit -550
3) Pythagoreer Rel.-pol.-arist. Rationalismus seit -550
4) Subjektivisten Elemenekinetik; Heraklit u.a. seit -520
5) Atomisten Naturph.; Leukipp-Demokrit, .. seit -490/-460
6) Sophisten Anthropologie/Aufklärung seit -475/-450
7) Sokratiker Sokrates, Maieutiker seit -440
8) Megariker Eristiker (Streiter) Euklid v. Megara seit -430
9) Kyrenaiker Aristippos von Kyrene, Hedonisten seit -400
10) Kyniker (Autarkisten) Antisthenes, Diogenes seit -400
11) Platoniker Platon, Alte Akademiker seit -385
12) Aristoteliker Aristoteles, Peripatetiker seit -335
13) 2. Kyniker Älterer Diogenes seit -330
14) Skeptiker Pyrrhon, Zweifler/Pyrrhonisten seit -315
15) Stoiker Stoizismus (Stoa poikile) Zenon seit -300
16) Epikureer Epikur seit -300
17) 3. Kyniker seit -300
18) 2. Aristoteliker Jüngere Peripatetiker seit -287
19) 2. Platoniker Mittlere Akademie seit -270
20) Aristarchos (Neu-Aristoteliker) seit -270
21) 4. Kyniker seit -190
22) 3. Platoniker Neuere Akademie seit -160
23) 2. Stoizismus Mittlere Stoa seit -150
24) 2. Skeptizismus Jüngere Skeptiker seit -70 (-50)
25) 2. Epikureismus Jüngere Epikureer seit -70 (-50)
26) 3. Stoizismus Neue Stoa seit 20 (50)
27) 1. Gnostizismus Alexandrinische Schule seit 20 (50)
28) 1. Patristik Apostolische Kirchenväter seit 70 (80)
29) 5. Kyniker Dion Chrysostomus von Prusa seit 70 (80)
30) Mittlerer Platonismus (Plutarch u.a.) seit 70 (80)
31) 2. Gnostizismus Alexandrinische Schule seit 150
32) 2. Patristik Apologeten seit 150
33) Aristotelischer Stoizismus seit 160 (180)
34) 3. Skeptizismus Letzte Skeptiker seit 200 (250)
35) Neu-Platonismus (Plotinos u.a.) seit 220 (250) PSEUDO
PSEUDO
PSEUDO
PSEUDO

1) Naturwissenschaft/Heliozentrik seit 1500/1550
2) Empirismus/Rationalismus Mechanik seit 1600
3) Pol.-rel. Empirismus Polit. Rationalismus seit 1600
4) Subjektivismus Rationalismus; Descartes u.a. seit 1630
5) Atomismus Monaden/Infinitesimal., Leibniz seit 1660-90
6) Aufklärung seit 1685 (1700)
7) Naturalismus-Subjektivismus seit 1710
8) Naturalismus/Deismus Freidenker seit 1720
9) Sensualismus Positivisten/Materialisten seit 1750
10) Früh-Romantik Sturm-und-Drang seit 1760
11) Kantianer Transzendental-Idealismus, Kant seit 1770
12) Hegelianer Idealismus, Hegel, Alt-Hegelianer seit 1800
13) Hoch-Romantik „Klassische“ Romantik seit 1800
14) Lebensphilosophen Existentialisten seit 1820
15) Soziologisten seit 1840
16) Psychologisten seit 1840
17) Spät-Romantik Historismus seit 1840
18) Jung-Hegelianer Jüngerer Idealismus seit 1840
19) Neu-Kantianer Neu-Idealismus seit 1860-70
20) Neu-Hegelianer Neu-Idealismus seit 1890-1900
21) Neu-Romantik Postmoderne Ökologisten seit 1960
22) Neu-Neu-Kantianer Neu-Neu-Idealismus seit 1990
23) 2. Soziologismus seit 2000
24) 2. Lebensphilosophie ab 2080 (2100)
25) 2. Psychologismus ab 2080 (2100)
26) 3. Soziologismus ab 2170 (2200)
27) 1. ………………… ab 2170 (2200)
28) 1. ………………… ab 2220 (2230)
29) Neu-Neu-Romantik ab 2220 (2230)
30) Mittlerer Kant..?..ismus ab 2220 (2230)
31) 2. ………………… ab 2300
32) 2. ………………… ab 2300
33) Hegelianischer Soziologismus ab 2310 (2330)
34) 2. Lebensphilosophie ab 2350 (2400)
35) Neu-Kant..?..ismus ab 2370 (2400)
„Wintersonnenwende“ der Kulturen. Es ist „Mitternacht“: Kulturen stehen vor dem „Wiederholungszwang“.

Tabelle III
– ABENDLAND –
„Auf und Ab“
Theologie und Philosophie
Nacht (Winter) Morgen (Frühling)
(0-2, 2-4, 4-6) (6-8, 8-10, 10-12) Nachmittag (Sommer) Abend (Herbst)
(12-14, 14-16, 16-18) (18-20, 20-22, 22-24)
0-2 Uhr

1. Gnostizismus Alexandrin. Schule seit 20 (50); PSEUDO
1. Patristik Apostolische Kirchenväter seit 70; PSEUDO
5. Kyniker (z.B. Dion Chrysostomus von Prusa) seit 70 (80)
Mittlerer Platonismus (Plutarch u.a.) seit 70 (80)
2. Gnostizismus Alexandrin. Schule seit 150; PSEUDO
2. Patristik Apologetische Kirchenväter seit 150; PSEUDO
Aristotelischer Stoizismus seit 160 (180)
3. Skeptizismus Letzte Skeptiker seit 200 (250)
Neu-Platonismus (Plotinos u.a.) seit 220 (250)
Arianismus (Arius, Wulfila u.a.) seit 3. / 4. Jh.
3. Patristik Systematisierende Kirchenväter seit 3. / 4. Jh.
4. Patristik Dogmatisierende Kirchenväter seit 4. / 5. Jh.
5. Patristik Kirchenpolitische Kirchenväter seit 4. / 5. Jh.
12-14 Uhr

Naturwissenschaft/Heliozentrik seit 1500/1550

Humanistische Renaissance seit 14. / 15. Jh.; Wende
Reformation (Luther) Renaissance seit 15 ./ 16. Jh.; Wende
Neuscholastik (5) Reformation seit 15. / 16.Jh.; Wende
Neumystik (4) Paracelsus, Franck u.a. seit 16. Jh.; Wende
Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.

2-4 Uhr

Neu-Platonismus (Plotinos u.a.) seit 220 (250)
Arianismus (Arius, Wulfila u.a.) seit 3. / 4. Jh.
3. Patristik Systematisierende Kirchenväter seit 3. / 4. Jh.
4. Patristik Dogmatisierende Kirchenväter seit 4. / 5. Jh.
5. Patristik Kirchenpolitische Kirchenväter seit 4. / 5. Jh.
6. Patristik (z.T. Ur-Scholastik; neuplatonisch) seit 5. / 6. Jh.
1. Scholastik Ur-Scholastik (z.T. 6. Patristik) seit 5. / 6. Jh.
14-16 Uhr

Naturwissenschaft/Heliozentrik seit 1500/1550
Empirismus/Rationalismus Mechanik seit 1600
Pol.-rel. Empirismus Polit. Rationalismus seit 1600
Subjektivisten Rationalismus; Descartes u.a. seit 1630
Atomismus Monadologismus/Infinitesimal. seit 1635-65
Aufklärung seit 1685 (1700)
Naturalismus-Subjektivismus seit 1710
Naturalismus/Deismus Freidenker seit 1720

Neuscholastik (5) zu: Rationalismus; z.B. Leibniz – Wolff
Neumystik (4) seit 16. Jh.
Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.

4-6 Uhr

6. Patristik Ur-Scholastische Kirchenväter seit 5. / 6. Jh.
1. Scholastik Ur-Scholastik (z.T. 6. Patristik) seit 5. / 6. Jh.
2. Scholastik Früh-Scholastik (Universalienstreit) seit 8.Jh.
16-18 Uhr

Empirismus/Rationalismus Mechanik seit 1600
Pol.-rel. Empirismus Polit. Rationalismus seit 1600
Atomismus Subjektivismus/Infinitesimal. seit 1635-65
Aufklärung seit 1685 (1700)
Naturalismus-Subjektivismus seit 1710
Naturalismus/Deismus Freidenker seit 1720
Sensualismus Positivisten/Materialisten seit 1750
Früh-Romantik Sturm-und-Drang seit 1760
Kantianer Transzendental-Idealismus, Kant seit 1770

Neuscholastik (5) zu: Rationalismus; z.B. Leibniz – Wolff
Neumystik (4) seit 16. Jh.
Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.

6-8 Uhr

2. Scholastik Früh-Scholastik (Universalienstreit) seit 8.Jh.
1. Mystik Früh-Mystik seit 9. Jh.
18-20 Uhr

Pol.-rel. Empirismus Polit. Rationalismus seit 1600
Atomismus Subjektivismus/Infinitesimal. seit 1635-65
Aufklärung seit 1685 (1700)
Naturalismus-Subjektivismus seit 1710
Naturalismus/Deismus Freidenker seit 1720
Sensualismus Positivisten/Materialisten seit 1750
Früh-Romantik Sturm-und-Drang seit 1760
Kantianer Transzendental-Idealismus, Kant seit 1770
Hegelianer Idealismus, Hegel, Alt-Hegelianer seit 1800
Hoch-Romantik „Klassische“ Romantik seit 1815
Lebensphilosophen Existentialisten seit 1820
Neu-Idealismus (Neu-Hegelianismus) seit 1835
Soziologisten seit 1850
Psychologisten seit 1850
Spät-Romantik Historismus seit 1840
Jung-Hegelianer Jüngerer Idealismus seit 1840
Neu-Kantianer Neu-Idealismus seit 1860-70

Neuscholastik (5) zu: Rationalismus; z.B. Leibniz – Wolff
Neumystik (4) geht auf in Idealismus und Romantik **
Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.

8-10 Uhr

2. Scholastik Früh-Scholastik (Universalienstreit) seit 8.Jh.
1. Mystik Früh-Mystik seit 9. Jh.
3. Scholastik Hoch-Scholastik (Aristotelismus) seit 13. Jh.
2. Mystik Hoch-Mystik seit 13. Jh.
20-22 Uhr

Kantianer Transzendental-Idealismus, Kant seit 1770
Hegelianer Idealismus, Hegel, Alt-Hegelianer seit 1800
Hoch-Romantik „Klassische“ Romantik seit 1815
Lebensphilosophen Existentialisten seit 1820
Neu-Idealismus (Neu-Hegelianismus) seit 1835
Soziologisten seit 1850
Psychologisten seit 1850
Spät-Romantik Historismus seit 1840
Jung-Hegelianer Jüngerer Idealismus seit 1840
Neu-Kantianer Neu-Idealismus seit 1860-70
Neu-Hegelianer Neu-Idealismus seit 1890-1900

Neuscholastik (5) zu: Rationalismus; z.B. Leibniz – Wolff
Neumystik (4) zu: Idealismus/Romantik; seit Kant – Hegel
Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.

10-12 Uhr

3. Scholastik Hoch-Scholastik (Aristotelismus) seit 13. Jh.
2. Mystik Hoch-Mystik seit 13. Jh.
4. Scholastik Spät-Scholastik seit 14. Jh.
3. Mystik Spät-Mystik seit 14. Jh.
Nominalismus Früh-Naturwissenschaft seit 14. Jh.
Ockhamismus Früh-Empirismus seit 14. Jh.
Humanistische Renaissance (Petrarca u.a.) seit 14. Jh.
Reformation (Luther) Renaissance seit 15. / 16. Jh.; Neuzeit
Neuscholastik (5) Reformation seit 15 ./ 16. Jh.; Neuzeit
Neumystik (4) Paracelsus, Franck u.a. seit 16. Jh.; Neuzeit
Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.; Neuzeit

– PURITANISMUSseit 16. Jh.; Neuzeit – 22-24 Uhr

Lebensphilosophen Existentialisten seit 1820
Neu-Idealismus (Neu-Hegelianismus) seit 1835
Soziologisten seit 1850
Psychologisten seit 1850
Spät-Romantik Historismus seit 1840
Jung-Hegelianer Jüngerer Idealismus seit 1840
Neu-Kantianer Neu-Idealismus seit 1860-70
Neu-Hegelianer Neu-Idealismus seit 1890-1900
Neu-Romantik Postmoderne Ökologisten seit 1960
Neu-Neu-Kantianer Neu-Neu-Idealismus seit 1990
Neu-Soziologismus seit 2000
Neu-Lebensphilosophie ab 2080 (2100)
Neu-Psychologismus ab 2080 (2100)
Neu-Neu-Soziologismus ab 2170 (2200)
1. ………………… ab 2170 (2200); PSEUDO
1. ………………… ab 2220 (2230); PSEUDO
Neu-Neu-Romantik ab 2220 (2230)
Mittlerer Kant..?..ismus ab 2220 (2230)
2. ………………… ab 2300; PSEUDO
2. ………………… ab 2300; PSEUDO
Hegelianischer Soziologismus ab 2310 (2330)
Neu-Neu-Lebensphilosophie ab 2350 (2400)
Neu-Kant..?..ismus ab 2370 (2400)

Neuscholastik (5) zu: Rationalismus; z.B. Leibniz – Wolff
Neumystik (4) zu: Idealismus/Romantik; seit Kant – Hegel
Neuscholastik (6) Gegenreformation seit 16. Jh.

„Sommersonnenwende“ oder „Mittag“
„Wintersonnenwende“ oder „Mitternacht“

Geschichte hat tiefenkulturell – wie jede Entwicklung – Ähnlichkeit mit Kreisläufen oder Periodizitäten.
Die Jahreszeiten und die Wiederkehr von Tag und Nacht sind kosmologisch bedingte Ereignisse.
Der „Faust“ des Abendlandes erfand kreisrunde Uhren, die nicht zufallällig die halbierte Tageszeit anzeigen.
Von 0 bis 12 Uhr leben wir im winterlichen und frühjährlichen Auf, von 12 bis 24 Uhr im sommerlichen und herbstlichen Ab.

Der wahre Denker kommt über das Urdenken zum Nachdenken.
Und nur die Denker, die vom Urdenken aus über das
Vordenken, Frühdenken, Hochdenken, Spätdenken
zu einem neu-religiösen Nachdenken kommen,
haben das Glück, das Urdenken neu denken
und selbst Vordenker der Neukultur
werden zu können.
Religiös ! (*)

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Anmerkungen:

In-situ meint die natürliche, die richtige Lage in einem Raum (vgl. Situs: Lage oder Stellung der Organe im Körper; Lage des Fötus in der Gebärmutter). Wohnen ! „Hölderlins Intuition hat das In-situ-Prinzip wohl am klarsten ausgesprochen: »Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde«; der Phänomenologe Merleau-Ponty deutet die Verankerung des Daseins in seiner eigenen welthaltigen Voluminosität mit dem Satz: »Der Leib ist nicht im Raum, er wohnt ihm ein«; Heidegger hat hierfür in seiner Analytik des In-der-Welt-Seins die allgemeinste aller möglichen Formulierungen geliefert: »Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe.« (Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 105.). Diese Thesen konvergieren in einer raumtheoretischen Perspektive: Sie sagen aus, daß Dasein, als Setzung eines symbolischen und physischen Volumens, den Aufenthalt im Unkomprimierbaren bedeutet. Man könnte sogar sagen, daß Dasein und Sich-Ausdehnen konvergieren. Das Wohnen impliziert das Prinzip »Gelegenheitsdichtung«. Das heißt: Auch wer häufig umzieht, kommt nicht umhin, einen Habitus des Wohnens unterwegs auszubilden. …. Mit dem Lokalismus, könnte man sagen, wird der Existentialismus raumanalytisch reformuliert. Nun ist er imstande, mit ausreichender Explizitheit zu artikulieren, daß und warum Bestimmtsein durch Eingebettetsein de facto seit je eine unsuspendierbare Größe darstellt. Hierbei entsteht eine allgemeine Logik der Partizipation, der Situiertheit und der Einwohnung – wir weisen noch einmal auf die Tatsache hin, daß die zeitgenössische Kunst mit ihrer Wendung zur Installation sich diesbezüglich einen weiten Vorsprung vor der philosophischen Analyse erarbeitet hat. (Vgl. Sphären III, Schäume, 2004, S. 523ff.). Auf diese Weise wird offengelegt, daß es kein Dasein gibt ohne Teilnahme an ungekürztem Ausgedehntsein, Verbundensein, Besessensein – es sei denn, die Fähigkeit zur Einbettung wäre durch eine Psychose unterhöhlt oder durch ständige Flucht zerrüttet – aber ist nicht gerade die Psychose ein wildes Bauen, und ist nicht auch die Flucht in gewisser Hinsicht raumbildend? Mit dem einwohnenden Weltverhältnis ist – die maßgeblichen Raumdenker des 20. Jahrhunderts haben es gezeigt – stets eine interieurbildende Aktivität, eine entfernende Praxis (im Sinne Heideggers) und eine befriedende Kultivierung (im Sinne von Schmitz) verbunden. (Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 105f.; Hermann Schmitz, System der Philosophie, Der Raum – 4. Teil, § 218, 1964-1980, S. 258-308). Wo gewohnt wird, sind Sachen, Symbionten und Personen zu lokalen Solidarsystemen zusammengefaßt. Das Wohnen entwirft eine Praxis der Ortstreue über längere Zeit …. Wohnen schafft ein Immunsystem aus wiederholbaren Gesten; es verbindet das Entlastet-Sein dank erfolgreicher Habitualisierungen mit dem Belastet-Sein durch deutliche Aufgaben.“ (Peter Sloterdijk, Das Unkomprimierbare oder: Die Wiederentdeckung des Ausgedehnten, in: Im Weltinnenraum des Kapitals, 2005, S. 391-405, hier zitiert: S. 401-402, 404-405). Sloterdijk will dem Raum wieder zu seinem früheren Ansehen verhelfen und das Ausgedehnte wiederentdecken. Der Raum ist nicht komprimierbar, so Sloterdijk.
Seelenbild der Antike und Seelenbild des Abendlandes sind gegensätzlich: apollinisch und faustisch; ihre Ursymbole ebenfalls: Einzelkörper und Unendlicher Raum. Wie ein Dogma gegenüber aller Erfahrung, gelten auch Seelenbild und Ursymbol allgemein als unbeweisbar, deshalb sei hier darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Antike und Abendland sogar am Beispiel „Parallelenaxiom“ deutlich werden kann: Euklid hat in seinen „Elementen“ (um 312 v. Chr.) die mathematische Entsprechung für das antike Beispiel gegeben und Gauß ca. 2112 Jahre später (um 1800) die für das abendländische. Sie stehen – wie unzählige andere Beispiele auch – für einen metaphysischen Mittelpunkt, um den eine Kultur kreist, während sie von Seelenbild und Ursymbol angetrieben und angezogen wird. (Vgl. Oswald Spengler, 1917, S. 155, 227ff., 234, 390). Vgl. dazu auch das Germanentum.
Das Seelenbild der magischen Kultur ist ein dualistisches: Geist und Seele; ihr Ursymbol: Welthöhle. (Vgl. Oswald Spengler, 1917-1922, S. 847f.).
„Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 784). Auch eine junge Kultur kann so mächtig sein, daß sie eine alte dort, wo sie zu Hause ist, überlagert. Das Beispiel zwischen der (alten) apollinischen Kultur, auch kurz „Antike“ genannt, und der (jungen) magischen Kultur, auch „Persien/Arabien“ genannt, macht es deutlich: „Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die Pseudomorphose darin, daß alle östlichen Kirchen zu Kulten westlichen Stils wurden. Dies ist eine wesentliche Seite des Synkretismus. …. Mit dem Hinschwinden der apollinischen und dem Aufblühen der magischen Seele seit dem zweiten Jahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetzt Kulte des Westens, die zu einer neuen Kirche des Ostens werden. Aus der Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des Persertums und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische Nation.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1917-1922, S. 800-801).
Der Synkretismus kristallisierte sich als eine der vielen Arten der Pseudomorphose heraus, als die Kirchen des Ostens in Kulte des Westens verwandelt wurden und in umgekehrter Richtung die Kultkirche entstand. Die Formenbildung ging also erst von West nach Ost und dann von Ost nach West. Das 2. Jahrhundert war die Zeit der Umkehrung: die Kulte des Westens wurden zu einer neuen Kirche des Ostens. Es entstand ein neues Griechentum als magische Nation.
Zeus (lat. Jupiter),der höchste Gott der Griechen (der Antike), Sohn des Kronos und der Rhea, Bruder und Gemahl der Hera, stürzte mit seinen Brüdern Poseidon (Neptun) und Hades (Pluto) die Herrschaft der Titanen ( 6 Söhne und 6 Töchter des Uranos und seiner Frau Gäa), zu denen sein Vater Kronos (Saturn) zählte. Er teilte nach dem Sturz der Titanen die Welt mit seinen Brüdern. Wie bei keinem olympischen Gott sonst sind bei Zeus die indogermanische Etymologie und Bedeutung und damit bereits vormediterane, aus der indogermanischen Religion stammende Ursprungs- und Wesensmerkmale zweifelsfrei. Zeus, mit diphtongischem Wurzelnomen, geht etymologisch zurück auf das indogermanische Nomen agentis * dieu-s mit der Grundbedeutung „hell Aufleuchtender“, „Glänzer“, „Wetterleuchtender“. Zeus wurde zwischen 2300-1900 v. Chr. von den einwandernden Indogermanen bzw. Protogriechen (Achäer, Ionier) importiert. Er kann aber sogar noch früher von diesen indogermanischen Gruppen in den Nordwesten Griechenlands importiert worden sein (vielleicht als * Teus). Erst im Verlauf des 2. Jt. v.Chr. trat zu dieser indogermanischen Komponente die mediterane, und erst in der Mittelmeerwelt wurde Zeus zum Kroniden. (Vgl. Tabelle und Zeus‘ Sohn Apollon).
Kroniden (Hades, Neptun, Zeus sowie Hestia, Demeter, Hera) sind die 3 Söhne und die 3 Töchter des Kronos und der Rhea. Kronos entmannte seinen Vater Uranos (Himmel) und bemächtigte sich der Weltherrschaft. Um nicht von seinen Nachkommen ein ähnliches Schicksal zu erfahren, verschlang er alle Kinder, die ihm seine Gemahlin und Schwester Rhea gebar. Nur im Falle des jüngsten Sohnes Zeus gelang es Rhea, Kronos zu täuschen. An Stelle des Kindes verschluckte Kronos einen Stein. Später besiegte Zeus Kronos, zwang ihn, die Geschwister wieder auszuspeien, und verbannte ihn und die anderen Titanen in den Tartaros (Unterwelt, v.a. für den Aufenthalt von Dämonem und Büßern).
Apollon, Sohn des Zeus und der Leo und Zwillingsbruder der Artemis, war der griechische Gott, v.a. der Mantik (Seher- bzw. Wahrsagerkunst) und Musik, dessen umfassende Kompetenz sich jedoch auf alle Bereiche göttlichen Waltens erstreckte. Die apotropäischen (nach Art des abwehrenden Zaubers), schützenden und heilenden Eigenschaften gehörten hingegen wohl noch vor den daraus ableitbaren mantischen und karthartischen zur älteren Wesensschicht des Apollon. Der schreckliche Bogenschütze, mit den lautlosen Pfeilen „nach Belieben treffend“, schickte zwar Tod und Verderben über Menschen und Vieh, doch wurde der Pestbringer ganz folgerichtig auch um Abwehr des Übels angegangen. Es bleibt festzuhalten, daß an der vielschichtigen Gestalt des Gottes offenbar prähellenische bzw. indogermanisch-protohellenische und (kleinasiatisch-) mediterane Komponeneten beteiligt waren. Apollon war die Verkörperung des griechischen bzw. antiken Ideals der strahlenden „apollinischen Schönheit“. (Vgl. antikes Seelenbild und Apollonkult).
Orakel (zu lat. oraculum, eigtl. „Sprechstätte“) ist Weissagung, Aussage über Zukünftiges (z.B. als Handlungsanweisung), räumlich Entferntes, über den gebotenen Vollzug bestimmter Handlungen und herrscherliche Ansprüche, ferner auch Bezeichnung des Ortes, an dem diese „Wahrsagungen“ erteilt werden. In fast allen Kulturen und Religionen haben Orakel eine beträchtliche Rolle gespielt. Man unterscheidet zwischen einer kultischen Orakelgebung, die durch Medien und Priester erfolgt, und einer direkten Orakelerteilung durch charismatisch veranlagte Personen. Berühmte Orakelstätten waren das kanaanäische Kadesch und vor allem Delphi mit der Pythia, deren Äußerungen von Priestern gedeutet wurden. Das antike Orakel war ursprünglich ein Losorakel und beruhte erst später auf der Inspirationsmantik der Pythia. (Vgl. die mit Runen versehenen Buchenstäbe (Buchstaben) als „Lose“ bzw. Orakelform bei den Germanen).
Delphi war schon seit Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. Siedlung und Kultstätte (urspr. Verehrung der Erdmutter Gäa, seit dem8. Jh. Apollonkult). Das Apollonheiligtum, die „Pythischen Spiele“, besonders aber das Orakel machten Delphi zu einer der bedeutendsten Kultstätten der Antike. Nach der griechischen Mythologie erschlug hier Apollon den Drachen Python. Im Apollontempel befanden sich der Omphalos (Nabel der Erde), ein Marmorblock, der als Mittelpunkt der Erde galt, und der Erdspalt, dem ein Luftstrom entstieg, der die Orakelpriesterin Pythia, auf ehernen Dreifuß über dem Erdspalt sitzend, zur Prophetie anregte. Das Orakel war ursprünglich ein Losorakel und beruhte erst später auf der Inspirationsmantik der Pythia, deren von Apollon eingegebene Äußerungen von der Priesterschaft in Form metrischer, meist mehrdeutiger Sprüche verkündet wurden.
Python (puqon) war nach der griechischen Mythologie ein erdgeborener Drache, der das Orakel seiner Mutter Gäa in Delphi behütete und von Apollon getötet wurde. Nach Python war die Apollonpriesterin Pythia am Orakel in Delphi benannt, führte der Gott den Beinamen Pythios und wurden die Spiele in Delphi „Pythischen Spiele“ (Pythien) genannt, die alle vier Jahre zu Ehren des Apollon gefeiert wurden.
Pythia (von puqon, Python) war Apollonpriesterin in Delphi, benannt nach dem erdgeborenen, das Orakel seiner Mutter Gäa behütenden, schließlich von Apollon getöteten Drachen Python.
Theodizee – den Ausdruck prägte Leibniz 1697. Im engeren Sinne bedeutet er den Versuch einer Rechtfertigung Gottes angesichts des von ihm trotz seiner Allmacht zugelassenen (phys.) Übels, (moral.) Bösen und Leidens in der Welt; im weiteren Sinne die Bezeichnung für die Gesamtheit der Probleme der philosophischen Gotteserkenntnis: entweder will Gott eine vollkommene Welt schaffen, kann es aber nicht, oder er kann es, will es aber nicht, oder er will es weder, noch kann er es, er will und kann es, wogegen aber der faktische Zustand der Welt spricht. Leibniz unternahm den umfassenden Versuch, das Problem theoretisch zu lösen, indem er zwischen einem metaphysischen, physischen und moralischen Begriff des Bösen unterschied und die Welt als die „beste aller möglichen Welten“ verstand. (). Im Deutschen Idealismus wollte Schelling das Böse als eine Stufe im Prozeß der Selbstwerdung Gottes, die Geschichte als Prozeß der Überwindung des Bösen verstehen. Für Hegel stellte der Gang der Weltgeschichte die „wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte“ dar.
„Sätze“ (Beispiele) u.a.:
1) „Satz vom Grund“: Denkgesetz der theoretischen Philosophie von Leibniz; „nichts ist ohne Grund“ (physikalísch), „nichts geschieht ohne Grund“ (Logik; Grund-Folge-Beziehung).
2) „Satz vom Widerspruch“: Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch (z.B. A und nicht-A; können nicht zusammen wahr sein).
3) „Satz von der Ununterscheidbarkeit“: Denkgesetz der theoretischen Philosophie von Leibniz; Satz von der Identität des Ununterscheidbaren. Er definiert die Identität zweier Gegenstände durch die gegenseitige Ersetzbarkeit ihrer vollständigen Begriffe in beliebigen Aussagen, ohne daß sich dadurch etwas an deren Wahrheitswert ändert.
Christian Wolff versuchte, den „Satz vom Grund“ mit ontologischen Mitteln zu beweisen. Kant reduzierte ihn i.d.R. auf den Grundsatz der Kausalität; Schopenhauer nahm ihn zum Anlaß einer Unterscheidung in 4 verschiedene Fundierungsverhältnisse („Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“, 1813).
James Watt (1736-1819), englischer Ingenieur und Erfinder, verbesserte 1765 die (atmosphärische) Dampfmaschine T. Newcomens durch Einführung des vom Zylinder getrennten Kondensators (erste direkt wirkende Niederdruck-Dampfmaschine). 1782-84 konstruierte er eine doppelt wirkende Dampfmaschine. Die von der Firma Boulton & Watt gebauten Dampfmaschinen trugen wesentlich zur Industriellen Revolution bei. Watt betätigte sich auch als Chemiker; er erkannte, daß Wasser kein chemisches Element ist. Das Einheitenzeichen Watt, eine SI-Einheit der Leistung, ist nach James Watt benannt („W“): 1 W ist gleich der Leistung, bei der während der Zeit 1 Sekunde die Energie 1 Joule umgesetzt wird: 1 W = 1 Joule / s = 1 N m / s. Häufig verwendete dezimale Vielfache sind das Kilowatt (kW), das Megawatt (mW) und das Gigawatt (gW). 1 kW = 1000 W, 1 mW =1000 kW, 1 gW = 1000 mW.
Zum Historismus vgl. Früh-Historismus (18-20 Uhr), Hoch-Historismus (20-22 Uhr), Spät-Historismus (22-24 Uhr).
Deutscher Idealismus meint die Entwicklung der deutschen Philosophie von Kant (um 1780) bis Hegel (um 1830), aber auch die philosophische Grundhaltung der deutschen Romantik (Jenaer Frühromantik-Kreis um die Brüder Schlegel und Heidelberger Romantik um Brentano, Görres, Grimm u.a.). Bei Schiller strahlte z.B. der Menschenbildungs-Idealismus ganz besonders – wie ein Stern. Schelling z.B. stand auf dem Boden des Deutschen Idealismus, war mit Fichte und Hegel zusammen dessen Hauptvertreter und bildete den Übergang des Idealismus zur Romantik. Er wurde wegen seiner steten Wandlung auch der Proteus der Philosophie genannt. Im Anschluß an Kant und Fichte entwarf Schelling eine spekulative Naturphilosophie der Hierarchie der Naturkräfte (Potenzen), die schließlich in eine Identitätsphilosophie mündete: Die Gegensätze von Subjekt und Objekt, von Realem und Idealem, Natur und Geist lösen sich für ihn im Absoluten auf als Identität von Idealem und Realem. Nach Schelling ist dieses Absolute unmittelbar erfaßbar durch die intellektuelle Anschauung und in der Kunst. (Vgl. Tabelle).
Immanuel Kant (1724-1804), Werke ():
1) 1747-1758: Dominanz der Naturwissenschaften:
– Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1747)
– Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse einige
Veränderungen seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe (1754)
– Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755)

– Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens (1756)
– Von den Ursachen der Erderschütterungen (1756)
– Entwurf und Ankündigung eines Collegii über die physische Geographie
nebst … Betrachtung über die Frage, ob die Westwinde in unseren Gegenden
darum feucht sind, weil sie über ein großes Meer streichen (1757)
– Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe (1758)

2) 1758-1781: Von der Wollfschen zur kritischen Metaphysik:
– Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus (1759)
– Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren (1762)
– Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763)
– Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763)
– Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764)
– Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764)
– Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764)
– Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766)
– Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raume (1768)
– Über Form und Grundlagen der Wahrnehmungs- und der Vernunftwelt (1770)
– De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770)
– Rezension der Schrift von Moscati über den Unterschied der Struktur der Tiere und Menschen (1771)
– Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775)

3) 1781-1793: Kants kritische Philosophie:
– Kritik der reinen Vernunft (1781)
– Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783)
– Über Schulz‘ Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre (1783)
– Ideen zur einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784)
– Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784)
– Rezension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1785)
– Über die Bestimmung des Begriffes einer Menschenrasse (1785)
– Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
– Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786)
– Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786)
– Über Hufelands Grundsatz des Naturrechts (1786)
– Was heißt: sich im Denken orientieren ? (1786)
– Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788)
– Kritik der praktischen Vernunft (1788)
– Kritik der Urteilskraft (1790)
– Über Schwärmerei und die Mittel dagegen (1790)
– Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche der Theodizee (1791)
– Über die von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisaufgabe:
Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz‘ und Wolffs Zeiten gemacht hat? (1791)
– Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793)
– Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793)

4) 1793-1804: Kants nachkritische Phase (Bindeglied zwischen vollendetem Kritizismus [] und Deutschem Idealismus)
– Über Philosophie überhaupt (1794)
– Etwas über den Einfluß des Mondes auf die Witterung (1794)
– Das Ende aller Dinge (1794)
– Zum ewigen Frieden (1795)
– Zu Sömmering über das Organ der Seele (1796)
– Ausgleichung eines auf Mißverstand beruhenden mathematischen Streits (1796)
– Metaphysik der Sitten (1797):
I) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre
II) Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre
– Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen (1797)
– Der Streit der Fakultäten (1798)
– Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798)
– Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre (1799)
u.a.
Ding an sich ist das Ding, wie es unabhängig von einem erkennenden Subjekt für sich selbst besteht, das wahre Sein, dessen Erscheinungen die empirischen Dinge sind, auf welches eben die Erscheinungen hinweisen. Wir erkennen ein Ding als Gegenstand unserer Wahrnehmung nur so, wie es uns – eingekleidet in den Ausbauungsformen von Raum und Zeit, in den Kategorien und Verstandesgesetzen – so erscheint. Wie es an sich beschaffen ist, werden wir niemals erfahren. (Frei nach: Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781).
Mesmerismus, nach dem deutschen Arzt Franz A. Mesmer (1734-1815), ist eine Bezeichnung für die Lehre von der Heilkraft des „animalischen Magnetismus“; überhöhte Anschauung von den Erscheinungen der Hypnose und Suggestion. (Vgl. hierzu auch: Peter Sloterdijk, „Der Zauberbaum“, 1985).
Johann Gottlieb Fichte (1762-1814). Hauptwerke:
– Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792)
– Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794)
– Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre (1794)
– Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre (1795)
– Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796)
– Sittenlehre (1798)
– Die Bestimmung des Menschen (1800)
– Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1800 und 1804-05)
– Anweisungen zum seligen Leben (1806)
– Reden an die deutsche Nation (1807-08)
– Rechtslehre (1812)
Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831). Hauptwerke (neben vielen anderen Werken):
– Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1797)
– Phänomenologie des Geistes (1807)
– Wissenschaft der Logik (1812)
– Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817; Zusätze: 1827-1830)
– Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821)
– Philosophie der Geschichte (1822-1828)
– Sämtliche Werke (postum)
Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854). Hauptwerke:
– Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797)
– Von der Weltseele (1798)
– Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1798/99)
– System des transzendentalen Idealismus (1800)
– Darstellung meines Systems (1801)
– Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803)
– Philosophie und Religion (1804)
– Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur (1807)
– Philosophie der Mythologie und Offenbarung (1808)
– Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809)
– Die Weltalter (1811 / 1813)
– Denkmal der Schrift Jacobis von den Göttlichen Dingen (1812)
– Die Gottheiten von Samothrake (1815)
– Clara oder über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt
Arthur Schopenhauer (22.02.1788 – 21.09.1860). Werke u.a.:
– Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813)
– Die Welt als Wille und Vorstellung* (1818) [* Hauptwerk]
– Über den Willen in der Natur (1835)
– Die beiden Grundprobleme der Ethik (1841)
– Parerga und Paralipomena. Darin: Aphorismen zur Lebensweisheit (1851)
– Briefwechsel mit Goethe (postum)
– Werke (postum)
Die abendländische Philosophie sei eine Reihe von Fußnoten zu Platon, behauptete der Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead (1861-1947), einer der wichtigsten Vertreter des Neurealismus, auf den er eine kritische Naturphilosophie gründete, die er später durch eine konstruktive Metaphysik ergänzte.
Obwohl gerade Einstein sich hiergegen am meisten wehrte. Er wollte nicht, daß „Gott würfelt“, er hatte ein geschlossenes Weltbild und wollte deshalb auch ein geschlossenes Weltall, eine Welt ohne Zufall. Einstein irrte! Oder doch nicht?
Zu Martin Heidegger (1889-1976) vgl. Existenzphilosophie und Werke. Schon als Kind spürte Heidegger seine Vorliebe für die formale und mathematische Logik: „Als in der Obersekunda der mathematische Unterricht vom bloßen Aufgabenblösen mehr in theoretische Bahnen einbog, wurde meine bloße Vorliebe zu dieser Disziplin zu einem wirklichen sachlichen Interesse, das sich nun auch auf die Physik erstreckte. Dazu kamen Anregungen aus der Religionsstunde, die mir eine ausgedehnte Lektüre über die biologische Entwicklungslehre nahelegten. In der Oberprima waren es vor allem die Platostunden …, die mich mehr bewußt, wenn auch noch nicht mit theoretischer Strenge in philosophische Probleme einführten.“ (Martin Heidegger, zitiert in: Hugo Ott, Martin Heidegger – Unterwegs zu seiner Biographie, S. 86). „Wenn Heidegger 1915 in seinem Lebenslauf seine formallogische Schulung erwähnt, als handle es sich um Propädeutik, dann untertreibt er. Denn für ihn war damals die formale und mathematische Logik tatsächlich eine Art Gottesdienst, von der Logik läßt er sich in die Disziplin des Ewigen nehmen, hier findet er Halt auf dem schwankenden Grund des Lebens.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 38). Mehr:
„Eine strenge, eisig kalte Logik widerstrebt der feinfühligen modernen Seele“ – auch dieser Satz kündet vom Anspruch, dem Heidegger früh folgte; daß nämlich die mathematische Wahrheit als die strengste Form der ewigen Wahrheit am siegreichsten aufleuchtet. Die himmlische Logik nennt Safranski den Untertitel, in dem er den Meister aus Deuschland als noch jungen Erwachsenen beschreibt:„Der Autorismus des Glaubens und die Objektivität der sttrengen Logik sind ihm eins. Es sind verschiedene Arten, am Ewigen teilzuhaben. Und doch geht es dabei auch um gefühle, um sehr erhabene sogar. Erst in der strengen Zucht des Glaubens und der Logik erfüllt sich das Verlangen nach »abgeschlossenen, abschließenden Antworten auf die Endfragen des Seins, die zuweilen so jäh aufblitzen, und die dann manchen Tag ungelöst wie Bleilast auf der gequälten, ziel- und wgarmen Seele liegen.« Wenn Heidegger 1915 in seinem Lebenslauf seine formallogische Schulung erwähnt, als handle es sich um Propädeutik, dann untertreibt er. Denn für ihn war damals die formale und mathematische Logik tatsächlich eine Art Gottesdienst, von der Logik läßt er sich in die Disziplin des Ewigen nehmen, hier findet er Halt auf dem schwankenden Grund des Lebens. Conrad Gröber hatte dem Schüler 1907 die Dissertation Franz Brentanos »Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles« geschenkt. Darin findet er, was er die strenge, eisig kalte Logik nennt, etwas für starke Geister, die nicht nur von ihren Meinungen und Gefühlen leben wollen. Es ist bemerkenswert, daß Gröber, ein Kirchenmann von strenger Observanz, ausgerechnet diese Schrift auswählte. Denn Franz Brentano, ein 1838 geborener Neffe des Romantikers Clemens Brentano, war ein Philosoph, der zwar als katholischer Priester zunächst das Philosophieren dem Glauben unterstellte, aber nach dem »Unfehlbarkeitskonzil« von 1870 in Konflikt mit seinen Oberen geriet. (). Schließlich trat er aus der Kirche aus, heiratete und mußte deshalb seine Wiener Professur niederlegen. Bis 1895 lehrte er noch als Privatdozent und zog sich dann, inzwischen fast erblindet, nach Venedig zurück. Brentano war der Lehrer Husserls, mithin einer der Gründungsväter der Phänomenologie. Die Frage, die Brentano umtrieb, war die nach der Seinsweise Gottes. Wenn es Gott gibt – was bedeutet dann dieses ›es gibt‹? Ist er eine Vorstellung in unserem Kopf? Ist er draußen in der Welt als ihr Inbegriff, als ihr höchstes Sein? In subtilen Analysen findet Brentano heraus, daß es etwas Drittes gibt zwischen den subjektiven Vorstellungen und dem An-sich der Dinge: die »intentionalen Objekte«. Die Vorstellungen sind, so Brentano, nicht etwas rein Inwendiges, sondern sie sind immer Vorstellungen ›von etwas‹. Sie sind das Bewußtsein von etwas Seiendem, das es gibt, oder genauer: das sich mir gibt und darbietet. Diese inneren, »intentionalen Objekte« sind etwas, das heißt: Sie lassen sich nicht auflösen in die subjektiven Akte, durch die wir in Bezug zu ihnen treten. So präpariert Brentano eine ganze aparte Welt des Seienden heraus, die eine Zwischenstellung einnimmt im üblichen Subjekt-Objekt-Schema. In dieser Welt der »intentionalen Objekte« lokalisiert Brentano auch unseren Bezug zu Gott. Hier ›gibt‹ es Gott. Das Bewußtsein von Gott läßt sich nicht an realen Objekten unserer Erfahrung verifizieren, aber es stützt sich auch nicht auf abstrakte Allgemeinbegriffe, wie etwa das ›höchste Gut‹, das ›höchste Seiende‹ usw.. Die Untersuchung der Seinsbegriffe bei Aristoteles unternimmt Brentano, um darzutun, daß der geglaubte Gott nicht jener Gott ist, den wir auf dem Wege der Abstraktion aus der Fülle des Seienden gewinnen wollen. Mit Aristoteles zeigt Brentano, daß es dieses Ganze strenggenommen gar nicht gibt. Es gibt nur einzelne Dinge. Es gibt keine Ausdehnung an sich, sondern nur ausgedehnte Dinge. Es gibt nicht die Liebe, sondern nur die vielen einzelnen Ereignisse der Liebe. Brentano warnt davor, den Begriffsdingen fälschlich eine Substanz zuzuschreiben. Die Substanz steckt nicht in den Allgemeinbegriffen, sondern in den konkreten Einzeldingen. Sie sind von intensiver Unendlichkeit, weil sie in unendlich vielen Relationen stehen und deshalb nach unendlich vielen Hinsichten bestimmt werden können. Unerschöpflich ist die Welt, die sich nur in Einzelheiten und in der mannigfaltigen Abstufung der Seinsarten darbietet. Für das Denken des Franz Brentano steckt Gott im Detail. Die Untersuchung mißt im Anschluß an Aristoteles das Terrain des Denkbaren aus, wodurch der Glaube, der für Brentano verbindlich bleibt, vor einer trügerischen Logifizierung bewahrt wird. Er ruht auf einem anderen Grund als dem der Begründung, aber, so deutet Brentanos Dissertation an, es könnte einmal gelingen, genau zu beschreiben, was eigentlich im Akt des Glaubens, im Unterschied etwa zum Urteilen, Vorstellen oder Wahrnehmen, wirklich vor sich geht. Das sind die Umrisse des phänomenologischen Programmes der kommenden Jahre. Die Lektüre Brentanos war für Martin Heidegger ein schwieriges Exerzitium. Er erzählt, wie er sich in den Semesterferien in Meßkirch damit abplagte. »Wenn die Rätsel einander drängten und kein Ausweg sich bot, half der Feldweg.« Dort auf der Bank wurden die Dinge für ihn wieder ganz einfach. »Die Weite aller gewachsenen Dinge, die um den Feldweg verweilen, spendet Welt. Im Ungesprochenen ihrer Sprache ist … Gott erst Gott.« Über Franz Brentano kommt Heidegger zu Edmund Husserl. Dessen »Logische Untersuchungen«, erschienen genau zur Jahrhundertwende, wurden für Heidegger zu einem persönlichen Kultbuch. Zwei Jahre lang behält er es bei sich auf der Stube, ausgeliehen von der Universitätsbibliothek, wo einstweilen noch niemand danach fragte, was in ihm das Gefühl einer einsamen und zugleich auszeichnenden Passion erweckt. Noch fünfzig Jahre später kommt er ins Schwärmen, wenn er an dieses Buch denkt: »(Ich) blieb von Husserls Werk so betroffen, daß ich in den folgenden Jahren immer wieder darin las. …. Der Zauber, der von dem Werk ausging, erstreckte sich bis auf das Äußere des Satzspiegels und des Titelblattes …«.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 38-40). Mehr:
„Zwar braucht der Glaube nicht philosophisch begründet zu werden, aber man kann die antimetaphysichen Anmaßungen einer falsch verstandenen Wissenschaftlichkeit philosophisch zurückweisen. Denn den Wissenschaftlern ist meistens nicht bewußt, wieviel metaphysiche Anleihen sie machen, wenn sie ihren Sätzen Wahrheitswert zuerkennen.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 57). Außerdem hat Martin Heidegger, und zwar nicht nur in seiner Freiburger Vorlesung, gesagt: „Die Wissenschaft denkt nicht“, und das bedeutet:„Die Wissenschaft bewegt sich nicht in der Dimension der Philosophie, sie ist aber, ohne daß sie es weiß, auf diese Dimension angewiesen. Zum Beispiel: Die Physik bewegt sich im Bereich von Raum, Zeit und Bewegung; was Bewegung, was Raum, was Zeit ist, kann die Wissenschaft als Wissenschaft nicht entscheiden. Man kann nicht mit physikalischen Methoden sagen, was die Physik ist. Das kann man nur philosophierend sagen.“ (Martin Heidegger zur Seinsvergessenheit; vgl. Martin Heidgger im Denken unterwegs, ein Film von Walter Rüdel & Richard Wisser, 1975). Der Heidegger-Übersetzer Jean Beaufret: „Unterwegs zur Sprache. Und das ist das einzige Geheimnis Heideggers. …. Übersetzen ist für Heidegger kein Transport eines Pakets aus einem Idiom zu einem anderen, sondern umgekehrt: ein Übersetzen des Denkens selber durch einen Strom an das andere Ufer, nämlich zu dem, was schon zur Sprache gekommen war.“ (Ebd.).
Die „Botschaft von SEIN UND ZEIT …: Es steckt nichts dahinter.“ (Das) NICHTS! Rüdiger Safranski meint, daß sich mit Heideggers emphatischer Frage nach dem Sinn von Sein auch die im Zusammenhang mit dem Unbehagen stehenden Erwartungen (Trost u.ä.) sehr wohl geweckt, aber eben nicht erfüllt wurden, denn: „Daß diese Erwartung enttäuscht werden muß, gehört zur Botschaft von SEIN UND ZEIT, die da lautet: Es steckt nichts dahinter. (NICHTS !). Der Sinn von Sein ist die Zeit; die Zeit aber ist kein Füllhorn von Gaben, sie gibt uns keinen Gehalt und keine Orientierung. Der Sinn ist die Zeit, aber die Zeit ›gibt‹ keinen Sinn.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 178). Gibt es also keine andere Antwort? „Der Sinn von Sein ist – die Zeit. Die Pointe wird verraten, aber um sie verständlich zu machen, braucht Heidegger nicht nur dieses ganze Buch (SEIN UND ZEIT), sondern auch den Rest seines Lebens.“ (Ebd., S. 172). Safranski meint: „Das Fragen war Heideggers Leidenschaft, nicht das Antworten. Wonach er fragte und suchte, das nannte er – das Sein. Ein philosophisches Leben lang stellte erimmer wieder diese e i n e Frage nach dem Sein. Der Sinn dieser Frage ist kein anderer, als dem Leben das Geheimnis, das in der Moderne zu verschwinden droht, wieder zurückzugeben.“ (Ebd., S. 13). „Eine von Heideggers Formeln für die Abwehr der Zumutung, doch nun endlich die Frage nach dem Sein zu beantworten, lautet in der Nietzsche Vorlesung (1936/37): »Mit dem Sein ist es nichts …«. Das bedeutet: Sein ist nichts, woran man sich festhalten könnte. …. Die Frage nach dem Sein soll verhindern, daß die Welt zum Weltbild wird. Als Heidegger merkte, daß dieses ›Sein‹ selbst zu einem Weltbild werden könnte, schrieb er es mit einem Ypsilon (Seyn), und manchmal behalf er sich auch, indem er ›Sein‹ ausschrieb und dann durchstrich (Sein). …. Heidegger aber versucht den Gedanken durchzuhalten: der Sinn des Seins ist die Zeit. Nietzsche macht aus der Zeit ein Sein, Heidegger aus dem Sein die Zeit.“ (Ebd., S. 341-342). Die Zeit ist ja „nicht auf dieselbe Weise wirklich wie die vorkommenden Dinge, die auch altern und ihre Zeit haben. Nur der Mensch erlebt, wie etwas, das ist, wenig später nicht mehr ist, und etwas, das noch nicht ist, nun ins Sein tritt. Der Mensch ist die offene Stelle im Sein, der Schauplatz, wo das Sein ins Nichts und das Nichts ins Sein umschlägt.“ (Ebd.; S. 383). Wenn also für Heidegger etwas eine besonders eröffnende Kraft besitzt, dann diese „e i n e Frage, die er sein philosophisches Leben lang gestellt hat: die Frage nach dem Sein. Der Sinn dieser Frage ist kein anderer als dieses Offenhalten, dieses Verrücken, Hinausrücken in eine Lichtung, wo dem Selbstverständlichen plötzlich das Wunder seines »Da« zurückgegeben wird; wo der Mensch sich als Ort erfährt, wo etwas aufklafft, wo die Natur die Augen aufschlägt und bemerkt, daß sie da ist, wo es also inmitten des Seenden eine offene Stelle, eine Lichtung gibt, und wo die Dankbarkeit möglich ist, daß es dies alles gibt. In der Seinsfrage verbirgt sich die Bereitschaft zum Jubel. Die Seinsfrage im Heideggerschen Sinne bedeutet, die Dinge zu lichten ….“ (Ebd., S. 473).
Heideggers Brief Über den Humanismus () kann man auch deuten „als Versuch, das eigene Denken zu rekapitulieren und seinen gegenwärtigen Ort zu bestimmen, als Eröffnung eines Horizontes, worin bestimmte Probleme des Lebens in unserer Zivilisation sichtbar werden – so gesehen ist dieser Text ein großartiges und auch wirkungsmächtiges Dokument auf Heideggers Denkweg. Außerdem ist hier bereits die ganze Heideggersche Spätphilosophie () zugegen.“ (Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland – Heidegger und seine Zeit, 1994, S. 405).
Karl Jaspers (1880-1969) schrieb in seiner letzten Notiz zu Martin Heidegger (1889-1976): „Hoch im Gebirge auf einem weiten felsigen Hochplateau trafen sich von jeher die Philosophen ihrer Zeit. Von da blickt man hinunter auf die Schneeberge und noch tiefer in die von Menschen bewohnten Täler und überall hin unter dem Himmel auf den fernen Horizont. Sonne und Sterne sind dort heller als irgendwo. Die Luft ist rein, daß sie alles Trübe verzehrt, so kühl, daß sie keinen Rauch aufkommen läßt, so hell,daß ein Aufschwung des Denkens in unabsehbare Räume erfolgt. Der Zugang ist nicht schwer. Der auf vielen Wegen Aufsteigende muß nur entschlossen sein, seine Behausung immer wieder auf eine Weile zu verlassen, um in dieser Höhe zu erfahren, was eigentlich ist. Dort treten die Philosophen in einen erstaunlichen, gnadenlosen Kampf. Sie sind ergriffen von Mächten, die durch ihre Gedanken, die menschlichen Gedanken, miteinander kämpfen. …. Es scheint, daß dort heute niemand mehr zu treffen ist. Mir aber schien es, als ob ich, vergeblich suchend in den ewigen Spekulationen, nach Menschen, die sie wichtig fänden, einen träfe, sonst niemand. …. So ging es mir mit Heidegger.“ (Karl Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, 1969, S. 264).
Hannah Arendt (1906-1975). Werke:
– Der Liebesbegriff bei Augustin (1932)
– Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft (1938)
– Was ist Existenzphilosophie? (1946)
– Vita activa oder: Vom tätigen Leben (1960)
– Martin Heidegger ist 80 Jahre alt (1969)
– Über die Revolution (1974)
Martin Heidegger und Hannah Arendt sind laut Werbung für den Roman Martin und Hannah (Clément): „das prominenteste Liebespaar der Philosophiegeschichte“. Hannah Arendt ging zunächst aus von ihrem Lehrer Karl Jaspers und seiner Bestimmung der Philosophie als Existenzerhellung, die Grenzerfahrungen und Appell an die eigene Lebenskraft bedeutet und die Weltanschauungen kritisiert, die nur mythologische Gebäude seien und in die hinein der Mensch Schutz suchend vor den eigentlichen Fragen der Existenz flüchte. Die Existenzphilosophie ist ja die Philosophie des in einer völlig erklärten Welt sich verloren vorkommenden Einzelnen. In Anlehnung an Jaspers und Heidegger heißt es bei Hannah Arendt: „Zu dieser erklärten Welt befindet sich der Einzelne in dauerndem Widerspruch, weil seine »Existenz«, nämlich die reine Faktizität seines Existierens in seiner ganzen Zufälligkeit (daß ich gerade ich bin und niemand anderes, daß ich gerade bin und nicht nicht bin) weder von der Vernunft vorhergesehen noch von ihr in etwas rein Denkbares aufgelöst werden kann.“ Diese Existenz ist aber gerade das einzige, dessen ich gewiß sein kann, weshalb es die Aufgabe des Menschen ist, subjektiv zu werden, und dieses Subjektivwerden geschieht laut Jaspers im Erleben von Grenzsituationen, z.B. in der Angst oder im Gedanken an den Tod, weil der Mensch sich da aus der Welt und dem alltäglichen Leben herauslöst – mit dem Gedanken, einmal nicht mehr zu sein, verliert sich das Interesse an dem, was ist, oder, so Heidegger: das angstbesetzte Nichts nichtet das vorgegebene Sein. Die objektive Wahrheit der Wissenschaft ist nun uninteressant, ist unwesentliches Wissen. Das wesentliche Wissen betrifft das, was mich interessiert: meine Existenz. Subjektive Wahrheiten, wie die Freiheit des Menschen, die Unsterblichkeit der Seele oder die Einheit der Welt, können, wie schon Kant zeigte, nicht objektiv erkannt werden, sie können aber ergriffen werden. Solche Wahrheiten heißen bekanntlich bei Heidegger „Existenziale“. Ich muß sie ergreifen, um im emphatischen Sinne zu existieren; ich gebe mir dann selbst meine Bestimmungen. Gerade während der Abfassung von „Sein und Zeit“ war Hannah Arendt die Geliebte Heideggers. Auch philosophisch. Das Vorlaufens auf den Tod als letzte Möglichkeit und das Geborensein – die „Gebürtlichkeit“ – als oberste Bedingung menschlichen Handelns stehen wie viele andere denkerische Beispiele für das ergänzerische Element im Liebespaar Martin und Hannah.
Menschliche Sprache ist nicht nur rein natürlich (kosmisch); natürlich-kulturell ist sie eingebettet in die Sprache aller Lebewesen; rein kulturell ist sie das, was allgemein unter Sprache (Mutter- oder Nationalsprache) verstanden wird; kulturell-natürlich ist sie jedoch eine Metasprache (eine „Sprache-über-Sprache“: Theorie, Religion, Theologie, Philosophie, Mathematik usw.). Vgl. Meta-Sprache () und Sprache () sowie Feuer () als 1. Kultursymbol.
„So arbeitet nun mal die Demokratie, mögen manche sagen. Aber leider arbeitet so das Geld. Hier handelt es sich um die Macht der Plutokratie, nicht um die Macht des Volkes, ….“(Peter Scholl-Latour, 2002, S. 43f.). „Und zwar erweist sich das Geld als reine Tatsache den idealen Wahrheiten als unbedingt überlegen, die wie gesagt nur als Schlagworte, als Mittel für die Tatsachenwelt vorhanden sind. Versteht man unter Demokratie die Form, welche der dritte Stand als solcher dem gesamten öffentlichen Leben zu geben wünscht, so muß hinzugefügt werden, daß Demokratie und Plutokratie gleichbedeutend sind. Sie verhalten sich wie der Wunsch zur Wirklichkeit, wie Theorie zur Praxis, wie die Erkenntnis zum Erfolg. Es ist das Tragikomische an dem verzweifelten Kampf, den Weltverbesserer und Freiheitslehrer auch gegen die Wirkung des Geldes führen, daß sie es eben damit unterstützen.“ (Oswald Spengler, Geld und Geist, in: Der Untergang des Abendlandes, 1917/22, Bd. II, S. 1059ff; S. 1060f). (Vgl. 22-24).

Peter Scholl-Latour (*1924): Die Macht der Plutokratie, in: Kampf dem Terror – Kampf dem Islam?, 2002, S. 41ff. bzw. S. 43f.. (Vgl. auch die Phasen: 18-20, 20-22, 22-24). Peter Scholl-Latour hat die starke Vermutung, daß Spengler mit seiner These vom Untergang „wohl nicht so unrecht hatte“. (Ebd., S. 48). (Vgl. Untergang und Ende).

Römisch-katholische Interpretationen attestieren dem Abendland zumeist, daß in ihm die Dominanz des Christlichen überwiege. Diese Meinung teilen vor allem kirchliche und vornehmlich christlich orientierte Vertreter. Theodor Heuss (31.01.1884 – 12.12.1963) soll einmal gesagt haben, daß Europa von 3 Hügeln ausgegangen sei: von der Akropolis, von Golgatha und vom Kapitol. Diese Sichtweise würde eher, wenn vielleicht auch nicht beabsichtigt, auf eine Dominanz der Antike verweisen. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß aus einem antik-apollinischen Einzelkörper und einer magisch-seelengeistigen Welthöhle ein abendländisch-faustischer Unendlichkeitsraum entstehen kann, dann muß unbedingt ein dritter Faktor hinzukommen, den ich die Kulturpersönlichkeit nenne: das Germanentum. Ohne das Germanentum versteht man die Willensdynamik eines Faust nicht, und ohne das germanische Element ist die Raumtiefe, aber auch die in jeder Hinsicht sowohl ins Mikrokosmische als auch ins Makrokosmische gehende Unendlichkeit nicht als distinktives Merkmal der abendländischen Kultur zu identifizieren. Diese Merkmale treffen auf keinen antiken Menschen zu, aber insbesondere auf die Abendländer, die germanischen Ursprungs sind. Scharfe Gegensätze, wie die zwischen Antike und Abendland, sind zwar unbedingt ein Indiz für Verwandtschaft, weil beide Kulturen so auffallend gegensätzlich sind: aktiv und reaktiv. Offenbar hat die Antike auf das Abendland aber nicht persönlichkeitsstiftend gewirkt und konnte auch erzieherisch nicht tätig werden, weil sie so früh verstarb. Die Biogenetik und Sozialisation geraten nicht selten so weit auseinander, wenn ein Elternteil früh verstirbt, d.h. nicht wirklich erlebt wird. Dem Abendland scheint es auch so ergangen zu sein. Die Auseinandersetzungen mit der magischen Mutter hat beim Kind jedoch zu einer enormen, fast schon verdächtigen Erinnerung bis hin zur Vergötterung des antiken Vaters Beitrag geleistet. Aber liegt deshalb immer auch schon ein Vaterkomplex vor? Es bleibt zunächst festzuhalten, daß auch kulturell zwischen Genetik und Sozialisation, zwischen Anlage und Umwelt, zwischen angeboren und anerzogen ganz klar unterschieden werden muß. Dazwischen bewegt sich die Persönlichkeit. Man kann sie nicht isolieren, folglich auch nicht isoliert betrachten, aber man kann sie beschreiben, und ich beschreibe die Kulturpersönlichkeit des Abendlandes als germanisch, weil dieser Raum zwischen Anlage und Umwelt für die Kulturpersönlichkeit zwanghaft unendlich werden muß, wenn sie die verlorene Vaterkultur zurückholen will. Der unendliche Raum und Wille sind auch deshalb Ursymbol und Urwort des Abendlandes. Wenn der Mensch eine Grundlage von etwa 60 Billionen Zellen hat und einer Umwelt von praktisch unendlicher Vielfalt ausgesetzt ist, so gilt für eine Kultur, daß sie Völker, Staaten oder Nationen zur Grundlage hat und einer Umwelt von unendlichen Möglichkeiten, aber auch gähnender Leere gegenübersteht. Mit dem Germanentum fiel eine faustische Entscheidung zugunsten der unendlichen Möglichkeiten. Die Eltern des Abendlandes waren also antik-magisch, ihre gentragenden Chromosomen römisch-christlich, aber die Kontrollgene germanisch. (Vgl. 22-24).